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forschung „1989“ und Bildungsmedien “1989” and Educational Media Eva Matthes Sylvia Schütze (Hrsg./Eds.) Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuch- und Bildungsmedienforschung

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„1989“ und Bildungsmedien“1989” and Educational Media

Eva MatthesSylvia Schütze(Hrsg./Eds.)

978-3-7815-2085-1

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes befassen sich mit den

Auswirkungen, die „1989“ – verstanden als Chiffre für die funda-

mentalen politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa um

1989, häufig als „Wende“, zutreffender als „(Friedliche) Revolution“

bezeichnet – auf Bildungsmedien hatte.

Dabei geht es zum einen um die veränderten Produktionsbedingungen

und die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor die Autorinnen und

Autoren sowie Verleger von Bildungsmedien sich in den ehemals sozia-

listischen Ländern gestellt sahen.

Des Weiteren behandeln etliche Beiträge inhaltliche Veränderungen

in Lehrmitteln für einzelne Fächer, die den politisch-gesellschaftlichen

Veränderungen in den betreffenden Ländern einschließlich der ehema-

ligen DDR geschuldet waren. Dies betrifft u.a. die Fächer Heimatkunde,

Englisch, Chemie, Biologie, Geschichte und Geographie.

Neben diesen Beiträgen aus Deutschland, Polen, Rumänien, Russland,

Serbien und Tschechien geht es auch um die Darstellung des verein-

ten Deutschlands und des veränderten Europas in Schulbüchern von

Ländern, die selbst nicht von den Umwälzungen betroffen waren – in

England, Finnland, Italien, Norwegen und der Schweiz.

Die Herausgeberinnen

Prof. Dr. Eva Matthes, geboren 1962, ist Lehr-

stuhlinhaberin für Pädagogik an der Universität

Augsburg.

Sylvia Schütze, geboren 1957, ist wissenschaft-

liche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswis-

senschaft der Leibniz Universität Hannover und

an der Wissenschaftlichen Einrichtung Oberstu-

fenkolleg der Universität Bielefeld.

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Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuch- und Bildungsmedienforschung

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Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuch- und Bildungsmedienforschung

herausgegeben von Bente Aamotsbakken, Marc Depaepe, Carsten Heinze, Eva Matthes, Sylvia Schütze und Werner Wiater

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Eva MatthesSylvia Schütze

(Hrsg./Eds.)

„1989“ und Bildungsmedien“1989” and Educational Media

Verlag Julius Klinkhardt

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Dieser Titel wurde in das Programm des Verlages mittels eines Peer-Review-Verfahrens aufgenommen. Für weitere Informationen siehe www.klinkhardt.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten.

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem alterungsbeständigem Papier.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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Inhaltsverzeichnis / Contents Eva Matthes / Sylvia Schütze „1989“ und Bildungsmedien. Einleitung ......................................................................... 9 “1989” and Educational Media. Introduction ................................................................ 19 Bildungswissenschaftliche Kontextualisierung / Educational Scientific Contextualization Lutz R. Reuter Bildungssysteme im Prozess der Systemtransformation am Beispiel der DDR ............. 31 Zum Stand der Forschung – eine Annäherung / State of Research – an Approach Dörte Balcke Transformationsprozesse bei Lehrplänen und Bildungsmedien in Deutschland sowie in Mittel-, Südost- und Osteuropa nach 1989: Forschungsstand und -desiderata .......... 45 Kontinuität und Wandel fachlicher Inhalte in Bildungsmedien ehemaliger sozialistischer Staaten / Continuities and Changes of Subject Contents in Educational Media of Former Socialist States Simona Szakács 1989 as Gateway to the World? The Universalisation of Diversity and the Construction of the ‘New’ Citizen in Romanian Civic Education ........................... 59 Dieter Böhn / Berta Hamann Von Deutschland nach Deutschland. Die Darstellung Deutschlands in deutschen Schulatlanten im Zeitraum 1984 bis 1996.................................................. 72 Alexandra Budke / Maik Wienecke Deutsche Geographieschulbücher in der Transformationsphase nach 1989 .................. 87 Péter Bagoly-Simó “1989 and all that”: Geography Textbooks during Post-Socialist Transformation in Romania .................................................................... 99

