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Kira Licht

Kaleidra – Wer die Seele berührt

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Weitere Titel der Autorin:

Gold & Schatten – Das erste Buch der GötterStaub & Flammen – Das zweite Buch der Götter

Kaleidra – Wer das Dunkel ruft

Über die Autorin:

Kira Licht ist in Japan und Deutschland aufgewachsen. In Ja-pan besuchte sie eine internationale Schule, überlebte ein Erd-beben und machte ein deutsches Abitur. Danach studierte sieBiologie und Humanmedizin. Sie lebt, liebt und schreibt inBochum, reist aber gerne um die Welt und besucht Freunde.Für News zu Büchern, Gewinnspielen und Leserunden folgenSie der Autorin auf Instagram (@kiralicht) und Facebook.

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Dieser Titel ist auch als Hörbuch-Download und E-Book erschienen

Originalausgabe

Copyright 2021 by Kira LichtCopyright deutsche Originalausgabe 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH,München

Textredaktion: Annika GraveUmschlaggestaltung: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von© IChaikova / shutterstock; IChaikova / shutterstock; run4it / shutterstock; BokehBlur Background / shutterstock; Phatthanit / shutterstock; elyomys / shutterstock

Satz: 3w+p GmbH, RimparGesetzt aus der Caslon

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN 978-3-8466-0116-7

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Sie finden uns im Internet unter: one-verlag.deBitte beachten Sie auch luebbe.de

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Für Alisa.Für immer ein Teil von Kaleidra.

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»Mut ist die Tugend, die für Gerechtigkeit eintritt.«–Marcus Tullius Cicero

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PLAYLIST

THE PRETTY RECKLESS – GOING TO HELLFALLING IN REVERSE – THE DRUG IN ME IS YOU (REIMAGINED)

BLACK VEIL BRIDES – WAKE UPVIOLET ORLANDI FT. HALOCENE (TDG COVER)-

I HATE EVERYTHING ABOUT YOUPARAMORE – DECODE

CANNONS – FIRE FOR YOUTONIGHT ALIVE – THE EDGEIMMINENCE – INFECTIOUS

EMILY BROWNING – SWEET DREAMSBRING ME THE HORIZON – THRONETHE EVERLOVE – I’M DANGEROUS

RUNNING WITH SCISSORS - I SEE STARS

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Kapitel 1

Ich schmeckte Blut.Da war ein hohes Kreischen irgendwo über mir. Metall auf

Metall, Nägel auf einer Schultafel, ein scharfkantiges Ge-räusch, das schrill in meinem Kopf widerhallte. Ich stöhnte.Meine Lider waren verklebt, sodass ich sie nicht öffnen konn-te, mein Kiefer schmerzte, und auch der Rest meines Körpersschien seltsam taub.

»Sie wacht auf.«Ein monotones Piepen nahm Fahrt auf, als ich mich be-

wegte. Der Boden unter mir war so hart wie Beton, das spürteich, als endlich wieder etwas Gefühl in meinen Körper zurück-kehrte. Ich hatte mich zusammengekrümmt, die Knie angezo-gen, die Hände über meinem Kopf. Was war geschehen? Ichschluckte, doch selbst das fühlte sich ungewohnt an. MeineKehle war trocken, und immer noch war da dieser metallischeGeschmack von Blut, der mich unwillkürlich würgen ließ.Mein Magen rebellierte, und ich zog die Knie noch etwas hö-her. Meine Wange rieb über eine glatte kühle Oberfläche.

»Ihr könnt ihn jetzt holen. Es dauert nicht mehr lange.«

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Die Übelkeit verging, als ich tief Luft holte. Langsam ent-spannten sich meine Glieder wieder.

Ich bewegte mich, drehte mich um, streckte mich vorsich-tig, und mit dem Leben, das nun stetig in meine Arme undBeine zurückkehrte, kam auch der Schmerz. Feuer schiendurch meine Adern zu toben. Ich stöhnte im gleichen Mo-ment, in dem ich gewaltsam meine Augen aufriss.

Weißes gleißendes Licht. Eine blendende Supernova, sogrell, dass ich aufschrie, als meine Pupillen sich vor lauter Hel-ligkeit zusammenzogen.

»Ganz ruhig, Silberling. Das vergeht.« Die Stimme besaßeinen harten Akzent und klang irgendwie weit entfernt undseltsam verzerrt.

Ich versuchte zu blinzeln, doch immer noch war ich wie ge-blendet. Ich presste die Lippen aufeinander, fühlte ihre raueHaut, das Pochen, das stärker wurde, als ich mit den Zähnendarüberfuhr.

Es kostete mich Kraft, mich mit den Armen hochzudrü-cken, und als ich endlich saß, kroch erneut Übelkeit in mirhoch. Lichtpunkte tanzten vor meinem inneren Auge, als derSchmerz aus meinem Körper floss wie Wasser aus einem Stau-damm, dessen Mauern plötzlich zerbrachen. Atmen, Luft ho-len, Sauerstoff tanken. Das Weiß verschwand, schien zu denRändern meines Gesichtsfeldes zurückzuweichen. Langsamnahm meine Umgebung Konturen an. Ich sah mich um.

Ich befand mich in einem Raum, der komplett in Weiß ge-halten war. Eine Matratze lag auf den Fliesen, daneben standein Tablett mit zwei kleinen Wasserflaschen und einer Pa-ckung Salzcracker. Hinter einem Paravent machte ich die Um-risse einer Toilettenschüssel aus. Da war ein Waschbecken, einin die Wand eingelassener Flatscreen – und in jeder Ecke er-

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spähte ich eine Kamera an der Decke. Es sah irgendwie aus wieeine sehr moderne Gefängniszelle? War ich etwa eingesperrt?Sofort überschlug sich mein Puls, und ich sah mich hektischweiter um. Die Personen, die gesprochen hatten, konnte ichnicht ausmachen. Ich war allein. Ich drehte mich noch weiter,und zum Glück waren die Fliesen so glatt, dass ich nicht vielKraft brauchte.

Es schien tatsächlich eine Art Gefängniszelle zu sein, aberstatt der typischen Gitterstäbe befand sich eine Art milchigeWand vor mir. Als ich erneut blinzelte, erzitterte sie wie eineWasseroberfläche im Wind. Oder hatte ich es mir nur einge-bildet? Sicher war ich mir nicht. Ich versuchte mich aufzurich-ten, doch meine Beine gehorchten mir noch immer nicht rich-tig. Aber ich musste von hier verschwinden! Und zwar soschnell wie möglich.

Die Wand schien nun im Takt meines Herzens zu pulsie-ren. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Aus was für einemMaterial bestand sie? Das Piepen wurde schneller und lenktemeine Aufmerksamkeit auf sich. Wieso beschleunigte es, wennauch mein Puls – Ich hielt inne. Moment mal… In diesemMoment spürte ich die klebrigen Elektroden auf meinemOberkörper. Von daher kam das Piepen also! Das Piepen bil-dete meinen Herzschlag ab! Ich gab ein wütendes Geräuschvon mir, als ich in den Ausschnitt meines Shirts greifen und sie–

Oh. Jemand hatte mich meiner Sachen entledigt. Stattdes-sen trug ich einen ganz in Weiß gehaltenen Overall, der vornemit einem Reißverschluss geschlossen wurde. Der Stoff warfest und weich zugleich und nicht unbedingt unbequem. Egal.Ich zerrte ihn ein Stückchen auf, und dann sah ich die Elektro-den, die halb unter meinem Bustier versteckt waren. Sie schie-

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nen ihre Daten drahtlos zu übermitteln, denn ich fand keineKabel. Ich riss die Elektroden von meiner Haut und warf siemit einem kraftlosen Schrei ein Stückchen von mir.

»Sie hat Temperament, wie amüsant.« Eine andere Stimme,wieder mit diesem ähnlich harten Akzent. Ich schob mich einStückchen über den Boden, und die Haut meiner nacktenFüße quietschte auf den Fliesen, während ich meine Nägel indie Fugen grub. Es war mühsam, aber irgendwie kam ich vor-wärts. Dann endlich konnte ich den Arm ausstrecken und diemilchige Wand berühren. Sofort jagte ein scharfer Schmerzmeine Finger hinauf, und ich zuckte keuchend zurück. Es fühl-te sich nicht an wie ein Stromschlag, eher wie hunderte feinerNadelstiche. »Verdammt!« Was war das?

