978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken...

20
Weihnachten mit

Transcript of 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken...

Page 1: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Weihnachten mit

Page 2: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

insel taschenbuch

Weihnachten mit Goethe

Page 3: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Weihnachten, das ist in GoethesWelt ein Fest des Kindes, das persönlichintensiv erlebt und literarisch immer wieder lebendig gestaltet wird.Einmal ist es Wilhelm Meister, der mit dem Puppenspiel beschenkt wird,dann sind es die eigenen Enkel, die liebevoll in ihrer Aufregung wahr-genommen werden. Auch Goethes Mutter trägt ihren Teil zum Fest bei,und Goethe behält überdies die vielen bildlichen Darstellungen der Weih-nachtsszene imAuge. Erstaunlich ist, mit welcher Anschaulichkeit auchSilvesterundNeujahr,danndasDreikönigsfest indieWahrnehmungdiesernicht immer nur stillen Zeit einbezogen werden.

Mathias Mayer, geboren , lehrt Neuere Deutsche Literaturwissen-schaft an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte liegen imBereich der Goethezeit, der österreichischen Literatur, des Musikthea-ters und der Ethik.

Page 4: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Herausgegeben von Mathias Mayer

Insel Verlag

Page 5: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Erste Auflage insel taschenbuch

Originalausgabe© Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichenVortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, aucheinzelner Teile.Kein Teil desWerkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilmoder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages re-produziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, ver-vielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlagabbildungen: akg-images; FinePic®Umschlag: zero-media.net, MünchenSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyISBN ----

Page 6: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Weihnachten

Page 7: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen
Page 8: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Frankfurt, . Dezember An Kestner

Cristtag früh. Es ist noch Nacht lieber Kestner, ich binn auf-gestanden umbey LichteMorgens wieder zu schreiben, dasmirangenehmeErinnerungen voriger Zeiten zurückruft; ich habemir Coffee machen lassen den Festtag zu ehren und will euchschreiben biss es Tag ist. Der Türner hat sein Lied schon ge-blasen ich wachte drüber auf. Gelobet seyst du Jesu Crist. Ichhab diese Zeit des Jahrs gar lieb, die Lieder die man singt; unddie Kälte die eingefallen ist machtmich vollends vergnügt. Ichhabe gestern einen herrlichen Tag gehabt, ich fürchtete fürden heutigen, aber der ist auch gut begonnen und da ist mirsfürs enden nicht Angst. Gestern Nacht versprach ich schonmeinen lieben zwey Schattengesichtern euch zu schreiben, sieschweben ummein Bett wie Engel Gottes. Ich hatte gleich beymeiner Ankunft Lottens Silhouette angesteckt,wie ich inDarm-stadt war stellen sie mein Bett herein und siehe Lottens Bildsteht zu Häupten das freute mich sehr, Lenchen hat ietzt dieandre Seite ich danck euch Kestner für das liebe Bild, es stimmtweit mehr mit dem überein was ihr mir von ihr schriebt alsalles was ich immaginirt hatte; so ist es nichts mit uns die wirrathen phantasiren und weissagen. Der Türner hat sich wie-der zu mir gekehrt, der Nordwind bringt mir seine Melodie,als blies er vor meinemFenster. Gestern lieber Kestner war ichmit einigen guten Jungens auf dem Lande, unsre Lustbaarkeitwar sehr laut, und Geschrey und Gelächter von Anfang zuEnde. Das taugt sonst nichts für die kommende Stunde, Dochwas können die heiligen Götter nicht wenden wenns Ihnen be-liebt, sie gabenmir einen frohenAbend, ich hatte keinenWeingetruncken, mein Aug war ganz unbefangen über die Natur.Ein schöner Abend, als wir zurückgingen es ward Nacht. Nun

7

Page 9: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

muss ich dir sagen das ist immer eine Sympatie für meine seelewenn die Sonne lang hinunter ist und die Nacht von Morgenherauf nach Nord und Süd umsich gegriffen hat, und nur nochein dämmernder Kreis vom abend heraufleuchtet.

FA II., S.