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6 Inhaltsverzeichnis / Contents

Die Veränderung der Identität von Regionen in tschechischen Geographieschulbüchern vor und nach 1989 ................................................................ 109 Vladimir M. Kaljevi Comparative Analysis of Textbooks for the Eighth Grade of Elementary Schools in the Republic of Serbia before and after the System Transformation. Books Covering the Period from 1878 to 2010 ............................................................ 124 Hanna Grzempa Einheit in Verschiedenheit? Grenzen und Möglichkeiten der Konzipierung von Geschichtsschulbüchern in Polen nach 1989/90 ................................................... 132 Patrick Wagner Das Lehrwerk English Today als Brücke des Englischunterrichts der DDR zum Englischunterricht im wiedervereinigten Deutschland ........................................ 144 Alla Salnikova White Swans instead of Lenin’s Portrait. Educational Media Changes in the Multiethnic Republic of Tatarstan, Russia, after 1991 ........................................ 156 Elke Urban Das Heimatkundebuch der DDR für die 3. Klasse von 1989 und 1990 – ein Vergleich ................................................................................................................ 165 Andrea Richter „Als unsere Welt bunter wurde …“. Die Darstellung der Wiedervereinigung in einem Heimat- und Sachkundebuch der neuen Länder am Beispiel Thüringens ..... 178 Karl Porges Die deutsche Wiedervereinigung und ihr Einfluss auf die Darstellung der Evolutionsbiologie im Biologielehrbuch der Klasse 10 aus dem Verlag Volk und Wissen ................................................................................ 192 Anja Sauer / Aylin Coskun Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989. Ein Vergleich der Darstellung von großtechnischen chemischen Prozessen und Fertigungstechniken .............................................................................................. 202 Perspektiven auf „1989“ in Bildungsmedien anderer Staaten / Perspectives on “1989” in Educational Media of Other States

Diskurse zum Mauerfall und zur deutschen Wiedervereinigung in englischen Geschichtsbüchern für allgemeinbildende Schulen ................................. 219

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Inhaltsverzeichnis / Contents 7

Bente Aamotsbakken The Events in 1989 – The Lack of Attention in Norwegian History Textbooks .......... 238 Katri Annika Wessel Deutsch-deutscher Geschichte und Kultur 1945–2014 auf der Spur: Finnische Lehrwerke für Geschichte und für Deutsch als Fremdsprache nach 1990 ... 249 Christine Michler Die Darstellung des Mauerfalls und seiner Folgen in ausgewählten Lehrwerken für romanische Sprachen in Deutschland und für den Deutschunterricht in Frankreich, Spanien und Italien ............................................................................... 267 Markus Furrer Gebrochene Geschichten des Kalten Krieges – Narrative und der Umbruch 1989–91 in Schweizer Geschichtslehrmitteln ................. 278 Luciana Bellatalla What Germany? What Europe? A Diachronic Analysis of Italian History Schoolbooks (1950–2014) .......................... 288 Autorinnen und Autoren / Authors .......................................................................... 297

