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155 8 Im Detail: Vorsorge für den Verlust der Arbeitskraft 8.1 Berufsunfähigkeitsversicherung 8.1.1 Warum eine Berufsunfähigkeitsabsicherung so wichtig ist Bei der Berufsunfähigkeitsversicherung geht es anders als bei den übrigen Formen der Lebensversicherung nicht um „Leben oder Tod“; zumindest nicht im versicherungstechnischen Sinn. Basis sind also nicht die Lebensrisiken Erleben oder Todesfall, sondern die Absicherung von bestimmten Fähigkeiten, in diesem Fall der eigenen Arbeitskraft. Leistungen werden – stark verein- facht formuliert – dann erbracht, wenn (und solange) der Kunde nicht mehr dazu in der Lage ist, seinen bisherigen Beruf weiter auszuüben. Tatsächlich ist der Verlust der Arbeitskraft eines der großen und existenziellen Risiken, die jeder Mensch hat. Aus dem regelmä- ßigen Einkommen muss der tägliche Lebensunterhalt bestritten werden – oft nicht nur für sich selbst, sondern auch für Familien- angehörige. Fällt das Einkommen geringer aus oder sogar voll- ständig weg, steht man vor dem Problem, diese finanzielle Lücke irgendwie aufzufangen. Eine gesetzliche Absicherung gibt es, allerdings nur in bestimm- ten Fällen, und deren Höhe wird meist überschätzt (ausführlich im Abschnitt 3.5.4). Anderweitig zusätzliches Einkommen zu erzielen, z. B. dadurch dass der Erkrankte eine andere Tätigkeit ausübt oder der Ehepartner mehr arbeitet, ist in der Praxis oft nicht so einfach. Eine private Vorsorge für diesen Fall ist daher unbedingt empfehlenswert. Sie gehört zu den wichtigsten Versi- cherungsverträgen überhaupt. Die finanzielle Dimension dieses Risikos, der Wert der Arbeits- kraft, ist vielen Menschen nicht bewusst. Häufig werden Wertge- genstände wie Häuser, Autos oder gar Handys umfassend versi- chert, aber das oft größte Vermögen, die Fähigkeit Einkommen zu erzielen, dagegen nicht oder nur unzureichend. Ein einfaches Rechenbeispiel macht dies deutlich: ARBEITSKRAFT Muster Verlag Versicherungswirtschaft GmbH

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8 Im Detail: Vorsorge für den Verlust der Arbeitskraft

8.1 Berufsunfähigkeitsversicherung8.1.1 Warum eine Berufsunfähigkeitsabsicherung

so wichtig ist

Bei der Berufsunfähigkeitsversicherung geht es anders als bei den übrigen Formen der Lebensversicherung nicht um „Leben oder Tod“; zumindest nicht im versicherungstechnischen Sinn. Basis sind also nicht die Lebensrisiken Erleben oder Todesfall, sondern die Absicherung von bestimmten Fähigkeiten, in diesem Fall der eigenen Arbeitskraft. Leistungen werden – stark verein-facht formuliert – dann erbracht, wenn (und solange) der Kunde nicht mehr dazu in der Lage ist, seinen bisherigen Beruf weiter auszuüben.

Tatsächlich ist der Verlust der Arbeitskraft eines der großen und existenziellen Risiken, die jeder Mensch hat. Aus dem regelmä-ßigen Einkommen muss der tägliche Lebensunterhalt bestritten werden – oft nicht nur für sich selbst, sondern auch für Familien-angehörige. Fällt das Einkommen geringer aus oder sogar voll-ständig weg, steht man vor dem Problem, diese finanzielle Lücke irgendwie aufzufangen.

Eine gesetzliche Absicherung gibt es, allerdings nur in bestimm-ten Fällen, und deren Höhe wird meist überschätzt (ausführlich im Abschnitt 3.5.4). Anderweitig zusätzliches Einkommen zu erzielen, z. B. dadurch dass der Erkrankte eine andere Tätigkeit ausübt oder der Ehepartner mehr arbeitet, ist in der Praxis oft nicht so einfach. Eine private Vorsorge für diesen Fall ist daher unbedingt empfehlenswert. Sie gehört zu den wichtigsten Versi-cherungsverträgen überhaupt.

