»A ZUR »NOVEMBERREVOLUTION Öffentlichkeit ......Es steht zu vermuten, dass dabei wieder ein...

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Rudolf Stöber VOM »AUGUSTERLEBNIS« ZUR »NOVEMBERREVOLUTION« Öffentlichkeit zwischen Kriegsbegeisterung (?) und Herbstdepression 1. EINLEITUNG 1 Im nächsten Jahr steht das Zentenarium des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs an. Man darf erwarten, dass schon im Winter 2013/14 in etlichen deutschen und internationa- len Leitmedien die Gedenkartikel einsetzen werden. Es steht zu vermuten, dass dabei wieder ein Narrativ bemüht werden wird, das sich tief im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert hat: das »Augusterlebnis 1914«, die angeblich allgemeine Kriegs- begeisterung, obwohl sie inzwischen in der Literatur relativiert worden ist. 2 Hier soll die öffentliche Meinung und Stimmung in Deutschland im Ersten Weltkrieg, zu Kriegsbeginn und im weiteren Verlauf untersucht werden. Dabei wird zum Ersten die Entwicklung der öffentlichen Stimmung und Meinung nachgezeichnet, zum Zweiten die Quellenlage erörtert, zum Dritten werden die Quellen auf ihre Allgemeingültigkeit und Aussagekraft hin zu prüfen sein. An einschlägigen Quellen herrscht kein Mangel. In den Zeitungen und Zeitschriften wurden zwar überwiegend Artikel zur Entwicklung des politischen Geschehens vom Sarajewo-Attentat bis zu den Mobilmachungen und Kriegserklärungen in den großen europäischen Staaten publiziert. Doch fehlen Stimmungsbilder und Beschreibungen von Reaktionen der Bevölkerung in Deutschland keineswegs, die von Aufzügen, Re- aktionen in öffentlichen Lokalen bis hin zu organisierten Veranstaltungen aller Art rei- chen. Der Anzeigen- und Bekanntmachungsteil ist als Quelle ebenfalls nicht zu unter- schätzen. Allerdings stellt sich bei Berichten wie Anzeigen und Bekanntmachungen grundsätzlich die Frage, ob und wie weit sie von patriotischer Selbstverpflichtung und interessegeleiteter Färbung durchdrungen sind. Auch Fotos von den entscheidenden Tagen sind nicht nur aus den Hauptorten des Deutschen Reiches, sondern aus dem gesamten Reichsgebiet erhalten. Bei ihnen stellt sich aber nicht nur das Problem, dass Fotos generell nur Anwesende zeigen und deren Repräsentativität keineswegs als gegeben angenommen werden darf. Auch ist grundsätz- lich mit Kameraeffekten zu rechnen. Dies galt vor hundert Jahren vermutlich noch stär- ker als in der Gegenwart; daher können Fotos nicht ungeprüft als reales Abbild einer Stimmung interpretiert werden. Daneben haben sich Ego-Dokumente aller Art erhalten. 3 Autobiographien und punk- tuelle Erinnerungen lassen zwar auf individueller Ebene Einblick in Gedanken und Erwägungen zu, doch gelten sie generell als eher unzuverlässig. Ob es durch Gedächtnis- lücken oder dadurch bedingt ist, die Erinnerungen bewusst oder unbewusst zu glätten, ist im Ergebnis unerheblich. Daher wird im Allgemeinen tagebuch-ähnlichen Ego-Doku- menten der Vorzug gegeben; doch auch diese sind nicht selten nachträglich bearbeitet oder schon von vornherein als Publikationsgrundlage angelegt worden. Rudolf Stöber ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte – Band 15/2013 Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

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  • Rudolf Stöber

    VOM »AUGUSTERLEBNIS« ZUR »NOVEMBERREVOLUTION«

    Öffentlichkeit zwischen Kriegsbegeisterung (?) und Herbstdepression

    1. EINLEITUNG1

    Im nächsten Jahr steht das Zentenarium des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs an. Man

    darf erwarten, dass schon im Winter 2013/14 in etlichen deutschen und internationa-

    len Leitmedien die Gedenkartikel einsetzen werden. Es steht zu vermuten, dass dabei

    wieder ein Narrativ bemüht werden wird, das sich tief im kollektiven Gedächtnis der

    Deutschen verankert hat: das »Augusterlebnis 1914«, die angeblich allgemeine Kriegs-

    begeisterung, obwohl sie inzwischen in der Literatur relativiert worden ist.2

    Hier soll die öffentliche Meinung und Stimmung in Deutschland im Ersten Weltkrieg,

    zu Kriegsbeginn und im weiteren Verlauf untersucht werden. Dabei wird zum Ersten

    die Entwicklung der öffentlichen Stimmung und Meinung nachgezeichnet, zum Zweiten

    die Quellenlage erörtert, zum Dritten werden die Quellen auf ihre Allgemeingültigkeit

    und Aussagekraft hin zu prüfen sein.

    An einschlägigen Quellen herrscht kein Mangel. In den Zeitungen und Zeitschriften

    wurden zwar überwiegend Artikel zur Entwicklung des politischen Geschehens vom

    Sarajewo-Attentat bis zu den Mobilmachungen und Kriegserklärungen in den großen

    europäischen Staaten publiziert. Doch fehlen Stimmungsbilder und Beschreibungen

    von Reaktionen der Bevölkerung in Deutschland keineswegs, die von Aufzügen, Re-

    aktionen in öffentlichen Lokalen bis hin zu organisierten Veranstaltungen aller Art rei-

    chen. Der Anzeigen- und Bekanntmachungsteil ist als Quelle ebenfalls nicht zu unter-

    schätzen. Allerdings stellt sich bei Berichten wie Anzeigen und Bekanntmachungen

    grundsätzlich die Frage, ob und wie weit sie von patriotischer Selbstverpflichtung und

    interessegeleiteter Färbung durchdrungen sind.

    Auch Fotos von den entscheidenden Tagen sind nicht nur aus den Hauptorten des

    Deutschen Reiches, sondern aus dem gesamten Reichsgebiet erhalten. Bei ihnen stellt

    sich aber nicht nur das Problem, dass Fotos generell nur Anwesende zeigen und deren

    Repräsentativität keineswegs als gegeben angenommen werden darf. Auch ist grundsätz-

    lich mit Kameraeffekten zu rechnen. Dies galt vor hundert Jahren vermutlich noch stär-

    ker als in der Gegenwart; daher können Fotos nicht ungeprüft als reales Abbild einer

    Stimmung interpretiert werden.

    Daneben haben sich Ego-Dokumente aller Art erhalten.3 Autobiographien und punk-

    tuelle Erinnerungen lassen zwar auf individueller Ebene Einblick in Gedanken und

    Erwägungen zu, doch gelten sie generell als eher unzuverlässig. Ob es durch Gedächtnis-

    lücken oder dadurch bedingt ist, die Erinnerungen bewusst oder unbewusst zu glätten,

    ist im Ergebnis unerheblich. Daher wird im Allgemeinen tagebuch-ähnlichen Ego-Doku-

    menten der Vorzug gegeben; doch auch diese sind nicht selten nachträglich bearbeitet

    oder schon von vornherein als Publikationsgrundlage angelegt worden.

    Rudolf Stöber ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität

    Bamberg.

    Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte – Band 15/2013

    Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

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    Weitere nichtpublizierte Quellen, insbesondere Stimmungsberichte aus der Verwal-

    tung, gibt es zuhauf. Viele setzten aber zu spät, nach den ersten Siegesmeldungen, ein.

    Die nichtpublizierten Quellen werden hier ausführlicher zitiert, auf publizierte Quellen4

    mit vergleichbaren Inhalten wird nur in den Anmerkungen punktuell verwiesen. Recher-

    chebedingt liegt ein Schwerpunkt auf Oberfranken; dabei werden überwiegend die fast

    vollständig erhaltenen Berichte der Bezirksämter ausgewertet, die in der Regel als au-

    thentischer, zumindest weniger gefiltert als die Berichte höherer Verwaltungsebenen

    gelten dürfen.5 Ähnliche Quellen aus anderen deutschen Landen werden überwiegend

    statistisch ausgewertet. Die Belege anderer Herkunft belegen, dass sich die gewonnenen

    Ergebnisse auf das ganze Reich verallgemeinern lassen.6

    Zunächst wird die Lage vor und nach dem Kriegsausbruch erörtert. Anschließend

    werden die weiteren Entwicklungen im Kriegsverlauf nachgezeichnet. Verallgemeinern-

    de Schlussfolgerungen runden den Beitrag ab. In jedem Abschnitt werden zunächst

    verschiedene Quellen z.T. ausführlich zitiert. Sodann werden sie einer kritischen Revision

    unterzogen.

    2. JULI-KRISE UND »AUGUSTERLEBNIS«

    Die vorherrschende Deutung zum Sommer 1914 lautet, die deutsche Bevölkerung sei

    begeistert in den Krieg gezogen. Dafür sprechen emphatische Zeitungsartikel, Fotos

    enthusiasmierter Volksansammlungen, Erinnerungen an das »Augusterlebnis«.

    Einige Stimmungsberichte aus dem August 1914 scheinen dies zu bestätigen. So be-

    richtet der Berliner Polizeipräsident im 1. Stimmungsbericht »Die Stimmung der Bevöl-

    kerung ist gut, ernst und Würdig und, wenn Siegesmeldungen kommen, begeistert.«

    Im 2. heißt es zum Auftakt: »Die ernste aber gehobene und bei Siegesmeldungen

    begeisterte Stimmung dauert an.« Im 3. schon etwas gedämpfter: »Die Stimmung ist

    noch immer gehoben und auch in bezug auf die Ostgrenze zuversichtlich.« Doch

    stammen die Berichte vom 22., 26. und 29. August 1914; sie besitzen also kaum einen

    Wert für die Einstellungen der Berliner, geschweige denn für die der Deutschen zur

    Zeit des Kriegsausbruchs.7

    Andere Berichte, die dichter zum Kriegsausbruch verfasst wurden, klingen wesentlich

    ambivalenter. Schauen wir zunächst in die fränkische Provinz: Zwar notierten auch

    Berichte aus Oberfranken überwiegend positive Einstellungen, daneben zeigten sie die

    Bevölkerung zumindest ruhig, bisweilen unsicher bis furchtsam. Kleinsparer stürmten

    die Banken, Urlauber verließen in Panik die Sommerfrische, v.a. Jugendliche schrien

    laut »Hurra!«. Die ersten Berichte von Anfang August 1914, die aus dem Regierungs-

    bezirk Oberfranken überliefert sind, betonten zumeist die Ruhe, mit der die Bevölke-

    rung reagiert habe. Aus Bayreuth hieß es: »Die Nachricht von der Verhängung des

    Kriegszustandes und die Anordnung der Mobilmachung wurde hier von der Bevölke-

    rung mit Ruhe und Besonnenheit aufgenommen. Nicht selten waren auch die Bekun-

    dungen begeisterter Opferbereitschaft für König und Vaterland, die sich sowohl in

    öffentlichen Kundgebungen, als besonders in freiwilliger Anmeldung zum Kriegsdienst,

    zum Dienst des Roten Kreuzes und zu anderen öffentlichen Dienstleistungen äußer-

    ten.«8 Der Stadtmagistrat Hof meldete: »Die Verkündigung des Kriegszustandes hat

    sich in Ruhe vollzogen.«9

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  • 1914-1918 91

    Daneben gab es Anzeichen ernster Befürchtungen, die sich vor allem in Hamsterkäu-

    fen und Bankensturm ausdrückten. Der Bezirksvorsteher von Lichtenfels schrieb:

    »Die Bevölkerung nahm allenthalben die Bekanntmachung mit dem gebotenen Ernste

    auf. Vielfach macht sich eine patriotische Stimmung geltend. Die Kriegsfurcht hat einen

    Sturm auf die Sparkassen und die Lebensmittelhandlungen hervorgerufen.«10 Nach dem

    »förmliche[n] Sturm auf die Sparkassen« wurden in Bamberg »Abhebungen über 100

    Mk.« einer Kündigung von drei bzw. sechs Monaten unterworfen.11 In der ›Chronik der

    Stadt Bamberg‹ hieß es: »Bamberg, 2. August 1914. Die Leute sind wie toll! Ein ganz

    unbegründetes Gerücht über kommende Teuerung12 hat allen die Köpfe verdreht. [...] Die

    Geschäfte wurden heute förmlich gestürmt [...]. Man treibt auch schon Wucher mit Lebensmitteln.«13

    Dass die Begeisterung nicht alle Schichten und Bevölkerungsteile gleichmäßig er-

    fasste, ist einem Bericht aus Naila zu entnehmen: »Die Kriegsgefahr verbreitet überall

    eine ernste Stimmung. Die männliche Bevölkerung zeigt begeisterte Entschlossenheit,

    die Lebensmittel werden selten und teuer.«14 Die Reaktionen auf die Verhängung des

    Kriegszustandes waren auch deshalb höchst unterschiedlich, weil offensichtlich sofort

    die Konsequenzen für die eigene Lage bedacht wurden. So notierte der Bezirksamtmann

    von Bamberg-Land die Sorge der Landwirte um ihre Ernte: »Die Nachricht von der Ver-

    hängung des Kriegszustandes wurde gestern nachmittag von der gesamten Bevölkerung

    mit großer Bewegung aufgenommen. Ruhestörungen kamen jedoch nirgends vor. Auf

    Seite der Landwirte besteht nur die Befürchtung, daß das Einbringen der Ernte durch

    die bereits begonnene Einberufung der wehrfähigen Männer sehr erschwert werde.«15

    Auch in der Sommerfrische blieben umgehende Reaktionen nicht aus: »Die Unsicher-

    heit der politischen Lage hat sich auf den Kurbetrieb in Berneck sehr nachteilig ausge-

    wirkt«, meldete der Bezirksamtmann aus Berneck und fügte hinzu:

    In Ergänzung meines Wochenberichtes [...]: Der gestern 6 ½ Uhr abends erfolgte An-

    schlag über die Verhängung des Kriegszustandes rief namentlich unter den Kurgästen

    eine förmliche Panik hervor; jede Fahrgelegenheit wurde benutzt, um Berneck so

    rasch wie möglich zu verlassen. Unter der einheimischen Bevölkerung war von einer

    patriotischen Begeisterung auch nicht das geringste zu verspüren, dagegen soll sich

    – nach verlässigen mir zugegangenen Mitteilungen – das Gros der Arbeiter, welche

    den Anschlag der Bekanntmachung über die Verhängung des Kriegszustandes dicht-

    gedrängt umlagerten, in sehr kräftigen Ausdrücken Luft gemacht haben. Nach der

    maßlosen Hetze der in Arbeiterkreisen viel u. ausschließlich gelesenen Volkstribüne

    mit ihren direkten Fälschungen des Sachverhalts darf das nicht wundernehmen.16

    In der Literatur stehen die Verwaltungsberichte, preußische Immediatszeitungsbe-

    richte und Quellen ähnlicher Provenienz unter dem Generalverdacht der interessege-

    leiteten Kommunikation. Daher stellt sich zunächst die Frage der sachlichen Verläss-

    lichkeit der Berichte, zumal sie ein Bild wiedergeben, das der im kulturellen Gedächtnis

    der Deutschen abgespeicherten Begeisterung zu widersprechen scheint. Man könnte

    die Berichte, die den Ernst und die Ruhe der Bevölkerung betonen, als typisches Bei-

    spiel einer interessegeleiteten Kommunikation der Behörden abtun, denn Ruhe und

    Ordnung aufrechtzuerhalten war oberste Verpflichtung der Verwaltung. Würden sich

    die Berichte hierin erschöpft haben, wie dies für etliche Berichte aus der Zeit des Kai-

    serreichs gilt,17 müsste man ihre Zuverlässigkeit in der Tat zumindest in Zweifel ziehen.

    Daneben waren aber die Vorkriegsberichte aus Bayern, Preußen und andernorts in der

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    Regel bemüht, den Patriotismus der einheimischen Bevölkerung zu betonen. Insbeson-

    dere an den Geburtstagen des Kaisers, Königs oder Prinzregenten und – v.a. in Preußen

    – zum Sedanstag wurde die patriotische Begeisterung pflichtgemäß berichtet. Dass das

    nicht selten eher eine Pflichtübung war, machte die Erwähnung der Beteiligten – Schul-

    klassen, Sängerbünde und Kriegervereine – immerhin indirekt deutlich. Nichts wäre

    daher einfacher gewesen, die nicht geringe Anzahl patriotischer Stimmen zu verallge-

    meinern. Stattdessen wurden aber beide Seiten der Medaille betont und auch die weniger

    zuversichtlichen Stimmen nicht verschwiegen.

    Das letztzitierte Beispiel aus Berneck ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich.

    Zum einen bezieht sich der Bericht auf unterschiedliche Personengruppen: Da waren

    die mutmaßlich wohlsituierten Sommerfrischler, die wahrscheinlich überwiegend aus

    dem nahen Bayreuth, aber unter Umständen aber auch aus dem bayerischen Kernland

    oder aus anderen deutschen Staaten stammten. Daneben wird von zwei Gruppen ein-

    heimischer Bevölkerung berichtet, den desinformiert dargestellten Arbeitern, die offen-

    kundig vehement den Krieg ablehnten, und anderen, der Gewerbestruktur des Bezirks

    nach mutmaßlich Bauern und Gewerbetreibende, die zwar nicht unbedingt gegen den

    Krieg aber zumindest »nicht im geringsten« für ihn waren.

    Alle drei Gruppen zeigen eine gewisse In-Group-Orientierung, mutmaßlich am stärks-

    ten innengesteuert bei den Touristen, am explizitesten für außengesteuert erklärt bei

    den Arbeitern. Die Hysterie der Sommerfrischler erscheint plausibel, ihre Reaktion,

    sich in einer anbahnenden Krise von fern der Heimat nach Hause begeben zu wollen,

    verständlich. Da der Bericht eher Unerfreuliches notiert, darf er wörtlich genommen

    werden; zumal er hinsichtlich der Arbeiter mit einer wohlfeilen Erklärung aufwartet,

    die vergleichbare Berichte ebenfalls gerne anführten: Die Arbeiter seien durch die

    SPD-Presse »verhetzt«. Damit war der Erwartungshaltung der vorgesetzten Behörde,

    hier des Regierungsbezirkspräsidenten, entsprochen.

    Wenn also die zitierten Berichte zum frühen August 1914 insgesamt als sachlich rich-

    tig angenommen werden dürfen, stellt sich noch die Frage der Belastbarkeit bzw. Ver-

    allgemeinerbarkeit der Quellen. Schon die Vielzahl der unterschiedlichen Notate

    spricht hier für sich: Die Berichte formulierten zwar in der Regel Generalaussagen,

    diese bezogen sich aber erstens nur auf ihr jeweiliges Berichtsgebiet und zweitens

    unterstrichen sie im Detail die Unterschiedlichkeit der Reaktionen. Aber auch hier

    ähnelten sich die Berichte, da sie zumeist die Einstellungen der verschiedenen Bevöl-

    kerungsgruppen mit deren jeweilig persönlicher Interessenslage abglichen: Sparer

    sorgten sich um ihr Erspartes, Bauern um die Einbringung der Ernte, Frauen um die

    Lebensmittelversorgung usw.

    Fasst man die Berichte des Bezirks Oberfranken für die Wende vom Juli auf den

    August 1914 zusammen, überwog zunächst die »ernste Ruhe«, erst nach einer Woche

    wurde vermehrt von »Begeisterung« berichtet. Die Unsicherheit war aber keineswegs

    überall verflogen, ein Bericht aus Berneck vermerkt lapidar die »Nervosität der Bevöl-

    kerung«.18

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  • 1914-1918 93

    Tab. 1:

    Ruhe und Begeisterung in Oberfranken (Juli/August 1914)

    Ruhe Begeisterung

    1.8.1914 Hof, Kulmbach, Bamberg I,

    Ebermannstadt, Forchheim

    Naila

    8./9.8.1914 Stadt Bayreuth, Hof, Bamberg I

    u. II, Berneck, Forchheim,

    Höchstadt

    Ebermannstadt, Kronach,

    Münchberg, Teuschnitz

    Für einen heterogenen Bezirk wie Oberfranken – ökonomisch, sozial, hinsichtlich der

    Konfessionszugehörigkeit und bezogen auf politische Parameter – lässt sich mithin ver-

    allgemeinern, dass die Frage nach vorhandener Kriegsbegeisterung nicht nur sozial und

    geographisch, sondern auch zeitlich differenziert werden muss. Immerhin lässt sich fest-

    halten, dass von allgemeiner Kriegsbegeisterung anfangs nicht die Rede sein konnte.19

    Wie aber steht es um das ganze Reich? In der Studie von Verhey wurden schon vor

    mehr als zehn Jahren akribisch viele Pressestimmen und Berichte über die öffentliche

    Stimmung im gesamten Reichsgebiet zusammengetragen, die tendenziell Ähnliches

    zeigen. Auch die dort angeführten Belege nennen v.a. kriegsbegeisterte Jugend, Studen-

    ten und Wandervögel, außerdem immer wieder »Bessersituierte«.20 Allerdings stechen

    unter den herangezogenen Pressestimmen v.a. solche aus sozialdemokratischer Pro-

    venienz hervor, immer wieder der ›Vorwärts‹, die ›Leipziger Volkszeitung‹ u.a. Den

    SPD-Zeitungen sind sicherlich interessengeleitete, klassen- und schichtenspezifische

    Interpretationen zu unterstellen. Dabei konnte es nach Berichten aus unterschiedlicher

    Provenienz durchaus rabiat zugehen:

    Nach Bekanntwerden des Abbruchs der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn

    und Serbien kam die Kunde auch in das dicht mit Menschen besetzte Cafe. Sofort

    bemächtigte sich der anwesenden Personen eine patriotische Stimmung, man sang

    ›Deutschland über alles‹. In diesem Moment ertönten von einer Seite Pfiffe. Die anwe-

    senden Personen wurden darüber erregt, man suchte nach den Gegnern und verprügelte

    sie und warf sie hinaus. Dann kehrten die Leute ins Lokal zurück und verlangten von

    der Musikkapelle und dem Restaurateur patriotische Lieder. Der Wirt weigerte sich, das

    zu tun und verbot dies auch seinem Kapellmeister. Es kam zwischen beiden zu Auseinander-

    setzungen mit dem Publikum, das nach andauernder Weigerung begann das Lokal

    zu demolieren. [...] Die inzwischen requirierte Schutzmannschaft [...] war der riesigen

    Menschenmenge gegenüber zu schwach. [...] Erst als berittene Schutzmannschaft im Ga-

    lopp anrückte, zerstreute sich die Menge. [...] Der Schaden dürfte 20.000 Mark sein.21

    Berichte, wie dieser aus München, stimmten darin überein, dass die Mehrheit patrio-

    tisch schien, aber die Minderheit, der Schläge angedroht oder gar verabreicht wurden,

    gegen den expressiven Chauvinismus Stellung bezog.22 Die Isolationsdrohung, von

    der die Theorie der Schweigespirale spricht, war mithin explizit. Man darf unterstellen,

    dass durch solche Vorgänge die Neigung der Kriegsgegner, sich in Cafés und der Öffent-

    lichkeit zu äußern, rasch schwand. Der Journalist Moritz Goldstein schrieb in seinem

    unveröffentlichten, zwischen 1941 und 1964 entstandenen Manuskript:

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  • 94 Rudolf Stöber

    Am 1. August 1914 befand ich mich unter denjenigen Berlinern, die durch die Nach-

    richt von der soeben ausgesprochenen Mobilmachung zum Schloss gezogen wurden.