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Karl Porges Die deutsche Wiedervereinigung und ihr Einfluss auf die Darstellung der Evolutionsbiologie im Biologielehrbuch der Klasse 10 aus dem Verlag Volk und Wissen Abstract Schoolbook research is in particular topical after radical political changes and if it concerns the reputation of the publisher (cp. Pöggeler 2003). Both were the case in 1989 due to political and social changes on the territory of the German Democratic Republic (GDR), which ultimately led to changes in the socially favored values and standard notions as well. Since schoolbooks and curricula are subject to governmental influences (cp. Wiater 2006), the question of modifications in the presentation of the subjects aris-es. The aim of this analysis is, in the context of social political transformation, the amendment of aim, context and presentation in biology schoolbooks of the publishing house Volk und Wissen, using the example of 10th grade evolutionary biology. For that purpose relevant schoolbooks were, in the context of a quantitative analysis of the con-tent, evaluated product-oriented. The analysis of the computer-based transliterated schoolbooks was carried out via QDA-Software based on an open encoding process. To broaden the understanding, additional material will be used for the explication of rele-vant contents (broad content analysis). In particular this refers to the presentation of ideologies, which are according to Berck and Graf (2010) present in biology school-books in the majority of cases. In the concluding discussion the impact of the social change on the chosen educational media is pointed out to eventually contribute to “a better understanding of the school as broadcaster of knowledge in the society” (Depae-pe/Simon 2003, p. 66). 1. Vorbemerkung Im Jahr 1989 führten einschneidende politisch-gesellschaftliche Veränderungen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zur Auflösung des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Dies besiegelte die Hegemonie der Partei. Spätestens mit der Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990 zeigten sich Modifikationen in den gesellschaftlich gewünschten Norm- und Wer-tevorstellungen, wie den Änderungen des Grundgesetzes und den Angleichungen im Rechtssystem (vgl. Weber 2006). Mit der Vereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 endete ein wichtiges Kapitel im Ost-West-Konflikt zwischen den sozialistischen Staaten des Warschauer Vertrages und den kapitalistischen Staaten der NATO. Bereits vor dem

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Der Einfluss der deutschen Wiedervereinigung auf die Darstellung der Evolutionsbiologie 193

3. Oktober 1990 vollzogen sich Strukturveränderungen im Bildungswesen (vgl. Reuter 1998). Das „zentralistisch-hierarchische System der Planung, Leitung und Kontrolle“ (ebd., S. 45) wurde durch die Wiedererrichtung der Länder aufgelöst. Vor diesem Hin-tergrund stellt sich die Frage nach Rückwirkungen auf Lehrwerke, die als „Spiegel ihrer Zeit“ (Jürgens 2006, S. 406) gewünschte Norm- und Wertevorstellungen transportieren. Detlev (1993, S. 74) erkennt in der „Schulbiologie […] neben naturwissenschaftlichen Inhalten auch Bio-Politische Elemente […], sobald im Rahmen der Säkularisierung der Mensch Objekt der Schulbiologie ist.“ Ziel des Artikels ist es, Modifikationen im Biolo-gielehrbuch der Klasse 10 am Beispiel der zentralen Fachdisziplin Evolutionsbiologie aufzuzeigen und diese mittels administrativer Vorgaben, Unterrichtshilfen und Fachzeit-schriften zu kontextualisieren. Da Lehrpläne und -bücher einer staatlichen Beeinflussung unterliegen (vgl. Wiater 2006), kann in Zeiten des Umbruches auch das Ansehen eines Verlages betroffen sein (vgl. Pöggeler 2003). In dieser Konsequenz fokussiert die Ana-lyse auf einen Vergleich der Schulbücher von 1988 und 1991 aus dem Verlag Volk und Wissen, der in der SBZ/DDR seit 1945 konkurrenzlos arbeitete (vgl. Links 2010) und nach 1990 seine Verlagstätigkeit fortsetzte. 2. Klärung der Konstrukte 2.1 Evolutionsbiologie Kutschera (2007, S. 24) bezeichnet die Fachdisziplin Evolutionsbiologie als „General-disziplin der Biowissenschaften“, die sich „ausgehend vom dokumentierten Faktum Evolution […] mit der Rekonstruktion der Phylogenese der Organismen und deren An-triebskräften [befasst].“ Heute steht insbesondere ihr interdisziplinärer Charakter im Vordergrund (vgl. Storch/Welsch/Wink 2007). Aus antiken Vorstellungen über klassi-sche Evolutionstheorien bis hin zu ihrer heutigen Form entwickelte sich die moderne Evolutionstheorie „als System zahlreicher Unter-Theorien“ (Kutschera 2009, S. 305), die als Erweiterte Synthetische Theorie der biologischen Evolution bzw. als Wissenschafts-disziplin Evolutionsbiologie bezeichnet wird. Gesellschaftliche Diskurse und historisch-politische Entwicklungen begleiteten die wissenschaftliche Entwicklung der Fachdiszip-lin (vgl. Junker/Hoßfeld 2009), deren Ursprung in der Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882) und Alfred Russell Wallace (1823–1913) liegt. Der deutsch-ameri-kanische Biologe Ernst Mayr (1904–2005) betonte in seinen Werken (vgl. u.a. 2002), dass sich der Darwinismus aus fünf ineinandergreifenden Theorien zusammensetzt. Dies sind die Evolution als solche, die Theorie der gemeinsamen Abstammung der Organis-men, der Gradualismus, die Theorie der Vervielfältigung der Arten sowie die Theorie der natürlichen Selektion. Engels (2009) argumentiert, dass der Darwinismus, als Kon-struktion der Rezeption verstanden, Theoreme enthält, die es ermöglichten, das biologi-sche Wissen neu zu ordnen und zu interpretieren. Der deutsche Biologe August Weis-mann (1834–1914) entwickelte den Darwinismus weiter (Neodarwinismus). Er wandte sich in seinen Überlegungen den Faktoren der Evolution zu, betonte die natürliche Se-lektion als Mechanismus der Evolution und nahm Erkenntnisse aus der Cytologie und der Genetik in seine Arbeiten auf. Während Darwin die Vererbung erworbener Eigen-schaften in seine Betrachtungen integrierte, erkannte Weismann in der Rekombination die Ursache erblicher Variabilität der Organismen (vgl. u.a. Weismann 1904; Zirnstein