Die finanzielle Dimension dieses Risikos, der Wert der Arbeits-kraft, ist vielen Menschen nicht bewusst. Häufig werden Wertge-genstände wie Häuser, Autos oder gar Handys umfassend versi-chert, aber das oft größte Vermögen, die Fähigkeit Einkommen zu erzielen, dagegen nicht oder nur unzureichend. Ein einfaches Rechenbeispiel macht dies deutlich:

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Im Detail: Vorsorge für den Verlust der Arbeitskraft

Beispiel: Vermögenswerte eines 40-jährigen Angestellten, 3.000 € Netto-einkommen

8.1.1.1 Wer kann betroffen sein?

Die Gefahr, berufsunfähig zu werden, wird von den meisten Men-schen maßlos unterschätzt. Jeder dritte Arbeiter und jeder fünfte Angestellte werden vor Erreichen der Rentenaltersgrenze berufs-unfähig. Insgesamt ist es etwa jeder Vierte, den dieses Schicksal ereilt.

Rund 40.000 BU-Leistungsanträge erhalten die deutschen Lebensversicherer jedes Jahr (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., 2016). Grundsätzlich können Er-werbstätige in jedem Alter betroffen sein.

Warum werden Menschen berufsunfähig? Die Ursachen unter-scheiden sich nach Beruf, Altersgruppe oder Geschlecht. In den letzten Jahren hat es in diesem Bereich deutliche Verschiebun-gen gegeben. Insgesamt sind Nervenerkrankungen auf dem Vor-marsch und inzwischen BU-Ursache Nummer 1 – insbesondere bei kaufmännischen Berufen und bei Frauen. Jeder dritte Leis-tungsfall ist mittlerweile auf eine solche Ursache zurückzuführen.

Körperlich Tätige sind nach wie vor am häufigsten von Erkrankun-gen des Bewegungsapparates betroffen (Wirbelsäule, Gelenke etc.). Unfälle spielen dagegen, anders als vielfach vermutet, nur eine sehr untergeordnete Rolle.

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Berufsunfähigkeitsversicherung

Quelle: Morgen & Morgen GmbH, Stand 04/2015

Zu den zunehmenden Nervenerkrankungen zählen unter ande-rem psychische und seelische krankheiten wie Depressionen, Angststörungen und vor allem typische „Stress-Erkrankungen“ wie z. B. das Burn-out-Syndrom. Es ist allerdings umstritten, in-wieweit diese in der Bevölkerung tatsächlich zahlenmäßig zuneh-men oder ob es sich um einen statistischen Effekt handelt.

Steigende Anforderungen und ein zunehmender Zeit- und Leis-tungsdruck könnten bei vielen Arbeitnehmern der Auslöser für die stressbedingten Erkrankungen sein. Es ist aber auch eine Tatsache, dass beispielsweise das Thema Burn-out erst in den letzten Jahren im Bewusstsein der breiten Bevölkerung und auch bei vielen Ärzten angekommen ist. Heute werden solche Diagno-sen möglicherweise auch früher und in größerer Zahl gestellt als früher.

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8.1.2 Welche Leistungen werden erbracht?Ist der Kunde berufsunfähig, werden die vereinbarten Leistungen erbracht. Dabei gibt es zwei grundsätzliche Leistungsarten.

■ BeitragsbefreiungZunächst müssen für den Vertrag keine Beiträge mehr be-zahlt werden (sogenannte Beitragsbefreiung). Dies gilt auch dann, wenn die Berufsunfähigkeit als Zusatzversicherung mit einer Renten- oder Kapitallebensversicherung kombi-niert wird. In diesem Fall wird bei Berufsunfähigkeit auch der Hauptvertrag beitragsfrei – bei voller Leistungshöhe. Die Versicherungsgesellschaft bezahlt also den Beitrag für den Kunden weiter, so dass sich auch die angestrebte Altersvor-sorge weiter aufbaut.Da berufsunfähige Menschen oft mit finanziellen Problemen zu kämpfen haben, würden diese Verträge sonst wohl in den meisten Fällen stillgelegt oder gekündigt werden müssen.

■ BerufsunfähigkeitsrenteZusätzlich kann eine monatliche Rentenzahlung vereinbart werden. Sie soll den Verlust des regelmäßigen Erwerbsein-kommens ausgleichen. Die Höhe dieser Rente ist grundsätz-lich frei wählbar.Aus Sicht des Versicherers wird allerdings darauf geach-tet, dass die Absicherung nicht zu hoch ausfällt. Sie sollte, zusammen mit weiteren Absicherungen bei Berufsunfähig-keit, die vielleicht noch bestehen, geringer ausfallen als das Einkommen, das der Kunde während des Arbeitslebens zur Verfügung hat.