Aus »Die Leiden des jungen Werther«

am . Dec.Ich danke deiner Liebe,Wilhelm, daß du das Wort so aufgefan-gen hast. Ja, du hast Recht: mir wäre besser, ich ginge. Der Vor-schlag, den du zu einer Rückkehr zu euch thust, gefälltmir nichtganz; wenigstensmöchte ich noch gerne einenUmwegmachen,besonders da wir anhaltenden Frost und guteWege zu hoffenhaben. Auch ist mir es sehr lieb, daß du kommen willst, michabzuhohlen; verziehenur nochvierzehnTage,underwartenocheinen Brief vonmir mit demweiteren. Es ist nöthig daß nichtsgepflückt werde, ehe es reif ist; Und vierzehn Tage auf oder abthun viel. Meiner Mutter sollst du sagen: daß sie für ihren Sohnbethen soll und daß ich sie um Vergebung bitte,wegen alles Ver-drusses, den ich ihr gemacht habe. Das war nun mein Schick-sal, die zu betrüben denen ich Freude schuldig war. Lebwohl,mein Theuerster! Allen Segen des Himmels über dich! Leb-wohl!

Was in dieser Zeit in Lottens Seele vorging,wie ihre Gesin-nungen gegen ihrenMann, gegen ihren unglücklichen Freundgewesen, getrauen wir uns kaum mit Worten auszudrücken,ob wir uns gleich davon, nach der Kenntniß ihres Charakters,wohl einen stillen Begriff machen können und eine schöne

8

Page 10: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihr empfin-den kann.

So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen alles zuthun, um Werthern zu entfernen und wenn sie zauderte, sowares eineherzliche freundschaftliche Schonung,weil siewußte,wie viel es ihm kosten, ja daß es ihm beynahe unmöglich seynwürde. Doch ward sie in dieser Zeit mehr gedrängt Ernst zumachen; es schwieg ihr Mann ganz über dieß Verhältniß,wiesie auch immer darüber geschwiegen hatte und um so mehrwar ihr angelegen, ihm durch die That zu beweisen, wie ihreGesinnungen der seinigen werth seyen.

An demselben Tage alsWerther den zuletzt eingeschaltetenBrief an seinen Freund geschrieben, es war der Sonntag vorWeihnachten, kam erAbends zu Lotten und fand sie allein. Siebeschäftigte sich einige Spielwerke in Ordnung zu bringen, diesie ihren kleinen Geschwistern zum Christgeschenke zurechtgemacht hatte. Er redete von demVergnügen, das die Kleinenhaben würden, und von den Zeiten, da einen die unerwarteteÖffnung der Thür und die Erscheinung eines aufgeputztenBaumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk und Äpfeln, in para-diesische Entzückung setzte. Sie sollen, sagte Lotte, indem sieihre Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg, Sie sollenauch beschert kriegen,wennSie recht geschickt sind; einWachs-stöckchen und noch was. –Und was heissen Sie geschickt seyn?rief er aus; wie soll ich seyn? wie kann ich seyn? beste Lotte!Donnerstag Abend, sagte sie ist Weihnachtsabend, da kom-men die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes das seinige,da kommen Sie auch – aber nicht eher. – Werther stutzte. –Ich bitte Sie, fuhr sie fort, es ist nun einmal so, ich bitte Sie ummeiner Ruhe willen, es kann nicht, es kann nicht so bleiben! –Er wendete seineAugen von ihr, und ging in der Stube auf undab, undmurmelte das: Es kann nicht so bleiben! zwischen den