Im nächsten Moment wurde die Wand vor mir komplettdurchsichtig. Sie pulsierte immer noch, doch nun schimmertesie wie eine Seifenblase. Mir blieb fast die Luft weg über dieAussicht, die sich mir bot. Versuchsaufbauten, hochmoderneMaschinen, Arbeitstische, vor denen Hocker standen. Ich be-fand mich gegenüber einem großzügigen Labor. Im Hinter-grund arbeiteten Männer und Frauen in weißen Kitteln. Undüberall piepte und blinkte es. Doch mein Blick blieb schließlichan vier Personen hängen, die meine Aufmerksamkeit auf sichlenkten. Sie standen mir fast direkt gegenüber, nur getrenntdurch die durchsichtige Wand, und sie alle starrten auf michherunter.

Quecksilberalchemisten. Ich wusste es, noch bevor mir der ty-pische kühle Schauer die Wirbelsäule hinabjagte. Und dannging alles ganz schnell. Plötzlich liefen lauter Erinnerungen vormeinem inneren Augen ab. Der Flohmarkt. Matti, der das Qu-ecksilber absorbiert hatte. Unser Kampf, und der Moment, in demalles schwarz geworden war. Nur mit Mühe schaffte ich es, mei-

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nen Blick fokussiert zu halten. Ben. Was war mit Ben geschehen?Hatten sie ihn –

Halt. Atme, Emilia. Verfall jetzt nicht in Panik. Ich musste –Es war der Mann in der Mitte, dessen Anblick plötzlich

sämtliche Luft aus meinen Lungen weichen ließ. Ich kannteihn, und doch hatte ich ihn noch nie zuvor im Leben gesehen.

Sein helles Haar war bereits mit weißen Strähnen durchzo-gen, das Kinn etwas kantiger, der Blick aus den grünen Augengrausamer und härter. Und doch …

Der Schock der Erkenntnis hallte in mir nach. Es warenunverkennbar die Züge meines besten Freundes, die mir entge-genblickten. Bisher hatte ich immer angenommen, dass Mattinach seiner Mutter kam. Jetzt wurde mir klar, dass ich mich alldie Jahre, mein ganzes Leben lang, getäuscht hatte. Ich musstewürgen.

Matti gehörte zum Quecksilberorden, und er hatte es einLeben lang vor mir verheimlicht. Doch wie? Ich spürte es nor-malerweise, wenn ich einem Alchemisten gegenüberstand, ge-nau wie jetzt. Doch bei ihm hatte ich nie etwas bemerkt. Ichhielt mir den Bauch, bis die Übelkeit etwas nachließ.

Die vier Personen starrten mich immer noch völlig emoti-onslos an. Obwohl es mich alle Kraft kostete, starrte ich zu-rück.

Der junge Mann ganz links mit dem kastanienbraunenHaar trug eine Art Uniform. In ihrem Tarnmuster mutete siemilitärisch an, obwohl sie ganz in Schwarz- und Grautönengehalten war. Er trug eine dicke Hornbrille, die seine Augenhinter den Gläsern unnatürlich vergrößerten. Die Frau dane-ben war etwa gleich alt, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jah-re. Sie trug einen weißen Kittel und hatte ihre wilden rotenLocken in einer komplizierte Flechtfrisur gebändigt. Gerade

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hatte sie den Blick abgewandt und machte sich Notizen auf ei-nem Klemmbrett. Rechts außen stand ein junger Mann, denich ungefähr auf Olivers Alter geschätzt hätte. Mit seinem ra-benschwarzen Haar, den mandelförmigen Augen und der ex-trem durchtrainierten Figur sah er aus wie ein Schauspieler auseinem Martial-Arts-Film.

Ich wollte den Mund öffnen, etwas sagen, doch aus meinerKehle kam nur ein krächzender Laut.

Der Mann mit dem hellen Haar, ich schätzte ihn auf Endefünfzig, trat einen Schritt vor in Richtung meiner Zelle. Und jenäher er kam, desto unglaublicher schien die Ähnlichkeit zuMatti.

»Herzlich willkommen in der Quecksilberloge von Wa-shington, Signorina Pandolfini.« Erst da fiel mir auf, dass erItalienisch sprach, genau wie die gesichtslosen Stimmen geradeeben. Es war definitiv nicht seine Muttersprache – was nichtverwunderlich war, wenn wir uns wirklich an der Ostküste derUSA befanden.

Wie war ich hierhergekommen? Wie lange war ich ohnmächtiggewesen?

»Mein Name ist Professor Flint Avalanche.« Sein Lächelnwar eher ein hinterhältiges Zähneblecken. »Und wie ich demSchock auf Ihrem Gesicht nach urteile, haben Sie mich er-kannt, beziehungsweise …« Er lachte gekünstelt. »… habenSie erkannt, mit wem ich verwandt bin. Mein Sohn Matthewhat seinen Auftrag gut erfüllt. Und die Giordanos waren ihmeine gute Familie. Ich habe damals, vor so vielen Jahren, dierichtige Entscheidung getroffen, und sie sind fürstlich dafürentlohnt worden.«

Es war also alles wahr. Das hier war kein schrecklicherTraum. Mein Gott. Es schien, als hätte ich alle Gefühle bereits

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aufgebraucht. Als könne ich so etwas wie Schock oder Trauergar nicht mehr empfinden. Die Giordanos waren gar nichtMattis Familie? Sie hatten ihn für diesen Mann aufgezogen?Doch warum?

»Wie geht es Ihnen?« Die Stimme von Professor Avalancheklang, als wolle er ein wenig mit mir plaudern. »MöchtenSie …«

»Entschuldigen Sie, Sir, aber …« Ein Wissenschaftler un-terbrach ihn auf Englisch. Die Dringlichkeit in seinem Blickwar unverkennbar, als er näher trat.

Professor Avalanche holte in der nächsten Sekunde aus undschlug dem Mann mitten ins Gesicht.

Das schmerzhafte Aufeinanderprallen von Haut auf Hautdurchschnitt den Raum. Es war ein hässliches Geräusch, das sobedrohlich klang, dass ich unwillkürlich zurückwich.

Der Wissenschaftler keuchte auf und hielt beide Händeüber seine Nase.

»Dr. Gemini.« Professor Avalanche klang, als tadele er einkleines Kind. »Wie unhöflich unserem Gast gegenüber. Siewissen doch, dass wir die Landessprache unserer Besuchersprechen, aus Respekt ihrer Kultur gegenüber.«

Der Mann ließ die Hände sinken. Blut tropfte aus seinervermutlich gebrochenen Nase und rann über sein Kinn. RoteFlecken bildeten sich auf seinem blütenweißen Kittel. »Ent-schuldigen Sie«, sagte er dann in gebrochenem Italienisch.»Das kommt nicht wieder vor.«

Professor Avalanche zog ein Taschentuch hervor und tupftesich damit über seine Fingerknöchel. Danach stopfte er es zu-rück in eine seiner Taschen, ohne sein Gegenüber weiter zubeachten. Der Mann verschwand mit gesenktem Kopf, eineHand wieder vor seine Nase gepresst. Ich hatte das Schauspiel

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voller Entsetzen mit angesehen. Doch was mich neben der Ge-walt am meisten schockierte, war, dass die übrigen drei Perso-nen nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatten. Für sieschien es absolut normal, dass Gewalt ein Mittel war, um seineVorherrschaft durchzusetzen. Und das verabscheute ich zu-tiefst.

»Entschuldigen Sie den kleinen Zwischenfall, SignorinaPandolfini«, sprach Professor Avalanche weiter. »Sie werdensich fragen, warum wir Sie hier sicher verwahrt haben.«

Mir war völlig egal, was er sich dabei gedacht hatte. »LassenSie mich sofort raus hier. Meine Mutter wird durchdrehen vorSorge und…«

»Oh, da ist noch jemand, den ich Ihnen gerne vorstellenmöchte«, unterbrach er mich.

Ich drehte den Kopf in die Richtung, in die der Professordeutete. Schon wieder jemand, der Matti zum Verwechselnähnlich sah. Der Mann war älter, vielleicht Mitte zwanzig. Erwar ungefähr so groß wie Matti und hatte eine ähnliche Figur.Auch er wirkte wie ein Quarterback, dem die Cheerleader rei-henweise zu Füßen liegen würden. Doch das, was in MattisGesicht liebenswert und sympathisch wirkte, schien in seinenZügen völlig zu fehlen. Sein Gesicht war kantiger und derBlick so scharf wie der eines Raubvogels. Die tiefliegendenBrauen unterstrichen diesen Eindruck sogar noch. Da war eingrausamer Zug um seine Lippen, den ich bei Matti noch niegesehen hatte.

