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179 8. Der kulturelle Raum: Europa Die Interpretation der Räumlichkeit, die die Welt für den Menschen hat, bildet die Grundlage einer Vielzahl imaginativer Zugriffe auf Abstrakta der kulturellen Umwelt. Im Diskurs werden komplexe gesellschaftliche Strukturen u.a. als Räume metaphorisiert: Die durch ein Gesetzeswesen organisierte Gemeinschaft wird als ein Rechtsraum bezeichnet, sich neu ergebende ökonomische Möglichkeiten als neue Wirtschaftsräume etc. Auf einer allgemeineren Ebene werden auch Staaten oder deren institutionelle Zusammenarbeit als politische Räume verstanden. Ein solcher politischer Raum ist das sich einigende Europa. Die Interpretation dieses Raumes in der deutschen Presse soll in diesem Kapitel in zwei Abschnitten kontrastiv untersucht werden. Zunächst möchte ich untersuchen, wie die in der Fachliteratur mehrfach behandelte Haus-Metaphorik im deutschen Diskurs zu einem Verständnis Europas beiträgt. Als Kontrast dient der russische Diskurs, in dem diese Metapher ebenfalls eine Rolle spielt (Chilton/Ilyin 1993; Zybatow 1995). Im zweiten Abschnitt wird untersucht, wie der Wandel dieses Raumes Europa durch die Europäische Integration, die Einbindung der mitteleuropäischen Staaten in die EU, interpretiert wird. Zur Gegenüberstellung wird hier der polnische Diskurs herangezogen, so dass die Perspektive eines EU-Staates der eines noch nicht der EU angehörenden Staates gegenübergestellt wird. 8.1 Europa und das metaphorische Modell BAUWESEN 1 Die Vorstellung von Europa als einem Gebäude ist in der linguistischen Literatur einige Male behandelt worden (Chilton/Ilyin 1993; Zybatow 1995). Das Hauptaugenmerk hat dabei auf dem von Gorbatschow verwendeten Schlagwort des "gemeinsamen europäischen Hauses" (obščeevropejskij dom) gelegen. Chilton und Ilyin (1993) interessieren sich v.a. für die Rolle, die diese Metapher im transnationalen Diskurs gespielt hat. Sie verweisen darauf, dass Westeuropäer, die diese Metapher gerne aufgenommen haben, unter einem Haus typischerweise etwas Anderes verstehen als Russen. Für einen Westeuropäer ist das typische Haus ein Ein-Familien-Haus, in dem sich jeder frei zwischen allen Zimmern bewegen kann. Für einen Russen ist der Wohnblock das typische Haus. In einem Wohnblock kann der Besuch unter verschiedenen Bewohnern durchaus ungewollt sein. Die Implikationen dieser 1 Die in diesem Abschnitt präsentierten Analysen sind eine Momentaufnahme aus der Arbeit im PKV. Die konkreten Daten sind vorläufig und zeigen gewisse Tendenzen auf.

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8. Der kulturelle Raum: Europa

Die Interpretation der Räumlichkeit, die die Welt für den Menschen hat, bildet die

Grundlage einer Vielzahl imaginativer Zugriffe auf Abstrakta der kulturellen Umwelt. Im

Diskurs werden komplexe gesellschaftliche Strukturen u.a. als Räume metaphorisiert: Die

durch ein Gesetzeswesen organisierte Gemeinschaft wird als ein Rechtsraum bezeichnet, sich

neu ergebende ökonomische Möglichkeiten als neue Wirtschaftsräume etc. Auf einer

allgemeineren Ebene werden auch Staaten oder deren institutionelle Zusammenarbeit als

politische Räume verstanden. Ein solcher politischer Raum ist das sich einigende Europa.

Die Interpretation dieses Raumes in der deutschen Presse soll in diesem Kapitel in

zwei Abschnitten kontrastiv untersucht werden. Zunächst möchte ich untersuchen, wie die in

der Fachliteratur mehrfach behandelte Haus-Metaphorik im deutschen Diskurs zu einem

Verständnis Europas beiträgt. Als Kontrast dient der russische Diskurs, in dem diese

Metapher ebenfalls eine Rolle spielt (Chilton/Ilyin 1993; Zybatow 1995). Im zweiten

Abschnitt wird untersucht, wie der Wandel dieses Raumes Europa durch die Europäische

Integration, die Einbindung der mitteleuropäischen Staaten in die EU, interpretiert wird. Zur

Gegenüberstellung wird hier der polnische Diskurs herangezogen, so dass die Perspektive

eines EU-Staates der eines noch nicht der EU angehörenden Staates gegenübergestellt wird.

8.1 Europa und das metaphorische Modell BAUWESEN1

Die Vorstellung von Europa als einem Gebäude ist in der linguistischen Literatur

einige Male behandelt worden (Chilton/Ilyin 1993; Zybatow 1995). Das Hauptaugenmerk hat

dabei auf dem von Gorbatschow verwendeten Schlagwort des "gemeinsamen europäischen

Hauses" (obščeevropejskij dom) gelegen. Chilton und Ilyin (1993) interessieren sich v.a. für

die Rolle, die diese Metapher im transnationalen Diskurs gespielt hat. Sie verweisen darauf,

dass Westeuropäer, die diese Metapher gerne aufgenommen haben, unter einem Haus

typischerweise etwas Anderes verstehen als Russen. Für einen Westeuropäer ist das typische

Haus ein Ein-Familien-Haus, in dem sich jeder frei zwischen allen Zimmern bewegen kann.

Für einen Russen ist der Wohnblock das typische Haus. In einem Wohnblock kann der

Besuch unter verschiedenen Bewohnern durchaus ungewollt sein. Die Implikationen dieser

1 Die in diesem Abschnitt präsentierten Analysen sind eine Momentaufnahme aus der Arbeit im PKV. Die konkreten Daten sind vorläufig und zeigen gewisse Tendenzen auf.

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Unterschiede für das Verständnis vom Zusammenleben der Staaten in Europa sind offen

ersichtlich.

Zybatow (1995) beschäftigt sich mit der weiteren Entwicklung der Gorbatschow'schen

Metapher innerhalb des russischen Diskurses. Während liberale Milieus die Metapher

aufgenommen und als Modell für verschiedene Ableitungen genutzt haben, ist die Metapher

bei Konservativen auf Ablehnung gestoßen. Sie argumentieren, Russland sei zu groß, um eine

Wohnung innerhalb eines gemeinsamen europäischen Hauses zu beziehen.

Die Vorstellung von Europa als einem Haus geht aber keineswegs auf Gorbatschow

zurück. Sie wurde auch vor ihm bereits verwendet (Chilton/Ilyin 1993). Gebäude-Metaphorik

ist insgesamt im politischen Diskurs stark ausgearbeitet, und keineswegs auf den Zielbereich

EUROPA beschränkt. Vielmehr scheinen Institutionen i.A. als Gebäude verstanden zu

werden.

Der Signifikative Deskriptor, der in der Datenbank des PKV sprachliche Gebäude-

Metaphern zu metaphorischen Modellen bündelt, heißt BAUWESEN, im Russischen

STROITEL'STVO. In der deutschen Datenbank gibt es mehrere diesem Modell

zuzurechnende Metaphern, die nie in bezug auf Europa verwendet werden. Auf lexikalischer

Ebene scheint hier ein Prozess der Differenzierung stattzufinden: Die Gebrauchsregeln

verschiedener lexikalischer Ausprägungen des BAUWESEN-Modells werden tendenziell auf

bestimmte Kontexte eingeschränkt. So werden Handelsbeziehungen ausgebaut, nicht jedoch

Europa. Die einzelnen europäischen Nationen werden als Bastionen verstanden, nicht jedoch

ganz Europa. Erschüttert werden in der deutschen DB Stereotype, aber nicht etwa die

Mauern des europäischen Hauses. (1) „Europa und Asien wollen ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen weiter ausbauen.“

(Rheinische Post, 21.10.2000) ?“Europa muss weiter ausgebaut werden.“

(2) „Und wer wagt den ersten Schritt, damit auch die anderen ihre nationalen Bastionen verlassen.“ (FAZ,

9.12.2000) ?„Europa sollte keine Bastion gegenüber anderen Ländern sein.“

(3) „Lieb gewordene Stereotype werden erschüttert, vor allem im Verhältnis zum unmittelbaren westlichen

Nachbarn.“ (taz, 14.10.2000) ?“Das europäische Haus wird durch diese Probleme unnötig erschüttert.“

Diese Beispiele können sich z.T. als Zufallsergebnisse erweisen, das Phänomen der

funktionalen Differenzierung auf lexikalischer Ebene ist jedoch z.B. für

Übersetzungsdienstleistungen und interkulturelle Kommunikation bedeutend und wird in der

kognitiven Metapherntheorie vernachlässigt. Die Erklärung dieser Phänomene muss wohl in

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erster Linie eine linguistische, weniger eine allgemein kognitive sein. Die Festigung von

Kollokationen scheint z.B. eine Rolle zu spielen. In der deutschen Datenbank interpretieren

70% der Metaphern, die dem Modell BAUWESEN zugerechnet werden, Europa im

geographischen, kulturellen, oder institutionellen Sinn.2

8.1.1 Unterschiede und Gemeinsamkeiten im russischen und im deutschen Diskurs

Die folgende Analyse ist eingeschränkt auf die Signifikativen Deskriptoren des

BAUWESEN-Modells, über die Europa bzw. ein Aspekt Europas interpretiert wird. Für eine

Analyse der Datenbanken ist es aber sinvoll, dieses Modell weiter aufzufächern. Ich möchte

die folgende Klassifizierung vorschlagen: Zunächst lässt sich die BAUWESEN-Metaphorik

unterteilen in gebäudebetonende und baubetonende Metaphern. Gebäudebetonende

Metaphern wären solche, die von etwas als von einem fertigen Gebäude sprechen,

baubetonende Metaphern wären solche, die von etwas als von etwas zu Bauendem sprechen.