9

Page 11: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Zähnen. Lotte, die den schrecklichen Zustand fühlte, woreinihn diese Worte versetzt hatten, suchte durch allerley Fragenseine Gedanken abzulenken, aber vergebens. Nein, Lotte, riefer aus, ichwerde Sie nicht wiedersehen!Warumdas? versetztesie,Werther, Sie können, Sie müssen uns wieder sehen, nurmäßigen Sie sich. O,warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit,dieser unbezwinglich-haftenden Leidenschaft für alles wasSie einmal anfassen, gebohren werden! Ich bitte Sie, fuhr siefort, indem sie ihn bey der Hand nahm, mäßigen Sie sich! IhrGeist, Ihre Wissenschaften, Ihre Talente, was biethen die Ih-nen für mannichfaltige Ergetzungen dar? Seyn Sie ein Mann!wenden Sie diese traurige Anhänglichkeit von einem Ge-schöpf, das nichts thun kann als Sie bedauren. – Er knirrtemit den Zähnen und sah sie düster an. Sie hielt seine Hand.Nur einen Augenblick ruhigen Sinn,Werther! sagte sie. Füh-len Sie nicht daß Sie sich betrügen, sich mit Willen zu Grunderichten! Warum denn mich, Werther? just mich, das Eigen-thum eines Andern? just das? Ich fürchte, ich fürchte, es ist nurdie Unmöglichkeit mich zu besitzen, die Ihnen diesenWunschso reizendmacht. Er zog seineHand aus der ihrigen, indem ersie mit einem starren unwilligen Blick ansah.Weise! rief er,sehr weise! Hat vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht?Politisch! sehr politisch! – Es kann sie jeder machen,versetztesie drauf. Und sollte denn in der weiten Welt kein Mädchenseyn, das dieWünsche Ihres Herzens erfüllte? Gewinnen Sie’süber sich, suchen Sie darnach, und ich schwöre Ihnen Sie wer-den sie finden; denn schon lange ängstet mich für Sie und unsdie Einschränkung, in die Sie sich diese Zeit her selbst gebannthaben. Gewinnen Sie es über Sich! eine Reise wird Sie, muß Siezerstreuen! Suchen sie, finden Sie einen werthen GegenstandIhrer Liebe, und kehren Sie zurück und lassen Sie uns zusam-men die Seligkeit einer wahren Freundschaft genießen.

10

Page 12: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Das könnte man, sagte er mit einem kalten Lachen, druckenlassen, und allen Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte! lassenSie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird alles werden! –Nurdas,Werther,daßSienicht eherkommenalsWeihnachtsabend!–Er wollte antworten und Albert trat in die Stube. Man bothsich einen frostigen Guten Abend und ging verlegen im Zim-mer neben einander auf und nieder.Werther fing einen unbe-deutenden Discurs an, der bald aus war, Albert desgleichen, dersodann seine Frau nach gewissen Aufträgen fragte, und als erhörte sie seyen noch nicht ausgerichtet, ihr einigeWorte sagte,die Werthern kalt ja gar hart vorkamen. Er wollte gehen, erkonnte nicht und zauderte bis acht, da sich denn seinUnmuthund Unwillen immer vermehrte, bis der Tisch gedeckt wurdeund erHut und Stock nahm. Albert lud ihn zu bleiben, er aber,der nur ein unbedeutendes Compliment zu hören glaubte,dankte kalt dagegen und ging weg.

Er kam nach Hause, nahm seinem Burschen, der ihm leuch-tenwollte,dasLichtausderHandundgingallein inseinZimmer,weinte laut, redete aufgebracht mit sich selbst, ging heftig dieStube auf und ab, und warf sich endlich in seinen Kleidern aufsBette,wo ihn der Bediente fand, der es gegen eilfe wagte hineinzu gehen, um zu fragen, ob er demHerrn die Stiefeln ausziehensollte? das er denn zuließ und dem Bedienten verboth, den an-dernMorgen ins Zimmer zu kommen, bis er ihn rufen würde.

Montags früh, den ein und zwanzigsten December schrieber folgenden Brief an Lotten, den man nach seinem Tode ver-siegelt auf seinem Schreibtische gefunden und ihr überbrachthat, und den ich Absatzweise hier einrücken will, so wie ausden Umständen erhellet, daß er ihn geschrieben habe.

Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe ichdir ohne romantische Überspannung gelassen, an demMorgen

11

Page 13: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

des Tages, an dem ich dich zum letztenmale sehen werde.Wenndu dieses liesest, meine Beste, deckt schon das kühle Grab dieerstarrten Reste des Unruhigen, Unglücklichen, der für dieletzten Augenblicke seines Lebens keine größere Süßigkeitweiß als sichmit dir zu unterhalten. Ich habe eine schrecklicheNacht gehabt, und ach! eine wohlthätige Nacht. Sie ist es, diemeinen Entschluß befestigt, bestimmt hat: ich will sterben!Wie ich mich gestern von dir riß, in der fürchterlichen Empö-rung meiner Sinnen, wie sich alles das nach meinem Herzendrängte, und mein hoffnungsloses, freudeloses Daseyn nebendir, in gräßlicher Kälte mich anpackte – ich erreichte kaummein Zimmer, ich warf mich außer mir auf meine Knie, und oGott! du gewährtest mir das letzte Labsal der bittersten Thrä-nen! TausendAnschläge, tausendAussichtenwütheten durchmeine Seele, und zuletzt stand er da, fest, ganz, der letzte einzigeGedanke: ich will sterben! – Ich legte mich nieder, und Mor-gens in der Ruhe des Erwachens, steht er noch fest, noch ganzstark in meinem Herzen: ich will sterben! – Es ist nicht Ver-zweiflung, es ist Gewißheit, daß ich ausgetragen habe, und daßichmich opfre für dich. Ja, Lotte! warum sollte ich es verschwei-gen? eins von uns dreyen muß hinweg und das will ich seyn!O meine Beste! in diesem zerrissenen Herzen ist es wüthendherumgeschlichen, oft – deinenMann zu ermorden! – dich! –mich! – So sey es! – Wenn du hinaufsteigst auf den Berg, aneinem schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner,wie ich so oft das Thal herauf kam, und dann blicke nach demKirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind dashoheGras im Scheine der sinkenden Sonne, hin und her wiegt –Ich war ruhig da ich anfing, nun nun weine ich wie ein Kind,da alles das so lebhaft um mich wird.

FA I., S. , , , ,

12

Page 14: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Aus Goethes Brieftasche

Wenn Rembrandt seine Mutter Gottes mit dem Kinde alsniederländische Bäurin vorstellt, sieht freilich jedesHerrchen,daß entsetzlich gegen die Geschichte geschlägelt ist, welchevermeldet: Christus seie zu Bethlehem im jüdischen Landegeboren worden. Das haben die Italiener besser gemacht! sagter: Und wie? –Hat Raphael was anders, was mehr gemalt, alseine liebendeMutter mit ihremErsten, Einzigen? undwar ausdem Sujet etwas anders zu malen? Und ist Mutterliebe inihren Abschattungen nicht eine ergiebige Quelle für DichterundMaler, in allen Zeiten? Aber es sind die biblischen Stücke,alle durch kalte Veredlung und die gesteifte Kirchenschick-lichkeit aus ihrer Einfalt und Wahrheit herausgezogen unddem teilnehmenden Herzen entrissen worden, um gaffendeAugen des Dumpfsinns zu blenden. Sitzt nicht Maria zwi-schen den Schnörkeln aller Altareinfassungen, vor den Hir-ten, mit dem Knäblein da, als ließ sie’s um Geld sehn, oderhabe sich, nach ausgeruhten vier Wochen, mit aller Kindbet-tsmuße und Weibseitelkeit auf die Ehre dieses Besuches vor-bereitet? Das ist nun schicklich! das ist gehörig! das stößt nichtmit der Geschichte.

FA I., S. f.

13

Page 15: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Aus »Wilhelm Meisters theatralische Sendung«

Erstes Buch, Erstes Kapitel

Es war einige Tage vor dem Christabend – als BenediktMeister Burger und Handelsmann zu M-, einer mittlerernReichsstadt, aus seinem gewöhnlichen Kränzgen Abends ge-gen achte nach Hause ging. Es hatte sich wider die Gewohn-heit die Tarock Partie früher geendigt, und es war ihm nichtganz gelegen, daß er so zeitlich in seine vier Wände zurück-kehren sollte, die ihm seine Frau eben nicht zum Paradiesemachte. Es ware noch Zeit bis zum Nachtessen, und so einenZwischenraum pflegte sie ihm nicht mit Annehmlichkeitenauszufüllen, deswegen er lieber nicht ehe zu Tische kam alswenn die Suppe schon etwas überkocht hatte.

