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Robert Wise An der Schwelle zur Ewigkeit Was wir von Sterbenden fürs Leben lernen können

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An der Schwelle zur Ewigkeit Robert Wise 1 Über den Autor 2 Was wir von Sterbenden fürs Leben lernen können Deutsch von Wolfgang Günter Robert Wise 3 Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100 Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier Super Snowbright liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen. 4 Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Regal Books, Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben, SGS-COC-1940

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Robert Wise

An der Schwelle zur Ewigkeit

Was wir von Sterbenden fürsLeben lernen können

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Über den Autor

Dr. Robert L. Wise hat bereits rund 30 Bücher undunzählige Artikel veröffentlicht. Er ist Erzbischof derGemeinschaft Evangelischer Episkopalkirchen undseit vielen Jahren in der Seelsorge und BetreuungSterbender tätig. Seine faszinierenden Erfahrungenund Erlebnisse an der Schwelle zur Ewigkeit hat er indiesem Buch zusammengetragen.

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Robert Wise

An der Schwellezur Ewigkeit

Was wir von Sterbenden fürsLeben lernen können

Deutsch von Wolfgang Günter

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Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Regal Books,

From Gospel Light, Ventura, Kalifornien, unter dem Titel„Crossing The Threshold Of Eternity“.© 2007 by Robert L. Wise© der deutschen Ausgabe 2009 by Gerth Medien GmbH, Asslar,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben,

den folgenden Bibelübersetzungen entnommen:Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neu-er Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.Mit L84 gekennzeichnete Bibelstellen wurden zitiert nach:Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuerRechtschreibung, © 1999, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

1. Auflage 2009Bestell-Nr. 816 373ISBN 978-3-86591-373-9Umschlaggestaltung: Hanni PlatoUmschlagfoto: iStock/Paulus Rusyanto

Satz: Typostudio RückerDruck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

Verlagsgruppe Random Housefsc-deu-0100Das für dieses Buch verwendetefsc-zertifizierte Papier Super Snowbrightliefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.

SGS-COC-1940

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Inhalt

Dank ........................................................................ 7

Einleitung ................................................................ 9

TEIL IDas Fotoalbum durchblättern .................................. 15Kapitel 1 Momentaufnahmen ................................ 17Kapitel 2 Auf die Filme achten ............................... 27Kapitel 3 Letzte Aufgaben ....................................... 37Kapitel 4 Die Geheimnisse des Lebens

(und des Todes) .................................................... 47Kapitel 5 Muster und Phasen .................................. 61Kapitel 6 Schwierige Bilder ..................................... 71Kapitel 7 Die Kinder ................................................ 79Kapitel 8 Die dunkle Seite ....................................... 87

TEIL IIVon den Bildern lernen ........................................... 95Kapitel 9 Einwände und Entgegnungen ................. 97Kapitel 10 Was können wir daraus lernen? ............ 109Kapitel 11 Die Bilder verstehen .............................. 119Kapitel 12 Die sieben letzten Schritte ..................... 131Kapitel 13 Die großartigste Geschichte .................. 149Kapitel 14 Puzzlestücke, die nicht passen............... 163Kapitel 15 Nah am Herzen Gottes .......................... 175

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TEIL IIIMit den Bildern arbeiten.......................................... 195Kapitel 16 Wer Ohren hat zu hören … ................... 197Kapitel 17 Himmels-Bewusstsein ............................ 205Kapitel 18 Den Lebenden und den

Sterbenden helfen ................................................ 213Kapitel 19 Heilung .................................................. 227Kapitel 20 Praktische Erfahrungen ......................... 237

Anmerkungen .......................................................... 251

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Dank

Meine höchste Wertschätzung gilt den Menschen, diemit mir über ihre außergewöhnlichen Erfahrungengesprochen haben. Um ihre Privatsphäre zu schützen,habe ich häufig Pseudonyme benutzt. Andere allerdingsgaben mir ihre Einwilligung oder baten mich sogardarum, sie mit ihrem richtigen Namen zu nennen. Ichweiß ihre Offenheit und Bereitschaft, ihre Identitätoffenzulegen, sehr zu schätzen. Zu tiefer Dankbarkeit binich Cindi Pursely verpflichtet, die mir so viel aus ihremBerufsalltag als Krankenschwester im Hospiz und ausder Arbeit mit Sterbenden erzählt hat. Ihre Erkenntnisseinspirieren mich immer wieder.