In beiden Gruppen möchte ich des weiteren unterscheiden zwischen unterschiedlichen

Benennungen eines Gebäudes bzw. Baus sowie vier das entsprechend benannte Phänomen (x)

betreffenden Aspekten, die in der Interpretation versprachlicht werden: 1) Menschen, die

etwas mit x zu tun haben; 2) Texte, die sich auf x beziehen; 3) Struktur von x 4) Prozesse, die

in bzw. an x vor sich gehen. Das folgende Schaubild illustriert diese Klassifizierung:

BAUWESEN Gebäudebetonend Baubetonend Benennung Benennung Menschen Menschen Texte Texte Struktur Struktur Prozesse Prozesse

Schaubild 1: Aspekte des Metaphorischen Modells BAUWESEN

Das Modell BAUWESEN scheint zu den leistungsstärksten Modellen in der

Interpretation Europas zu gehören. In der russischen Datenbank ist es das zweithäufigste, in

2 Auf die Profile Europas gehe ich in 8.1.2 ein.

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der deutschen Datenbank das dritthäufigste metaphorische Modell, das in entsprechenden

Kontexten sprachlich gebildet wird. Dies zeigt das folgende Schaubild:

0

10

20

30

40

PERSONIFIZIERUNG BAUWESEN RAUM

Schaubild 2: Metaphorische Modelle in der Interpretation des Begriffs Europa. Anmerkungen: hell = russische DB; dunkel = deutsche DB.

38% aller Metaphern für Europa im deutschen Teil sind Personifizierungs-Metaphern,

11% sind Raum-Metaphern, 8% sind Bauwesen-Metaphern. In der russischen Datenbank sind

22% aller Metaphern in der Interpretation Europas Personifizierungs-Metaphern, 13% sind

Bauwesen-Metaphern, und 7% sind Raum-Metaphern.3

Welche Vorstellungen von Europa werden im russischen und im deutschen

Zeitungsdiskurs des Jahres 2000 mit Hilfe des metaphorischen Modells BAUWESEN

gebildet? Ich möchte mich in der Analyse darauf konzentrieren, wie dieses Modell in den

beiden Sprachen ausgearbeitet wird, d.h. welche mit dem Bauwesen zusammenhängenden

Elemente der Welt in der metaphorischen Interpretation Europas versprachlicht werden.

Ich werde nun zunächst die Ausarbeitung gebäudebetonender Metaphorik im

russischen und im deutschen Diskurs erläutern. Schaubild (3) zeigt die Benennungen Europas

als Gebäude in der russischen und deutschen Datenbank sowie die Versprachlichungen

einzelner Aspekte des Lebens in einem Haus4:

3 Die russischen Daten in 8.1 sind von meiner Mitarbeiterin im PKV Elena Bolotova gesammelt worden. 4 Die Angaben in Klammern sind Fremdzitate von Politikern aus anderen Ländern und somit nur begrenzt aussagekräftig.

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BENENNUNG TEXTE MENSCHEN Haus Haus Hausordnung Nachbarn Nachbarn (Zuhause) Mietvertrag Gäste Hausmieter Hausbewohner (Hausherrin) (Mieter)

STRUKTUR Tür Tür Schwelle (Kacheln) PROZESSE Dach umzäunen Wand s. einleben (Arbeitszimmer) Flur Pfahlzaun

Schaubild 3: Gebäudebetonende Metaphorik im russischen und im deutschen Diskurs. Anmerkungen: Fettdruck = russische Metaphern; Normaldruck = deutsche Metaphern. Die Pfeile deuten die übergeordnete Bedeutung der Benennung an, die festlegt, was sich sinnvollerweise auf ein so benanntes Phänomen beziehen kann.

Das „Haus“ ist die häufigste Benennung für einen Begriff, über den Europa

interpretiert wird, wobei diese Metapher im Russischen gebräuchlicher zu sein scheint als im

Deutschen. Aber auch im Deutschen sind immerhin 8,82% aller BAUWESEN-Metaphern

Haus-Metaphern, womit diese Metapher als Prototyp des Gebäudes im Modell BAUWESEN

betrachtet werden kann. Neben dem Haus wurde das emotionalere Zuhause gefunden,

allerdings als Fremdzitat. (4) „Wie sie [EU] ihr eigenes Haus in Ordnung bringen muß, wenn sie zwölf (und später mehr) neue

Mitglieder aufnehmen will, wird seit vielen Jahren diskutiert“ (FAZ, 9.12.2000) (5) „So oder so - daran lässt keiner der Gesprächspartner in Warschau Zweifel aufkommen - wird das Haus

Europa nach Polens Beitritt ein weiteres Mal umgebaut werden.“ (taz, 31.10.2000) (6) "[...]machte es seinen Gastgebern um so leichter, den Serben, wie es der französische Präsident Chirac

überschwenglich formulierte, auf ihrem Weg "ins europäische Zuhause" jede Unterstützung zuzusagen." (FAZ 16.0.2000)

(7) "Или их хотят изгнать из Европы, чтобы русский медведь, не видя достойной противосилы, мог,

когда сочтет нужным, сокрушить в европейском доме все перегородки и объявить его по итогу не общим, а своим?" (UK)

"Oder will man sie aus Europa vertreiben, damit der russische Bär, ohne einen würdigen Gegenpol, alle Trennwände im europäischen Haus, wenn er es für nötig hält, zerschlagen und es letztendlich zu seinem, statt zum gemeinsamen Haus erklären kann?"

(8) "Совет Европы не заглотил резонную и вроде бы очевидную трактовку чеченских событий:

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Россия как умеет защищает единую Европу от исламских ультра. Пусть криво и грубо - но ради общего европейского дома стараемся." (Og 13)

Der Europarat hat die vernünftige und scheinbar offensichtliche Deutung der Ereignisse in Tschetschenien nicht geschluckt: Russland verteidigt so gut es kann das gemeinsame Europa vor islamischen Ultras. Vielleicht falsch und grob – aber für das gemeinsame europäische Haus strengen wir uns an.

Es fällt auf, dass der Aspekt der Texte nur im Deutschen ausgearbeitet ist.

(9) "Die Nachbarn in der geographischen Mitte des Kontinents möchten so bald wie möglich ihren

Mietvertrag unterschrieben haben. Ihr Problem ist, dass - abgesehen von genauer informiertem Führungspersonal - die Öffentlichkeit zwar den Hochglanzprospekt des Westflügels kennt, den Zustand des sie betreffenden Teils der Baustelle aber nicht so genau und das Kleingedruckte (Kosten, Umlagen, Hausordnung) nur in groben Zügen." (Frankfurter Rundschau, 2.3.2000)

(10) "Das Dokument beschreibt also - wie das Grundgesetz - die "Hausordnung", an der sich nicht zuletzt

die derzeitige Diskussion über die Zuwanderung orientieren könnte." (FAZ, 6.12.2000)

Die Metapher der Hausordnung tritt im deutschen Korpus immerhin dreimal auf,

womit sie 4,41% der BAUWESEN-Metaphorik ausmacht. Einmal erscheint sie sogar im

Titel. Wie könnte ein Erklärungsversuch für diese Vorliebe für Texte auf Seiten deutscher

Journalisten bei völliger Abwesenheit solcher Metaphorik im Russischen aussehen? Die

Vermutung, deutsche Diskutanten hätten eine besondere Neigung zum Normativen klingt so

stereotyp, dass sie als Kandidat für eine Erklärung direkt ungeeignet scheint. Zunächst möchte

ich mich mit der negativen Erklärung begnügen, dass die Abwesenheit einer solchen

Metaphorik im Russischen z.T. mit der Abwesenheit der entsprechenden Realien

(Mietvertrag) im russischen Alltag zu begründen ist.5 Ich werde in der Interpretation in 8.1.2

auf dieses Thema zurückkommen.