    Es waren dort, und zwar auf der Seite, die nach dem Lustgarten blickt, vielleicht

    hunderttausend Menschen zusammengeströmt. Was für Menschen? Solche, versteht

    sich, die an diesem blauen Sommernachmittage nicht in einer Fabrik, in einem Laden,

    in einem Bureau festgehalten wurden. Schüler hätten es sein können; aber die Jugend

    hatte damals noch nicht die Gewohnheit angenommen, zu politischen Demonstrati-

    onen auf die Strasse zu gehen. Frauen sah man wenig. Dafür viele Männer in guter

    Kleidung und mit guten Köpfen. [...] das muss, dem Ansehen und der Vermutung

    nach, gehobenes Bürgertum gewesen sein: Anwälte, Richter, Beamte, Journalisten,

    Literaten, Lehrer, Universitätsprofessoren, Studenten. [...] Glücklicher Weise waren

    wir nicht führerlos. [...] Er [ein auf eine Laterne gekletterter Einpeitscher] liess uns

    Lieder singen, abwechselnd ›Heil Dir im Siegerkranz‹, ›Die Wacht am Rhein‹, ›Deutsch-

    land, Deutschland über alles‹. Und er liess uns in rhythmische Rufe ausbrechen: ›Wir

    wollen den Kaiser sehen‹. Jeder von diesen Laternenkletterern schlug dasselbe vor,

    denn jedem von ihnen fiel dasselbe ein, obwohl sie sich gewiss nicht verabredet hatten.

    [...] der Kaiser erschien neben seiner Frau und sprach – zwar nicht die berühmt gewor-

    denen Worte: ›Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche‹, aber

    doch den Vorklang dazu. Und damit war unser Verlangen gestillt, und wir zogen ab.23

    An diesen, mit großem zeitlichen Abstand verfassten Erinnerungen, sind ihre Ge-

    nauigkeit sowie die eingestandenen Grenzen – sowohl der Erinnerung als auch der

    situationsbezogenen – bemerkenswert. Goldstein verwendete nicht die sprichwörtlich

    gewordenen, aber historisch falsch überlieferten Kaiserworte.24 Er setzte hinzu: »Ich

    will nicht behaupten, dass ich alles, was ich heute über den Vorgang denke, damals

    gedacht habe. Ich fühlte mehr, als dass es mir bewusst wurde.«25 Der Jubel spielte im

    Lustgarten, der Abzug war Goldstein nicht mehr berichtenswert.

    Man könnte mutmaßen, dass die Vorgänge in den Großstädten das Muster für ähnli-

    che Veranstaltungen in kleineren Städten und Orten abgegeben hätten. Das ›Bamberger

    Tagblatt‹ (BT) berichtete aus München und Berlin: »München, 31. Juli. In München

    herrscht durchgehend eine sehr ernste und würdige Stimmung. Am Donnerstag stan-

    den bis Mitternacht Tausende von Menschen vor den Zeitungsredaktionen [...] Tausen-

    de füllten noch abends die Hallen zum Abschied der österreichischen Militärpflich-

    tigen. Unter brausenden Hochrufen verließen die österreichischen Militärzüge die

    Halle. [...] Berlin, 31. Juli. Die Meldung von der Erklärung der drohenden Kriegsge-

    fahr hatte eine vieltausendköpfige Menge unter die Linden gelockt, wo sie in langen

    Ketten die Fahrstraße umlagerte und auf die Rückkehr des Kaisers wartete. Im Gegen-

    satz zu dem lebhaften Treiben der letzten Tage war die Stimmung der Massen ernst.«26

    Von »patriotischen Straßenkundgebungen bei Tag und Nacht im Deutschen Reich«

    wurde ebenfalls berichtet.27 Anders hingegen bewertete das die SPD-Presse: Der ›Frän-

    kische Volksfreund‹ (FV) sprach von »Straßenpöbel«, »Mob« und »Hurrapöbel«.28 Ob

    es aber überhaupt patriotischer Vorbilder in Berlin, München und anderen Groß-

    städten bedurft hat, lässt sich nicht beantworten. Der früheste Bericht für Bamberg in

    den bürgerlichen ›Bamberger Neuesten Nachrichten‹ (BNN) ist in dieser Hinsicht

    nicht eindeutig:

    Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte – Band 15/2013

    Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

    Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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  • 1914-1918 95

    Die weltdurchzitternde Erregung vom Sonnabend und Sonntag griff natürlich eben-

    falls auf Bamberg über und wandelte seiner Bewohner fromm-denkartlicher Sinn in

    gärenden Fluß und fiebernde Wallung. [...] als die Telegramme von der bedrohlichen

    Gestaltung der Situation bekannt wurden, bildeten sich auch hier überall in den

    Straßen, in Restaurants und Wirtschaften starke Gruppen, die erregt die Meldungen

    erörterten. Dem Wissensdrang des hiesigen Publikums kam die ›Bamberger Neuesten

    Nachrichten‹ durch die Ausgabe von drei Extrablättern am Samstag und weiteren

    drei am Sonntag mit allen Kräften entgegen.29

    Insbesondere die BNN scheinen mit ihren Extrablättern die Erörterungen in der

    Öffentlichkeit stark befeuert zu haben. Die Zentrumskonkurrenz, das ›Bamberger Volks-

    blatt‹ (BVBL), monierte: »Seit der ersten Meldung über den Konflikt zwischen Serbien

    und Österreich-Ungarn nimmt Bambergs Einwohnerschaft an den Ereignissen lebhaf-

    ten Anteil. Die hiesigen Blätter sind mit ihren Extrablättern sehr freigebig. Wenngleich

    auch wir bei jeder wichtigen Nachricht [...] mit Extrablättern nicht kargen, müssen wir

    es doch ablehnen, auf Kosten purer Sensationslust, die Einwohnerschaft unnötig

    aufpeitschende Meldungen weiterzugeben. Auch in diesen Tagen, wo die Phantasie

    findiger Zeitungsleute so gerne auf Kosten der Wahrheit sündigt, erwächst der ernsten

    Presse eine Pflicht, der sie sich nicht entziehen darf.«30 Davon fühlten sich offensicht-

    lich die BNN angegriffen.31 Entgegengesetzte Schlussfolgerungen, die allgemeine Kriegs-

    begeisterung in Abrede stellend, zog der FV aus dem Bericht des BVBL:

    Die ›Stimmung‹ in Bamberg überschreibt das Bamberger Volksblatt einen Artikel in

    seiner Mittwochsnummer. [...] Auch das Volksblatt unterrichtet die Öffentlichkeit

    total falsch [...] Wer die wirkliche Stimmung kennen will, auch der Zentrumsanhän-

    ger, der muß mit den Leuten selbst reden. Das Zentrumsorgan kann seine ›Stimmung‹

    nur im Wirtshaus geholt haben, dort ist es möglich, daß mancher anders redet als zu-

    hause. [...] Von der Aufregung in Bamberg gibt ja bestens Zeugnis, daß die Zeitungen

    Beruhigungsartikel bringen; auch der Hinweis auf die Sicherheit der Spareinlagen

    bei der städtischen Sparkasse ist doch ein deutlicher Beweis für die Sorge der Bam-

    berger Bevölkerung um ihre Zukunft.32

    Schon drei Tage vorher hatte der FV notiert: »Kein Zweifel: an die Stelle des sich

    blähenden Chauvinismus und der protzigen Herausforderung ist bereits ein merklicher

    Katzenjammer getreten.«33 Die SPD-Zeitung berichtete auch als einzige von Kundge-

    bungen gegen den Krieg.34 Doch auch die bürgerlichen BNN gaben keine allgemeine

    Kriegsbegeisterung wieder. Einerseits schrieben sie von »Begeisterung ohne gleichen«,

    andererseits versuchten sie Sorgen zu zerstreuen und nannten Erörterungen der Lebens-

    mittelversorgungssicherheit »selbstverständlich«:

    Eine Begeisterung ohne gleichen ging am Samstag und Sonntag durch die Massen, als

    gälte es für Deutschland in den Krieg zu ziehen. Wie sehr sich die Gemüter auch in

    Nürnberg erhitzt hatten und wie brennend das Interesse an der ganzen österreichisch-

    ungarischen und serbischen Frage war, kam am Samstag eklatant zum Ausbruch.

    Gegen Abend schoben sich in der Königs- und Karolinenstraße Züge von Menschen.

    Kaffeehäuser und Restaurants waren überfüllt und aus dem Stimmengewirr konnte

    man überall Debatten über Serbien heraushören. [...] Man kämpfte um die Extrablätter.

    Wie ein ›Lauffeuer‹ ging der Ruf ›Krieg‹ durch die Stadt. [...] Man schrie und jubelte

    zu den Fenstern des österreichischen Konsulats hinauf. Die Menge sang patrio-

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    Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

    Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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  • 96 Rudolf Stöber

    tische Lieder, zuerst das gewaltige ›Deutschland, Deutschland über alles‹ [...], dann

    brauste die ›Wacht am Rhein‹ durch die Straßen und die Kaiserhymne fehlte nicht.35

    Auch in Bamberg beherrscht der Kriegsgott Mars die Stunde. [...] Ganz Bamberg

    war gestern wieder in den Straßen, es herrschte eine ungewöhnliche Bewegung. Die

    inhaltsschweren Meldungen der Extrablätter wurden lebhaft erörtert, ebenso die

    mündlichen Berichte von Vorkehrungen, die auch hierzulande getroffen worden

    waren und mancherorts durchsickerten. Daß die Lebensmittelversorgung Gegen-

    stand der Unterhaltungen war, ist selbstverständlich. [...] Die Bevölkerung braucht

    also keinerlei Befürchtungen zu hegen.36

    An diesen Berichten ist nicht allein die Ambivalenz des Berichteten bemerkenswert.

    Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darf man auch annehmen, dass die Bevölkerung

    gleichzeitig von widersprüchlichen Gedanken und entgegengesetzten Empfindungen

    beherrscht war.37 Ebenso wichtig ist das Wort »selbstverständlich«. Hier deutet sich

    einmal an, was sonst eher untergeht. Die Kriegsbegeisterung wurde durch Aufmerk-

    samkeitsartefakte verstärkt: Das Besondere hatte höheren Nachrichtenwert als alltäg-

    liche Selbstverständlichkeiten; Unsicherheit und Befürchtungen waren selbstverständlich,

    Begeisterung nicht. Mit der Mobilmachung aber scheinen die patriotischen Bekundun-

    gen ein Übergewicht erlangt zu haben:

    Unter Trommelwirbel wurden gestern abend in Bamberg die amtlichen Bekanntma-

    chungen in den Straßen verlesen [...]. Die Bevölkerung nahm die Kundmachungen

    mit patriotischen Demonstrationen auf, Hochrufe auf König und Kaiser erschollen,

    vaterländische Lieder wurden begeistert angestimmt. Bis spät in die Nacht dauerten

    die Kundgebungen.38

    In Bamberg wurden die alarmierenden Nachrichten der letzten Tage mit großer

    Bewegung aufgenommen. Gestern herrschte bis in die späten Nachtstunden eine

    Bewegung wie nie zuvor. An den Anschlagtafeln hielten sich viele Menschen auf,

    die auf Nachrichten warteten, überall standen kleine Gruppen, die lebhaft die

    Ereignisse besprachen. In den Wirtschaften war alles voller Jubel. Man sang

    patriotische Lieder und gar markig klang in den Abend hinaus ›Die Wacht am

    Rhein‹. Im Wirtschaftsleben machen sich allerdings auch einige weniger erfreuliche

    Anzeichen bemerkbar. Das Papiergeld wurde in den Geschäften verweigert. [...]