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2001; Kutschera 2014). Anfang des 20. Jahrhunderts entstand mit der Wiederentdeckung der Arbeiten Gregor Mendels (1822–1884) die Genetik als Wissenschaft, deren Erkennt-nisse letztlich die Selektionstheorie stützten. Als einer der ersten Biologen, so legt Schulz (2001) dar, verband Julian Huxley (1887–1975) die Mendelsche Genetik mit Darwins Evolutionstheorie. Die moderne Synthese wurde u.a. in den Werken von Dobz-hansky: Genetics and the Origin of Species (1937), Huxley: Evolution: The Modern Synthesis (1942) und Mayr: Systematics and the Origin of Species (1942), begründet (vgl. Reif/Junker/Hoßfeld 2000; Kutschera 2008; Junker/Hoßfeld 2009). 2.2 Ideologie im Biologieunterricht der DDR Ideologie wird gemeinhin verstanden als ein System von Weltanschauungen sowie (poli-tischen) Grundeinstellungen und Wertungen (vgl. Wermke et al. 2006). Böhme et al. (1973) betonen, dass diese Ideen, insbesondere durch Produktionsverhältnisse bedingt, bestimmte Klasseninteressen zum Ausdruck bringen. Dem politisch-gesellschaftlichen Leben in der DDR, als sozialistischem Staat, lagen – als wissenschaftliche Ideologie verstanden – die Prinzipien des Marxismus-Leninismus zu Grunde (vgl. Engels 1966a; Neuner 1996). Im Artikel 1 der Verfassung der DDR wird die politische Ausrichtung des Staates deutlich, der sich als „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern […] unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ (1976, S. 9) verstand. Im Handlungsfeld Schule interessierte neben Fachinhalten die „ideologisch-erzieheri-sche Wirkung des Fachunterrichts“ (Neuner 1996, S. 209). Seit dem Bildungsgesetz von 1965 war es „Inhalt und Ziel des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens […], sozialistische Persönlichkeiten heranzubilden, die eine allseitige hohe Bildung mit einem festen Klassenstandpunkt vereinen, den Anforderungen der modernen Produktion und der anderen gesellschaftlichen Bereiche […] gewachsen sind und unerschütterlich die Sache des Sozialismus in der Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus vertre-ten“ (Diehl et al. 1978, S. 461). Ein Unterrichtsziel im Fach Biologie lautete, „zusammen mit der Stoffvermittlung vor allem die Herausbildung politisch-ideologischer Grund-überzeugungen zu unterstützen“ (Graef et al. 1985, S. 9). Graef et al. (vgl. S. 11) forder-ten vom Biologielehrer „Begeisterung für die Sache des Sozialismus und für sein Fach.“ Weiter sollte „die sozialistische Erziehung […] [als] ein Grundanliegen seiner Arbeit […] in Einheit mit dem biologischen Stoff“ (ebd.) erfolgen. Insbesondere an evolutions-biologischen Themen wurde der „Kampf zwischen philosophischem Materialismus und philosophischem Idealismus“ (Löther/Schellhorn 1964, S. 7) ausgetragen. Lengert (vgl. 1959, S. 92) betont, dass die weltanschauliche Bedeutung der Evolutionsbiologie den Biologieunterricht der DDR beeinflusste. Die Verbindung evolutionsbiologischer Inhalte mit politischen Überzeugungen erklärt sich aus ihrem historischen Kontext. Karl Marx (1818–1883), der den Sozialismus als wissenschaftlichen Begriff verstand, wurde in seinen Ansichten durch die Naturwissen-schaften inspiriert (vgl. Russell 2009). Insbesondere Darwins Erkenntnisse beeinflussten und bestätigten sein materialistisches Weltbild. Dass Marx den Wunsch hegte, die Erst-ausgabe seines Werkes Das Kapital Darwin zu widmen, spiegelt seine Bewunderung für den englischen Forscher wider, betonen Fischer, Brehm und Hoßfeld (2008). Auch Friedrich Engels (1820–1895), Mitbegründer der marxistischen Weltanschauung (vgl. Böhme et al. 1973), würdigte Darwins Leistungen und integrierte in seinen Werken den