»Mein Sohn, Tyson Avalanche. Mein anderer Sohn«, be-richtigte der Professor sich im nächsten Moment.

Tyson verschränkte die Arme vor der Brust und mustertemich von oben bis unten. Dann nickte er mir lediglich zu. Erbesaß die gleiche undurchdringliche Fassade wie sein Vater.

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Selbst das freundliche Nicken schien nichts als eine versteckteDrohung zu sein. Ich grüßte nicht zurück.

Mit aller Kraft stemmte ich mich hoch, um endlich auf dieFüße zu kommen. Ich wollte nicht mehr vor ihnen auf demBoden sitzen wie eine Gefangene. »Lassen Sie mich raus hier.«

»Tut mir leid, Sie müssen noch ein wenig warten«, wider-sprach er fröhlich, als würden wir zu einem lustigen Abend imZirkus aufbrechen. »Also, darf ich Ihnen meine Loge vorstel-len?« Er verbeugte sich. »Ich bin der Meister der Quecksilber-loge von Washington D.C., aber das hatte ich Ihnen ja schonverraten. Mein Sohn Tyson ist meine rechte Hand, also derSekundant der Loge. Das hübsche Mädchen in dem weißenKittel ist July Mercury, unsere Scriptorin. Der junge Mannganz rechts außen ist Alistair Baker, unser Hüter des Proto-kolls. Mein Fechtmeister ist Kyle Aoki Dennham.« DerKampfsportprofi neigte einmal kurz den Kopf zur Begrüßung.»Und mit meinem Pionier sind Sie quasi aufgewachsen. Eshandelt sich um meinen Sohn Matthew Avalanche, den Sieunter seinem Decknamen ›Matteo Giordano‹ kennengelernthaben.« Während sich mein Magen schon wieder schmerzhaftzusammenzog, machte Professor Avalanche eine ausschweifen-de Geste mit beiden Händen. In diesem Moment wirkte erwirklich wie ein wahnsinniger Zirkusdirektor, der sich in sei-nem kleinen Reich wie ein brutaler und unberechenbarer Herr-scher aufführte. »Nochmals herzlich willkommen.«

»Es ist mir egal, wer Sie sind und was Sie getan haben. Bittelassen Sie mich einfach hier raus. Lassen Sie mich frei, und ichwerde niemandem davon erzählen.« Ich wiederholte mich,doch es war mir egal.

Professor Avalanche musterte mich interessiert von Kopf bisFuß, bis er schließlich in mein Gesicht sah. »Glauben Sie wirk-

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lich, wir haben Sie dort eingesperrt, nur um auf Ihren Befehlzu warten, damit wir Sie wieder herauslassen?«

Ich schnaubte. »Die anderen Orden werden …«Sein Lachen unterbrach mich. Er lachte so laut und so herz-

haft, dass die Mitglieder seiner Loge irgendwann anfingen,sich unbehagliche Blicke zuzuwerfen. Schließlich schien Pro-fessor Avalanche sich sogar eine Träne aus dem Augenwinkelwischen zu müssen. »Schätzchen, Sie sind noch sehr jung, des-halb ist in Ihrem Falle Naivität beinahe niedlich. Aber malernsthaft.« Er verschränkte die Arme, und um seinen Mund-winkel tanzte immer noch ein Lächeln.

»Glauben Sie wirklich, dass wir Angst vor den anderen Or-den haben? Der Goldorden beweihräuchert sich hauptsächlichselbst, mit ihren wohltätigen Forschungen und ihrem Dienstan der Menschheit. Sie haben ihre Kraft schon lange nichtmehr in ihre eigene Verteidigung gesteckt, sondern nur nochihren karitativen Zwecken gewidmet. Sie besitzen überhauptnicht die Schlagkraft, um auch nur bis hierher zu gelangen.Und der Silberorden, das dürften selbst Sie mittlerweile wissen,ist nur noch ein trauriger Haufen von Idioten, die irgendwie inden Achtzigern hängengeblieben sind. Sie hätten nicht mal dieMittel, um sich die Reise hierher zu finanzieren. Also wer ge-nau sollte Sie retten? Ich meine, wenn Sie da auf einem aktuel-leren Stand sind als ich, dann weihen Sie mich ein. Ich lassemich immer gern überraschen.« Noch mal machte er so einealberne Geste. »Um ehrlich zu sein, ich liebe Überraschungen.Sollte der Goldorden hier auftauchen, um sich mit uns zu prü-geln, dann herzlich gerne. Aber vermutlich werden sie uns ehereinen netten handgeschriebenen Brief auf Ökopapier zukom-men lassen, indem sie uns freundlich zu Keksen und Matcha-Tee zu einem kleinen Gespräch am Nachmittag einladen. Viel-

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leicht auf einem ihrer Schiffe, mit dem sie Walfänger sabotie-ren?« Er brach schon wieder in Gelächter aus. Tyson, seinEbenbild, fiel mit ein. Die anderen verzogen immer noch keineMiene. Mein Blick fiel auf das Blut, das aus der Nase des An-gestellten getropft war und nun hell auf den weißen Fliesenschimmerte. Es bestätigte mir, was schon die ganze Zeit inmeinem Hinterkopf in Form eines roten Warnlämpchen auf-blinkte. Dieser Mann war wahnsinnig. Er war größenwahnsin-nig und absolut unzurechnungsfähig. Mit ihm zu diskutierenwar, wie mit einem angreifenden Löwen ein Gespräch begin-nen zu wollen.

Der Professor wedelte plötzlich mit der Hand, und diedurchsichtige Wand, die uns trennte, fiel in sich zusammen. Erwinkte mich zu sich. »Kommen Sie, kommen Sie.«

Was hatte er nun vor? Freilassen würde er mich ganz be-stimmt nicht. Und er hatte mir auch nicht erzählt, warum ermich gefangen hielt. Wollte er lediglich verhindern, dass Mat-tis Tarnung aufflog? Zögerlich trat ich aus meiner Zelle. MeineKnie fühlten sich immer noch wackelig an, und hin und wiederverschwamm mir ein wenig die Sicht vor meinen Augen. Kara-te Kid Kyle, wie ich ihn heimlich getauft hatte, kam mir entge-gen und streckte mir einen seiner muskelbepackten Arme hin.Er war genau so groß wie ich, aber ich fürchtete, dass er michmühelos kleinfalten konnte wie eine Serviette, wenn ich nurmit der Wimper zuckte. Ben hatte bereits angedeutet, dass dieQuecksilberalchemisten es mit den Regeln der Orden nicht sogenau nahmen. Aber ich schien bereits so sehr eins damit ge-worden sein, dass ich es komisch fand, dass Kyle mich wieselbstverständlich berührte.

Als habe er es geahnt, fing er mich auf, als mir auf einmaldie Beine wegknickten. Ich war zu gut erzogen, sodass ich wie

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selbstverständlich ein »Dankeschön« murmelte. Er nickteknapp, doch seine Miene blieb weiterhin völlig ausdruckslos.Sein Griff tat mir nicht weh, er hielt mich einfach nur aufrecht.Ich spürte, wie unsere Elemente umeinanderstrichen. Tastend,vorsichtig und nicht so feindselig, wie ich es erwartet hätte.

»Hören Sie«, drängte ich erneut. »Ich muss bitte meinerMutter eine Nachricht zukommen lassen. Ich ertrage es nicht,wenn sie sich Sorgen um mich macht. Sagen Sie ihr, dass esmir gut geht, lassen Sie sich irgendetwas einfallen, warum ichnicht hach Hause gekommen bin. Lassen Sie mich kurz mit ihrsprechen. Bitte. Ich werde Sie nicht verraten.«

Professor Avalanche schnalzte mit der Zunge und schienmeinen Protest überhaupt nicht ernstzunehmen. Ich ließ michvon Kyle vor einen Computerbildschirm schleppen. Mir warimmer noch schwindelig. Der Professor schnippte einmal mitdem Finger, und der junge Wissenschaftler, der vor dem Rech-ner saß, schien zu verstehen. Er tippte einen Befehl in die Tas-tatur. Zuerst erschien die Karte der Welt auf dem Bildschirm,darüber, und, nicht zu übersehen, ein Datum. Es war nochSonntag! Gott sei Dank! Dann veränderte sich das Bild auf demComputer, und die Karte wurde immer näher gezoomt, wie dasObjektiv einer Kamera. Ich erkannte Italien, Rom, dann denBahnhof und unser Viertel. Eine Zeitanzeige erschien, dieZahlen änderten sich ständig, schienen sich auf die Ortszeiteinzustellen. Es war immer noch Sonntag, aber bereits früherAbend. Und es war definitiv zu spät, um immer noch mit Mat-ti über den Flohmarkt zu schlendern. Mamma musste mittler-weile durchgedreht sein vor Sorge.