Hintergrund: Moralisches Risiko

Der Grund für die Begrenzung der Versicherungshöhe liegt im sogenannten subjektiven oder moralischen Risiko. Dieses Risiko beinhaltet die Gefahr, dass ein Versicherter sein Verhalten verändert, gerade weil er eine Versiche-rung abgeschlossen hat.

Er könnte sich z. B. riskanter oder rücksichtsloser verhalten, Vorsorgeunter-suchungen oder ärztliche Behandlungen vernachlässigen oder im Extremfall sogar auf die Idee kommen, den Eintritt des Versicherungsfalles in irgendei-ner Form zu begünstigen.

Daher soll es trotz der bestehenden Versicherung für den Kunden unbedingt attraktiver sein zu arbeiten, als die Versicherungsleistung in Anspruch zu nehmen.

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Berufsunfähigkeitsversicherung

Aus diesem Grund müssen die Versicherer vor Abschluss eines Versicherungsvertrages meist das aktuelle Einkommen des Kun-den kennen. In der Praxis werden dann meist maximal zwischen 70 % und 85 % des letzten Nettoeinkommens abgesichert – je nach Anbieter.

8.1.3 Wann wird geleistet – was bedeutet „berufsunfähig“?

Berufliche Tätigkeiten sind enorm vielfältig. Körperliche, geistige und psychische Belastungen sind unterschiedlich, Anforderungen an Ausbildung, Wissen und Erfahrung ebenfalls. Das gilt aber nicht nur für unterschiedliche Berufe. Selbst Menschen im glei-chen Beruf üben nicht unbedingt die gleiche Tätigkeit aus.

Beispiel: Zwei Bäcker

Ein Bäcker in einem kleinen Familienbetrieb wird körperlich stark bean-sprucht, weil er häufig Säcke mit Mehl oder anderen Zutaten in der Backstu-be tragen muss. Er backt unterschiedliche Produkte und benötigt dabei auch handwerkliches Geschick. Zudem ist er vielleicht auch zeitweise noch im Verkauf tätig oder liefert fertige Erzeugnisse mit einem Lieferwagen aus.

Das Tätigkeitsbild eines Bäckers in einer industriellen Großbäckerei sieht dagegen ganz anders aus. Er ist wesentlich mehr an computergesteuerten, großen Maschinen tätig, muss diese entsprechend bedienen und befüllen. Schwere Lasten trägt er kaum, weil dies weitgehend durch Maschinen oder Hilfsmittel übernommen wird. Handwerklich ist er deutlich weniger tätig, damit die Erzeugnisse einheitlicher sind. Er ist eher spezialisiert, arbeitet oft im Schichtbetrieb und wird normalerweise nicht im Verkauf eingesetzt.

Ein Rückenleiden, dass es verhindert, schwere Lasten zu tragen, wird den ersten Bäcker deutlich schwerer treffen als den zweiten. Gleiches gilt, wenn beispielsweise durch eine Verletzung die Fingerfertigkeit oder die Kraft in einer Hand oder einem Arm reduziert würde. Im industriellen Bereich sind für einen solchen Mitarbeiter durchaus noch Einsatzmöglichkeiten denkbar. In der kleinen Backstube wäre es deutlich schwerer.

Dadurch unterscheiden sich auch die versicherungstechnischen Risiken von Person zu Person und damit auch die Frage, wann genau jemand als berufsunfähig angesehen wird. Der Versiche-rer muss sich vor Vertragsabschluss daher ein möglichst genau-es Bild darüber machen, was der Versicherte beruflich in der Praxis tut.

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8.1.3.1 Gesetzliche Definition der Berufsunfähigkeit

Was im juristischen Sinn als berufsunfähig gilt, legt das Versiche-rungsvertragsgesetz fest. Darin heißt es:

Alle Produkte, die als „Berufsunfä-higkeitsversicherungen“ verkauft werden, müssen dieser Grunddefi-nition mindestens entsprechen. Es handelt sich also um den untersten zulässigen Standard. Besserstel-lungen gegenüber dem Gesetz sind aber durchaus möglich und werden

im Markt auch von vielen Anbietern vorgenommen.

Was bedeutet die gesetzliche Regelung nun für die Praxis?

sein zuletzt ausgeübter Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen ausgestaltet war

Hat der Versicherte aufgrund einer Erkrankung sein Arbeitspen-sum verringert oder seine Tätigkeit anders ausgerichtet, wird dies bei der Beurteilung einer möglichen Berufsunfähigkeit nicht berücksichtigt. Es geht also um die berufliche Tätigkeit „in gesun-den Tagen“.