Bernice McShane übernahm die anstrengende Auf-gabe, den Text Korrektur zu lesen. Danke, Bernie!

Wie immer bin ich meinem guten Freund und Lite-raturagenten Greg Johnson dankbar.

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Einleitung

Jack Oscar gehört zu der immer mehr schwindendenSchar der Menschen, die den Ersten Weltkrieg überlebthaben. Er wurde vor Kurzem 106 Jahre alt. Trotz dieseshohen Alters konnte er seine Erinnerungen an den ers-ten Menschen, den er in diesem Krieg sterben sah, miterstaunlicher Klarheit schildern. Jacks Gedächtnis funk-tioniert immer noch einwandfrei, und obwohl er diemagische Grenze von 100 Jahren überschritten hat, spru-delten die Erinnerungen nur so aus ihm heraus, als hätteer all das erst gestern erlebt.

Nachdem Jacks Einheit die Kreidefelsen von Doverhinter sich gelassen hatte, landete sein Schiff an der fran-zösischen Nordseeküste. Das durchdringende Geknatterder Maschinengewehre ließ ihn zusammenfahren.Niemals zuvor hatte er solch einen furchterregendenLärm gehört. Bomben explodierten im offenen Geländeund veranlassten Jack, sich reflexartig auf den Boden zukauern, während er den Lärm der Explosionen und her-umfliegenden Schrapnelle im Ohr hatte. Der beißendeGeruch von Schießpulver und Rauch setzte sich in sei-nen Lungen fest. Trotzdem kämpfte sich seine Kompa-nie durch Dreck und Schutt weiter vor.

Gegen Mittag erreichte die britische Einheit einenHügel. Sie mussten die Kuppe überwinden, und jederEinzelne von ihnen wusste, dass auf der anderen Seite

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der Tod auf sie wartete. Mit eiskalter Furcht im Herzenbegannen die Soldaten den Anstieg und passierten dieKuppe. Auf der anderen Seite stolperte Jack über den zer-fetzten Körper eines guten Kameraden.

Sein Freund war gerade den Abhang hinuntergelau-fen, als die deutschen Maschinengewehre das Feuer aufder anderen Seite des Tals eröffneten. Eine Salve traf ihnin der Schulter, bevor sich der Bleiregen über seine Brustund den gesamten Körper ergoss. Als der Soldat zur Erdefiel, lagen die Überreste seines Magens neben ihm. DerMann wand sich vor Schmerzen, seine inneren Organequollen aus seinem Bauch heraus. Jack hockte sichneben seinen Freund, um zu sehen, ob er irgendetwasfür ihn tun konnte.

„Erschieß mich!“, schrie der verwundete Soldat.„Bitte! Erlöse mich von diesen Schmerzen!“

Die Todesqualen dieses Mannes waren schlimmer alsalles, was Jack im Lauf von sechs Menschenleben hättezu Gesicht bekommen können. Er wusste nicht, was ertun sollte, griff jedoch halbherzig zu seinem Gewehr.

Plötzlich veränderte sich die Miene des Manns, undsein Wimmern verstummte. Er streckte die Hand aus,und ein strahlendes Lächeln umspielte seine Lippen.Leise sagte er: „Mutter!“ Und mit einem Lächeln auf denLippen starb er.

Jack erlebte die letzten 60 Sekunden im Leben diesesMannes mit, und 88 Jahre später konnte er sich nochgenauso lebhaft daran erinnern, als wäre es erst Minutenzuvor geschehen. Jack hatte gewusst, dass die Mutter die-ses Mannes bereits einige Jahre vor dem Krieg gestorbenwar. Nach all diesen Jahren glaubt er heute immer nochganz sicher, dass der sterbende Mann in seinen letzten

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Sekunden seine verstorbene Mutter sah, die ihm auf demfranzösischen Schlachtfeld entgegenkam, um ihn nachHause zu holen.