    Leider benutzten auch einige Geschäftsleute die Gelegenheit, mit ihren Waren über

    Gebühr aufzuschlagen.39

    Die ›Chronik der Stadt Bamberg‹ bestätigt diese Zeitungsberichte; mit ihr lassen sich

    die Stimmungsschwankungen sogar fast im Stundenrhythmus nachzeichnen. Allerdings

    ist die Frage der zeitnahen Authentizität nicht vollständig zu klären. Zumindest wurde

    die Chronik nachträglich kollationiert;40 und das letzte der folgenden Zitate deutet

    darüber hinaus auf eine nachträgliche patriotische Glättung:

    Bamberg, den 30. Juli 1914. Drückend heißes, schwüles Wetter herrscht bereits seit dem

    frühen Morgen. [...] die ganze Stadt ist auf den Beinen. Die Leute gehen verängstigt

    einher, die kommenden Tage erfüllen sie mit Furcht und Sorgen; es fehlt jede Arbeits-

    kraft, die Nachricht vom beginnenden Kriege wirkt lähmend auf viele. Durch vieles

    unnützes und widersinniges Geplauder wird die Furcht vieler noch erhöht. [...] Gegen

    Abend steigert sich die Unruhe bedeutend; die Wirtshäuser sind überfüllt; Extra-

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  • 1914-1918 97

    blätter werden ausgegeben, die die politische Lage noch trüber erscheinen lassen,

    man ist auf das Schlimmste gefaßt.41

    Bamberg, den 31. Juli 1914. Auch heute ist es heiß u. drückend [...] Die Bierkeller

    sind dicht besetzt bis in die späte Nacht. [...] Die Kunde vom Mobilmachen hat wie

    ein betäubender Schlag auf alle gewirkt.42

    Am 31. Juli 1914, abends ½ 10 Uhr. Hornsignale seitens des Militärs ertönen

    durch die Strassen. – Die Fenster öffnen sich, man sieht allseits erregte Gesichter.

    Die Verkündung des Kriegszustandes erfolgt durch das Militär. Eine fast

    tausendköpfige Menge zieht mit und singt patriotische Lieder, alles ist begeistert.

    Gott gebe uns ein starkes Volk und glückliche Waffen!43

    Bamberg 31. Juli 1914, nachts ½ 12 Uhr. [...] Gott hat den Krieg zugelassen, er

    wird mit uns sein! Auf den Straßen herrscht unruhiges Treiben, die Jugend frohlockt, der

    Krieg schafft Begeisterung. Die Wirtshäuser sind gedrängt voll, es gibt heute keine Ruhe.

    Automobile rasen durch die Strassen, man weiß nicht woher u. wohin, Depeschen

    u. Extrablätter erscheinen noch, alles ist werktätig, die Nacht ist zum Tage geworden.44

    Bamberg 31. Juli 1915 [!] Der dumpfe, fast lähmend wirkende Druck ist von uns allen

    gewichen. Der Kriegszustand ist verhängt, wir sehen jetzt alle klar. [...] Man sah ängstli-

    che, bleiche Frauengesichter und aufgeregte Männer dahineilen, in den Strassen u.

    Plätzen sammelten sich Truppen, um auf weitere Nachrichten zu warten, da erschien

    die Verhängung des Kriegszustandes und die Spannung war gelöst. Nun wußte man, wie

    man daran war u. atmete freier. [...] Da unsere Sache gerecht ist, fürchten wir auch

    niemand, zumal uns der Krieg in frevelhafter Weise aufgedrungen [!] wird. Wir wissen

    bloß eines und das mit Gewißheit, daß wir ein einig Volk sind und das genügt. Mögen

    unsere Feinde nur kommen!45

    Zumindest das letzte Zitat muss später verfasst worden sein, vermutlich – wie die

    verräterische Fehldatierung anzeigt – im Folgejahr. Neben der Datierung sprechen für

    die These die klarere und größere Schrift als in den vier ersten Zitaten. Auch die Benut-

    zung des Imperfekts statt des Präsens sowie der gehobene, patriotische Stil lassen ver-

    muten, dass der Verfasser mit diesem Zusatz seine zuvor geäußerte Unsicherheit nach-

    träglich korrigieren wollte.

    Gleichwohl, es scheint eine gewagte Schlussfolgerung zu sein, wenn behauptet wird,

    die »Kriegsbegeisterung« habe sich nur in großen Städten Luft gemacht; zwar musste

    eine kritische Masse zusammenströmen, um berichtenswerte Aufläufe zu erzeugen; doch

    erscheint die Beschränkung der »Kriegsbegeisterung« auf Großstädte eher als mediales

    Artefakt, das sich durch den Blick in Provinzzeitungen relativieren lässt.

    Für kleine Orte und Dörfer aber versagen selbst diese Quellen zumeist, da die Zeitun-

    gen sich v.a. auf das große militärische und politische Geschehen konzentrierten. Ins-

    besondere aus kleinen Gemeinden wurden mit dem Krieg verbundene Ereignisse und

    Bekundungen der Bevölkerung allenfalls im Ausnahmefall berichtet. Eine der wenigen

    Ausnahmen berichtete aus der Fränkischen Schweiz: »Montag abend fand in dem

    Beyerleinschen Gasthaus hier [in Wiesentfels] eine patriotische Feier statt. Die ihrer

    Einberufung harrenden Ortseinwohner sangen die Wacht am Rhein, Deutschland,

    Deutschland über alles usw.«46 Daher richtete das BT einen Aufruf »Schreibt örtliche

    Kriegschroniken!« an die Bevölkerung.

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  • 98 Rudolf Stöber

    Für die Geschichte der Gemeinden und des ganzen Landes, für das soziale Wesen,

    die statistische Kunde und nach manch einer anderen Richtung wäre es von außer-

    ordentlich großem Werte, wenn sogenannte Kriegschroniken geführt würden [...].

    Es ist damit nicht gemeint, daß die großen Kriegsereignisse registriert werden [...].

    Nein, es soll der Widerschein der großen Geschehnisse, es sollen die Vorgänge in der

    einzelnen Gemeinde, die in Zusammenhang mit der großen Geschichte unserer Tage

    stehen, gesammelt werden. Es kann die Summe dieser Vorgänge unmöglich in dem

    Bezirks- oder Lokalblatt (ein solches ist oft nicht vorhanden) festgehalten werden.

    [...] Wie verhielten sich die Bewohner? Was brachten sie für Opfer? Wie waren die

    Preise?47

    Die Aufforderung Chroniken zu führen, macht indirekt deutlich, dass aus fehlenden

    Stimmungsberichten für kleine Orte und Dörfer nicht geschlossen werden darf, die Stim-

    mung habe sich dort grundsätzlich von der in den Städten unterschieden. Allerdings,

    wie schon weiter oben gezeigt wurde, spielten auch immer die ganz konkreten Sorgen

    und Nöte eine zentrale Rolle: »Mit großer Opferwilligkeit ziehen die Burschen und Män-

    ner zu den Kasernen. Aber die Notlage der Bauern ist groß. Denn die Ernte beginnt

    hierzulande eben erst und die Hände fehlen vielfach, die sie einbringen sollen.«48

    Der wichtige Unterschied scheint somit weniger zwischen Stadt bzw. Großstadt und

    dem platten Lande bestanden zu haben, sondern eher zwischen Haupt- und Neben-

    straßen. Auf den Hauptstraßen und -plätzen »spielte die Musik« – wortwörtlich und in

    übertragenem Sinne. Zumeist wird im Zentrum der jeweiligen Stadt gejubelt, Passan-

    ten in Nebenstraßen und -plätzen befanden sich schon eher im Zustand »ernster Ruhe«.49

    Durch Nebenstraßen wurde allenfalls an- und abmarschiert: »Flammende Begeiste-

    rung sich in hellen Jubel übersetzend, zeigte sich gestern abends in der ganzen Stadt,

    auf den Plätzen und in den Straßen und Gassen, als durch Anschlag und Sonderaus-

    gaben die Anordnung der Mobilisierung [...] bekannt gemacht wurde. Um die Mitter-

    nachtsstunde zogen Hunderte durch die Straßen, das Lied singend ›Deutsche (Turner)

    auf zum Streit, mutig in die Welt‹.«50 Wenn sich allerdings die Jubelberichte auf die Stadt-

    zentren konzentrierten, konnte auch dies Folge nachrichtenwertgesteuerter Aufmerk-

    samkeitsartefakte und Überlieferungsregeln geschuldet sein; über Nebenschauplätze

    wurde nur berichtet, wenn von diesen Außergewöhnliches zu berichten war: »Wie uns

    von mehreren Seiten, namentlich aus den Äußeren Stadtteilen mitgeteilt wird, hat der

    an sich ja nur lobenswerte Patriotismus am Freitag Abend da und dort Ausschreitungen

    gezeitigt; es wurde nicht mehr ›gesungen‹, sondern gekröhlt [!] und des Schießens viel

    zu viel getan, so daß der Übereifer ziemlich der Grenze des groben Unfugs, mindestens

    der nächtlichen Ruhestörung sehr nahe kam.«51 Überdies war es Ende Juli, Anfang

    August heiß und schwül; das hat den Durst gefördert und die Menschen in die Bier-

    gärten getrieben.52

    Dass Alkohol die nationale Begeisterung verstärkte, kritisierte auch der FV: »Die bis-

    her recht unangenehm berührende Stimmung, die sich durch einen starken Alkoholge-

    nuß und infolgedessen durch nicht immer angenehmen Gesang auf den Straßen der

    Stadt äußerte, wurde durch die ernsten Telegramme am Mittwoch, nach denen auch

    England den Krieg erklärte, Italien neutral bleiben wolle, und der Krieg mit Belgien

    kaum zu vermeiden sein werde, förmlich umgewandelt. Alles ist bedeutend ernster

    geworden. Und das ist gut so.«53 Das Blatt plädierte auch ansonsten für die Vermei-

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  • 1914-1918 99

    dung des Alkohols. Die Ablehnung des Krieges, die Relativierung der Kriegsbegeis-

    terung und die Kritik am patriotischen Chauvinismus passten dabei nicht nur gut zu-

    sammen, sondern auch zur offiziellen Politik der SPD. Erst mit dem Politikwechsel

    der Partei, vielleicht auch unter dem Eindruck von Rückmeldungen aus der Leserschaft,

    schwenkte dann der FV auf eine kriegsfreundlichere und die Stimmung positiver beur-

    teilende Haltung ein: »Die Mobilmachung in Bamberg geht mit bewundernswerter Präzi-

    sion vor sich. [...] die Stimmung der Mannschaften ist bei allem Ernst der Lage doch

    die denkbar beste. Keine Traurigkeit merkt man ihnen an [...]. Mögen sie als Sieger alle

    zurückkehren.«54

    Relativ eindeutig wurden die Berichte nach den ersten großen Siegen. Auch die Kir-

    chen und die israelitische Kultusgemeinde appellierten jetzt an das Nationalgefühl.55