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Entwicklungsgedanken (vgl. Engels 1966b). Dass er in seiner Rede zum Begräbnis von Marx dessen Leistungen mit denen Darwins verglich, hebt den Einfluss, den Charles Darwin auf Karl Marx und Friedrich Engels ausübte, besonders hervor (vgl. Engels 1966c). 3. Modifikationen im Biologielehrbuch 3.1 Äußeres Design und Formales Das letzte Schullehrbuch der DDR für das Fach Biologie in Klasse 10 erschien im Jahr 1988 unter dem Titel Biologie. Lehrbuch für Klasse 10. Vererbung und Evolution. Der Untertitel änderte sich in der Neuauflage von 1991 in Genetik und Evolution. Im Format waren beide Auflagen gleich und für die Schüler und Schülerinnen handlich. Unter der Leitung von Karl Sommer übernahmen Ilse König und Gertrud Kummer vom Verlag Volk und Wissen die Redaktion. Auch Frank Horn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) in Berlin, arbeitete am Lehrbuch mit. Als Auto-ren zeichneten Gertrud Kummer, Manfred Matzke, Hans-Joachim Schwier, Karl Som-mer, Horst Theuerkauf sowie Herbert Ullrich. Der Biologe und Anthropologe Herbert Ullrich (*1932) vom Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften sei beispielhaft für die Einbindung wissenschaftlicher Fachkräfte genannt. Bei den didaktisch-methodischen Überlegungen brachte u.a. der Biologiedidak-tiker Manfred Matzke (*1934) von der Pädagogische Hochschule in Halle-Köthen sein Wissen ein. Der Lehrer Horst Theuerkauf (*1931) war als Bildautor tätig. Der Einband der Auflagen präsentierte sich mehrfarbig. Der Ausgabe von 1988 und dem Lehrbuch von 1991 konnten die Klassenstufe und das Unterrichtsfach entnommen werden. Eine japanische Wunderblume war auf der Vorderseite beider Auflagen zu sehen. Die Rück-seite, die unverändert blieb, präsentierte Fossilien, wie den Abdruck eines Blattes, den Urvogel Archaeopteryx sowie Knochenfunde (Hominidenschädel, Saurierskelett). 3.2 Strukturierung Unverändert blieb auch der Umfang. Beide Lehrbücher umfassten 144 Seiten. Unter der Überschrift Evolution der Organismen standen den Schülerinnen und Schülern evoluti-onsbiologische Themen auf 69 Seiten (47,9 Prozent) zur Verfügung. Ohne die Verwen-dung von Teilüberschriften war eine Gliederung in drei Abschnitte ersichtlich. Diese endeten mit adäquaten Aufgaben zur Wiederholung. Im Lehrbuch von 1991 blieben die Sequenzierung und der Umfang der Kapitel (Seitenzahlen) erhalten. Lediglich zwei Abschnitte formulierten die Autoren neu. Im Kapitel Wissenschaftliche Abstammungs-lehre von Charles Darwin entfiel der Begriff Wissenschaftlich. Und im Kapitel Wirbel-tiere mit Merkmalen von zwei Wirbeltierklassen wurde das Wort Wirbeltierklassen durch den biologischen Begriff Wirbeltiergruppen ersetzt. 3.3 Text Eine Frequenzanalyse der Begriffe des gesamten Lehrbuchtextes belegt eine hohe Über-einstimmung der Lehrbücher. Die Worte Organismen, Menschen, Arten und Entwick-lung waren die in beiden Dokumenten am häufigsten enthaltenen biologischen Begriffe.