Ich werde Ihnen viele ähnliche Geschichten erzählen.Sie können Ihnen auf verschiedene Weise helfen.

Jedes Kapitel zeigt eine andere Facette des letzten Weges.Der Tod ist offensichtlich unausweichlich – und gleich-zeitig ist er das letzte große Thema, dem wir so lange wiemöglich aus dem Weg gehen. Solange der Verstorbenenur irgendwo in der Nachbarschaft gewohnt hat, kön-nen wir es als Thema abtun, das eben jemand anderenbetrifft. Doch wenn es uns ganz persönlich nahe kommt,weil ein Familienangehöriger oder ein Freund stirbt –jemand, mit dem wir zusammengelebt haben oder denwir gut kannten –, wird uns ganz flau zumute. DiesesBuch hat das Ziel, Ihnen beim Überwinden dieser Furchtzu helfen.

Kommen wir über ein makaberes Unbehagen ange-sichts des Unvermeidlichen hinaus? Ja. Ist es möglich,den Tod sogar als Teil und Krönung des Lebens zu feiern?Ich glaube schon.

Mit den Geschichten in diesem Buch will ich IhrenBlickwinkel erweitern und Ihnen eine neue Gelassenheitim Umgang mit dem Unvermeidlichen vermitteln. Alldie unterschiedlichen Geschichten zeugen von einerRealität, die sich unserem Verständnis entzieht. Viel-leicht sind Sie sogar überrascht, wie positiv und hoff-nungsvoll man dieses Thema füllen kann.

In vielen Fällen vermeidet man es tunlichst, einenBekannten in der Klinik oder zu Hause zu besuchen, derim Sterben liegt, und bemüht sich nach Kräften, einemGespräch oder einer Begegnung mit ihm aus dem Weg

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zu gehen. Andere nehmen aus irgendwelchen Gründenan, dass todkranke Menschen sich auf wundersameWeise verändern und plötzlich die Beziehungen, die sieein ganzes Leben lang genossen haben, nicht mehr brau-chen. Zwar stimmt es, dass uns der Tod auf unserer letz-ten Runde um die Bahn an einen anderen Ort führt,doch braucht jeder Mensch trotzdem bis zum EndeWärme und Fürsorge. Ich möchte Ihnen daher auchdeutlich machen, dass Ihre ausgestreckte Hand von den-jenigen dankbar ergriffen wird, die sich darauf vorberei-ten, unsere Welt zu verlassen.

Viele Menschen sind unsicher, wie man mit jeman-dem redet, der an der Schwelle des Todes steht. Der Ge-danke daran, mit jemandem ein Gespräch zu führen, derdem Tod nah ist, kann bedrohlich sein oder düstere Vor-ahnungen auslösen. Folglich reden sich die Menschendann oft ein, dass der Betreffende gar nicht sterbenwird, oder sie versuchen die Situation zu verdrängen. Sieschauen in die andere Richtung, und der Sterbendebezahlt dafür mit Einsamkeit. Ich glaube, dass wir die-ses Bild ändern können. Wenn Sie dieses Buch gelesenhaben, werden Sie, so hoffe ich, solche Gefühle nichtmehr hegen. Sie werden entdecken, dass es gut undwichtig ist, mit Sterbenden zu reden und ihren letztenEmpfindungen und Wahrnehmungen auf die Spur zukommen.

Unsere Aufgabe ist es zu lernen, wie man die richtigenFragen stellt, die es dem Sterbenden erlauben, sich wirk-lich offen mitzuteilen. Wollen Sie nicht irgendwie dochwissen, wie es sich anfühlt, über die letzte Schwelle zutreten?

Um diesen Fragen nachzugehen, müssen wir in der

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Lage sein, ohne Panikgefühle über den Tod nachzuden-ken und uns mit der Vorstellung zu versöhnen, dass wirselbst irgendwann einmal sterben müssen. Ich hoffe,wenn Sie dieses Buch aus der Hand legen, haben Sie Frie-den mit dem Gedanken geschlossen, dass auch Sie einesTages an der Reihe sind.