    Schon Anfang August hatte der Erzbischof zu »tägliche[n] Kriegsbetstunden« in den

    Dom geladen.56 Man betete dabei wohl nicht nur für den Sieg, sondern v.a. für die

    Unversehrtheit der Angehörigen. Denn täglich wurden die Opferlisten länger und die

    Furcht um die Angehörigen im Felde größer.57 Die Bevölkerung dürfte zwischen

    widersprüchlichen Gedanken geschwankt haben:

    Bamberg, 20. August 1914. [...] Die Aufregung der Bevölkerung steigert sich, man

    spricht von einer großen Schlacht bei Belfort und großen Verlusten unsererseits. Die

    Redaktionen der hiesigen Zeitungen werden bestürmt, die Telegrammkräfte sind

    schon stundenlang [...] belagert. Alle warten fieberhaft auf Nachricht. Sonst nichts

    Bemerkenswertes.58

    Bamberg, 21. August 1914. [...] Am Morgen bereits staute sich am Grünen Markt

    die Menge, die auf Nachrichten wartete. Gegen 4 Uhr Nachmittag kam sodann die

    Nachricht von dem großen Siege, die unsere Truppen unter der Oberleitung des

    Kronprinzen Rupprecht bei Metz errungen haben. Die Strassen der Stadt trugen

    bereits eine Viertelstunde später Festgewand. Die Menge sang in den Strassen der

    Stadt begeistert patriotische Lieder, in den Schaufenstern prangte lorbeerumkränzt

    das Bild des Siegers und die diesbezüglichen Extrablätter [...] waren Eichenlaub

    umkränzt.59

    So kann es kaum wundern, dass die Presse zur »instrumentellen Aktualisierung« griff,

    sobald sich eine Chance bot. Anfang September schienen sich Parallelen zum Deutsch-

    Französischen Krieg von 1870/71 aufzudrängen: »Ein Sedan II. Welch wunderbare

    Fügung Gottes! Wer sollte nicht an das Telegramm des Königs Wilhelm vom 2. August

    [!] 1870 erinnert worden sein, als gestern abends um die 8. Stunde die große neue Sie-

    gesbotschaft kam. Um dieselbe Stunde von 1870! Also ein Sedan II. und noch mehr!

    Heller Jubel in der ganzen Stadt! Tausende umringten die Anschläge des Tagblatt und

    nahmen die Nachricht mit Hurra! entgegen. In später Abendstunde folgte dann die

    Nachricht vom Osten!«60 Die Parallelisierung bedeutet aber, dass die Deutschen auf

    einen möglichst kurzen Krieg hofften.61 Doch lösten sich keineswegs alle Psychosen,

    wie die Gerüchteflut zu Spionen, geheimen Goldtransporten und allen möglichen mi-

    litärischen Nachrichten im August und September anzeigte: »An Stelle des ›Spionen-

    schrecks‹ und des ›Goldautoschrecks‹, welche die Bevölkerung bis vor kurzem in unver-

    hältnismäßige Beunruhigung versetzten, ist nun der ›Benzinschreck‹ getreten.«62

    In allen Phasen zwischen der Zeit von vor der Mobilmachung bis nach den ersten

    großen Siegen scheint die Jugend die Jubelveranstaltungen geprägt zu haben; das er-

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  • 100 Rudolf Stöber

    scheint vor dem Hintergrund der größeren Begeisterungsfähigkeit junger Leute plausi-

    bel.63 Auch in mittleren Städten wie Bamberg taten sie sich hervor: »Für Freitag, den

    31. Juli, hatte [die katholische Studentenvereinigung] ›Fredericia‹ ihre Semesterschluß-

    kneipe in den Luitpoldsälen angesetzt. [...] Doch nun trieb das innere Feuer der Be-

    geisterung Fredericia hinaus in Bambergs Straßen, wo die Wogen der Erregung noch

    hoch gingen. In geschlossener Reihe wurden die Hauptstraßen der Stadt durchzogen,

    auf Anordnung des Seniors Halt gemacht und dröhnende patriotische Gesänge zum

    nächtlichen Himmel emporgesandt.«64 Mustert man erhaltene Fotos, so fallen relativ

    viele Jüngere auf. Männer sind zumeist deutlich in der Überzahl. Die Fotos sind in der

    Regel auf größeren Plätzen und mithin in Städten entstanden.

    Abb. 1:

    Truppenabmarsch aus Bamberg (1914?)65

    (Quelle: Stadtarchiv Bamberg)

    Manche Bilder scheinen erst durch einen Kameraeffekt ihre Form gefunden zu haben.

    So ist das berühmte Foto, das mutmaßlich den kriegsbegeisterten Adolf Hitler am 2. Au-

    gust 1914 auf dem Odeonsplatz in München zeigt, zum einen eventuell von Heinrich

    Hoffmann, Hitlers späterem »Leibfotografen«, manipuliert worden, um ihn besser her-

    auszustellen. Zum anderen zeigt es – wie Fotos generell – nur eine Momentaufnahme.

    An dieser Aufnahme aber ist brisant, dass ein Film existiert, der zunächst eine keines-

    wegs enthusiasmierte Menge zeigt, die erst, als sie die Filmkamera entdeckt, Begeiste-

    rung zeigt. Und in diesem Moment drückte Hoffmann auf den Auslöser.66 Der Kamera-

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  • 1914-1918 101

    effekt lässt sich auch bei einigen Fotos von ausrückenden Truppen unterstellen. Diese

    zeigen, wenn in der Halbtotalen aufgenommen, die vorbeimarschierenden Soldaten

    eher lachend und frohgemut; immer aber schauen sie in die Kamera. Bei Fotos, die aus

    zu großer Entfernung aufgenommen wurden, fehlt dieser Kameraeffekt; und sie zeigen

    dementsprechend weniger Begeisterung.67

    Tab. 2:

    Randbedingungen von Begeisterung und Furcht zu Kriegsbeginn

    Randbedingungen und ihre Ausprägungen für … Kriegsbegeisterung Kriegsfurcht

    Bildungsstand: hoch X X

    niedrig x X

    Alter: junge Leute X 00

    ältere Leute X X

    Geschlecht: männlich X X

    weiblich X X

    Stand: Bürger X X

    Bauern x X

    Arbeiter x X

    Ort: Stadt X X

    Land X X

    Zentralität: Zentrum, Hauptstraßen und Plätze X x

    Peripherie, Nebenstraßen und Plätze x X

    Zeit: vor Generalmobilmachung (1.8.) x X

    zwischen 1.8. und Ende August X X

    nach den ersten Siegen X 00

    Presse: bürgerliche Zeitungen X X

    SPD-Presse x X

    X: (fast) durchgängig berichtet; X: öfter berichtet;

    x: nur punktuell berichtet; 00: Fehlanzeige.

    Die bisher gewonnenen Ergebnisse lassen sich tabellarisch zusammenfassen: Begeistert

    waren eher die Jungen, weniger die Älteren. Besonders begeisterungsfähig waren die

    Studenten. Den Bauern kam der Krieg zumindest für die Erntesaison ungelegen; Ar-

    beiter unterwarfen sich bis zu den ersten Siegen dem Interpretationsmonopol der SPD,

    zeigten wenig Kriegsbegeisterung und beteiligten sich anfangs sogar an großen Anti-

    kriegsdemonstrationen, die in vielen Großstädten stattfanden; am ehesten kriegsbegeistert

    war das Bürgertum – wenngleich diese Kategorie noch unschärfer ist als die beiden

    anderen. Nicht zu vernachlässigen ist die parteipolitische Prägung der Berichterstat-

    tung: Für bürgerliche Zeitungen gehörte es nicht nur zum guten Ton, sondern gerade-

    zu zur Pflicht, von Patriotismus und Begeisterung zu berichten; die SPD-Presse folgte

    ihrer Parteiführung. Anfangs lehnte sie nicht nur pflichtschuldigst den Krieg ab, sondern

    relativierte auch die Kriegsbegeisterung.

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  • 102 Rudolf Stöber

    Zwischen Stadt und Land lässt sich kein rechter Unterschied ausmachen. Allerdings

    ist die Frage von Zentrum oder Peripherie von großer Bedeutung für die öffentlichen

    Bekundungen: Im Zentrum fanden die Happening-ähnlichen Kundgebungen statt, aber

    auch die Gegendemonstrationen; wenn, dann wurde hier gejubelt; in den Nebenstraßen

    und - plätzen ging es ruhiger zu. Von größter Bedeutung war allerdings der Zeitpunkt.

    Im Juli konnte, das ist nur ein halber Kalauer, von einem »Augusterlebnis« noch gar

    nicht gesprochen werden: Dazu waren die Unsicherheiten viel zu groß. Aber auch

    zwischen Generalmobilmachung und den ersten Siegen im Westen (20. August, Ein-

    zug in Brüssel) war ungewiss, ob Deutschland den Alliierten würde standhalten können.

    Erst nach den überwältigenden Siegen, insbesondere nach der Schlacht an den Masu-

    rischen Seen (Tannenberg, 26.-30.8.1914) schien das Gröbste überstanden und der

    Sieg greifbar nahe. Ob das allerdings »Kriegsbegeisterung«, Erleichterung oder eine

    Mischung aus beidem war, lässt sich nicht klären, da nur Äußerungen und Handlungen,

    nicht jedoch die ihnen zugrundeliegenden Motive und Einstellungen beobachtbar sind.

    Doch selbst nach den ersten Siegen war die Stimmung nicht überall euphorisch, wie

    eine nachträgliche Korrektur des Bayreuther Regierungspräsidenten deutlich werden

    lässt: »Die Stimmung in der Bevölkerung ist, von hoher patriotischer Begeisterung ge-

    tragen, andauernd eine vorzügliche. Die Nachrichten über den jüngsten deutschen Sieg

    wurden im Regierungsbezirke mit begeistertem Jubel aufgenommen«.68 Denkbar ist,

    dass die Streichung vorgenommen wurde, um Spielraum für euphorischere Berichte

    zu haben, falls der »Erbfeind« rasch besiegt werden sollte. Das lässt sich aber nicht mehr

    klären; die Zulieferberichte lassen die Mutmaßung eher unwahrscheinlich erscheinen.

    Zu noch größerer Euphorie sollte es indes nicht kommen:

    3. DIE STIMMUNGSENTWICKLUNG IM WEITEREN KRIEGSVERLAUF

    Denn trotz großer Anfangserfolge endete der Krieg nicht in einem kurzen Feldzug. An

    den Masurischen Seen wurde zwar die russische Offensive gestoppt, für eine umfas-

    sende Operation der Mittelmächte fehlten jedoch die erforderlichen Kapazitäten, da

    sie im Westen gebunden waren. Dort wurde an der Marne der Marsch auf Paris –v.a.

    wegen überragender Luftaufklärung der Alliierten – gestoppt; im Spätherbst erstarrte

    der Bewegungs- zum Stellungskrieg.