Bezüglich der Metaphorisierung von Aspekten der Europapolitik über Menschen, die

mit einem fertigen Gebäude zu tun haben, lassen sich zwischen dem Russischen und dem

Deutschen keine großen Unterschiede feststellen. In beiden Diskursen wird die gut gefestigte

Metapher des Nachbarn verwendet. Im Deutschen treffen wir außerdem auf Hausmieter und

Hausbewohner, im Russischen auf die Gäste. Im Russischen wird also die Frage der

Legitimität bzw. der unterschiedlichen Eingebundenheit verschiedener Länder in die

europäischen Machtstrukturen stärker über die Hausbewohner-Metaphorik interpretiert. (11) "Vielmehr geht es darum, sich nicht gegenüber den östlichen Nachbarn abzuschotten, den Einwohnern

der Ukraine und Weißrusslands Reisemöglichkeiten zu erhalten, die demokratische Kultur in diesen Ländern zu fördern, finanziell Mittel der Europäischen Union für die Nachbarn bereitzustellen und vieles mehr." (taz, 14.10.2000)

(12) "Daran zu arbeiten kann sich nicht in Konferenzen und gedrechselten Kommuniques erschöpfen. Das ist

ein Gemeinschaftsprojekt aller Hausmieter von heute und morgen." (Frankfurter Rundschau, 02.03.2000)

5 Der Hinweis hierauf stammt von meiner Mitarbeiterin E. Bolotova.

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(13) "Was den letzten Punkt angeht, so ist der neue Umgang der älteren Hausbewohner (West) mit dem

Haider-Syndrom ganz lehrreich." (Frankfurter Rundschau, 02.03.2000) (14) "На Запад Россия приглашается лишь в гости, как бедный и непредсказуемый сосед." (NG 6) "In den Westen wird Russland nur als Gast eingeladen, als armer, unvorhergesehener Nachbar." (15) "БЕЛОРУССИЮ В ГОСТИ НЕ ПРИГЛАСИЛИ. Совет Европы, к которому Россия

присоединилась в прошлом году, пока не слишком расположен к принятию в свои ряды другой славянской страны - Белоруссии." (MN 26)

"WEIßRUSSLAND IST NICHT ALS GAST GELADEN. Der Europarat, dem Russland letztes Jahr beigetreten ist, ist bisher nicht besonders geneigt, Weißrussland als weiteren slawisches Land in seine Reihen aufzunehmen."

In beiden Diskursen wird über diesen Aspekt der Haus-Metapher das institutionelle

Europa interpretiert, dem nur der Westen des Kontinents angehört. Die osteuropäischen

Staaten tauchen nur als Gäste oder Nachbarn auf.

Insgesamt wird die gebäudebetonende Metaphorik im russischen Diskurs viel stärker

ausgearbeitet als im deutschen. Eine Vielzahl von Elementen eines Gebäudes wird im

Russischen herangezogen, um verschiedene Aspekte Europas und der Rolle Russlands in

Europa zu interpretieren: Tür, Schwelle, Dach, Wand, Flur, Pfahlzaun. Im Deutschen habe

ich nur die Tür gefunden, sowie die Kacheln als Zitat eines polnischen Politikers. Die Tür als

Metapher für (politische, wirtschaftliche etc.) Möglichkeiten wiederum ist eine der besonders

gut gefestigten Metaphern des deutschen Diskurses. (16) „Er hoffe aber, dass es nicht wie Spanien sieben Jahre würde verhandeln müssen, bis die Tür zur EU

aufgehe.“ (taz, 31.10.2000) (17) „So soll für die übrigen Partner die Tür jederzeit offen stehen.“ (FAZ, 17.01.2000) (18) "Es dürfen Russland gegenüber keine Türen geschlossen werden - nicht die NATO-Türen, nicht die EU-

Türen", sagte Clinton am Freitag in einer Rede zur Verleihung des Karlspreises in Aachen.“ (Rheinische Post, 02.06.2000)

(19) "[...] если мы не хотим стать в ряд с политическими малышами Латинской Америки или Средней

Европы (вроде Гватемалы или Македонии) у дверей Международного валютного фонда, [...]" (NG 6)

"[...] wenn wir nicht mit den politischen Zwergen Lateinamerikas und Mitteleuropas (vom typ Guatemala oder Mazedonien) in einer Reihe an der Tür des IWF stehen wollen, [...]"

(20) "А Екатерина II, которая поставила Россию на пороге Европы?" (LG 2) "Und Katarina II., die Russland auf die Schwelle zu Europa gestellt hat?" (21) "На самом деле Россия стремится стать своеобразной крышей Европы [...]" (NG) "Tatsächlich strebt Russland an, eine Art Dach Europas zu werden [...]" (22) "Добившиеся своего Вена и Рим используют каждую возможность, чтобы хоть чуть-чуть, но

надстроить ту стену, которая отделяет их и весь Европейский союз от Восточной Европы." (LG) "Nachdem sie das Ihre erreicht haben, nutzen Wien und Rom jede Möglichkeit, um wenigstens ein

Stückchen die Wand aufzustocken, die sie und die gesamte Europäische Union von Osteuropa trennt."

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(23) "Сегодня Россию пустили в прихожую Европы." (NG 6) "Heute wurde Russland in den Flur Europas eingelassen." (24) "А ведь было время, когда деятели стран, расположенных к западу от Эльбы, упорно стремились

построить свой собственный - полуевропейский - дом, отгородившись высоким частоколом от социалистических стран Европы." (UK)

"Dabei gab es doch eine Zeit, als die Politiker der Staaten westlich der Elbe hartnäckig bemüht waren, ihr eigenes – halbeuropäisches – Haus zu bauen, nachdem sie sich mit einem hohen Pfahlzaun von den sozialistischen Ländern Europas abgegrenzt hatten."

Während im Deutschen das Gebäude, das durch die Tür impliziert wird, wiederum

eine Institution, die Europäische Union, ist, lässt sich im Russischen, bis auf (19), keine solch

eindeutige Zuordnung treffen. Die zitierten russischen Metaphern artikulieren eher ein Gefühl

der Ausgeschlossenheit aus einem allgemeiner, z.T. historisch-zivilisatorisch verstandenen

Europa.

Prozesse, die ein fertiges Gebäude betreffen, werden im Deutschen überhaupt nicht für

die Interpretation Europas herangezogen. Im Russischen lassen sich die Metaphern des

Umzäunens und des sich Einlebens finden. (25) "Это будет не столько раскол Европы, сколько огораживание России." (NG 20) "Das wird nicht so sehr eine Spaltung Europas, als vielmehr ein Umzäunen Russlands sein." (26) "В общем, несмотря на все трудности, Россия входит, внедряется, начинает

обживаться в Европе, в европейском демократическом пространстве. Европе "войти" в Россию, вовлечь ее в указанное демократическое пространство будет труднее." (I 6)

"Insgesamt dringt Russland, ungeachtet aller Schwierigkeiten, nach Europa ein, fängt an sich einzuleben in Europa, im europäischen demokratischen Raum. Europa wird es schwerer fallen, in Russland "hineinzugehen", es in den gezeigten demokratischen Raum einzubinden."

Beispiel (26) verweist, was selten ist, explizit darauf, was mit diesem Gebäude Europa

gemeint ist: ein zivilisatorisch durch die Demokratie bestimmter Raum.

Ich wende mich nun der baubetonenden Metaphorik in beiden Diskursen zu. Diese

wird im deutschen Europa-Diskurs besonders stark ausgearbeitet, wie das folgende Schaubild

zeigt:

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BENENNUNG TEXTE MENSCHEN Baustelle Bauanleitung (Baupartner) Bauleute Konstruktion Konstruktion Bauplan Konstrukteure ELEMENTE PROZESSE Fundament Fundament bauen bauen Bausteine Bau mitbauen Statik umbauen Gefüge aufbauen Grundlage Konstruktion Schaubild 4: Baubetonende Metaphorik im russischen und im deutschen Diskurs.