Beispiel: Veränderung des Arbeitsalltags wegen gesundheitlicher Beschwerden

Ein Lagerist, der täglich schwere Kisten und Gegenstände tragen muss, leidet an Rückenbeschwerden. Die Schmerzen beginnen allmählich und steigern sich im Krankheitsverlauf immer mehr. Zunächst arbeitet der Kunde also normal weiter (z. B. mithilfe von Schmerzmitteln). Allmählich beginnt er aber seine Arbeitsabläufe soweit wie möglich anzupassen und bittet z. B. Kollegen, ihm beim Tragen behilflich zu sein. Später versucht er, durch eine Reduzierung der Arbeitszeit seinen Arbeitsplatz erhalten zu können. Für we-nige Stunden täglich ist die körperliche Beanspruchung noch zu bewältigen. Irgendwann aber wird er – zuerst vorübergehend, dann längerfristig – krank-geschrieben, da auch mit ärztlichen Mitteln den Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule nicht beizukommen ist.

Für die Beurteilung, ob dieser Kunde nun als berufsunfähig anzusehen ist, wird die ursprüngliche Tätigkeit als Vergleichsmaßstab herangezogen. Das ist auch sinnvoll, denn schließlich können z. B. die Kollegen nicht dauerhaft einen Teil der Arbeit mit übernehmen.

Berufsunfähigkeit – § 172 Abs. 2 VVG

Berufsunfähig ist, wer seinen zuletzt ausgeübten Be-ruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann.

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infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersent-sprechendem Kräfteverfall

Diese Passage besagt im Prinzip nur, dass es grundsätzlich egal ist, warum die Berufsunfähigkeit eintritt. Es sind alle Arten von Krankheiten oder Unfällen versichert. Ausnahmen bestehen le-diglich in bestimmten Einzelfällen, z. B. wenn sich der Versicher-te absichtlich selbst verletzt oder die Berufsunfähigkeit bei der Ausübung einer Straftat entsteht. Solche Ereignisse sind in vielen Produkten von der Leistung ausgenommen.

Die Formulierung „mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall“ wird am Markt teilweise inhaltlich diskutiert, in der Praxis spielt sie aber keine Rolle. Der Grundgedanke ist klar: Ein altersentspre-chender Kräfteverfall ist natürlich und wird bei allen Menschen früher oder später eintreten. Die körperliche Leistungsfähigkeit, z. B. Muskelkraft, Beweglichkeit aber auch Seh- oder Hörvermö-gen, geht üblicherweise mit zunehmendem Alter zurück. Diese Tatsache kann aber nicht der Auslöser für eine Versicherungsleis-tung sein, da sonst jeder Versicherte irgendwann berufsunfähig würde und die Produkte somit unbezahlbar teuer sein müssten.

Berufsunfähig ist man also nur, wenn „mehr als altersentspre-chender Kräfteverfall“ vorliegt. Das Nachlassen der eigenen Fähigkeiten muss vom „Normalfall“ abweichen. Ist dies der Fall, wird in fast allen Fällen auch eine – wie auch immer geartete Krankheit – vorliegen. Dann ist eine Leistung wegen Berufsunfä-higkeit möglich.

ganz oder teilweise vorausichtlich auf Dauer nicht mehr aus-üben kann

Diese Formulierung hat in zweierlei Hinsicht sehr große Bedeu-tung. Zum einen geht es darum, wie sehr die Berufsausübung eingeschränkt sein muss, zum anderen um die voraussichtliche Dauer dieses Zustands, den sogenannten Prognosezeitraum.

Was das Ausmaß der Berufsunfähigkeit angeht, lässt das Gesetz einen sehr großen Spielraum („ganz oder teilweise“). Die Anbieter können an dieser Stelle also weitgehend frei gestalten. Die am Markt angebotenen Versicherungsprodukte leisten zum ganz überwiegenden Teil dann, wenn der Versicherte seine letzte Tätigkeit zu mindestens 50 % nicht mehr ausüben kann.

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Diese Grenze hat sich aus der Praxis heraus gebildet und geht damit einen Mittelweg zwischen einem möglichst werthaltigen Versicherungsschutz und einem bezahlbaren Preis. Läge die Leistungsgrenze niedriger, würden deutlich mehr Menschen als berufsunfähig angesehen und die Beiträge für Berufsunfähigkeits-tarife müssten drastisch höher liegen. Würde die Versicherungs-leistung erst ab z. B. 100 % Berufsunfähigkeit fällig, kämen nur sehr wenige Kunden – mit schweren Erkrankungen oder Verlet-zungen – in den Genuss einer Auszahlung.