Das Bild zoomte noch mehr rein. Da war der Hinterhofund der Garten von Davine. Ich sah Newton im hohen Grasschnüffeln. Auf dem Gartentisch stand eine halbvolle Tasse

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Kaffee. Auf unserem Balkon machte ich die Gartenstühle mitden nach dem Feuer neu gekauften Auflagen aus. Mamma tratgerade hinaus in die Sonne und hatte eine ihrer geliebtenKlatschzeitschriften dabei. Sie hatte mit einer Kollegin ge-tauscht, sodass sie heute nicht arbeiten musste. Wir hatten denNachmittag zusammen verbringen wollen. Doch sie wirktenicht ängstlich und verstört. Im Gegenteil. Gerade lachte sieund drehte sich dann zu jemandem um, der sich noch in derWohnung zu befinden schien. Hatte sie Besuch?

Sie nahm auf einem der Stühle Platz und rief noch etwasnach drinnen. Als ich sah, wer den Balkon betrat, knickten mirerneut die Beine weg. Ich keuchte auf, während Kyles starkeArme mich stützen.

Ich selbst hatte gerade lachend neben meiner Mutter Platzgenommen.

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Kapitel 2

Ich starrte wie gebannt auf den Bildschirm, während ichgleichzeitig Kyles Arme von mir schob. Das konnte nicht sein.Es musste sich um eine optische Täuschung handeln. Ob dasDatum wirklich stimmte? Ob sie diesen Bildschirm irgendwiemanipulierten?

Ganz langsam drehte ich den Kopf in Professor AvalanchesRichtung. Er deutete auf den Bildschirm, als wolle er sagen:›Worüber machst du dir Sorgen?‹

»Das ist Fake«, stieß ich trotzdem hervor. »Wann auch im-mer sie das aufgenommen haben, es entspricht nicht derWahrheit. Newton ist öfter in Davines Garten, auch wenn wirzu Hause sind. Das hier kann auch locker aus dem letztenSommer stammen, und sie haben es irgendwie manipuliertoder aus mehreren Aufnahmen zusammengeschnitten. Ich willsofort mit meiner Mutter sprechen.«

Professor Avalanches Lächeln wurde noch breiter. Wortlosgab er July ein Zeichen. Sie legte daraufhin das Klemmbrett aufdem Tisch neben dem jungen Wissenschaftler ab und zog einTelefon hervor. Sie schien die Nummer eingespeichert zu ha-ben, denn sie drückte nur eine Kurzwahltaste. Mir wurde eis-

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kalt, als Mamma auf unserem Balkon die Zeitschrift zur Seitelegte und aufstand. Ich konnte nicht sehen, was in der Woh-nung geschah, doch plötzlich schien es, als hätten sich alle mei-ne inneren Organe auf Faustgröße zusammengekrallt.

»Hallo Signora Pandolfini, entschuldigen Sie bitte die Stö-rung. Hier ist July, könnte ich bitte Emilia sprechen?«, fragteJuly in perfektem Italienisch.

Nur einen Moment später kam meine Mutter zurück aufden Balkon. Sie hielt unser Festnetztelefon in der Hand. JulysBlick war eiskalt, als sie auf ihrem Handy einen Knopf drückte.Es raschelte kurz, und ich erkannte, dass sie den Lautsprecherangestellt hatte. Auf dem Bildschirm reichte mir Mamma ge-rade das Handy.

Als die Stimme – meine Stimme – ein freundliches »Prego?«in den Hörer sagte, knickten mir erneut die Beine weg. Kylewar sofort zur Stelle und stützte mich.

Wortlos klappte July das Telefon zu und zauberte dann auseiner ihrer großen Kitteltaschen ein weiteres Gerät hervor. Siehielt es mir an den Hals, und nur wenige Sekunden späterpiepte es zustimmend.

»Ihre Vitalwerte sind noch nicht wieder im Normbereich.«Sie klang so sachlich, als rede sie über eine Maschine und nichtüber ein menschliches Wesen. »Sie braucht noch einen Tag.«

»Ich brauche keinen Tag«, zischte ich, obwohl ich noch im-mer mit Schwindel zu kämpfen hatte. »Ich brauche eine Erklä-rung.«

»Zeigen Sie mir doch mal Ihr Armband.« Professor Avalan-che hatte affektiert alle zehn Fingerspitzen aneinandergelegt.Ich wusste sofort, worauf er anspielte, und schob das Bündchenmeines Overalls hoch. Schließlich trug ich schon seit Ewigkei-

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ten nur dieses eine besondere Lederarmband mit dem kleinenblauen Stein.

Doch da war kein Armband mehr. Nur eine verhaltene helleLinie auf meiner Haut, dort, wo die Sonnenbräune vom Lederabgeschirmt worden war. Ich sah ihn wütend an. »Da mir ir-gendjemand alle meine Klamotten weggenommen hat, nehmeich an, dass man mir das Armband ebenfalls entwendet hat?«Ich schnaubte. »Wissen Sie was, behalten Sie es. Ich will es so-wieso nicht mehr.« Matti hatte es mir vor Jahren geschenkt,und ich war mir nicht sicher, ob es ich überhaupt wieder tragenwollen würde.

Professor Avalanche wirkte immer noch amüsiert. »SehenSie genau hin.« Er deutete auf den Bildschirm. Der junge Wis-senschaftler zoomte freundlicherweise noch weiter in das Bildhinein. Diese Person, die aussah wie ich, trug mein Armband.Ich war noch immer misstrauisch. »Ja, und? Ich trage das Arm-band jeden Tag.« Das hier konnte niemals echt sein. »Ich er-warte eine Erklärung«, forderte ich. Meine Stimme klang fest,doch innerlich fühlte ich mich, als würde ich zerbrechen. Ichkonnte immer noch nicht glauben, was ich dort sah. Es warbeängstigend und bedrohlich, und außerdem machte ich mirjetzt noch viel größere Sorgen um meine Mutter.

»Sie sind gerade ans Telefon gegangen.« Professor Avalan-che. »Das haben Sie doch gesehen.«

Was hatte das alles zu bedeuten?»Um genau zu sein, sieht die Person, die Sie dort sehen,

nicht nur aus wie Sie, sie ist auch genau wie Sie.«Mein Magen zog sich vor Übelkeit zusammen. Dieser

Mann war doch wahnsinnig! »Sie meinen, Sie haben einenKlon erschaffen? Eine perfekte Kopie von mir?« Ich schnaubte.»Ich weiß, dass sowas nicht funktioniert. Man ist nicht nur die

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Summe seines Erbguts. Faktoren wie Erlerntes und das sozialeUmfeld prägen einen Charakter ebenso. Sie können keinenKlon bauen, der meine Mutter und meine Freunde täuschenkönnte.«

»Sie gucken zu viele Hollywood-Filme«, erwiderte ProfessorAvalanche. »Dort wird vermittelt, dass die Möglichkeiten, eine1 a-Kopie eines Menschen und seiner Persönlichkeit herzustel-len, begrenzt sind. Wir jedoch forschen schon sehr lange undgut versteckt vor den Augen der Öffentlichkeit. Wir besitzenWissen, das über viertausend Jahre alt ist. Wir besitzen Fähig-keiten, die unsere hochkomplizierte Forschung bis zur Perfek-tion ergänzen.« Er neigte sich ein wenig näher zu mir. »Wirerschaffen Dinge, von denen Sie noch nicht mal zu träumengewagt haben. Und wir sind den anderen beiden Orden mei-lenweit voraus.«

Er klang so überzeugt, so selbstbewusst, so sicher. Ich glaub-te ihm immer noch kein Wort, aber jetzt drängte sich mir eineandere Frage auf. »Was wollen Sie von mir?« Meine Stimmewar nur noch ein Flüstern. »Ich bin nicht im Orden aufge-wachsen. Ich habe kaum praktische Erfahrung. Ich kenne kei-ne internen Geheimnisse, ich weiß eigentlich überhauptnichts.« Dann kam mir noch eine andere Idee. »Oder haltenSie mich hier fest, weil Sie hoffen, den Klon in den Silberordeneinzuschleusen und dort an vertrauliche Informationen zu ge-langen?«

Professor Avalanche lachte überheblich. »Glauben Sie mir,so großartig sind die Geheimnisse des Silberordens gar nicht.Sie.« Er deutete auf mich. »Sind alles, was wir brauchen. SindSie wirklich so dumm, eins und eins nicht zusammenzählen zukönnen? Matthew hat Ihnen doch erzählt, dass wir die Plänedes Goldordens durschaut haben, noch bevor Sie zu Ihrem lä-

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cherlichen Kreuzzug aufgebrochen sind.« Wieder rahmte er sei-ne Worte in imaginäre Anführungszeichen.