Weder der Aspekt der Menschen, noch der der Texte, die das Bauen eines Gebäudes

betreffen, ist im russischen Korpus präsent. Zudem ist das, was an baubetonender Metaphorik

im Russischen Verwendung findet, recht vage. Es ist allgemein vom Konstruieren und

Bauen die Rede. Im deutschen Diskurs gibt es hingegen eine starke Baustellen-Metaphorik,

die alle fünf hier unterschiedenen Aspekte umfasst: (27) "Die Erweiterung nach Osten ist kaum noch aufzuschieben. Tritt sie ein, ohne dass zuvor Europa festere

politische Gestalt annimmt und die "finalité" vom leeren Begriff zur verpflichtenden Vision wird, dann bleibt Europa ungeordnete Baustelle." (Welt, 27.06.2000)

(28) "Bauanleitung für Europa (Titel)" (FAZ 19.05.2000) (29) "Gerade wegen ihres Erfolges steht die Europäische Union heute vor der größten Herausforderung ihrer

Geschichte. Welches Ziel soll sie haben, welcher Bauplan soll Europa zu Grunde liegen?" (Welt, 06.10.2000)

(30) "Anders als vor acht Jahren, als das erste Maastricht-Refrendum in Dänemark den Bauleuten der EU

vorübergehend die Blaupausen durcheinanderwirbelte, ging es jetzt um die Dänen selbst." (FAZ, 13.10.2000)

(31) "Trotz dieser ernüchternden Erfahrungen wollen die Regionalisten die Hoffnung nicht aufgeben. Sie

betrachten die Regionen als übersichtliche "Bausteine Europas", als Grundlage für die notwendige Integration "von unten"." (Frankfurter Rundschau, 22.12.2000)

(32) "Differenzierung, aufruhend auf einem Grundbestand an Gemeinsamkeiten, wird das organisierende

Prinzip der Zukunft werden. Europa zu bauen, indem man es über einen Leisten schlägt, führt geradewegs zu dänischen Ergebnissen." (FAZ, 13.10.2000)

(33) "При этом Россия психологически готова пойти в западноевропейскую школу социально

рыночного хозяйства и признать ведущую роль Европейского союза в деле создания общеконтинентальной конструкции" (NG 8)

"Dabei ist Russland psychologisch darauf vorbereitet, in die westeuropäische Schule der sozialen Marktwirtschaft zu gehen und die führende Rolle der Europäischen Union in der Zusammenfügung einer gesamtkontinentalen Konstruktion zuzugestehen."

(34) "Не будет единства Европы, пока не будет она общностью духа. Этот самый глубокий

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фундамент единения принесло Европе и веками его укрепляло христианство, [...]" (MN 4) "Es wird keine Einheit Europas geben, solange diese keine Gemeinschaft des Geistes ist. Das

Christentum hat Europa dieses tiefste Fundament gebracht und es über Jahrhunderte gefestigt." (35) "Я считаю, что амбиции могут быть направлены на стратегические цели, такие, как

строительство Европы, действительно более ориентированной на европейские интересы." (LG 2) "Ich denke, dass die Ambitionen auf strategische Ziele gerichtet werden können, solche wie den Bau

Europas, welches sich stärker an europäischen Interessen orientiert." (36) "А ведь было время, когда деятели стран, расположенных к западу от Эльбы, упорно стремились

построить свой собственный - полуевропейский - дом, отгородившись высоким частоколом от социалистических стран Европы." (UK)

"Dabei gab es doch eine Zeit, als die Politiker der Staaten westlich der Elbe hartnäckig bemüht waren, ihr eigenes – halbeuropäisches – Haus zu bauen, nachdem sie sich mit einem hohen Pfahlzaun von den sozialistischen Ländern Europas abgegrenzt hatten."

Die Baustelle ist mit 5,88% der Bauwesen-Metaphern eine ebenfalls gefestigte

Benennung, wenngleich sie nicht so stark zu sein scheint wie das Haus. Bei den russischen

Beispielen fällt auf, dass die für den deutschen Diskurs auch in der Baustellen-Metaphorik

typische Einschränkung Europas auf den institutionell geeinigten Teil, die Europäische

Union, im Russischen nicht nur nicht feststellbar ist, sondern es sogar deutlich wird, dass ein

anderes als das momentan politisch geeinte Europa gemeint ist, wenn vom Bau Europas die

Rede ist.

8.1.2 Interpretation

Welche Vorstellungen von Europa werden zur Zeit im russischen und im deutschen

Diskurs mit Hilfe des BAUWESEN-Modells gebildet? Kann angesichts der Anwendung von

Metaphern, die dem Bereich des BAUWESENS zugerechnet werden, sowohl im russischen

wie im deutschen Diskurs von gleichen oder ähnlichen Vorstellungen zu Europa ausgegangen

werden? Ich möchte in der Interpretation der präsentierten Daten zeigen, warum dies nicht der

Fall ist, und die Abbildungsstereotypen formulieren, die als Zugangsweisen für die

Interpretation Europas in den beiden Diskursen typisch sind.

Die BAUWESEN-Metaphorik und das Problem der richtigen Ebene

Das russische und das deutsche Korpus unterscheiden sich stark in bezug darauf,

welche Teilbereiche dessen, was unter dem allgemeinen Deskriptor BAUWESEN

zusammengefasst wird, zur Interpretation Europas herangezogen wird. Diese Unterschiede

sind sowohl quantitativer als auch qualitativer Art. Das, was in beiden Sprachen zu finden ist,

etwa die Metaphorik des Hauses, der Konstruktion, oder der Tür, wird in unterschiedlichem

Maße genutzt. Vor allem aber werden die Schwerpunkte dessen, welche Projektionen für ein

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Verständnis Europas als sinnvoll erachtet werden, unterschiedlich gesetzt. Im deutschen

Diskurs wird Europa als etwas betrachtet, das erst im Entstehen begriffen ist. Diskutiert wird,

wie auf diese Entstehung Einfluss genommen werden soll, und was letztendlich das Ziel

dieses Prozesses sein soll. Im russischen Diskurs hingegen wird Europa als etwas Gegebenes

betrachtet. Die Diskussion geht darum, wer im existierenden Europa welche Rolle spielen,

welche Bedeutung innehaben soll.

Es ist daher sicher unangemessen zu behaupten, im russischen wie im deutschen

Diskurs würde eine Metaphorik ausgebildet, die zu einer Vorstellung von Europa als einem

Objekt des Bauwesens einlädt. Der Deskriptor BAUWESEN wäre hier zu allgemein, würde

zu viel behaupten und bestehende Unterschiede verwischen. Das typische Modell Europas im

russischen Diskurs scheint eher das Haus zu sein, das des deutschen Diskurses die Baustelle.

Profile Europas

Die naheliegende Antwort auf die Frage, warum sich die Ausarbeitungen der

BAUWESEN-Metaphorik im russischen und im deutschen Diskurs so unterscheiden, scheint

die zu sein, dass unterschiedliche Aspekte des sehr weiten Begriffs Europa diskursiv

verhandelt werden. Die Lektüre der präsentierten Beispiele nährt eine solche Vermutung.

Während es in den deutschen Beispielen um die Aufnahme neuer Staaten in die EU oder um

deren Verfasstheit geht, wird im russischen Diskurs über die Rolle Russlands in Europa

diskutiert.

Um festhalten zu können, was ein Autor meint, wenn er das Wort "Europa" benutzt,

habe ich drei Deskriptoren in die Datenbank eingeführt, die verschiedene Profile Europas

benennen.

Europa als EuropaGeo: „Europa“, das ist die Halbinsel westlich des Urals.

Europa als EuropaInst: „Europa“, das ist die Teilsumme der Staaten in (a), die

institutionell zusammen arbeiten.

Europa als EuropaKult: "Europa", das ist die Teilsumme der Staaten in (a), deren

(religiöse, zivilisatorische) Werte und Aspirationen sich ähneln.

Eine quantitative Analyse der Europa-Datenbanken zeigt, dass im russischen und im

deutschen Diskurs von unterschiedlichen "Europas" die Rede ist. Die Unterschiede

verdeutlicht das folgende Schaubild

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4,42%

66,29%

23,89%

71,68%

13,48%

20,22%

"Europa" undEuropaInst

"Europa" undEuropaKult

"Europa" undEuropaGeo

DeutschRussisch

Schaubild 5: Das russische und das deutsche Profil Europas.

Wenn im deutschen Korpus das Wort "Europa" in einer Metapher verwendet wurde,

dann wurde in 71,68% der Fälle der Denotative Deskriptor EuropaInst gebraucht. Im

russischen Korpus geschah dies nur in 13,48% der Fälle. Im russischen Diskurs ist mit

"Europa" meistens das geographische Europa gemeint (66,29%), im deutschen Diskurs ist

dies sehr selten der Fall (4,42%). Ein kulturelles Verständnis von Europa beschwören

russische (23,89%) und deutsche (20,22%) Journalisten fast gleich häufig.

Auch bezüglich des Zielbereichs unterscheidet sich also die Metaphorik der beiden

Zeitungsdiskurse. Welche Vorstellungen, welche Abbildungsstereotypen bilden die beiden

Diskurse?

Abbildungsstereotypen zu Europa im russischen und im deutschen Diskurs

In Anlehnung an die Ausarbeitung des Begriffs der Abbildungsstereotypen in Kapitel

5 möchte ich nun überlegen, welche Abbildungsstereotypen Europas sich für den russischen

und den deutschen Zeitungsdiskurs formulieren lassen. Ein Abbildungsstereotyp wurde

beschrieben als diskursspezifische, relativ stabile kulturelle Vorstellung zu einem

Objektbereich, die in der Interaktion von allgemeinen, aus erlebter Korrelation erworbenen

und subjektgebundeneren, durch semiotisches Erfahren erworbenen Wissensbeständen

gebildet wird.