Pauschal- oder staffelregelung

Sobald ein Versicherter zu mindestens 50 % berufsunfähig ist, er-hält er pauschal die volle vereinbarte Versicherungsleistung, egal wie hoch der Grad der Berufsunfähigkeit tatsächlich ist. Dieses Modell bezeichnet man daher auch als Pauschalregelung.

Vereinzelt werden auch Produkte mit sogenannten Staffelregelun-gen am Markt angeboten. Diese leisten bereits ab einem niedri-geren Berufsunfähigkeitsgrad, aber in vielen Fällen nur teilweise.

Ein gängiges Beispiel:

■ von 0 bis 24 % Berufsunfähigkeit: keine Leistung (0 %)

■ Berufsunfähigkeit zwischen 25 und 74 %: Leistung gemäß BU-Grad (25–74 %)

■ Ab 75 % Berufsunfähigkeit: volle Leistung (100 %)

Andere Grenzen wären auch möglich, haben sich aber bisher in der Praxis nicht etabliert. Ein wesentliches Problem bei der Staffelregelung ist die Feststellung des genauen Ausmaßes der Berufsunfähigkeit. Ärzte sind in der Praxis nur schwer in der Lage, z. B. zwischen 30 und 35 % Berufsunfähigkeit präzise zu unterscheiden. Für den Kunden kann dies aber finanziell einen deutlichen Unterschied ausmachen. Daher können im Leistungs-fall an dieser Stelle vermehrt Streitigkeiten entstehen, die über verschiedene Gutachten und letztendlich oft vor Gericht geklärt werden müssen.

Die Frage, ob Pauschal- oder Staffelregelung die bessere Lösung für einen Kunden ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Es hängt unter anderem maßgeblich von der beruflichen Tätigkeit ab, welche Variante am besten geeignet ist.

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Prognosezeitraum

Ganz eng mit dem Ausmaß der Berufsunfähigkeit verbunden ist die Frage, wie lange diese denn voraussichtlich anhalten muss, damit der Kunde eine Leistung erhält (Prognosezeitraum). Laut Gesetz müsste die Berufsunfähigkeit „voraussichtlich auf Dauer“ bestehen, d. h. ein Arzt müsste attestieren, dass sie in der fest-gestellten Höhe voraussichtlich ein (Berufs-)Leben lang bestehen bleiben wird.

In der Praxis gibt es solche Fälle, es sind aber die wenigsten. Es handelt sich dann meist um sehr schwere Verletzungen oder Erkrankungen, bei denen keine Aussicht auf Besserung besteht. Bei der großen Mehrzahl der gesundheitlichen Probleme ist aber entweder eine Heilung ausdrücklich zu erwarten oder die weitere Prognose ist für den Arzt nicht oder nur schwer abzuschätzen. Daher würde die gesetzliche Formulierung nur zu sehr wenigen Leistungsansprüchen bei Kunden führen.

Die meisten Produkte am Markt definieren daher einen kürzeren Prognosezeitraum, meist 6 Monate. Den Unterschied zur gesetzli-chen Formulierung kann man sich am besten anhand von Unfall-folgen deutlich machen.

Beispiel: Zeitlich begrenzte Berufsunfähigkeit

Eine kaufmännische Angestellte erleidet einen schweren Verkehrsunfall. Sie zieht sich unter anderem einen komplizierten Beckenbruch sowie schwere Bänder- und Sehnenverletzungen am rechten Bein zu. Je nach genauer Diagnose ist es hier durchaus möglich, dass ein Arzt zu der Einschätzung kommt, dass diese Patientin ihren Beruf für mindestens 6 Monate nicht aus-üben können wird. Es ist aber voraussichtlich mit einer – mehr oder weniger vollständigen – Genesung zu rechnen, so dass die Frau wohl später in ihren Beruf zurückkehren kann. Davon ist umso mehr auszugehen, weil sie eine sitzende und körperlich nicht belastende Tätigkeit ausübt.

Nach der gesetzlichen Definition würde keine Berufsunfähigkeit vorliegen, da die gesundheitliche Einschränkung voraussichtlich nicht dauerhaft ist. Liegt der Prognosezeitraum bei 6 Monaten würde die Kundin zumindest vorüber-gehend Leistungen erhalten.

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