Mehr als alles andere liegt mir jedoch am Herzen,Ihnen eine Verheißung mitzugeben, die Christen schonseit Jahrhunderten ermutigt: Weil Jesus Christus von denToten auferstand, hat er den Tod besiegt und versprichtauch uns ewiges Leben. Diese Verheißung sagt uns, dasswir keine Angst zu haben brauchen. Mit dem Tod istnicht alles aus – es wird nur alles anders. Und wenn wirder Bibel Glauben schenken können, wird es danach füruns, die wir mit Gott gegangen sind, unermesslich vielbesser, als wir es uns nur vorstellen können.

Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen dabei hilft, das fürsich anzunehmen.

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Teil I

Das Fotoalbumdurchblättern

Doch sie sehnten sich nach einer besseren Heimat, nach derhimmlischen, und deshalb schämt Gott sich auch nicht, ihrGott – der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – zu heißen.Er hatte ja auch schon eine Stadt für sie gebaut.Hebräer 11,16

Im Lauf der Jahre, die ich als Pastor gearbeitet habe, wares mir wichtig, die faszinierenden Nahtoderlebnisse, dieich beobachtet hatte, nicht zu vergessen, und deshalbbegann ich sie in einem Notizbuch festzuhalten, das icheigens für diesen Zweck angelegt hatte. Als diese Noti-zen mit der Zeit immer umfangreicher wurden, betrach-tete ich sie als eine Art Fotoalbum voller spannenderMomentaufnahmen, die wir nicht oft zu Gesicht bekom-men, wenn wir an den Tod denken.

Sogar heute noch betrachte ich jeden Hinweis aufdieses Phänomen, ob es sich nun um eine wahre Ge-schichte handelt, einen Bibelvers, ein Forschungsergeb-

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nis oder eine Statistik mit harten Fakten, als eine Art Bild,einen Teil des großen Mosaiks, das die letzte Schwelledarstellt.

In diesem ersten Teil werden wir die Beweislage unddie Forschungsergebnisse, die aufgrund von Nahtod-erlebnissen für ein Leben nach dem Tod sprechen, ge-nauer unter die Lupe nehmen.

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Kapitel 1

Momentaufnahmen

An einem kalten Wochenende im Winter standen aufder Liste der Krankenschwester Cindi Pursely zwei tod-kranke Patienten, die beide mit einer überwältigendenFurcht vor dem Sterben zu kämpfen hatten. Die beidenkannten sich nicht und hatten auch nie Kontakt zu-einander gehabt.

Cindi arbeitete schon über 28 Jahre als Kranken-schwester, die letzten 17 davon für eine Hospiz-Organi-sation. Cindi war mit ganzem Herzen dabei, sterbendenMenschen zu helfen, und vor allem sorgte sie sich umdiejenigen Patienten, die sich mit aller Macht gegen dasUnvermeidliche sträubten. Diese beiden Patienten stan-den ganz oben auf ihrer Liste.

Betty Meier war in den Achtzigern. Sie hatte keineVorstellung, was vor ihr lag, legte aber auch keinerleiWert darauf, es herauszufinden. Ihr ganzes Leben langhatte sie sich vor dem Ende gefürchtet, und Cindi hattekeine Ahnung, wie Betty ihre letzte Runde vollendenwürde. Betty, die sich selbst als Agnostikerin betrachtete,gehörte zu Cindis widerspenstigsten Patienten, und dasmachte Cindi schwer zu schaffen.

Bei Alan Harris lag der Fall etwas anders. Er war erstEnde 40, als das Ende in Sicht kam, und glaubte, dasser zum Sterben noch viel zu jung sei. Al hasste jedenAugenblick dieses unausweichlichen Prozesses. Er wei-

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gerte sich standhaft, darüber zu reden, was er „dortdrüben“ in der Sekunde, nachdem sein Herz aufgehörthatte zu schlagen, zu sehen bekommen würde. Auch Alwar eher als Agnostiker einzuordnen.

Wenn Patienten wie Alan oder Betty sich gegen dasUnvermeidliche wehren, sind ihre letzten Tage oft vonAngstattacken geprägt, die Körper und Seele sehr belas-ten. Cindis schwierige Aufgabe wurde oft zusätzlichdadurch erschwert, dass die Angehörigen hilflos dabeizusahen, wie ihre Lieben verzweifelt versuchten, sich ge-gen den Tod zu behaupten.