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Alle Worte, die auf die marxistisch-leninistische Ideologie verweisen, kamen im Lehr-buch von 1991 nicht mehr vor. Beachtenswert ist, dass bereits das Lehrbuch von 1988 nur wenige ideologische Begriffe enthielt. Im Gegensatz zu den bisher dargestellten Analyseergebnissen zeigt ein direkter Satz-für-Satz-Vergleich der Texte, Aufgabenstel-lungen und Bildunterschriften deutlich mehr Differenzen zwischen den Lehrbüchern. Von insgesamt 755 Sätzen im Fließtext der Lehrbuchausgabe von 1988 waren 113 Sätze (15 Prozent) von Veränderung (Korrekturen, Streichungen, Ergänzungen) betroffen. Ferner nahmen die Autoren bei 15 von 124 Aufgabenstellungen (12,1 Prozent) und bei 23 von 107 Abbildungen bzw. Beschriftungen (21,5 Prozent) eine Bearbeitung vor. Die Modifikationen begründen sich zum Teil in der Streichung ideologischer Aussagen, zum Teil in fachwissenschaftlichen und -didaktischen Anpassungen sowie grammatikali-schen/orthografischen Korrekturen. Eine mit MAXQDA11 durchgeführte Codierung zeigt, dass Veränderungen nicht auf einzelne Lehrbuchabschnitte beschränkt blieben. Vielmehr erfolgte eine Überarbeitung des gesamten Textes, aus der das neue Lehrbuch Klasse 10 von 1991 resultierte. Insbesondere bei den Erläuterungen zur Theorie der Evolution und der Evolution des Menschen transportierte das Lehrbuch von 1988 gesell-schaftlich gewünschte Norm- und Wertevorstellungen bzw. Ideologien. Die folgenden Textbelege aus dem Biologielehrbuch von 1988 bzw. von 1991 sollen exemplarisch ver-deutlichen, wie die politischen Grundeinstellungen in der DDR vor der Wiedervereini-gung (siehe dazu Kapitel 2.2) und die Anpassungen an die veränderte politische Situati-on die Inhalte beeinflussten. Beispiel 1: – „Die Theorie Darwins hatte weit über die Biologie hinaus große Bedeutung. Sie regte

viele Menschen an, im Zusammenhang damit auch über die Zustände in der mensch-lichen Gesellschaft und Möglichkeiten zu ihrer Veränderung nachzudenken. Auch Karl Marx und Friedrich Engels studierten Darwins Werk und erkannten seine Bedeu-tung.“ (Kummer et al. 1988, S. 77f.)

– „Die Theorie Darwins hatte weit über die Biologie hinaus große Bedeutung. Auf der Grundlage von Ergebnissen aller Biowissenschaften ist es gelungen, diese Theorie in ihren Grundlagen zu bestätigen.“ (Kummer et al. 1991, S. 77f.)