Ich schluckte. Es ging hier nicht vorrangig um die Geheim-nisse der Orden, und es ging auch gar nicht wirklich um mich.Ich erinnerte mich, wie der Goldorden immer wieder darübergesprochen hatte. Larkin, Murphy, Oliver, Annmary und…»Ben«, stieß ich hervor. Der Quecksilberorden wollte an dieGeheimnisse des Voynich-Manuskripts gelangen. Mein Gott.Und Ben war allein auf einer Radtour gewesen, weit draußenvor der Stadtgrenze Roms. Er war geschwächt gewesen. Vonder Statue der Helena unter dem Petersdom – und von unse-rem leidenschaftlichen Kuss in der Abstellkammer. Er war be-stimmt eine leichte Beute gewesen, und er war ganz sichernicht so leicht einzuschüchtern wie ich. Oh, bitte …

»Wo ist Ben Hastings?« Wenn sie irgendetwas mit demVoynich-Manuskript anfangen wollten, brauchten sie auchBen. Uns fehlte noch eine Mission. Ein letzter Baustein. Siebrauchten ihn und mich. Trotzdem schnürte die Angst um ihnmir auf einmal die Kehle zu.

July, die Scriptorin, neigte sich zu Professor Avalanche undflüsterte ihm etwas ins Ohr. Der nickte. »Benedict Hastingshält sich tapfer. Wir befragen ihn gerade.« Und wieder unter-strich Professor Avalanche seine Worte mit Anführungszei-chen – es schien eine ekelhafte Marotte von ihm zu sein, undmir wurde eiskalt vor Angst.

Befragen? So nannte er das also?»Lassen Sie ihn in Ruhe.« Meine Stimme überschlug sich

fast. »Er hat niemandem etwas getan.«»Das mag sein.« Wieder klang Professor Avalanche, als

würden wir bei Kaffee und Keksen ein wenig plaudern. »Aberwir wollen ein paar Antworten von ihm, und bisher hat er sich

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als …« Er lachte. »…nun ja … nennen wir es mal etwas sturerwiesen. Wir haben ihn freundlich gefragt, und er hat nichtgeantwortet. Dann haben wir weniger freundlich gefragt, under hat wieder nicht geantwortet. Wissen Sie, es gibt etwas, daswir ›Gläsernen Pakt‹ nennen. Die Orden sind untereinanderzum Informationsaustausch verpflichtet. Der Junge schuldetuns Antworten. Das gebietet nicht nur die Höflichkeit, son-dern auch besagter Pakt.«

»Besagt dieser Pakt auch, dass Mitglieder anderer Ordenentführt und gefoltert werden dürfen?«

Ein weiteres, furchteinflößendes Lächeln malte sich aufProfessor Avalanches Gesicht, dann legte er den Kopf schief.»Sie wissen aber schon, dass das nur Spekulationen sind, Si-gnorina Pandolfini? Ich habe nur gesagt, dass wir ihn befra-gen.«

Ja, klar. Natürlich glaubte ich ihm kein Wort. Sie bedrohtenBen – oder Schlimmeres – und nannten es eine »Befragung«.»Ich will sofort zu ihm. Ich will ihn sehen, ich will mich verge-wissern, dass es ihm gut geht.«

»Sie sind überhaupt nicht in der Position, irgendetwas zufordern. Das sollte Ihnen klar sein, meine Liebe.«

»Wieso? Werden Sie mich zur Strafe sonst auch ›befra-gen‹?« Ich rahmte das Wort, genau wie er, in imaginäre An-führungszeichen.

Dann ging alles ganz schnell. Professor Avalanche warf sei-nem Sohn Tyson nur einen knappen Blick zu.

Im nächsten Moment hatte dieser mich aus Kyles Arm ge-rissen, der mich immer noch gestützt hatte. Er packte mich amKinn und hob mich ein kleines Stückchen in die Luft. TysonsFinger bohrten sich schmerzhaft in meinen Unterkiefer, undseine Handfläche drückte vor meinen Kehlkopf. Ich wollte

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schreien, doch ich konnte nicht. Meine Füße baumelten hilflosüber dem Boden.

»Hören Sie mir gut zu, Signorina Pandolfini. Wir sind kei-ne Wilden. Wir behandeln die, die mit uns kooperieren, gut.Sie bekommen von uns genug zu essen, genug zu trinken unddie medizinische Versorgung, die Sie benötigen. Sie haben Ihreeigene hübsche Zelle, Sie bekommen genug Schlaf, und Siehaben einen Bildschirm, auf dem Sie hunderte Fernsehpro-gramme ansehen können, sollten Sie sich langweilen. Es liegtuns fern, Sie auf irgendeine Art und Weise körperlich oder see-lisch zu misshandeln. Vorausgesetzt, Sie benutzen Ihr hübschesKöpfchen und entscheiden sich dafür, unseren AnweisungenFolge zu leisten.« Aus Professor Avalanches Stimme war jegli-che Emotion gewichen.

Ich wollte schlucken, doch es funktionierte nicht. TysonsGriff um mein Kinn wurde noch fester, als ich hilflos zu zap-peln begann. Ich hätte nie gedacht, dass es möglich wäre, je-manden auf diese Art und Weise hochzuheben. Irgendwann,zwischen Keuchen und Strampeln, fiel mir ein, dass ich auchHände besaß, um mich zu wehren. Doch Tyson durschautemich sofort. Ich wollte gerade zum Schlag ausholen, als ermich scheinbar mühelos noch ein Stückchen höher hielt. Ichtraf seinen Arm, und kurz rutschte sein Daumen ab, glitt nunaber in Richtung meiner Kehle. Ich hustete und würgte.

»Das reicht.«Tyson gehorchte, ließ mich aber betont langsam runter. Sei-

ne grünen Augen durchbohrten mich. Sie glichen denen vonMatti, was allen Schmerz nur noch verdreifachte. Seine Fingerlagen nun um mein Kinn, als ich endlich wieder sicher stand.»Und das hier war nur ein freundliches Hallo«, flüsterte er nahan meinem Mund. »Mein Vater verbringt viel Zeit mit seinen

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Politikerfreunden. Irgendwann sind wir beide sicher mal ganzallein und dann…«

»Tyson.« Professor Avalanches Stimme klang scharf. Sofortwich Tyson zurück und stellte sich in die Riege zurück nebenseinen Vater. Als ich ihn immer noch entsetzt ansah, zwinkerteer mir verschwörerisch zu. Professor Avalanches Blick schosszu seinem Sohn, doch er bekam diese Geste nicht mit. Kylewar erneut neben mich getreten, doch dieses Mal schaffte iches, mich selbst aufrecht zu halten.

»Was wollen Sie von mir?«»Eins nach dem anderen, eins nach dem anderen.« Profes-

sor Avalanche wertete meine leise formulierte Frage wohl alseine Art Zustimmung, denn sein Blick wurde wieder freundli-cher. »Zuerst beenden wir unseren kleinen Rundgang. DasQuecksilber in Ihren Adern sollte bald auf ein Niveau herabge-sunken sein, mit dem Sie beschwerdefrei sind. Bewegung kur-belt die Blutzirkulation an und sollte dazu beitragen. Da wirdein kleiner Spaziergang nicht schaden, zumal meine Leutenoch mit Mr Hastings beschäftigt sind.« Er kicherte dunkel.»Wir müssen uns ein wenig beeilen, aber ich möchte Ihnentrotzdem noch ganz kurz etwas zeigen.«

Wut wallte in mir hoch, als er über Ben sprach, als wäre dasalles ein großer Spaß. »Zeigen Sie mir sofort, wo Sie Ben un-tergebracht haben, und beweisen Sie mir, dass es meiner Mut-ter gut geht.« Ich schluckte, als ich an den vermeintlichen Klondachte. Das würde ich erst glauben, wenn ich mir selbst livegegenüberstand. Als ich meinen scharfen Tonfall bemerkte,fügte ich noch ein verbindliches »Bitte, Meister« hinzu undsenkte den Blick.