An diesem speziellen Tag stattete Cindi zunächstBetty einen Hausbesuch ab. „Sie sehen heute aber unge-wöhnlich gut aus, Betty!“, begann Cindi das Gespräch.„Sie wirken richtig glücklich.“ Das stimmte.

„Ich habe wunderbar geschlafen“, entgegnete BettyMeier mit festerer Stimme als sonst. „Sie werden nichtglauben, was ich Wunderbares erlebt habe!“ Ihr Gesichtwar gerötet, und ihre Hände zitterten.

„Erlebt?“„Ja!“ Bettys Augen glänzten. „Ich war schon fast einge-

schlafen, als ich mich plötzlich im Jenseits wiederfand.“Cindi musterte Betty aufmerksam. Der typische ab-

gestandene Geruch eines Krankenzimmers hing in derLuft. Die Frau klang, als halluzinierte sie, und Cindiwollte herausfinden, ob sie noch bei klarem Verstandwar. Betty wirkte zwar ganz vernünftig, doch möglicher-weise war sie etwas verwirrt. Cindi stellte eine Reihe vonFragen: Welcher Tag war heute? Wer war der amerikani-sche Präsident? Wusste Betty, welchen Monat sie hatten?Betty bestand den Test. Sie hatte den Kontakt zur Realitätnicht verloren.

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„Ich habe das Jenseits gesehen“, verkündete Bettykühn und voller Freude. „Es war ganz erstaunlich! Zuersthabe ich gedacht, ich träume, aber dann habe ich ge-wusst, dass das nicht so war. Wirklich eigenartig, wie daspassiert ist. Als ob man sich schlafen legt, aber ich binganz sicher: Ich habe nicht geträumt!“

Cindi setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. „Kön-nen Sie mir erzählen, was Sie gesehen haben?“

Betty setzte sich im Bett auf. „Zwei kleine Jungenwaren gestorben. Ganz süße kleine Jungen. Natürlichwaren sie noch zu klein, um zu begreifen, wo sie sichbefanden. Ich vermute, man könnte sagen, sie waren indiesem Zwischenreich, wo man unmittelbar nach demSterben hingelangt. Sie wussten überhaupt nicht, was sietun sollten, und sie hatten Angst.“

Cindi starrte Betty an. Noch nie hatte Betty irgendwieangedeutet, dass sie eine Meinung darüber hatte, ob esauf der anderen Seite irgendetwas gab. An diesem Mor-gen hatten sich ihre Haltung und ihre Vorstellungsweltvollkommen verändert.

„Man kann ja verstehen, dass zwei kleine Jungen, diegerade gestorben sind, verwirrt sind“, fuhr Betty fort.„Ihr Problem war, dass sie nicht wussten, wie sie dengroßen Abgrund überwinden sollten.“

„Was geschah dann?“, fragte Betty vorsichtig.„Nun, die beiden kleinen Jungen wirkten so verloren.

Dann entdeckten sie, dass ein Weg aus diesem Zwischen-reich herausführte, in dem sie sich befanden. Hand inHand gingen die beiden kleinen Jungen diesen Wegentlang, und es war, als ob der Himmel in Jubel aus-bräche. Dann begannen sie den Rückenwind zu spüren.Cindi, es war so wunderbar zu sehen, wie glücklich diese

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beiden kleinen Jungen waren, als sie diesen Weg in dieEwigkeit gingen. Ich war so gefesselt, dass all meineFurcht verschwand.“

„Sie haben keine Angst mehr?“, fragte Cindi.„Kein bisschen! Ich bin bereit zu gehen. Alles ist gut.“Cindi verließ Betty Meiers Haus und versuchte, das,

was sie gerade gehört hatte, richtig einzuordnen. Siefreute sich, dass Betty ein so ermutigendes Erlebnis ge-habt hatte, wusste jedoch nicht so recht, was sie davonhalten sollte. Ihr restlicher Arbeitstag war stressig, undsie musste viele Patienten versorgen, die ihre volle Auf-merksamkeit brauchten. Cindis Dienstzeit erstrecktesich bis in die Abendstunden, bis der letzte Patient ander Reihe war, und zwar einer, den sie höchst ungern be-suchte: Alan Harris.