Die Metaphorisierungen unterschiedlicher Begriffe, die in diesem Abschnitt als

Realisierung von BAUWESEN-Metaphorik präsentiert wurden, entstammen

unterschiedlichen Kontexten und Kommunikationsbedürfnissen. Jeweils ein

Abbildungsstereotyp für den gesamten deutschen und den gesamten russischen Diskurs zu

formulieren heißt nicht, zu behaupten, dass all die hier erwähnten sprachlichen Metaphern

Funktionen eines einheitlichen Denkprinzips aller deutschen bzw. russischen Journalisten

seien. Abbildungsstereotype existieren in Texten, sie sind kulturelle Modelle, über ihre

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Existenz in individuellen Köpfen soll keine Aussage getroffen werden. Es handelt sich um

relativ stabile sprachlich-textuelle Manifestationen von in einer Gemeinschaft typischen

subjektiv-kognitiven Perspektivensetzungen.

Betrachtet man die deutsche Zeitungsberichterstattung als einen Diskurs in Kontrast

zum russischen Diskurs, so scheinen die folgenden korrelativen und intertextuellen Metaphern

besonders prägnant. Das Empfinden, dass über die institutionelle Einigung insbesondere im

Rahmen der Europäischen Union ein neues Europa im Entstehen begriffen ist, und dass dieses

Entstehen kein selbsttragender Prozess ist, sondern sich durch Handeln vollzieht, wird

diskursiv in erster Linie über die Metaphorik des Bauens verhandelt. Diese Metapher kann im

Sinne der Kognitiven Semantik als Realisierung eines allgemeinen imaginativen Schemas

verstanden werden, das Johnson (1987) als Bildschema BINDUNG bezeichnet. Dieses

Bildschema beruht im Sinne Gradys (1999) auf der erlebten Korrelation von (a) körperlicher

Verbundenheit und (b) einer positiven kognitiven Reaktion, dem Empfinden von Sicherheit,

psychischer "Stabilität", Zuneigung. Dieses allgemeine Vorstellungsschema, nach dem

Verbindung etwas positives Neues herstellt, kann als Grundlage der Baumetaphorik betrachtet

werden, denn ein Gebäude entsteht durch die "Verbindung" von Bausteinen.

Eine interessante intertextuelle Metaphorik im untersuchten Teil des deutschen

Korpus' ist die des Bauplans bzw. der Bauanleitung, wie auch die der Hausordnung und

des Mietvertrags. All diese Metaphern interpretieren die Problematik der Finalität des

europäischen Einigungsprozesses: Was soll das institutionell geeinte Europa letztendlich sein,

welche Kompetenzen sollen von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen werden,

welche Verpflichtungen werden übernommen etc. Diese Metaphorik hat neben einer

kognitiven eine stärkere ideologische Funktion. Sie fordert die verantwortlichen Politiker auf,

Ideen und Vorschläge zu einer Europapolitik zu formulieren und vorzustellen. Es lässt sich

aber m.E. zum gegenwärtigen Zeitpunkt im deutschen Zeitungsdiskurs kein wirklich

prägnantes Bild von einem zukünftigen Europa finden, das als Abbildungsstereotyp eine klare

Vorstellung von Europa ermöglichen würde. Das gegenwärtig stabilste Abbildungsstereotyp

des deutschen Zeitungsdiskurs im Rahmen der BAUWESEN-Metaphorik ließe sich

folgendermaßen formulieren: "Europa ist die Europäische Union, und diese ist eine

Baustelle".

Im russischen Europa-Diskurs bestehen andere Kommunikationsbedürfnisse als im

deutschen. Eine Mitgliedschaft in der EU beispielsweise ist kein wirkliches Thema, sondern

taucht lediglich ab und zu als relativ kuriose Idee auf. Im russischen Diskurs geht es darum,

den eigenen Platz in Europa zu bestimmen bzw. einen solchen Platz zu finden. Institutionelle

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Strukturen, die in einer solchen Standortbestimmung als Orientierungshilfe dienen könnten,

existieren nicht. Es wird allgemein über die Rolle Russlands in einem eher amorphen Raum

Europa diskutiert. Als allgemeines kognitives Schema ist daher das Bildschema BEHÄLTER

geeigneter, das als Grundlage der Haus-Metaphorik betrachtet werden kann. Dieses Schema

erlaubt die Diskussion grundsätzlicher, im russischen Diskurs wichtiger Fragen, wie der, ob

Russland in oder außerhalb von Europa ist bzw. sein sollte. Typische intertextuelle

Metaphern scheinen im russischen Diskurs solche zu sein, die der Unsicherheit über die

Machtverhältnisse im zukünftigen Europa Ausdruck verleihen. Dazu zählen die Metaphern

der Gäste und des Flurs. Zur Bedeutung des Flurs gehört es im Russischen, dass potentielle

Besucher dort warten, bis entschieden wird, ob man sie einlässt oder wieder aus der Wohnung

verweist. Das russische Abbildungsstereotyp im Rahmen der BAUWESEN-Metaphorik

könnte daher wohl lauten: "Europa ist ein Haus, und dieses ist fremdes Eigentum".

8.2 Metaphorische Modelle der Europäischen Integration im polnischen und im deutschen

Zeitungsdiskurs

In Kapitel 8.1 ist deutlich geworden, dass im deutschen Zeitungsdiskurs Europa als

das Gebiet der Europäischen Union verstanden wird, und dass in der Wahrnehmung Europas

der Aspekt des Wandels desselben heraussticht. Insbesondere wird die Aufnahme neuer

Mitglieder sowie die innere Einigung der Mitgliedsländer der EU thematisiert. Ich möchte

mich nun der Frage zuwenden, wie die Europäische Integration im polnischen und im

deutschen Zeitungsdiskurs konzeptualisiert werden, und welche Vorstellungen vom Raum

Europa hier eine Rolle spielen.6 Das Korpus enthält Metaphern aus Artikeln zur Europäischen

Integration, die in polnischen und deutschen Zeitungen und Zeitschriften im Zeitraum Januar

bis März 2000 veröffentlicht wurden. Der Analyse wurden auf polnischer Seite fünf der

auflagestärksten überregionalen Tageszeitungen unterzogen. Auf deutscher Seite wurden die

im "Pressespiegel Polen" erfassten Zeitungen genutzt. Vier der polnischen Zeitungen, nämlich

Gazeta Wyborcza, Rzeczpospolita, Trybuna und Życie, stehen dem EU-Beitritt Polens positiv

gegenüber, wobei sie sich an unterschiedliche Leserkreise richten, von sozialistischen bis zu

konservativen. Nur der “national-katholische“ (Łubienski 1999, 290ff.) Nasz Dziennik spricht

sich grundsätzlich gegen den Integrationsprozess aus. In den untersuchten deutschen

Zeitungen gibt es keine offene Ablehnug der EU-Erweiterung, es werden hauptsächlich

6 8.2 beruht z.T. auf Mikołajczyk/Zinken (2000). Die polnischen Belege sind von Beata Mikołajczyk gesammelt worden.

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landwirtschaftliche Probleme der Realisierung thematisiert. Insgesamt ist der EU-Beitritt in

polnischen Zeitungen ein wichtigeres Thema als in deutschen Zeitungen. In der deutschen

Presse ist zudem selten ein einzelnes Land wie Polen Gegenstand der Betrachtung. Meistens

ist von "den Kandidaten" die Rede.

In den beiden Korpora lassen sich drei allgemeine Schemata ausmachen, die in der

Interpretation der Europäischen Integration eine Rolle spielen. Diese drei Schemata illustriert

Schaubild 6:

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Europäische Integration

QUELLE – WEG – ZIEL

Polen

EU

Beitritt

Prozess ist Aktivität Polens:

- Weg - Wettrennen, Marsch Ziel: Europäische Union - Behälter

- geschlossenes System - Festung, Klub

- strenger Lehrer Polen: - Europameister oder Nachzügler - Schüler: Zeugnisse, Aufnahmeprüfung - bedrohliches Naturelement: überschwemmt die EU

AUSDEHNUNG

Polen

EU

Erweiterung

Prozess ist Aktivität der EU:

- Erweiterung, Expansion - Bevormundung - Dominante Kraft

EU ist: - Organismus: sucht nach seinen Wurzeln - anonyme Masse von Bürokraten: Brüssel Polen: - Opfer der Expansion

- Sklave/Halbsklave

VERBINDUNG

neue EU

Polen Westen

Gestaltung (Bauen, Familie)

Prozess ist Aktivität beider Beteiligten:

- Bauen: gemeinsames Gestalten - Familie/Eheschließung EU plus Polen = Europa = westliche Zivilisation ist: - neues, gemeinsames Haus

- Christentum als solides, gemeinsames Fundament

- Gemeinschaft, Bund - gegenseitiger Respekt - Verlobter, ältere reiche, geizige Dame

Polen: - ärmere Vettern - Heiratswillige, sich aufdrängende Dame; junger

armer Kavalier Schaubild 6: Modelle der europäischen Integration im polnischen und deutschen Diskurs

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1) Das Bildschemata QUELLE-WEG-ZIEL. Dieses Bildschema korrespondiert mit einer

reichen Bewegungsmetaphorik. Die EU ist hier das Ziel der Reise, die Kandidaten

sind Reisende, Verhandlungen sind der Weg, Probleme sind Blockaden und

Unwegsamkeiten etc.