Mein Verhalten schien Professor Avalanche sehr zu gefal-

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len. Er tätschelte mir freundlich den Kopf. »Eins nach dem an-deren.«

Ich wäre am liebsten zurückgewichen und hätte mich ge-schüttelt, doch ich blieb eisern, wo ich war. Stattdessen befühl-te ich unauffällig meinen Unterkiefer, dort, wo Tysons Fingerschmerzende Druckstellen hinterlassen hatten. Tyson lächelte,als ich kurz zu ihm herübersah. Doch es war keineswegs einefreundliche Geste, sondern vielmehr ein boshaftes Grinsen, dasGenugtuung ausstrahlte. In meinem Kopf rasten die Gedan-ken. Sie hatten einen Klon von mir gebaut. Wann war das gesche-hen? Würde ich für immer eine Gefangene bleiben? Würde das hiermeine Zukunft sein? Ich dachte an Ben. Ich musste wissen, wiees ihm ging. Ich musste sehen, dass es ihm gut ging. Die Sorgeum ihn schien allgegenwärtig.

Der Professor ging voraus, blieb dann aber stehen, drehtesich zu uns anderen um und musterte mich argwöhnisch. »Je-mand soll ihr Schuhe holen.«

July gab Alistair ihr Klemmbrett und flitzte in meine Zelle.Kurz darauf kam sie mit einem Paar weißer Ledersneakers zu-rück. Sie hielt sie mir mit spitzen Fingern hin.

»Anziehen.«Ich zuckte hilflos mit den Schultern und stellte mich ab-

sichtlich sehr schwächlich. July schnaufte und hielt mir dieSchuhe noch etwas mehr vors Gesicht. »Anziehen, sofort.«

»Muss ich dir helfen?«, knurrte Tyson und fixierte mich mitseinen Tieraugen.

Der Professor seufzte genervt, sah dem Schauspiel aber in-teressiert zu.

»Ihr ist noch schwindelig«, erklärte Kyle. Er ging vor mir indie Hocke, legte meine Hand aber vorsorglich auf seine Schul-

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ter, damit ich mich weiter an ihm abstützen konnte. »Wart ihrschon mal so zugedröhnt?«

Julys Haltung änderte sich sofort. Sie zog sogar die Schnür-bänder auf, damit Kyle es einfach hatte, mir die Schuhe anzu-ziehen. Sie passten perfekt.

»Danke«, sagte ich leise zu beiden. Es war nicht mal gelo-gen. Mir war wirklich noch schwindelig.

»Dann los.« Professor Avalanche dreht sich wieder zumAusgang und setzte sich in Bewegung.

Kyle legte mir eine Hand an den Rücken, um mich zumGehen zu bringen. Sie schienen sich wirklich kein bisschen umdie »nicht anfassen«-Politik der Orden zu kümmern. Waren siewirklich so viel stärker, dass ihnen dieser Kräfteverlust nichtsausmachte?

Wir durchquerten das Labor, doch ich erhaschte nur sche-menhafte Blicke auf die vielen wissenschaftlichen Apparate.Dutzende Menschen schienen hier zu arbeiten.

»Warum haben Sie mir meine Sachen ausgezogen?«, fragteich und dachte schaudernd daran, wer es wohl übernommenhatte. Hoffentlich nicht dieser Widerling Tyson. »Ich will meineSachen zurückhaben. Ich brauche meine Schuhe.« Es war lä-cherlich, aber ich sah hinab auf meine nackten Füße und fühltemich so verwundbar.

»Wir brauchten Ihre Kleidung, um Ihren Geruch zu analy-sieren.«

In mir krampfte sich schon wieder alles zusammen. Ernst-haft? »Wie bitte?«

»Ihr Geruch« erklärte Professor Avalanche immer nochfreundlich, drehte sich aber im Gehen nicht zu mir um. »Au-ßerdem mussten wir ein paar Hautzellen von Ihnen bekom-men, deshalb haben wir Sie Ihrer Kleidung entledigt. Keine

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Angst, das ist eine völlig schmerzfreie Prozedur, und manmerkt es im Normalfall nicht. Der menschliche Körper verliertden ganzen Tag über abgestorbene Zellen. Wir haben sie miteinem kleinen Spatel abgetragen und die Duftmoleküle analy-siert, ebenso wie den klassischen Geruch Ihrer Kleidung. Siewissen ja, dass sich verschiedene Duftstoffe zu einem einzigar-tigen Körpergeruch mischen. Das Sekret Ihrer Schweißdrüsen,der Talg auf Ihrem Kopf und der natürliche Fettfilm IhrerHaut.«

Ich hätte mir gerne vor Scham die Hand vor die Augen ge-halten, weil er so unglaublich schmerzfrei über so ein sensiblesThema sprach und zu allem Überfluss ich der Mittelpunkt alldieser Erzählungen war.

»Wofür?«, stieß ich hervor.»Ihr Ebenbild musste hundertprozentig perfekt sein. Es

musste sogar riechen wie Sie. Nicht nur mittels Parfüm, son-dern auch mittels der Millionen kleinster Duftmoleküle. Es istim Grunde genauso wie bei Tieren. Tiermütter erkennen ihreJungen am Geruch, und obwohl dieses Können in der mensch-lichen Rasse weitestgehend verloren gegangen ist, so besitzenwir doch sensible Zellen in unserer Nase, die Gerüche sehr ge-nau unterscheiden können. Ganz besonders die Gerüche derMenschen, die uns nahestehen. Wir wollen ja nicht, dass IhreMutter misstrauisch wird. Dass sie anfängt zu suchen, obwohlsie gar keinen richtigen Grund hat. Wir wollten jedes Risikovon Beginn an ausschließen.«

Dann hatten sie wirklich einen Klon erschaffen, der jetztmein Leben lebte? Würde er die anderen Alchemisten auchtäuschen können? Mir wurde eiskalt vor Schock, und ich be-kam nur flüchtig mit, wie wir das Labor verließen.

Tyson und Alistair schlossen schwere Feuerschutztüren hin-

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ter uns. Der Gang, den wir nun betraten, war eine Mischungaus Geschichte und Moderne. Antike Steintafeln, grob be-hauene Obelisken und Marmor, der in allen Facetten desLichts schimmerte, war in Alkoven in den Wänden platziert.Dazwischen befanden sich immer wieder Türen, die zu weite-ren Räumen oder Treppenhäusern führen mussten. Der Bodenbestand aus schimmernden weißen Kacheln, die entfernt anMondstein erinnerten. Die Fußleisten glänzten silbern, dochnatürlich nahm ich an, dass hier in Wahrheit Quecksilber ver-baut war. Die Logen schützten sich gegen Eindringlinge mitihrem eigenen Element, damit Besucher geschwächt würden.Auch ich fühlte mich immer noch sehr wacklig. Ich hatte keineAhnung, wie sie es geschafft hatten, das bei Raumtemperaturflüssige Element zu einem Feststoff zu wandeln, aber vermut-lich war das eine der Fähigkeiten, die sie über die Jahrhundertehinweg entwickelt hatten. Professor Avalanche ging immernoch voraus, zu seiner Rechten sein Sohn Tyson, zu seinerLinken July Mercury. Alistair trat an meine freie Seite, wäh-rend Kyle offensichtlich meine Betreuung zugeteilt wordenwar. Er ließ es zu, dass ich mich umsah und mich sogar um-drehte, aber vermutlich befand ich mich in so einem erbärmli-chen Zustand, dass ich sowieso keine Bedrohung darstellte.Wir bogen durch eine breite Tür ab und liefen nun einen Gangentlang, der mich stark an die Loge in Italien erinnerte. Ge-schäftsmäßig nüchterne Wände, ein schlichter dunkler Boden-belag, Türen, die nicht beschriftet waren. Wieder schweiftenmeine Gedanken zu Ben. Ob ich ihn jetzt sehen würde? Wür-de ich jetzt endlich Gewissheit bekommen, dass es ihm gutging?

Irgendwann mündete der Gang in eine Halle, die ähnlichimposant gestaltet war wie die Eingangshalle der Loge in Rom.