Er ging langsam, und dachte so dem Burgermeister Amtenach, das er das letzte Jahr geführt hatte, und demHandel, undden kleinen Vorteilen, als er eben imVorbeigehen seinerMut-ter Fenster sehr emsig erleuchtet sah. Das alte Weib lebte, nach-dem sie ihren Sohn ausgestattet, und ihm ihreHandlung über-geben hatte, in einem kleinen Häusgen zurückgezogen,wo sienun vor sich allein mit einer Magd bei ihren reichlichen Ren-ten sich wohlbefand, ihren Kindern und Enkelnmit unter waszu Gute tat, ihnen aber das Beste bis nach ihrem Tode aufhub,wo sie hoffte daß sie gescheuter sein sollten, als sie bei ihremLeben nicht hatte sehen können. Meister war durch einen ge-heimen Zug nach demHause geführt, da ihm, als er angepochthatte, die Magd hastig und geheimnisvoll die Türe öffnete, undihn zurTreppe hinauf begleitete. Er fand, als er zur Stubentürehineintrat, seine Mutter an einem großen Tische mit Wegräu-menundZudecken beschäftigt, die ihmauf seinen gutenAbendmit einem: du kommstmir nicht ganz gelegen, antwortete.Weil

14

Page 16: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

du nun einmal da bist so magst du’s wissen, da sieh was ichzurechtmache, sagte sie, und hob die Servietten auf, die über’sBett geschlagen waren, und tat zugleich einen Pelzmantel weg,den sie in der Eile übern Tisch gebreitet hatte, da nun dennder Mann eine Anzahl spannenlanger, artig gekleideter Pup-pen erblickte, die in schöner Ordnung, die beweglichen Dräh-te an den Köpfen befestigt neben einander lagen, und nur denGeist zu erwarten schienen, der sie aus ihrer Untätigkeit regensollte.Was gibt denn dasMutter? sagteMeister. Einen heiligenChrist vor deine Kinder! antwortete die Alte,wenn’s ihnen soviel Spaßmacht, als mir eh’ ich sie fertig kriegte, soll mir’s liebsein. Er besah’s eine Zeitlang,wie es schien, sorgfältig, um ihrnicht gleich den Verdruß zu machen, als hielte er ihre Arbeitvergeblich. LiebeMutter, sagte er endlich, Kinder sind Kinder,Sie macht sich zu viel zu schaffen, und am Ende seh’ ich nichtwas es nutzen soll. – Sei nur stille, sagte die Alte, indem sie dieKleider der Puppen, die sich etwas verschoben hatten, zurechtrückte, laß es nur gut sein, sie werden eine rechte Freude haben,es ist so her gebracht bei mir und das weißt du auch, und ichlasse nicht davon; wie ihr klein,wart ⟨ihr⟩ immer drin vergak-kelt, und trugt euch mit euern Spiel und Naschsachen herumdie ganze Feiertage; euere Kinder sollens nun auch so wohlhaben, ich bin Großmutter und weiß was ich zu tun habe. – Ichwill Ihr’s nicht verderben, sagte Meister, ich denke nur,was solldenKindern daßman’s ihnen heut oder morgen gibt,wenn siewas brauchen so geb ich’s ihnen,was braucht’s da heiliger Christzu. Da sind Leute, die lassen ihre Kinder verlumpen und spa-rens bis auf den Tag. – Benedikt, sagte die Alte, ich habe ihnenPuppen geputzt, und habe ihnen eine Komödie zurechte ge-macht, Kinder müssen Komödien haben und Puppen. Es wareuchauch in eurer Jugend so, ihrhabtmichummanchenBatzengebracht um denDoktor Faust und dasMohren Ballet zu sehen,

15

Page 17: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

ichweiß nunnicht was ihrmit euernKindernwollt, undwarumihnen nicht so gut werden soll wie euch.