2) Das Bildschema AUSDEHNUNG. Dieses Bildschema ermöglicht eine Metaphorik der

EU als lebender Organismus, der sich andere Organismen einverleibt.

3) Das Bildschema BINDUNG. Dieses Bildschema erlaubt eine Vorstellung der

Europäische Integration als Gestaltung durch die Verbindung unterscheidbarer

Teile. Zum einen fällt hierunter die Metaphorik des Bauens, in der die EU ein

Gebäude ist, das aus den Kandidaten und Westeuropa zusammengesetzt wird, und

das eines stabilen Fundamentes bedarf. Aber auch die Metaphorik des Heiratens und

der Zusammenführung einer Familie entspricht diesem Schema.

Diese metaphorischen Modelle setzen unterschiedliche Perspektiven in der

Interpretation der Europäischen Integration. Das folgende Schaubild illustriert dies:

Interpretation der Europäischen Integration einseitige Perspektive (c) beidseitige Perspektive (Bewegungs-Metaphorik, (Bau-Metaphorik, Heirats-Metaphorik,

Erweiterungs-Metaphorik) Familien-Metaphorik) (a) Aktivität der Beitrittsländer (b) Aktivität der EU (Bewegungs-Metaphorik) (Erweiterungs-Metaphorik) Schaubild 7: Die Perspektivität der Interpretation der Europäischen Integration

Auf einer allgemeinen Ebene lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden. Unter der

ersten Perspektive wird die Integration als einseitige Anstrengung gesehen, in der eine Seite

aktiv, die andere passiv ist. Unter der anderen Perspektive wird die Integration als beidseitige

Anstrengung gesehen. Die das BINDUNGS-Schema bildenden Metaphern des Bauens, des

Heiratens, und der Familie setzen eine beidseitige Perspektive, beide Seiten sind gleich

wichtig und für eine Integration in gleichem Maße gefordert. Die Metaphern, die eine

einseitige Perspektive setzen, können weiter unterschieden werden in bezug darauf, welche

Seite als die aktive betrachtet wird. Wird die jetzige EU als die aktive Seite dargestellt, so

wird diese Aktivität mit der dem AUSDEHNUNGS-Schema entsprechenden Erweiterungs-

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Metaphorik interpretiert. Ist von Polen oder anderen Beitrittsländern als aktiver Seite die

Rede, so wird deren Aktivität mit der auf dem QUELLE-WEG-ZIEL-Schema basierenden

Bewegungs-Metaphorik interpretiert.

Im Folgenden möchte ich die metaphorische Setzung der drei unterschiedenen

Perspektiven (a) – (c) im deutschen und im polnischen Zeitungsdiskurs erläutern.

Europäische Integration als Aktivität der Beitrittsländer

Das metaphorische Modell der Integration als Beitritt – mit den Kandidaten als

Läufern, der EU als Ziel etc. – ist das in den deutschen Pressetexten vorwiegende. Die

Kandidaten sind es, die sich ändern, die sich bewegen müssen, eine Veränderung in der EU

rückt in diesem Modell nicht ins Blickfeld. (37) "Der Streit um die Landwirtschaftsbeihilfen behindert Polens Weg in die Union (Untertitel) (...) Auf

ihrem Weg in die Europäische Union mussten die Polen das schon öfter erleben: jemand versperrt ihnen die Straße." (Süddeutsche Zeitung, 27.01.00)"

Die häufigste Benennung des Integrationsprozesses in diesem Modell ist der Beitritt.

Diese Metapher impliziert, dass die EU eine Art von betretbarem Raum ist. In der Diskussion

vermeintlicher Gefahren eines Beitritts wird der Raum der EU als geschlossener Behälter

verstanden, der durch den Beitritt gesprengt werden könnte. (38) "Stabilität allein genügt nicht (Zwischentitel). Damit die neuen Mitglieder die Union nicht sprengen,

muss sie zudem mehr von ihnen verlangen als politische und wirtschaftliche Stabilität." (Süddeutsche Zeitung, 12.02. 00)

In der Diskussion der Europäischen Integration spielt ein Verständnis von Europa im

Sinne der EU als einem fertigen Gebäude also durchaus eine Rolle, nämlich dann, wenn die

EU bzw. einige ihrer Aspekte in ihrem derzeitigen Zustand bewahrt werden soll und ein

Beitritt als problematisch betrachtet wird. Zwar wird im Zeitungsdiskurs die

perspektivensetzende Metaphorik selber nicht diskutiert, doch scheinen es Gegner eines u.a.

durch die Sprengungs-Metapher gekennzeichneten, die Gefahren des Beitrittsprozesses

betonenden Diskurses zu sein, die die implizite Auffassung der EU als eines geschlossenen

Raumes aufgreifen und diesen kritisch als verteidigte Festung bezeichnen. (39) "Kritiker wie die grüne EU-Abgeordnete Elisabeth Schroedter weisen darauf hin, dass die Kosten für die

Verteidigung der Festung Europa in vielen Fällen die Fördermittel auffressen, die die EU für den Beitrittsprozess bereitstellt." (taz, 04.02.00)

(40) "Brüssel hat den westeuropäischen Besitzstand verteidigt und die Dimension der osteuropäischen Probleme ignoriert." (Zeit, 16.03.00)

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Eine ebenfalls sehr stabile Metapher, die den Integrationsprozess als einseitige

Anstrengung der Beitrittsländer interpretiert, ist die Schüler-Lehrer-Metapher. Es wird der

Eindruck vermittelt, dass es allein die Polen sind, die sich anstrengen müssen, um eine

Integration zu ermöglichen. Die Rolle der EU-Staaten besteht darin, Wissen zu vermitteln.

Diese Metapher betrachte ich als intertextuelle Metapher. Zwar können persönliche

Schulerfahrungen eine Rolle bei der individuellen Aufnahme dieser Metaphorik spielen. Die

Stabilität dieses metaphorischen Modells beruht aber nicht auf sich alltäglich wiederholender

körperlicher Erfahrung, sondern darauf, dass sie eine kulturelle Institution als Quellbereich

wählt, zu der markante stereotype Vorstellungen, etwa die vom strengen Lehrer, vom

Musterschüler, vom Sitzenbleiber etc., also semiotische Wissensbestände existieren. Polen

als Schüler bzw. Musterschüler ist ein Land, das sich bewähren muss, indem es die

Aufnahmeprüfung in die EU besteht. Das Ziel kann nur durch Übernahme von EU-Wissen

erreicht werden, so dass diese das Vorbild ist, von dem die polnische Politik lernen soll.

Diese Sichtweise gibt einen in Deutschland und vermutlich auch anderen EU-Mitgliedsstaaten

verbreiteten Standpunkt wider, und ist in polnischen Texten sehr selten zu finden. (41) "In ein paar Jahren, wenn Polen und Tschechien die Aufnahmeprüfung in die EU bestanden haben,

wird es in Blumberg noch umweltverträglicher und leiser zugehen." (taz, 04,02.00)

Die EU ist im Rahmen dieses Metaphernsystems ein strenger Lehrer, der die

Fortschritte des Kandidaten kontrolliert: (42) "Beitritt nach Noten. Brüssel überwacht penibel die Fortschritte der Anwärter" (Überschrift)

(Süddeutsche Zeitung, 12.02.00)

Der sich vollziehende Anpassungsprozess wird sowohl in polnischen als auch in

deutschen Zeitungen häufig mit einer Reihe von Hausaufgaben für die Kandidaten

gleichgesetzt. Gerade die Metapher der Hausaufgaben wird aber auch zur Kritik an einem

einseitigen Modell genutzt. Es wird darauf hingewiesen, dass es nicht reicht, wenn die Polen

ihre Hausaufgaben erledigen. (43) Jeśli chcemy integracji, a nie prostej akcesji, to musimy wymagać partnerstwa i europejskiej

wzajemności. Nie wystarczy więc sumiennie odrobić polską lekcję [...]. (Trybuna, 17.02.00) Wenn wir eine Integration wollen, und keinen bloßen Anschluss, dann müssen wir Partnerschaftlichkeit

und europäische Gegenseitigkeit verlangen. Es reicht also nicht, gewissenhaft die polnischen Hausaufgaben zu machen [...]."

Die Einseitigkeit der Schüler-Metapher bietet Integrationsgegnern die Möglichkeit,

auf vermeintliche negative Aspekte der Integration hinzuweisen. Insbesondere im Nasz

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Dziennik ist von der bitteren Lektion die Rede, die die EU Polen erteile. Diese Metapher ist

kompatibel mit dem im Nasz Dziennik vorherrschenden Dominanz-Szenario.