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Wie automatisch glitt mein Blick nach oben in Richtung derKuppel. Doch hier bestand sie nicht komplett aus Glas, nur ei-nige große Deckenfenster waren in den Beton eingelassen. DiePlatten dazwischen waren mit Streben versehen und glänztenin einem matten Grau. Ich fragte mich, wo sie das Abbild derSchlange versteckten, die einen Teil des Steins der Weisen bil-dete. Doch dann endlich setzten sich die Fragmente vor mei-nen Augen zusammen. Ich musste wirklich sehr geschwächtsein, denn normalerweise erkannte ich Muster im Bruchteilvon Sekunden. Hier waren es die Kacheln an der Wand. Sahman genau hin, setzten sie sich zu dem typischen Schuppen-muster einer Schlange zusammen. Sie schienen in allen Regen-bogenfarben zu schillern, wenn das Licht darauffiel. Karate KidKyle ließ es zu, dass ich mich so weit in seinem Griff drehte,dass ich mich zur großen Eingangstür wenden konnte. Überden breiten Doppelschwingen prangte der Schlangenkopf,ebenfalls komplett aus Kacheln bestehend. Die Tür war riesigbreit und bestimmt über vier Meter hoch. Alchemisten schie-nen echt ein Faible für hohe Räume zu besitzen. Ich hatte malwieder das Gefühl, mich eher in einer Kathedrale zu befindenals in einem Raum, in dem Menschen lebten und arbeiteten.Professor Avalanche warf einen kurzen, sehr zufriedenen Blickauf mein Gesicht, das sicherlich Staunen und Bewunderungzugleich ausdrückte. Auch von dieser Halle gingen verschiede-ne Gänge ab, sodass sie vermutlich auch als Treffpunkt für Zu-sammenkünfte genutzt wurde. Ich hielt nach den antiken Ge-rätschaften Ausschau, die die zweite Hälfte des Steins derWeisen bildeten. Und richtig, ich entdeckte sie links von Pro-fessor Avalanche, gerade als wir unter einer Galerie entlang-gingen.

»Das alles hier dürfte Ihnen ja vertraut sein.« Der Professor

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sprach wieder, ohne sich zu mir umzudrehen. »Sie warenschließlich oft genug in der Goldloge in Rom zu Besuch.« DieVerachtung, mit der er das Wort »Gold« aussprach, ließ sofortwieder die Wut in mir hochkriechen. Wir durchquerten dieHalle, während ich mich weiter unauffällig umsah. Auch siebesaßen eine Sitzgruppe, die etwas versteckt im Schatten lag.Ob sie sich hier genauso gern trafen wie die Goldalchemisten?Verbrachten die Quecks ebenso gern Zeit nahe ihres Steins derWeisen? Eine hochmoderne Sicherheitstür glitt lautlos auf, alswir uns näherten.

Meine Neugier siegte schließlich. »Bitte. Wo gehen wirhin? Warum darf ich das nicht wissen? Ich finde das echt sehrunhöflich.«

Ich bekam keine Antwort.Kyle schob mich erneut sanft vorwärts und wich meinem

Blick geschickt aus. In diesem Gang roch es nach Desinfekti-onsmittel, und etwas Scharfes ließ meine Augen beinahe bren-nen. Eine toxische Mischung aus Chlor, Alkohol und beißen-den Tensiden.

Ich kannte den Geruch nicht, aber etwas in mir schrie pro-testierend auf. Gehe nicht weiter. Egal was er sagt, geh einfachnicht weiter. Ich stockte, machte wie automatisch kleinereSchritte, und Kyle und ich fielen etwas zurück. Unauffälligwarf ich einen Blick auf die Türen, die rechts und links vondem ganz in weiß gehaltenen Flur abgingen. Sie waren nichtbeschriftet. Was wohl dahinter verborgen lag?

Dann endlich. Auf einer einzigen Tür prangte ein Schild.Doch noch waren wir zu weit weg, um die kleine Schrift lesenzu können. Ich beschleunigte meine Schritte, und wieder pass-te sich Kyle meinem Tempo an. Noch ein Schritt … noch einSchritt … ich neigte den Kopf. Eine Summenformel!

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CH2O.Formaldehyd? Was hatte das zu bedeuten? Es war eine der

meisthergestellten organischen Chemikalien weltweit. Es wur-de als Desinfektionsmittel benutzt – aber wofür noch? Warumwollte mir jetzt nicht mehr dazu einfallen? Mein Verstandschien nur noch auf Halbmast zu arbeiten. Ich hatte sogarSchwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Lag es an demQuecksilber? Hatte es wirklich einen so großen Einfluss aufmich?

Wir passierten auch diesen Raum und machten schließlichvor einer großen Doppelschwingtür halt. Zwei runde kleineFenster, ähnlich wie Bullaugen auf einem Schiff, waren darineingelassen. Doch bevor ich einen Blick hindurchwerfen konn-te, stieß der Professor die beiden Türen auch schon schwung-voll auf. Was vermutlich auch besser war, denn nach einemersten Blick ins Innere hätte ich diesen Raum nie betreten.Metallene, auf Hochglanz polierte Tische. HöhenverstellbareArbeitsplatten, an denen es sogar Wasseranschlüsse gab unddie mit kleinen Abflüssen bestückt waren. Neben manchen wareine Waage platziert oder Werkzeuge, die mich entfernt anOP-Besteck erinnerten. Ich holte vor Entsetzen scharf Luftund wandte den Kopf suchend nach rechts und links. DieWände bestanden von oben bis unten nur aus schmalen qua-dratischen Eisentüren. Sie sahen aus wie Dutzende Fächer, indenen man…

»O Gott.« Eigentlich hatte ich diesen Ausruf nur gedacht,aber dann war er mir wohl doch über die Lippen gekommen.Das hier war kein Labor. Es war eine Leichenhalle.

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Professor Avalanche schien sich über meine Reaktion zu amü-sieren. Er machte sogar eine Verbeugung. July und sein SohnTyson standen mit ausdruckslosen Mienen daneben, AlistairsKiefer wirkte angespannt, und er fixierte einen Punkt auf sei-nen schweren Stiefeln.

»Ein kleiner Willkommensgruß von mir, verehrte SignorinaPandolfini. Und gleichzeitig ein kleiner Hinweis, wie wir mitdenen umgehen, die sich uns in den Weg stellen.« Ohne hin-zusehen, griff Flint Avalanche nach einem der Fächer. DerRiegel schnappte auf, und eine Bahre rollte hinaus. Der Körperdarauf war komplett in ein weißes Laken gehüllt. Doch Profes-sor Avalanche hatte so schwungvoll an der Bahre gezogen, dassder Körper darunter einen Stoß bekam. Eine zierliche Handlöste sich unter der Plane und blitzte unter dem Stoff hervor.

Weich geschwungene Symbole auf dunkler Haut.Mein Herz setzte einen Schlag aus. Bitte mach, dass meine

Augen sich täuschen.Doch mein Gehirn ließ sich nicht bremsen.Ich erkannte die Henna-Tattoos von Sanjena sofort. Es gab

keinen Zweifel. Ich gab einen Laut von mir, der wie ein ver-wundetes Tier klang. Was hatte Sanjena mit alldem zutun?Was machte sie hier überhaupt?

Professor Avalanche griff nach der Hand, tätschelte sie aufmakabere Weise und schob sie dann zurück unter das Laken.Ich hätte mich am liebsten übergeben.

»Sie haben sie umgebracht?«, stieß ich hervor, immer nochfassungslos und völlig schockiert von dem Anblick. »Warum?«

Professor Avalanche zuckte die Schultern. »Wir mussten andas Voynich-Manuskript und die Bausteine kommen, nach-dem wir Sie und Ben etwas außerplanmäßig gefangen genom-men haben. Sanjena war zufällig auf dem Vorplatz der Loge,

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und da kam mir spontan eine kleine Idee. Menschen, die lie-ben, sind so leicht zu erpressen. Man droht ihren ahnungslosenEltern im fernen London, und schon tat sie alles, was ich vonihr wollte. Damit sie nicht alles verraten kann, haben wir San-jena mitgenommen. Natürlich nur so lange, bis alles vorbei ist.Danach hätte sie ihrer Wege gehen können.« Der Professorseufzte gespielt betrübt. »Aber sie wollte fliehen, und dann gabes diesen kleinen unerfreulichen Zwischenfall …« Er beendeteden Satz nicht.

»Sie sind ja völlig wahnsinnig!«»Vorsicht.« Professor Avalanche hob einen Zeigefinger und

wedelte damit vor meiner Nase herum. »Sie wissen um IhreLage, Signorina Pandolfini. Noch sind Sie für uns von Nutzen.Noch ist Ihr Leben etwas wert. Das kann sich schnell ändern.«

»Glauben Sie wirklich, ich helfe Ihnen, wenn ich dann ge-nauso enden werde wie Sanjena?«

»Glauben Sie, wir lassen Ihnen eine Wahl?«»Ich verlange Antworten. Ich diskutiere nicht weiter mit Ih-

nen.«Er gab der Bahre mit der Hüfte einen Schubs, und sie rollte

zurück in ihr Fach. Dann warf er lässig die Tür zu und kam imnächsten Moment in meine Richtung spaziert. »Und ich dis-kutiere nicht mit Ihnen. Ich zwinge Sie. Das ist etwas ganz an-deres.« Er zwinkerte mir zu, bevor er an mir vorbeiging undmich nicht weiter beachtete.