Alans Tochter öffnete ihr die Tür. Sie erzählte, dass sieüber das Babyfon, das sie in Alans Zimmer installiert hat-ten, in der Nacht seltsame Geräusche gehört habe.

„Es war sehr eigenartig“, meinte sie, „ein Geräusch,wie es der Wind macht. Es klang, als ob mein Vaterirgendetwas anpustete. Ich konnte mir keinen Reimdarauf machen.“

„Hmm.“ Cindi rieb sich nachdenklich das Kinn.„Schläft Ihr Vater jetzt?“

„Ich glaube nicht. Sie können mit ihm sprechen.“Cindi ging zum Schlafzimmer und öffnete langsam

die Tür. Alan lag mit geschlossenen Augen im Bett. Alsdie Tür quietschte, sah er auf und bat Cindi herein.

„Wie geht es Ihnen heute Abend?“, fragte Cindi ge-spannt, als sie den Raum betrat.

„Gut!“, sagte Alan ruhig.„Schön.“ Cindi ging um das Bett herum. Ihr Patient

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sah wirklich besser aus als in den Tagen zuvor. „Siehaben offenbar gut geschlafen.“

„Stimmt.“Cindi beugte sich vor, um seinen Puls zu fühlen. „Ihre

Herzfrequenz ist auch gut.“„Ich habe keine Angst mehr“, sagte Alan langsam.Cindi richtete sich auf. „Wie meinen Sie das?“„In der vergangenen Nacht hatte ich eins dieser Erleb-

nisse im Land der Dämmerung, von denen ich immernur gehört habe. Selber habe ich so etwas noch nie er-lebt.“

„Vergangene Nacht?“Alan nickte. „Ich habe zwei kleine Jungen gesehen,

die sich verlaufen hatten.“Cindi erstarrte. „Wo?“, fragte sie vorsichtig.„An dem Ort, wo man sofort hinkommt, wenn man

stirbt, vermute ich. Sie versuchten anscheinend, in denHimmel zu gelangen. Sie waren nicht sicher, wie sie vondort wegkommen sollten. Dann haben sie diesen Weggefunden, und ich pustete, so stark ich konnte, um siebeim Vorwärtskommen zu unterstützen. Der Windwurde stärker. Als ich beobachtete, wie sie den richtigenWeg fanden, verschwand auch meine eigene Angst.“

Alan erzählte genau dieselbe Geschichte, die Cindibereits vor Stunden zu Beginn ihres Arbeitstages gehörthatte! Betty Meier und Alan Harris, die mehrere Kilo-meter auseinander wohnten, sich niemals begegnetwaren oder miteinander gesprochen hatten, hatten ge-nau das Gleiche geträumt oder gezeigt bekommen – jenachdem, wie man es betrachten wollte. Nach diesemErlebnis fürchteten sich Betty und Alan nicht mehr vordem Tod, und beide waren keine Agnostiker mehr.

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Erstaunlich? Nicht für Menschen, die regelmäßig mitSterbenden zu tun haben.

Schnappschüsse von der anderen Seite

Zwar hat nicht jeder Erfahrungen gemacht, die man mitAugen und Ohren wahrnehmen kann, doch viele Ster-bende berichten von Erlebnissen, die denen von Bettyund Alan ähneln. Wenn wir genau zuhören und beob-achten, können uns die Sterbenden wichtige Dinge leh-ren, die uns dabei helfen können, uns selbst auf das Endeunseres Lebens vorzubereiten.

Während meiner Ausbildung am Seminar studierteich die Bibel in den Ursprachen und rang mit der Bedeu-tung der biblischen Texte. Meine Professoren wollten,dass ich meine eigene Meinung über alles Mögliche for-mulierte, was die Bibel lehrte, doch mir fiel auf, dass nie-mand je über den Tod sprach. Mit der Zeit bekam ich dasGefühl, es handelte sich um ein Tabuthema. MancheSeminare befassten sich intensiv mit der Auferstehungdes Jesus von Nazareth, während sich andere über Ge-schichten des Alten Testaments ausließen. Kein Profes-sor oder Student allerdings hatte von irgendwelchen per-sönlichen Erfahrungen mit dem Tod zu berichten. Überden Tod sprach man nicht.