In polnischen Zeitungen spielt die Beitritts-Metaphorik insgesamt eine geringere

Rolle. Als legitime Konzeptualisierung des Integrationsprozesses wird sie am ehesten in der

sozialistischen Trybuna verwendet (44 und 45). Ansonsten finden sich vor allem warnende

Stimmen vor der Abschließbarkeit des Behälters Europa, mitunter ausgedrückt in einer

Festungs-Metaphorik (46 und 47). (44) "Łącznie z pierwszą grupą, negocjującą z Brukselą od blisko dwuch lat do unijnzch bram puka obecnie

aż trzynaście państw." (Trybuna, 1.2.00) "Zusammen mit der ersten Gruppe, die seit fast zwei Jahren mit Brüssel verhandelt, klopfen derzeit

dreizehn Staaten an die Tore der EU." (45) "Coraz dalej do unii" (Trybuna, 8.3.00) Die EU rückt immer ferner. (46) "Europę trzeba otwierać, a nie zamykać – mówił Prodiemu premier." (Życie, 10.3.00) Europa muss geöffnet, nicht geschlossen werden – sagte der Premier zu Prodi. (47) "Wszysce, którzy (również w Polsce) obawiają się, że UE staje się niedostępną twierdzą, powinni się z

tej informacji ucieszyć" (Rzeczpospolita, 24.3.00) "Alle, die (auch in Polen) befürchten, die EU würde zur unzugänglichen Festung, sollten sich über

diese Nachricht freuen." Die Europäische Integration als Aktivität der EU

Das zweite häufige metaphorische Modell für die Integration Europas ist das der

Erweiterung. Hier ist die EU die aktive Seite, auch hier wird also eine einseitige Perspektive

eingenommen. Die aktive EU trägt allerdings in den deutschen Texten in dem untersuchten

Zeitraum keine Verpflichtung zu einer solchen Aktivität, die EU ist viel weniger in die Pflicht

genommen als es die "Kandidaten" durch die Schüler-Lehrer-Metapher sind. Die

Entschiedenheit des Aktanten EU scheint meist eher mittelmäßig zu sein. (48) "Dieser Forderungskatalog ist ausführlicher als bei jeder der bisherigen Aufnahmerunden, denn die EU

will das Wagnis Ost-Erweiterung berechenbar machen." (Süddeutsche Zeitung, 12.02.00)

Auch in polnischen Zeitungen ist häufig von einer Erweiterung (rozszerzenie) der EU

die Rede, vor allem in der größten polnischen Tageszeitung, der Gazeta Wyborcza. (49) "Zachód nie ma powodów bać się rozszerzenia Unii. Migracja zarobkowa ze Wschodu po rozszerzeniu

UE niemal nie wpłynie na wzrost bezrobocia w krajach Piętnastki." (Gazeta Wyborcza, 09.03.00) "Der Westen hat keinen Grund, sich vor einer Erweiterung der EU zu fürchten. Die Erwerbsmigration

aus dem Osten nach der Erweiterung beeinflusst die Arbeitslosigkeit in den jetzigen Mitgliedsländern fast überhaupt nicht."

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Der Begriff der Erweiterung, der die Aktivität der EU impliziert, wird von polnischen

Befürwörtern der Integration übernommen; man spricht viel häufiger von Erweiterung als

von Beitritt. Das Erweiterungsmodell bietet allerdings insbesondere dem anti-

Integrationsdiskurs – vor allem dem des Nasz Dziennik – ein weites Feld für emotionale

Ableitungen. Die EU wird hier als eine starke Macht angesehen, die sich (ohne Rücksicht auf

andere) erweitert. Für polnische Gegner der Integration kann das eine Art der Versklavung

bedeuten. Polnische Bürger (vor allem Bauern) werden als Menschen, die keinen Einfluss auf

die bevorstehende EU-Osterweiterung ausüben können, als Opfer einer fremden Expansion

präsentiert: (50) "Sztuczny twór – Unia Europejska – bankrut finansowy i moralny, ratujący się przed agonią, potrzebuje

taniej i zdrowej ziemi, rynku zbytu i niewolniczej siły roboczej." (Nasz Dziennik, 10.01.00) "Das künstliche Gebilde EU, finanziell und moralisch bankrott, braucht, um sich vor der Agonie zu

retten, billige und gesunde Erde, einen Absatzmarkt und Arbeitssklaven."

Für die, die solche ‘Argumente’ verwenden, steht außer Zweifel, dass die polnischen

Bauern zukünftig als Sklaven dienen werden.: (51) Wokół rolniczych spraw mnożą się dziwne zawirowania, niedopowiedzenia, tajemnicze zdarzenia. (...)

Bo żadna grupa zawodowa nie jest tak dyskretnie oblegana przez sfory urzędników jak właśnie rolnicy. To nic, że zachodni koledzy po fachu stali się już od dawna niewolnikami biurokratów – dla polskich chłopów to żadne pocieszenie. (Nasz Dziennik, 02.02.00)

"Im Kontext der Bauernfragen mehren sich merkwürdige Verirrungen, Verschweigungen, und geheimnisvolle Ereignisse. (...) Keine Berufsgruppe wird nämlich so diskret von Beamtenhorden belagert, wie die Bauern. Es ändert nichts, dass die westlichen Berufskollegen schon seit langem Sklaven der Bürokraten sind – für die polnischen Bauern ist das kein Trost."

Neben wirtschaftlicher Sklaverei wird auch eine bevorstehende nationale Sklaverei

befürchtet: (52) Zanosi się na dalszą wielowiekową niewolę, jakby w jednym ogromnym obozie, tyle, że na skalę

państwa, gdzie będzie pasował nowoczesny i „demokratyczny” napis: „Arbeit macht frei” (Nasz Dziennik, 15.03.00)

"Es steht eine weitere, jahrhundertelange Gefangenschaft bevor, wie in einem riesigen Lager, nur für den ganzen Staat, wo die moderne, "demokratische" Aufschrift passen würde: "Arbeit macht frei"."

In diesem Kontext der EU-Debatte wird mit solchen Formulierungen auch die Rolle

Deutschlands neu – aber in Einklang mit alten Ängsten – interpretiert. Demnach nehme

Deutschland die europäische Integration als Vorwand, erneut die Vorherrschaft in Europa zu

übernehmen. Beispiel (52) zeigt einmal mehr die besondere Eignung intertextuelle Metaphern

für Ideologisierungen.

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Die Europäische Integration als beidseitige Aktivität

Ein im polnischen Diskurs häufiges metaphorisches Modell der Integration ist das des

Bauens und der EU als Gebäude. (53) „Obecność prezydentów jest zapowiedzią budowy wspólnoty europejskiej na trwałych fundamentach

wzajemnego poszanowania, współpracy, solidarności narodów.” (Gazeta Wyborcza, 13.03.00) "Die Anwesenheit der Präsidenten ist ein Zeichen für den Bau der europäischen Gemeinschaft auf dem

dauerhaften Fundament von gegenseitigem Respekt, Zusammenarbeit, und Solidarität der Völker."

Dieses beidseitige Modell spielt im deutschen Diskurs in bezug auf die Aufnahme

neuer EU-Staaten keine Rolle. Dieser Befund passt zur starken Betonung des Beitrittsmodells

im deutschen Diskurs. Die Integration wird nicht als gemeinsame Anstrengung gesehen, es

sind lediglich die Kandidaten, für die sich etwas ändert. Es ist aber doch erstaunlich, dass die

Bau-Metaphorik, die im deutschen Europa-Diskurs insgesamt so eine wichtige Rolle spielt, in

bezug auf die Integration kaum angewendet wird, andererseits aber hier die Gebäude-

Metapher realisiert wird, die wiederum im Europa-Diskurs als Ganzem nicht besonders

ausgeprägt ist.

Neben der Metapher des Bauens findet auch die Familien- und Heirats-Metaphorik,

die ebenfalls eine beidseitige Perspektive etabliert, Anwendung. Die europäischen Staaten

werden hier als Familienmitglieder vorgestellt und durch ihre Position in der Familie

charakterisiert: (54) "Während sich viele Polen in Westeuropa noch als ärmere Vettern fühlen, können sie ihr

Selbstwertgefühl im Osten stärken." (Rheinischer Merkur, 21.01.00) (55) "Czy istnieje jeszcze rodzina państw chrześcijańskich?" (Nasz Dziennik, 09.03.00) "Gibt es die Familie christlicher Staaten noch?" (56) Nie hamowana ekspansja Zachodu do Polski już spowodowała u nas ogromne straty. (...) Jakie państwo

europejskie będzie chciało być dobrym wujkiem dla Polski rezygnując z części należnych im funduszy? (Nasz Dziennik, 04.02.00)

"Die ungezügelte Expansion des Westens nach Polen hat bei uns schon große Verluste verursacht. (...) Welcher europäische Staat wird für Polen der gute Onkel sein wollen und auf einen Teil der eigenen Fonds verzichten?"