    An der Heimatfront blieb das nicht ohne Auswirkungen auf die Stimmung. Hellsich-

    tig hatten einige Mahner schon früh gewarnt: »Es macht einen recht freundlichen Ein-

    druck, wenn man unsere mit Fahnen geschmückten Straßen durchwandelt, aber ich habe

    das Gefühl, daß wir unserem Patriotismus die Zügel zu weit schießen lassen, wenn wir

    Tag um Tag – gleichviel ob eine neue Siegesnachricht eingelaufen ist oder nicht – un-

    sere Häuser beflaggen. Wie leicht kann das Kriegsglück sich wenden und unsere braven

    Truppen können eine Niederlage erleiden. [...] Ein Festkleid aber, das wir alle Tage

    tragen, ist eben kein Festkleid mehr. [...] Wie wollen wir denn einen großen Erfolg,

    einen patriotischen Festtag feiern?«69 Insbesondere die Versorgung mit Lebensmitteln

    gab frühzeitig Anlass zur Sorge, im ersten Kriegswinter allerdings noch in einer – v.a.

    im Vergleich mit den Folgejahren – recht harmlos erscheinenden Variante. Jetzt begann

    die Inflation, die das kollektive Gedächtnis der Deutschen fast ausschließlich als Nach-

    kriegsphänomen abgespeichert hat. Zunächst äußerte sie sich in Kriegsbewirtschaftungs-

    maßnahmen der Verwaltung; das Einfrieren der Preise hatte aber nicht den gewünsch-

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  • 1914-1918 103

    ten Effekt, sondern führte zur Entstehung eines Schwarzmarktes; hier schossen die

    Preise lebenswichtiger Güter rasch in die Höhe.70

    Vor allem Alltagsnöte belasteten die Entwicklung der Stimmung. Das militärisch-

    politische Geschehen wirkte sich zwar ebenfalls aus, stand aber nicht permanent im

    Vordergrund. Nur für die Frühphase 1914 und im letzten Kriegsjahr 1918 waren die Ent-

    wicklungen an den Fronten über Wochen wichtiger. Die Abb. 2 beruht auf Berichten

    aus dem Reich. Dabei wurden, wie auch in Abb. 3, die Tendenzen in den Stimmungsbe-

    richten mit gut (+1), schlecht (-1) oder unentschieden bzw. unentscheidbar (0) kodiert.

    Die Themen wurden gemäß dem Agenda-Setting-Ansatz in Stufen unterschiedlicher

    Aufdringlichkeit unterschieden: Da Krieg und Politik sich fern von den unmittelbaren

    Alltagsnöten der Bevölkerung abspielten, wurden sie als unaufdringlich (0) kodiert. Stan-

    den konkrete Versorgungsprobleme und andere Alltagssorgen im Vordergrund, wurden

    sie als aufdringlich (2) kodiert. Administrative und politische Maßnahmen, welche sich

    direkt auf den Alltag auswirkten, wurden mit dem mittleren Wert (1) belegt.71

    Abb. 2:

    Öffentliche Stimmung und Themenaufdringlichkeit72

    0

    0,2

    0,4

    0,6

    0,8

    1

    1,2

    1,4

    1,6

    1,8

    2

    1914

    1915

    1916

    1917

    1918

    Th

    em

    en

    au

    fdrin

    glic

    hke

    it

    -1

    -0,8

    -0,6

    -0,4

    -0,2

    0

    0,2

    0,4

    0,6

    0,8

    1

    öff

    en

    tlic

    he

    Stim

    mu

    ng

    Themenaufdringlichkeit öffentliche Stimmung

    r: -0,56

    n: 398

    Von beiden Variablen wurde der arithmetische Mittelwert gebildet. Das statistische

    Aggreat der Stimmungsberichte zeichnet einen kontinuierlichen Stimmungsverfall

    zwischen 1914 und 1917 nach. Die Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges

    weckte 1917 zwar Hoffnungen, konnte die Stimmung aber nicht längerfristig stabili-

    sieren.73 Immerhin drängten die U-Boot-Berichte die Bedeutung des Kriegseintritts

    der USA in den Hintergrund.74 1918 folgte ein Wiederanstieg, der dem ersten Halb-

    jahr geschuldet war. 1914 wie 1918 stand die Themenaufdringlichkeit auf einem ähn-

    lich niedrigen Niveau; in beiden Jahren stand die politisch-militärische Berichterstat-

    tung der Presse weitaus öfter im Vordergrund als in den Jahren dazwischen, die stärker

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    Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

    Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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  • 104 Rudolf Stöber

    von aufdringlichen Alltagsthemen dominiert wurden. Folglich waren auch die Beein-

    flussungsmöglichkeiten durch Pressepolitik zu Kriegsanfang und -ende größer als

    dazwischen. Was das für die Propaganda bedeutet, wird noch zu erörtern sein.

    Schon im Sommer 1915 häuften sich Berichte, die auf Versorgungsprobleme schließen

    ließen: »In einigen Gegenden wird über die Zunahme des Feld- und Forstfrevel ge-

    klagt.«75 Spätestens ab dem Herbst/Winter 1916/17 waren die städtischen »Hams-

    terfahrten« in die nähergelegenen ländlichen Gebiete allgemein verbreitet.76 Aus der

    Sicht der Verwaltung war die Verschlechterung der Stimmung die Folge zügelloser

    politischer Agitation. Sie sah sich schon 1915 von verschiedenen Seiten unter Druck

    gesetzt. Die Erzeuger ließen sich vom Bund der Landwirte agitieren, welche »die va-

    terländischen Interessen [...] schädigen«.77 Die Konsumenten liefen in Veranstaltungen

    zur Lebensmittelversorgung mit »großstädtischen Agitatoren«. Zur Sicherstellung »der

    politischen Ruhe«, so der Bayreuther Regierungspräsident, »wäre [es] zu wünschen,

    daß den Berichten in der Presse aus Versammlungen auf diesem Gebiete nicht gar zu

    weiter Spielraum gelassen würde.«78

    Gegenüber der Öffentlichkeit konnte die Administration dabei tun, was sie wollte: Die

    städtischen Verbraucher hielt sie für inkompetent, Preiswucher und Schwarzmarkt

    einzudämmen; ländliche Produzenten klagten, dass sie weder den Profit der Zwischen-

    händler begrenze noch für faire Erzeugerpreise garantiere. Bei beiden wiederum zeig-

    ten sich schon vereinzelt antijüdische Vorurteile: Zwischenhandel, Geschäftemacherei,

    Großkapital und Finanzjudentum waren gegen Kriegsende bisweilen schon Synonyme

    – allerdings noch deutlich seltener als in Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise.79 Wenn

    die Verwaltung nur der Unfähigkeit geziehen wurde, kam sie dabei noch gut weg.

    Schlimmer waren verschwörungstheoretische Vorwürfe, alle steckten mit den »jüdi-

    schen Geschäftemachern« unter einer Decke:

    In der Volksstimmung scheint leider trotz der Mahnworte Hindenburgs und neuestens

    Sr. M. des Kaisers ein Umschwung zum Besseren bis jetzt nicht eingetreten zu sein.

    Dabei scheint eine große Rolle zu spielen der schwer ausrottbare Gedanke, als ob

    gewisse Kreise wie Großindustrielle, Juden, Agrarier Schuld und ein finanzielles In-

    teresse am Ausbruch und an der längeren Dauer des Krieges hätten, dann daß Bayern

    von Preußen sich zu viel gefallen lasse, so daß infolge von Lebensmittelausfuhren

    der Hunger ins eigene Land gekommen sei.80

    Um der nachlassenden Stimmung entgegenzuwirken, setzte seit dem Frühjahr 1915

    ein konstanter, sich im Kriegsverlauf immer weiter intensivierender Strom amtlicher

    Propaganda auf allen Kanälen ein. Im Fokus kommunikationshistorischer Forschung steht

    dabei verständlicherweise die Presse.81 Wichtiger waren jedoch die mündlichen Bemü-

    hungen der »Vertrauensleute«. Insbesondere auf dem Lande engagierten sich Lehrer,

    Geistliche und andere Honoratioren – nicht nur in Bayern, sondern auch in Preußen:

    Das [preußische] Kriegsministerium sieht die beste Bekämpfung der schädlichen Ein-

    flüsse unter anderem in einer Aufmunterung und Belehrung der Öffentlichkeit durch

    die Presse, einer vorsichtigen und unauffälligen Einwirkung auf die Bevölkerung

    durch Beamte, Geistliche, Lehrer und Lehrerinnen, vor allem auf dem Wege über die

    Jugend, einer Mithülfe sonstiger vaterländisch gesinnter Männer in Vereinen, beson-

    ders auch Frauenvereinigungen, vertrauliche Aufklärung verbitterter Personen von

    Einfluss, Veranstaltung von öffentlichen Vorträgen, Verbreitung geeigneter, billiger

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  • 1914-1918 105

    Druckschriften, Aufführung entsprechender Theaterstücke und die Vorführung ge-

    eigneter Films.82

    Für die Spätphase des Krieges hielt das Kriegspresseamt fest, 15-17.000 Vertrauens-

    personen zur »Zivilaufklärung«, 241 Aufklärungsausschüsse, 500 Vorträge von 135

    Rednern, 37.000 versendete Flugschriften, im ersten Quartal 1918 eingesetzt zu haben,

    im April weitere 1.680 Flugschriften und 100 Filmvorführungen. Den Vertrauensleu-

    ten der Bauernschaft wurden beispielsweise städtische Vorratshaltungen gezeigt, um

    deren Befürchtungen über den Verderb von Lebensmitteln zu zerstreuen.83

    Die Vertrauensleute hielten Vorträge oder versuchten im persönlichen Gespräch Zwei-

    fel am Kriegsausgang zu zerstreuen. Manche Argumente nahmen schon die Muster der

    Propaganda des Zweiten Weltkriegs vorweg. Der Sieg wurde zu einer Willenssache,

    Einigkeit führe zum Erfolg; in diesem Zusammenhang wurde auch die Erinnerung an

    den »Geist von 1914« und das »Augusterlebnis« instrumentalisiert.84 Dass beides kei-

    neswegs so eindeutig gewesen ist, wie die propagandistische Verklärung jetzt Glauben

    machen wollte, spielte für die Agitation der Vertrauensleute keine Rolle. Allerdings

    steckte ihre Propaganda in einem Dilemma: Jedes Jahr wurde erneut behauptet, die

    kommenden Anstrengungen seien die letzten vor dem endgültigen Sieg. Das Argument

    ließ sich aber nicht Jahr für Jahr wiederholen, ohne allmählich unglaubwürdig zu werden:

    Die Stimmung der Bevölkerung ist eine sehr gedrückte. Dass jetzt gar soviel von der

    baldigen und glücklichen Beendigung des Krieges gesprochen und gedruckt wird,

    macht die Leute misstrauisch. Sie selbst sehen kein Ende und vermuten in diesen Ver-

    sprechungen nur Vertröstungen, um das Volk über die eigene schwere Lage hinweg-

    zusetzen. Ich fürchte eine sehr schwere und gefahrvolle Belastung der Volksstim-

    mung, wenn die gemachten Versprechungen sich nicht erfüllen würden.85

    Es ist sicher, daß die Bevölkerung außerordentlich kriegsmüde und gereizt ist und

    daß es namentlich unter den Arbeitern gährt, so daß man, wenn der Krieg noch lange

    dauert, und die Lebensmittelknappheit anhält, mit Bangen der Zukunft entgegen-

    schauen muß. Vielfach hört man revolutionäre Redensarten, und der Haß gegen die

    ›Großen‹ wird immer stärker.86

    Die Hoffnungen auf einen kurzen Feldzug hatten sich schon im Spätherbst 1914 zer-

    schlagen. Mit jedem Kriegswinter wurde die Versorgungslage angespannter, der Steck-

    rüben-Winter von 1916/17 ist noch immer im kollektiven deutschen Gedächtnis veran-

    kert. Angespannte Versorgung bedeutete Unterernährung, das traf zuerst die Armen,

    Alten, Kinder und Schwachen. Die Sorge um das Allernächste brachte der Berichter-

    statter im Bezirk Bamberg-Stadt (Bamberg I) im November 1917 so schonungslos auf

    den Punkt, dass der Bayreuther Sachbearbeiter fast das gesamte folgende Zitat anstrich:

    Die Stimmung in der Heimat ist keine gute, sie läßt sich aber am Lande [!] auch nicht

    durch Vorträge oder andere Mittel verbessern, weil die Leute zu kleindenkend sind,

    um sich durch große Gesichtspunkte und Empfindungen bestimmen zu lassen. Wer

    kein Petroleum, keine Kohlen, kein Bier oder kein Leder bekommt, wer wegen Ver-

    heimlichung von Vorräten, wegen Schwarzmahlens oder Höchstpreisüberschreitung

    bestraft wird, wer keine Hausschlachtung vornehmen darf, weil er noch 3 Monate mit

    Fleisch versorgt sein müßte, wessen Urlaubsgesuch nicht genehmigt werden kann

    u.s.w., der schimpft und ist verärgert und seinem Ärger gibt er dadurch Ausdruck,

    daß er keine Kriegsanleihe zeichnet, zu den Opfertagssammlungen nichts gibt oder

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  • 106 Rudolf Stöber

    aus dem Roten Kreuz austritt. Dagegen ist mit Vorträgen nicht aufzukommen. Das

    einzige Mittel zur Verbesserung der Stimmung wäre, daß man alle Wünsche erfüllt

    und jeden tun läßt, was er mag. Persönlich bin ich der Meinung, daß man sich bei

    den nötigen Maßnahmen nicht zu stark von der Stimmung der Bevölkerung beein-

    flussen lassen darf, sondern unabhängig davon die als notwendig erkannten Maßre-

    geln im Interesse der Gesamtheit gleichmäßig und streng durchführen muß; nach

    dem Grundsatze ›Wasch mir den Pelz und mach ihn nicht naß‹ kann auf die Dauer

    nicht gearbeitet werden. Wenn man auf die Volksstimmung Rücksicht nehmen will,

    müßte das in erster Linie schon beim Erlassen von Vorschriften, nicht aber erst

    beim Vollzug geschehen.87

    Insbesondere in den letzten beiden Kriegsjahren nahmen die Diskussionen in den so-

    genannten »Encounter-Öffentlichkeiten«, auf Straße, Markplatz, in Eisenbahnabteilen

    und Kneipen immer negativere Tonlagen an. Es waren weniger Zivilisten, die die de-

    struktiven Gespräche begannen, sondern vor allem Soldaten auf Heimaturlaub oder

    solche, die in der Etappe Erholung von der Front fanden. Die einfachen Soldaten hatten

    in der Hölle des Schützengrabenkriegs erfahren müssen, dass sie u. U. nach Tausen-

    den von Toten und mehrfach hin- und herwogenden Kampfhandlungen am Ende

    keinen Meter vorwärtsgedrungen waren. Zuhause merkten sie dann, dass dort die Versor-

    gungslage immer schlechter wurde und ihre Familien Hunger litten. Das waren keine

    guten Voraussetzungen für eine stimmunghebende Propaganda. Ihre eigenen »heroi-

    schen« Kriegstaten, so lautete ihr Standard-Narrativ, zerbrachen an der materiellen

    Übermacht der Alliierten. In der Heimat hingegen zeigten die »Großkopferten« kein

    Interesse an einer zügigen Beendigung des Krieges, da jeder Tag ihnen Profit einbrächte.

    In diesem Punkt trafen sich Zivilisten und Soldaten; wechselseitig verstärkte sich so

    die Unzufriedenheit, monierte der Amtmann aus Staffelstein:

    Die Stimmung in der Bevölkerung ist schlecht. Die Bauern klagen über die vielen

    Maßnahmen, die sie nur als Belästigung betrachten, während in der Stadt – das ist

    die allgemeine Redensart – sich kein Mensch um eine Vorschrift kümmere. Die Solda-

    ten, die in Urlaub kommen, verderben die Stimmung vollends. Sie schimpfen auf

    die ›Großen‹, erzählen auf der Bierbank und im Dorfe die unglaublichsten Schauer-

    mären, die natürlich tapfer geglaubt werden, und der Kehrreim ihrer Reden ist immer

    der gleiche: ›Wenn nur der Schwindel einmal zu Ende wäre!‹ – Das sind natürlich

    Redensarten und wenn man frägt [!], wer die ›Großen‹ sind und wo der ›Schwindel‹

    steckt, wissen die Schreier nichts zu sagen. Dafür aber klammern sich die besonnene-

    ren Männer an Ausführungen an, wie sie der Abgeordnete Dr. Schlittenbauer im

    Landtag gemacht hat, und bezeichnen solche Verhältnisse, wie sie dort geschildert

    werden, als den wahren Grund der allgemeinen Mißstimmung.88

    Der Bericht vom Oktober 1917 lässt eine doppelte Distanzierung erkennen: einerseits

    wird den Ausführungen der Soldaten die Substanz abgesprochen, andererseits scheint

    der Bezirksamtmann aber nicht zu glauben, dass diese Miesmacherei die eigentliche

    Ursache sei. Es mag daher zwar sein, dass der »Informationshorizont der Soldaten in

    aller Regel äußerst begrenzt war«,89 aber auch auf mangelndem Überblick beruhende

    Bewertungen entfalteten Wirkung. Im gleichen Jahr tauchten erstmalig und noch sehr

    versteckt die Forderungen nach einem bedingungslosen und sofortigen Kriegsende auf.

    Berichte, die Hoffnungen auf einen kurzen Krieg anzeigten, hatte es auch die Jahre

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  • 1914-1918 107

    zuvor immer wieder gegeben.90 Die Forderungen nach sofortigem Kriegsende hießen

    1917 noch nicht »bedingungslose Kapitulation«, d.h. zu Bedingungen der Alliierten:

    Die Stimmung der Bevölkerung ist beherrscht vom Verlangen nach Beendigung des

    Krieges. Die einschränkenden Kriegsmaßnahmen [...] werden vielfach nicht verstan-

    den oder doch nicht befolgt.91

    Soweit ich die Stimmung im Bezirke kenne, wird ein Scheidemann-Frieden abge-

    lehnt. So sehr der Frieden auch herbeigesehnt wird, von einer schwächlichen, nach-

    giebigen Haltung in der Friedensfrage will man hier nichts wissen.92

    Die Entwicklungen lassen sich mit der Zeichnung von Kriegsanleihen erläutern,

    wenngleich auf den ersten Blick keine Zusammenhänge zu erkennen sind: Die

    kumulierte Stimmungsentwicklung korrelierte in den Quartalen vor der Zeichnung bis

    ungefähr 1916 mit der Anleihezeichnung negativ, ab 1917 positiv.

    Abb. 3:

    Stimmung vor der Zeichnung von Kriegsanleihen93

    -0,8

    -0,6

    -0,4

    -0,2

    0

    0,2

    0,4

    0,6

    0,8

    1

    1914/2 1915/1 1915/2 1916/1 1916/2 1917/1 1917/2 1918/1 1918/2

    Quartal vor Anleihenzeichnung

    Stim

    mung

    0

    2.000

    4.000

    6.000

    8.000

    10.000

    12.000

    14.000

    Anle

    ihen in M

    io.

    Mark

    Stimmung Anleihen

    Korrelationskoeffizient: -0.1

    n = 2.890

    Wie ist dieser Umschwung zu erklären, und was sagt er über die Stimmungsentwicklung?

    Es ist allgemein bekannt, dass die Kriegsfinanzierung in Deutschland im Wesentlichen

    durch Anleihen erfolgte. Die unterlegenen Feinde, so das Kalkül, sollten nach ihrer Nie-

    derlage die Quittung erhalten und die Anleihen begleichen. Da aber Deutschland den

    Krieg verlor, war die Anleihenfinanzierung einer der Gründe für die Nachkriegsinfla-

    tion. Mit dem Währungsschnitt vom November 1923 wurde der Schlussstrich gezogen:

    Das Reich hatte den Ersten Weltkrieg für gerade einmal 15,4 Goldmark-Pfennige ge-

    führt. Die deutschen Sparer hatten die kleine Differenz zu den 154 Mrd. Mark, die der

    Krieg seinerzeit gekostet hatte, zu zahlen.94 Das konnte zunächst niemand ahnen; so

    war die Zeichnung nicht nur Ausdruck der Stimmung und patriotischen Pflichtgefühls,

    sondern auch des Vertrauens in die politische Führung. Daher waren die Autoritäten

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  • 108 Rudolf Stöber

    sehr daran interessiert, im Vorfeld jeder neuen Anleiheausgabe zu erfahren, wie die

    Stimmung gegenüber der Zeichnung sich entwickelte.

    Ihre Erhebungsergebnisse waren dabei bemerkenswert genau. Vor der zweiten An-

    leihe von 1915, die – nicht zuletzt wegen des Engagements von Vertrauensleuten –

    einen zwischenzeitlichen Rekord erbrachte, hieß es beispielsweise: »Der patriotische

    Sinn der Bevölkerung zeigt sich auch aus der Beteiligung an der 3. Kriegsanleihe. Die

    Propaganda, die ich im Benehmen mit der Geistlichkeit und der Lehrerschaft entfal-

    tete, war nicht vergebens.«95 Im Herbst 1916 hingegen hieß es in typischen Berichten:

    Die allgemeine Stimmung ist wesentlich beeinflusst durch den Wunsch nach baldiger

    Beendigung des fortgesetzt neue Opfer fordernden und zu neuen Einberufungen ver-

    anlassenden Krieges. Gegen die Meinung, durch Nichtbeteiligung an der Zeichnung

    für die 5. Kriegsanleihe zur Abkürzung des Krieges beitragen zu können, wird in

    öffentlichen Versammlungen energisch angekämpft werden müssen, nicht zuletzt

    durch Einwirkung auf die Frauen. Hierauf wurde in 2 Versammlungen der aufgestell-

    ten gemeindlichen Vertrauensmänner hingewiesen. Immerhin hat der schon kurz

    nach seinem Heraustreten dem jüngsten Feinde versetzte erfolgreiche Schlag die Stim-

    mung wieder zu heben vermocht und darf angenommen werden, dass bei dem in

    Aussicht stehenden eifrigen Wirken der Geistlichen, Lehrer, Bürgermeister, Beamte

    etc. ein günstiger oder doch befriedigender Erfolg erzielt werden dürfte.96

    Die Stimmung in der Bevölkerung ist naturgemäß von jener im August 1914 weit

    entfernt. Nicht zu leugnen ist, daß eine tiefgehende Mißstimmung gegen die Reichs-

    leitung und den Reichskanzler da und dort – auch in gebildeten Kreisen – sich ein-

    genistet hat. [...] Sowohl in Briefen aus dem Felde wie auch von Urlaubern wird das

    Zeichnen der Kriegsanleihe mit der Behauptung hintertrieben, daß die Angehörigen

    umso eher aus dem Felde heimkehren würden, je weniger gezeichnet wird. Der Kampf

    gegen England werde nicht mit dem nötigen Ernst und Nachdruck geführt, inson-

    derheit nütze man die U.-Bootwaffe und die Zeppeline nicht gehörig aus, weil man

    eben England schonen wolle. Habe doch der Kaiser selbst sein Vermögen in engli-

    schen Banken angelegt.97

    Verschiedene Gemeinden haben dank der hingebungsvollen Werbetätigkeit der Geist-

    lichen und Lehrer die Erfolge der letzten Anleihe sogar überholt. In den meisten Ge-

    meinden war die Gegenarbeit gegen die Anleihe bemerkbar. Als Hetzer traten insbe-

    sondere die Leute auf, die in den Ersatztruppenteilen herumsitzen, wenig leisten und

    reichlich Urlaub erhalten und nunmehr fürchten, daß sie an die Front kommen.98

    Warum also differierten die allgemeine Stimmung und die Zeichnungsbereitschaft bis