Wer ist denn das, sagte Meister, indem er eine Puppe aufhub.Verwirrt mir die Drähte nicht, sagte die Alte, es ist mehr Müheals Ihr denkt, bismans so zusammen kriegt. Seht nur das da istKönig Saul. Ihr müßt nicht denken, daß ich was umsonst aus-gebe,was Läppgen sind, die hab ich all inmeinemKasten, unddas bißgen falsch Silber und Gold das drauf ist, das kann ichwohl dran wenden. – Die Püppgen sind recht hübsch, sagteMeister. Das denk ich, lächelte die Alte, und kosten doch nichtviel. Der alte lahme Bildhauer Merks, der mir Interesse schul-dig ist von seinemHäusgen so lang, hat mirHände, Füße, undGesichter ausschneidenmüssen, kein Geld krieg ich doch nichtvon ihm, und vertreiben kann ich ihn nicht, er sitzt schon seitmeinem seligenMann her, und hat immer richtig eingehaltenbis zu seiner zwoten unglücklichen Heurat. –Dieser in schwar-zen Samt und der goldenen Krone das ist Saul? fragte Meister,wer sind denn die andern? –Das solltest du so sehen, sagte dieMutter. Das hier ist Jonathan, der hat Gelb und Rot, weil erjung ist, und flatterig und hat einen Turban auf. Der oben istSamuel, der hat mir ammeistenMühe gemacht mit dem Brust-schildgen. Sieh den Leibrock, das ist ein schieler Taft, den ichauch noch als Jungfer getragen habe. – Gute Nacht, sagte Mei-ster, es schlägt just achte. – Sieh nur noch denDavid, sagte dieAlte!Ahder ist schön, der ist ganz geschnitzt undhat roteHaare;sieh wie klein er ist, und hübsch. –Wo ist denn nunderGoliath,sagte Meister, der wird doch nun auch kommen. –Der ist nochnicht fertig, sagte die Alte. Das muß ein Meisterstück werden.Wenn’s nur erst alles fertig ist. Das Theater macht mir derKonstabler Lieutenant fertig, mit seinem Bruder; und hintenzumTanz da sind Schäfer und Schäferinnen,Mohren undMoh-rinnen, Zwerge und Zwerginnen, es wird recht hübsch werden!

16

Page 18: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

Laß es nur gut sein, und sag zuHause nichts davon, undmachnur, daß deinWilhelm nicht hergelaufen kommt, der wird einerechte Freude haben, denn ich denk’s nochwie ich ihn die letzteMesse in’s Puppenspiel schickte was er mir alles erzählt hat,und wie er’s begriffen hat. – Sie gibt sich zu viel Mühe, sagteMeister indem er nach der Türe griff. –Wennman sich um derKinder willen keine Mühe gäbe wie wärt ihr groß geworden,sagte die Großmutter.

Die Magd nahm ein Licht und führt’ ihn hinunter. –

Zweites Kapitel

Der Christabend nahte heran in seiner vollen Feierlichkeit. DieKinder liefen den ganzen Tag herum und standen am Fenster,in ängstlicher Erwartung, daß es nicht Nacht werden wollte.Endlich riefman sie, und sie traten in die Stube,wo jedem seinwohlerleuchtetes Anteil zu höchstem Erstaunen angewiesenward. Jeder hatte von dem Seinigen Besitz genommen, undwar nach einem Zeitlang Angaffen, im Begriff, es in eine Eckeund in seineGewahrsamzubringen, als ein unerwartetes Schau-spiel sich vor ihrenAugen auftät. EineTür, die aus einemNeben-zimmer herein ging, öffnete sich, allein, nicht wie sonst zumHin und Widerlaufen, der Eingang war durch eine unerwar-tete Festlichkeit ausgefüllt, ein grüner Teppich der über einemTisch herabhing bedeckte fest angeschlossen den untern Teilder Öffnung, von da auf baute sich ein Portal in die Höhe dasmit einem mystischen Vorhang verschlossen war, und was vonda auf die Türe noch zu hoch sein mogte bedeckte ein Stückdunkelgrünes Zeug, und beschloß das Ganze. Erst standen siealle von fern, und wie ihre Neugierde größer wurde um zusehen was Blinkendes ⟨sich⟩ hinter dem Vorhang verbergenmögte, wies man jedem sein Stühlgen an, und gebot ihnen