Während die allgemeine Familien-Metapher in (55) die Wertegemeinschaft Europa

beschwört, haben die Familienmitglied-Metaphern eine ironische bis negative Wertung.

Dasselbe betrifft die in den meisten Fällen positiv wirkende Eheschließungs-/Heirats-

Metapher: in allen Kontexten, in denen sie in der Debatte über die EU-Erweiterung verwendet

wird, wirkt sie eher pejorativ, indem sie die Teilnehmenden veralbert. Die Integration wird als

Hochzeit dargestellt, die Verhandlungen sind deren Vorbereitungen: (57) Außenminister Bronislaw Geremek bemerkte in Helsinki bitter, die EU sei eben "wie eine Verlobte, an

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die man keine Ansprüche stellen darf". (Süddeutsche Zeitung, 23.02.00) (58) Grabowski obrazowo porównał proces integracji: „O rękę starzejącej się bogatej i nie młodej już damy

stara się młody, lecz nie bogaty kawaler. Dama ta odpowiada, że woli wolne związki i nie chce żadnej wspólnoty majątkowej. (Nasz Dziennik, 17.02.00)

"Grabowski verglich den Integrationsprozess bildhaft: 'Um die Hand einer alternden, reichen und schon nicht mehr ganz jungen Dame hält ein junger, aber nicht reicher Junggeselle an. Die Dame antwortet, dass sie freie Beziehungen bevorzugt und keine Gütergemeinschaft möchte.'"

8.3 Interpretation: Europa im Diskurs zur Europäischen Integration

Was lässt sich anhand der untersuchten Korpora über die metaphorische Interpretation

des Ortes Europa im deutschen Zeitungsdiskurs sagen?

Europa im Sinne der Europäischen Union wird im in Kapitel 8.2 untersuchten Korpus

auf dreierlei Weise interpretiert. Aus der ersten Perspektive als eine Art von geschlossenem

Raum, als Behälter, häufig als Festung; Aus der zweiten Perspektive als wachsender

Organismus; Aus der dritten Perspektive wäre Europa der Zusammenschluss voneinander

getrennter Teile. Diese Metapher kommt aber im deutschen Korpus als eigene Interpretation

Europas nicht vor.7

Dieser Befund erscheint erstaunlich. Die Untersuchung des großen PKV-Korpus zum

Europa-Diskurs hatte ergeben, dass Europa als zu bauendes Gebäude interpretiert wird, kaum

aber als fertiges Gebäude. Im untersuchten Ausschnitt des Diskurses zur Europäischen

Integration hingegen scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein: Europa wird häufig als

Gebäude, praktisch nie als etwas zu Bauendes interpretiert.

Dieses Ergebnis stützt die Auffassung, dass der Gebrauch von Metaphern in der

Sprache je nach aktuellen Kommunikationsbedürfnissen flexibel gestaltbar ist und keine

bloße Funktion kognitiver Repräsentationen darstellt. Wenn Metaphern stabile kognitive

Abbildungen wären, dann könnte man erwarten, dass die Realisierung einer Metapher (z.B.

Europa als fertiges Gebäude), zu der eine dieser widersprechende Abbildung funktioniert

(Europa als etwas zu Bauendes), in irgendeiner Weise problematisch ist, z.B. zusätzlicher

verständnissichernder Strategien bedarf. Dies ist aber nicht der Fall, und der Gebrauch

widersprüchlicher Metaphern scheint auch intuitiv nicht besonders schwierig zu sein. Im

Gegenteil, es bedarf einer linguistischen Analyse, um diesen Widerspruch erst aufzudecken.

Die "starke" Version der These metaphorischer Repräsentation scheint somit nicht haltbar zu

sein. Haltbar wäre eine "schwache" Version dieser These, die Metaphern als kulturelle

7 Bsp. (54) gibt eine fremde Perspektive auf Europa wider, Bsp. (57) ist ein Zitat eines polnischen Politikers.

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Modelle betrachtet, die in Abhängigkeit von Kommunikationsbedürfnissen, Perspektive etc.

gewählt werden, und die im Zuge von Automatisierungen dieser Wahl Begriffe mit gestalten.

Metaphern sind dann nicht stabile Verdrahtungen im Kopf des Einzelnen, die dessen Denken

bestimmen, sondern Möglichkeiten in der Umwelt des Einzelnen, die ihm zur Bewältigung

der alltäglichen kognitiven Arbeit zur Verfügung stehen.

Das folgende Schaubild soll in Anlehnung an die hier untersuchten sprachlichen

Metaphern noch einmal die Makroebene kultureller Vorstellungswelten beleuchten, nämlich

das Verhältnis zwischen den Topoi einer Gruppe, den konventionellen metaphorischen

Modellen einer Kulturgemeinschaft, und den (Abbildungs-) Stereotypen als sprachlich

gebildeten Elementen des Denkens von Mitgliedern derselben Kulturgemeinschaft.

Begriff 8 Kommunikationsbedürfnis Kulturelle Modelle z.B. Stereotyp Europa z.B. Artikulation eines Topos (T) z.B. Metaphorische Modelle (MM)

"Die Europäische Integration braucht Ideen"

MM1

MM3

c

a b

MM "Bau": Bauen, Bauleute, Bauanleitung...

Schaubild 8als Kontineals kulturhivon Begriffdes IndividGruppe. Dinach ArtikuDas sprachAutomatisiebegrenzter PBegriffs we

8 Die Art entsprechendeutschen D

1 1

3

2

"Die Europäische Ibirgt Gefahren"

a

: Das Verhältnis von Begriff, Kommuniknt (EuropaGeo); 2 = Europa als institutionstorisch-zivilisatorisch zusammengehörenswelt und Kommunikationsbedürfnis beduums in seiner Welt widergeben, beeinese beeinflussen aber auch meine Begrifflation einer Überzeugung, löst die Sucheliche Handeln in Folge von (b) kann rung können Implikationen der metaphlatz", "In Europa muss man sich an best

rden.

der grafischen Darstellung des Begriffde Objektbereich interpretiert wird, soliskurs dominant ist, dass aber Aspekt (1)

T1

T2

MM "Gebäude": Haus, Festung,

T4

ntegration Tür, Mietvertrag, Hausordnung..

MM5

b

Tn

MMn

c

ationsbedürfnis, und metaphorischen Modellen. 1 = Europa ell geeinigter Teil des Kontinents (EuropaInst); 3 = Europa der Teil des Kontinents (EuropaKult). a = Die Gestaltung ingen sich gegenseitig. Die Stereotypen, die die Situiertheit flussen die Entstehung latenter Überzeugungen in meiner swelt; b = Ein Kommunikationsbedürfnis, z.B. der Wunsch nach einer angemessenen Artikulationsmöglichkeit aus. c = kurzfristig einen Begriff mitgestalten. Bei zunehmender

orischen Abbildung (z.B. MM "Gebäude": "In Europa ist immte Regeln halten"...) stabiler Bestandteil des profilierten

s Europa als Gesamtheit der Aspekte, unter denen der l berücksichtigen, dass Aspekt (2) (=EuropaInst) zwar im (=EuropaGeo) logisch primär ist.

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Abbildungsstereotypen benötigen in ihrer Herausbildung also die konventionellen

sprachlichen Modelle der Kulturgemeinschaft, zeigen aber eine starke Anbindung an

außersprachliche Überzeugungen einer bestimmten Gruppe. Dies zeigt sich auch im

deutschen Abbildungsstereotyp zur Integration Polens in die EU, das sich folgendermaßen

formulieren lässt: (59) "Die Integration ist körperliche und geistige Anstrengung Polens."

In dieser Realisierung der Bewegungs-Metaphorik tauchen Veränderungen in

Deutschland selbst als Voraussetzung für die Integration, wie sie etwa die Gestaltungs-

Metaphorik ins Blickfeld rückt, nicht auf. Bewegen, verändern müssen sich nur die

Kandidaten. Es spricht daher nichts dagegen, die Europäische Union als etwas Fertiges zu

betrachten. Die Gebäude-Metaphorik, die in der Vorstellungswelt des Deutschen zur

Interpretation von Institutionen gut gefestigt ist, bietet sich hierfür an. Diese ermöglicht

wiederum die Ableitung, der Beitritt neuer Ländern sei problematisch, da in einem

geschlossenen Raum nun einmal begrenzter Platz ist. Zwei sehr leistungsstarke metaphorische

Modelle, die in allen Zeitungen in der Diskussion der Europäischen Union gebraucht werden,

tragen somit bei zur Stabilisierung einer problematischen Interpretation der Europäischen

Integration, die in politologischen und ökonomischen Studien als unangemessen beurteilt

wird, und die wohl die meisten der Autoren der hier untersuchten Texte in explizit

formulierter Form selber ablehnen würden: einer Interpretation, gemäß derer die Europäische

Integration keine Veränderungen für Deutschland bedeuten muss, und in der Veränderungen

am ehesten als Gefahren, als Wandel zum Schlechteren verstehbar sind.

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