    1916 und bewegten sich seither synchron? Zu Kriegsbeginn war allgemein das Gefühl

    vorherrschend, einen gerechten Krieg zu führen, der den Deutschen aufgezwungen

    worden sei. Zudem besaßen Regierung und Administration anfangs eine hohe Glaub-

    würdigkeit. Daher konnte auch die Propaganda der »letzten notwendigen Anstrengun-

    gen« wirken. Aber in den letzten beiden Kriegsjahren sah sich die deutsche Öffentlich-

    keit einem steten Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Erst hatte man große Hoffnun-

    gen in die Friedensinitiative Bethmann Hollwegs, dann die des Papstes gesetzt. Aller-

    dings war die deutsche Gesellschaft über die Frage der Kriegsziele so tief gespalten,

    dass die Debatte Ende 1916 freigegeben worden war.99 Zugleich waren die Versor-

    gungsengpässe im Steckrübenwinter von 1916/17 besonders groß:

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  • 1914-1918 109

    Wenn die päpstliche Friedensnote und die nun bekannt gewordene deutsche Beant-

    wortung derselben wohlgeeignet war bezw. ist, durch Belebung der Friedenshoff-

    nung die Stimmung günstig zu beeinflussen, so fehlt es doch nicht an Leuten, die im

    Gespräche über die Aussicht auf nicht zu fernen Frieden nichts anderes erblicken zu

    dürfen glauben, als die Stimmung für Zeichnung auf die 7. Kriegsanleihe günstig zu

    beeinflussen, für welche bis jetzt wenig Interesse besteht. Wie bei den früheren Anlei-

    hen müssen auch jetzt wieder die zum Teil von Feldgrauen genährten Vorurteile be-

    kämpft werden.100

    Der Tiefstand der Stimmung war 1917 zu verzeichnen.101 1918 siegten die Armeen

    im Osten, es folgte der Siegfrieden von Brest-Litowsk. Schon mit dem Waffenstillstand

    hatte sich die Stimmung gebessert: »Die Stimmung ist gut. Der Waffenstillstand im Osten

    brachte eine allgemeine Entspannung der Nerven.«102 Nach Friedensschluss hellte sich

    die Stimmung überall etwas auf: »Durch die Friedensnachrichten aus dem Osten ist

    die Stimmung stark gehoben worden.«103 Zugleich verknüpften sich damit aber weiter-

    gehende Hoffnungen auf eine sich anschließende Offensive im Westen: »Das rasche

    Vorgehen unserer Truppen im Osten und die günstigen Friedensaussichten nach

    dieser Seite haben die allgemeine Stimmung wieder günstig beeinflusst. Für den Westen

    sieht man der seit Wochen erwarteten Offensive mit den besten Hoffnungen entgegen.«104

    Mit der »Operation Michael« und weiteren Offensiven im Frühjahr und Frühsommer

    1918 schien auch der Sieg im Westen unmittelbar bevorzustehen.105 Durch die Anfangs-

    erfolge wurde die Glaubwürdigkeit der Administration zeitweise wiederhergestellt.

    Allerdings wirkten selbst die militärischen Erfolge ambivalent. Aus Münchberg hieß es

    Anfang April: »Bezeichnend für die Stimmung der Bevölkerung ist das Verhalten der

    Rekruten bei der letzten Musterung [...]. Sie sangen und waren geputzt wie seit dem

    Jahre 1914 nicht mehr.«106 Aus Forchheim eine Woche später: »Die infolge günstiger

    Fortschritte der grossen Offensive im Westen gehobenere Stimmung hält an, wenn

    man auch vielfach ein nahes Kriegsende bezweifelt.«107 Wieder eine Woche später aus

    Kronach: »Durch die erfolgreiche Westoffensive ist die Stimmung allgemein günstig

    beeinflusst. Andererseits sind aber wieder viele Familien von Verlusten schwer betrof-

    fen worden.«108 Zwar war die »Operation Michael« schon am 5. April eingestellt worden,

    doch berichteten die Medien noch länger über weitere Erfolge.109

    Die Stimmungsbesserung wirkte sich günstig auf die nächste und ungünstig auf die

    letzte Kriegsanleihe aus. Die Stimmung sei »günstiger [...] als bei der letzten Anleihe.

    Insbesondere ist die offene Hetze [...] nicht mehr bemerkbar.«110 Aus allen Bezirken

    wurden Zeichnungsergebnisse gemeldet, die deutlich – zumeist um die 50 Prozent –

    über denen der letzten lagen. Der Erfolg sei »einerseits der von den Vertrauensmän-

    nern rastlos betriebenen Aufklärungs- und Werbearbeit zuzuschreiben, andererseits ist

    er aber auch ein Beweis für die feste Stimmung und die Zuversicht der Bevölkerung.«111

    Vor der letzten Kriegsanleihe im Herbst 1918 machte sich der Zusammenhang von

    militärischen Erfolgen und Zeichnungsergebnissen umgekehrt bemerkbar: »Die Stim-

    mung ist in weitesten Kreisen zur Zeit außerordentlich schlecht und der neuen Kriegs-

    anleihe durchaus nicht günstig. Die Bauern sagen: ›Wenn sie wieder Geld brauchen,

    wird wieder etwas kommen, wir zeichnen aber dieses Mal nicht mehr.‹ Diese trübe

    Stimmung zeitigt die unsinnigsten Gerüchte.«112

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  • 110 Rudolf Stöber

    Man kann also zusammenfassen, dass in der ersten Kriegsphase aus Patriotismus und

    Pflichtgefühl gezeichnet wurde, in einer Zwischenphase hielt zumindest ein Teil der

    Bevölkerung den Anleihekauf für Kriegsverlängerung; das Renommee der Administra-

    tion war stark ramponiert und es erholte sich auch nicht mehr dauerhaft. So oszillier-

    ten in der letzten Kriegsphase die Entwicklungen der öffentlichen Stimmung und der

    Kriegsanleihezeichnung parallel. Umso überraschender kam dann der militärische Zu-

    sammenbruch ab dem August 1918. Nach den Siegen im Frühjahr, so fasste der Dan-

    ziger Regierungspräsident retrospektiv und stellvertretend für viele gleichlautende Be-

    richte zusammen, kam die »Erkenntnis unserer eigenen Notlage [...] völlig überra-

    schend.«113 Im Herbst hatte sich die Stimmung fast fortlaufend verschlechtert:

    Die Stimmung im Volke war während des Krieges sicher noch niemals so gedrückt

    wie gegenwärtig. ›Wie chloroformiert laufen die Leute herum‹ – hört man oftmals

    sagen. Fortwährende schwere Verluste in Bürgerhäusern tragen offenbar viel dazu

    bei, aber auch die unkontrollierbaren hartnäckig sich haltenden Gerüchte, daß der

    Krieg von unseren Soldaten an der Front als endgültig verloren angesehen werde

    und daß sie deshalb in ganzen Zügen und Kompanien zum Feinde überliefen, um

    wenigstens ihr Leben für die Ihrigen zu retten. [...] Auf alle Fälle wäre es hohe Zeit,

    eine energische Richtigstellung in der Presse von berufener Seite eintreten zu lassen.114

    Der Regierungspräsident hielt diese Aussage für so aussagekräftig und wichtig, dass

    seine Marginalie befahl: »Auszug zum Bericht«. Dagegen sollte die Propaganda auf

    allen Kanälen noch einmal intensiviert werden, aber nicht jeder Beamte war mehr

    überzeugt, dass direkte Stimmungsmache noch helfen könnte:

    Die Stimmung der Bevölkerung über den Krieg läßt immer noch sehr zu wünschen

    übrig [...]. Die Geistlichkeit und Lehrerschaft helfen bei der Aufklärung mit, auch die

    Presse tut ihre Schuldigkeit. Sonstige einflußreiche Persönlichkeiten unterstützen das

    Amt. Es geschieht, was möglich ist, um die Stimmung zu heben; den meisten Erfolg

    erzielt eine mündliche Einwirkung von Person zu Person, aber was ein Pessimist ist,

    bleibt trotz aller Vorstellungen meist ein solcher. Während der Ernte bleiben beson-

    ders bei schönem Wetter die Versammlungen in der Regel wenig besucht.115

    Sorgfältig vermieden werden muß jeder auffällige Versuch, die Stimmung zu he-

    ben. Dagegen empfiehlt sich Veranstaltung anständiger Unterhaltungen (Konzerte

    von Militärkapellen, Darbietungen des roten Kreuzes, Familienabende der Geist-

    lichkeit). Demnächst wird voraussichtlich auch ein Offizier der Flotte in Münchberg

    und Helmbrechts sprechen.116

    Die Propaganda, nicht nur in der Presse, sondern auch der Vertrauensleute, stieß

    auch deshalb an ihre Grenze, weil die Gegenpropaganda nicht nur aus eigener Erfahrung

    berichten konnte und dadurch hohe Glaubwürdigkeit genoss, sondern auch, weil sie

    in jeder Encounter-Öffentlichkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort völlig unkontrol-

    liert alle Bemühungen konterkarierte:

    Immerhin würden die Meisten sich mit Resignation in die Lage finden, wenn nicht

    gerade von den Urlaubern fortgesetzt die übelsten Einflüsse auf die Heimatbevölke-

    rung geübt würden. Aus eigener Wahrnehmung und aus zahlreichen Mitteilungen

    kann bekundet werden, wie man in Eisenbahnen und Wirtshäusern, auf der Straße

    und in Familien die unglaublichsten Äußerungen gerade von Soldaten hören kann.

    Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte – Band 15/2013

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  • 1914-1918 111

    Mit dem Ansehen solcher, die aus eigener Erfahrung sprechen, üben sie naturgemäß

    starken Einfluß auf die Zivilbevölkerung.117

    Ganz ähnlich hatte das Kriegspresseamt schon im November 1916 über die Gren-

    zen der Pressepropaganda geklagt:

    Der Umstand, dass die Bevölkerung in den Zeitungen täglich Dinge gedruckt findet,

    über die der Einzelne sich bereits oft in Gesprächen ereifert hat, schafft im ganzen

    Lande eine gleichmäßig schlechte Stimmung, die der Abhilfe dringend bedarf.118

    So mündete der militärische Zusammenbruch in die Revolution. Dabei suchten die

    Deutschen einerseits Schuldige. Antipreußische Affekte hatten sich schon 1917 bis-

    weilen gezeigt, jetzt nahmen sie in Franken und Süddeutschland, aber auch im Rhein-

    land, in Hannover, Hessen und sogar Schlesien teils separatistische, teils anti-kaiserli-

    che Züge an. Vor allem jedoch wurde die Friedenssehnsucht mächtiger, ohne dass sich

    schon eine einheitliche Haltung zur Art des Friedens abgezeichnet hätte:

    Das Volk sei infolge der langen Dauer des Krieges zu einem großen Teil förmlich

    stumpfsinnig geworden. Es im nationalen Sinne aufzurütteln, sei z.Zt. ein Ding der

    Unmöglichkeit, ebenso das Werben für die Kriegsanleihe. Friede um jeden Preis sei

    sein einziges Sinnen und Trachten. S.M. der Deutsche Kaiser sei zweifellos gegen-

    wärtig die unpopulärste Persönlichkeit Deutschlands, wie überhaupt vom Abdanken

    der Bundesfürsten viel gesprochen werde.119

    Die Stimmung der Bevölkerung beginnt sich auf den Frieden einzustellen. Wenn

    man diesem auch nicht mit großen Hoffnungen entgegensieht, so würde ein Fehl-

    schlag der gegenwärtig schwebende