Als ich die Bibel auf eigene Faust studierte, erkannteich, dass sie keine systematische Lehre vom Leben nachdem Tod bietet. Die betreffenden Bibelstellen glichenwieder einmal eher einem Fotoalbum voller Schnapp-schüsse, die man über Jahrhunderte menschlicher Ge-schichte hinweg aufgenommen hatte. Die biblischen

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Geschichten waren kaum ausgeschmückt: es waren ein-fach schlichte Momentaufnahmen auf dem Friedhofoder an der Bettkante geknipst. Die Aufgabe, die Bilderso zu ordnen, dass sie einen Sinn ergaben, blieb uns über-lassen.

Im Alten Testament finden wir viele seltsame Ge-schichten wie zum Beispiel die, in der Samuel aus demTotenreich erschien, als Saul die Geisterbeschwörerinvon En-Dor besuchte. Schadrach, Meschach und Abed-Nego kehrten aus dem Feuertod ins Leben zurück. Eliaerweckte den verstorbenen Sohn einer Witwe wiederzum Leben. Es gibt einige Geschichten, in denen jemandins Leben zurückkehrt, doch sie reichen nicht an die Ge-schichten im Neuen Testament heran, in denen Jesusvielen Sterbenden das Leben zurückschenkte. Die Ge-schichte vom toten Lazarus, der nach drei Tagen im Grabvom Tod auferweckt wurde, erschütterte die anwesendenZuschauer sicherlich. Die Auferstehung von Jesus Chris-tus selbst wurde zum weltbewegendsten Ereignis über-haupt.

Der Apostel Paulus, der dieses Thema in der Bibel amausführlichsten behandelt, griff diese Ereignisse auf undentwarf ein Bild von unserer Zukunft, als er einen Briefan die Gemeinde in Korinth schrieb. Sein gesamtes Glau-benssystem erwuchs aus der Überzeugung, dass JesusChristus den Tod endgültig besiegt hatte. Das Problemseiner Leserschaft im ersten Jahrhundert lag darin, zuverstehen, wie sie diesen Ereignissen einen Sinn abge-winnen konnten.

Im Lauf der Jahrhunderte ordnete die Kirche die Mo-mentaufnahmen der Bibel. Als die Reformation begann,versuchten verschiedene Theologen schwindelnde Hö-

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hen zu erklimmen, und die Folge davon war, dass dasFotoalbum kopfüber auf dem Boden landete. Ein weitesSpektrum unterschiedlicher Vorstellungen entwickeltesich, angefangen von der römisch-katholischen Lehrevom Fegefeuer bis hin zur Überzeugung, dass die Ge-schichte von Lazarus, dem reichen Mann und Abrahamuns die Gewissheit schenkt, dass wir nach dem Todsofort in den Himmel gelangen. Manchmal waren dieBilder, die uns die Theologen vor Augen malten, so ver-wirrend, dass es schwierig war, sich einen Reim darauf zumachen.

Heute halten wir ein Fotoalbum in den Händen, dasvöllig durcheinandergeraten ist. Dieses Buch stellt kei-nen weiteren Versuch dar, das Leben nach dem Tod zuerklären. Vielmehr wurde es geschrieben, um Ihnen zuhelfen, dieselbe Vorfreude und Gewissheit zu finden,die die Bettys und Als dieser Welt entdeckt haben. Ichglaube, Sie werden überrascht sein, wie oft solche unge-wöhnlichen Erfahrungen auf der Schwelle des Todesheute noch vorkommen. Ich habe so eine Ahnung, dassSie darin Trost finden werden.

Ich werde mit diesem Buch nicht versuchen, in einReich vorzudringen, in das Gott uns noch nicht einge-laden hat. Ich folge lediglich dem Weg, den mir die Er-lebnisse anderer Menschen gewiesen haben. Jeder vonuns wird einmal durch die Pforten der Zeit reisen, undfür viele Menschen hat sich das als eine gute Reise erwie-sen.