17

Page 19: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

freundlich in Geduld zu erwarten.Wilhelm war der einzigeder in ehrerbietiger Entfernung stehen blieb, und sich’s zweidreimal von seiner Großmutter sagen ließ bis er auch sein Plätz-gen einnahm. So saß nun alles, undwar still, undmit demPfiffrollte der Vorhang in die Höhe, und zeigte eine hochrot gemalteAussicht in den Tempel. Der Hohepriester Samuel erschien mitJonathan und ihre wechselnde Stimmen vergeisterten ganzihre kleine Zuschauer. Endlich trat Saul auf in großer Verle-genheit über die Impertinenz womit der schwerlötige Kerl ihnund die Seinigen ausgefodert hatte–wiewohl ward’s da unsermWilhelm der alleWorte abpaßte und bei allem zugegenwar alsder zwerggestaltete raupigte Sohn Isai mit seinem SchäferstabundHirtentasche und Schleuder hervortrat und sprach: groß-mächtigster König undHerr Herr! es entfalle keinem derMutum dessentwillen,wenn Ihro Majestät mir erlauben wollen sowill ich hingehen undmit dem gewaltigen Riesen in den Streittreten. Dieser actus endigte sich. Die übrigenKleinenwaren allevergackelt,Wilhelm allein erwartete das Folgende, und sanndrauf, er war unruhig den großen Riesen zu sehen, und wiealles ablaufen würde. –

Der Vorhang ging wieder auf. David weihte das Fleisch desUngeheuers den Vögeln unter dem Himmel, und den Tierenauf dem Felde. Der Philister sprach Hohn, stampfte viel mitbeiden Füßen, fiel endlich wie ein Klotz und gab der ganzenSache einen herrlichenAusschlag.Wie denn nachher die Jung-frauen sungen: Saul hat Tausend geschlagen, David aber ze-hen Tausend, und der Kopf des Riesen vor dem kleinen Über-winder hergetragen wurde, und er davor die schöne KönigsTochter zurGemahlin kriegte; verdroß esWilhelmen doch beialler Freude daß der Glücksprinz so zwergenmäßig gebildetwäre. Denn nach der Idee vom großen Goliath und kleinenDavid hatte die liebe Großmutter nichts verfehlt um beide

18

Page 20: 978-3-458-36438-2 - Suhrkamp Verlag · 2019. 7. 31. · weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihrempfin-den kann. So viel ist gewiß, sie war fest bey sich entschlossen

recht charakteristisch zu machen. Die dumpfe Aufmerksam-keit der übrigen Geschwister dauerte ununterbrochen fort,Wil-helm aber geriet in eine Nachdenklichkeit, darüber er das BalletvonMohrenundMohrinnen, SchäfernundSchäferinnen,Zwer-gen und Zwerginnen nur wie im Schatten vor sich hingaukelnsah. Der Vorhang fiel zu, die Türe schloß sich, und die ganzekleine Gesellschaft war wie betrunken taumelnd und begierigin’sBett zukommen,nurWilhelmder ausGesellschaftmitmußtelag allein, dunkel über das Vergangene, nachdenkend, unbefrie-digt in seinem Vergnügen, voller Hoffnungen, Drang und Ahn-dung.

Drittes Kapitel

Den andern Tag war eben alles wieder verschwunden, der my-stische Schleier war aufgehoben, man ging durch diese Türewieder frei aus einer Stube in die andre, aus der Abends vor-her so viel Abenteuer geleuchtet hatten. Die übrigen liefenmitihren Spielsachen auf und ab,Wilhelm allein schlich hin undher als wenn er eine verlorne Liebe suchte, als wenn er’s fastunmöglich glaubte, daß da nur zwei Türpfosten sein sollten,wogestern so viel Zauberei gewesen war. Er bat seine Mutter, siemögte es ihm doch wieder spielen lassen,von der er eine harteAntwort bekam,weil sie keine Freude an dem Spaße, den dieGroßmutter ihren Enkeln machte, haben konnte da dieses ihreinen Vorwurf ihrer Unmütterlichkeit zu machen schien. Esist mir leid, daß ich es sagen muß, indes ist es wahr, daß dieseFrau, die von ihremManne fünf Kinder hatte, zwei Söhne, unddrei Töchter, wovon Wilhelm der Älteste war, noch in ihrenältern Jahren eine Leidenschaft für einen abgeschmacktenMenschen kriegte, die ihr Mann gewahr wurde, nicht ausste-hen konnte, undworüber Nachlässigkeit,Verdruß, undHader

19