Ich schwang herum. »Womit wollen Sie mich erpressen?«Professor Avalanche drehte sich nicht um. »Oh, bitte. Sie

sind so ein Füllhorn an Gefühlen, was Ihre Familie und IhreFreunde angeht. Jemanden wie Sie zu erpressen ist etwas fürAnfänger. Leben Sie sich gut ein, Signorina Pandolfini. Wirsehen uns bald wieder.«

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Der Luftzug der Doppeltüren wehte mir die Haare ins Ge-sicht. Der Professor und seine Entourage, bestehend aus sei-nem Sohn und seiner Scriptorin July, verschwanden aus mei-nem Blickfeld. Hinter mir räusperte sich Alistair, dann schosser mit gesenktem Kopf und zackigem Schritt an uns vorbei,und nochmals schwangen die Doppeltüren auf, als auch er ver-schwand. Nur Kyle und ich blieben zurück.

Verstohlen sah ich mich erneut in dem nun menschenleerenRaum um. Die sterilen weißen Wände, die metallenen Tische,diese Fächer an den Wänden… mein Magen rebellierte er-neut. Meine Hände fühlten sich eiskalt an. Meine Sicht ver-schwamm, und mein Herz raste. Ich stand kurz vor einer Pa-nikattacke. Ich war in einer verdammten Leichenhalle!

»Bring mich endlich weg von hier.« Meine Stimme klanggehetzt und überschlug sich beinahe.

»Natürlich«, murmelte Kyle. »Natürlich.«In seiner Stimme hörte ich sowas wie Verständnis. Fühlte er

sich hier etwa genauso unwohl wie ich? Wahrscheinlich mussteich froh sein, dass sie mir den einen Kerl zugeteilt hatten, dernoch irgendwie zu Emotionen fähig schien.

»Ich will alleine laufen.«Kyle seufzte. »Das wird nichts.«Ich machte mich trotzdem von ihm los, ging drei Schritte,

und schon wieder spürte ich die toxische Wirkung des Queck-silbers in meinem Blutkreislauf. Ich war mir inzwischen sicher,dass es nicht nur überall verbaut war, sondern dass sie es auchin die Luft gaben, genau wie es der Goldorden in ihrer Loge inRom tat. Noch einen Schritt, noch einen Schritt… Ich stieß mitden Händen gegen die Türen, doch das war anscheinend zuviel Kraftaufwand für meinen Körper, denn mir wurde schwin-delig. Vermutlich wären mir beide Schwingtüren direkt vor den

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Kopf geknallt, hätte Kyle mich nicht gepackt und aus derSchusslinie gezogen. Er hob mich hoch und schien sich dabeinicht besonders anzustrengen. Mein Kopf knickte erst nachhinten und rollte dann mit der Schläfe gegen seine Schulter. Erroch nach Kardamom und frischem Ingwer. In jeder anderenSituation hätte ihn gefragt, mit was er sich so parfümierte, aberda er zu den Leuten gehörte, die mich entführt und eingesperrthatten und sehr vermutlich bald töten würden, interessierte esmich nicht mehr.

»Du kannst nicht allein laufen.« Er trug mich den langen,weißen Gang entlang, und ich blickte nach oben zur Decke, inder sich die Neonröhren wie ein immer wiederkehrendes Mus-ter in der Decke erstreckten. Ich klammerte mich mit meinenBlicken an ihnen fest und fokussierte mich auf ihre Regelmä-ßigkeit, die mich davon abhielt, vollständig das Bewusstsein zuverlieren.

»Ist es Absicht?« Ich hatte Mühe, die Worte zu formulieren.Ich wollte noch hinzufügen »das mit dem Quecksilber«, aberdas funktionierte gerade irgendwie nicht.

»Natürlich«, erwiderte Kyle und klang irgendwie müde.»Warum?«»Die anderen Logen machen es genauso.«Ich lachte auf, und mein Hals kratzte. »Du springst doch

nicht von einer Brücke, bloß weil die anderen es machen?«»Natürlich springe ich von einer Brücke, wenn meine Loge

das auch macht.«Wieder rollte mein Kopf gegen seine Schulter. »Freak.«Das darauffolgende Geräusch hätte mich nicht mehr wun-

dern können.Kyle lachte. Es war ein leises, raues Lachen, aber es klang

echt und wirklich amüsiert.

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»Ich glaube, ich sollte dich wieder absetzen, bevor du nochfrecher wirst.«

»Mach doch«, murmelte ich. »Ich kann prima alleine lau-fen.«

Noch mal so ein leises Lachen.Meine Augen waren inzwischen halb geschlossen, doch auf

einmal bemerkte ich etwas an der Deckenbeleuchtung. Nebenden Neonröhren waren kleine Filter eingebaut. Doch sie schie-nen die Luft nicht zu reinigen – im Gegenteil – mir wehte je-des Mal ein feiner Luftzug ins Gesicht, wenn wir sie passier-ten. Daher kam also das Quecksilber! Deshalb war mir indiesem Gang so schlecht. Sie schienen einige Gänge besser alsdie anderen zu sichern, und hier pusteten sie das Zeug von derDecke aus in hoher Konzentration in die Luft.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Kyle, und ich rutschte vonseinem Arm. Die Neonröhren verschwanden aus meinemBlickfeld, und dann war da eine Tür. Plötzlich befand ich michwieder in der großen Eingangshalle mit der gekacheltenSchlange, die den Raum mit ihrem Leib umspannte, als wolltesie sein Inneres mit ihrem Leben bewachen.

Endlich bekam ich wieder besser Luft.Ich rieb mir über die Augen. »Gott, ist mir schlecht.«»Ich bringe dich zurück in deine Zelle.« Kyle legte mir eine

Hand auf die Schulter. Obwohl ich praktisch ständig an sei-nem Arm hing, wich ich manchmal noch intuitiv zurück, wenner mich so selbstverständlich berührte.

Kyle deutete mein Zucken falsch. »Die Quecksilberkonzen-tration ist dort am geringsten.«

»Ich hätte so gerne einen Tee«, murmelte ich. Meine Mut-ter und ich tranken oft zusammen Tee. Mamma war ganz ver-rückt nach exotischen Sorten und den seltsamsten Kombina-

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tionen. Bratapfel mit Zimtstange, Orangenkandis mit Stern-aniszucker. Ich hingegen konnte mich für die einfachen Sortenbegeistern. Kamille, Pfefferminz, Earl Grey. Meine Gedankendrifteten von Sanjena, deren Schicksal mich so tief erschütterthatte, zu Oliver, der der Experte für Tee in der Goldloge gewe-sen war. Die Goldloge … Ben … was machten sie nur mit ihm?

Ich sah Kyle direkt ins Gesicht. »Bitte. Bekomme ich einenTee?«, flüstere ich. »Bitte?« Ich sehnte mich nach meiner Mut-ter, nach dem Gefühl von Zuhause und Geborgenheit.

Kyle hatte seine Mandelaugen zu Schlitzen zusammengezo-gen und den Kopf leicht schief gelegt. »Du weißt wirklich, wieman bekommt, was man will.«

Ich war zu benebelt, um den Charme in seiner Stimme zuerkennen. Also wiederholte ich meine Bitte. »Ich hätte bittegerne einen Tee, wenn es denn keine Umstände machen wür-de, hochwohlgeborener Fechtmeister.«

Schon wieder sein leises Lachen. »Ich bin nicht adlig, ob-wohl meine Familie zu den ältesten Alchemistenfamilien derErde gehört. Aber der Titel gefällt mir trotzdem.« Er sah michnoch mal prüfend an, als wolle er sichergehen, dass ich aufmeinen eigenen zwei Beinen stehen konnte. »Ich kann dirnichts versprechen, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«

Ich nickte. »Ich danke dir, Kyle.«Es war das erste Mal, dass ich ihn beim Namen nannte.

Kyle erwiderte zunächst nichts. Auch er schien die Verände-rung zu spüren, die dies mit sich brachte. »Kein Problem, Emi-lia.« Er reichte mir den Arm. »Sollen wir?«

Wir wollten uns gerade umdrehen, da schwang die breiteEingangstür der Halle auf.

Blonde Haare, gebändigt in einem Man Bun, breite Schul-tern, ein umwerfendes Lächeln.

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Sie waren zu dritt, aber ich sah nur ihn. Irgendetwas in mirzerbrach ein zweites Mal.

Meine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Matti.«

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