Beispiel 2: – „Die von Karl Marx (1818 bis 1883) und Friedrich Engels (1820 bis 1895) entdeckten

Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ermöglichten es, die Entstehung der Urgesellschaft zu rekonstruieren und in der Arbeit die wesentlichs-te Triebkraft im Prozeß der Menschwerdung zu sehen.“ (Kummer et al. 1988, S. 118f.)

– Dieser Satz entfiel in der Ausgabe von 1991 ganz. Beispiel 3: – „Der Kampf gegen jede Form von Rassismus ist ein integrierter Bestandteil des welt-

weiten ideologischen und politischen Kampfes aller friedliebenden Völker, ein Gebot des Humanismus!“ (Kummer et al. 1988, S. 140)

– „Der Kampf gegen jede Form von Rassismus ist ein Gebot des Humanismus!“ (Kum-mer et al. 1991, S. 140)

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3.4 Abbildungen Charakteristisch für die Lehrbücher war eine reichhaltige Bebilderung. Der Grund für dieses Vorgehen, so argumentierten Graef et al. (1985, S. 14), ergab sich aus der Tatsa-che, dass für dieses Stoffgebiet „nur wenige Objekte als Originale“ zur Verfügung stan-den. Die mehrfarbigen Abbildungen im Lehrbuch enthielten keine Nummerierungen. Ein Text-Bild-Zusammenhang ergab sich nur vereinzelt durch Hinweise im Text. Insgesamt summierte sich die Anzahl der in den Text eingebundenen Abbildungen im Lehrbuch von 1988 auf 194. Davon stellten 107 Abbildungen (55,2 Prozent) Inhalte aus Bereichen der Evolutionsbiologie dar. Für das Lehrbuch von 1991 bearbeiteten die Autoren in größerem Umfang Bildtitel (siehe dazu Kapitel 3.3). Eine Abbildung, die Vertreter ver-schiedener „,Ethnien‘ beziehungsweise ,Populationen von Menschen‘“ (Hoßfeld 2012a, S. 217)1 bei einer Kranzniederlegung zeigte, wurde entfernt. Den Kürzungen im Text folgend bestand der Grund der Streichung offensichtlich in der Tatsache, dass auf die-sem Bild auch zwei Angehörige der Jugendorganisation der DDR, der Freien Deutschen Jugend (FDJ), zu sehen waren. Die Stelle des Fotos, das von der staatlichen Nachrich-tenagentur der DDR, dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – Zentralbild (AND-ZB), zur Verfügung gestellt worden war, blieb im Lehrbuch von 1991 ca. zu einem Drittel unbedruckt und somit ungenutzt. 4. Kontextanalyse In der Zeitschrift Biologie in der Schule resümiert Pews-Hocke (1990), dass die gesell-schaftlichen Veränderungen zur Verunsicherung der Lehrerschaft führten. Aus dieser Situation resultierte die Notwendigkeit einer Neuorientierung für die Gestaltung des Biologieunterrichts. „Um den neuen gesellschaftlichen Anforderungen in der gegenwär-tigen Situation gerecht zu werden, ist eine schöpferische Umsetzung der Lehrpläne not-wendig“ (ebd., S. 61f.), lautete ein entsprechendes Credo. Pews-Hocke (vgl. ebd.) for-derte, Weltanschauung nicht im Biologieunterricht zu lehren. Vielmehr solle sie aus der individuellen Persönlichkeitsentwicklung erwachsen, die geprägt durch das Leben in der Familie und in der Gesellschaft nicht allein im Biologieunterricht bzw. der Schule ent-stehe. Ferner betonte Kaiser (1990, S. 10) in der Deutschen Lehrerzeitung, dass weltan-schauliche Zusammenhänge in den Lehrbüchern und Lehrplänen der Naturwissenschaf-ten, „auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, so dargestellt werden [sollen], daß niemand in seinen Gefühlen, Haltungen und Überzeugungen verletzt wird.“ Auch die Verfasser der Handreichung zur Arbeit mit den Lehrplänen von 1990 argumentierten, dass die Schule der DDR aufgrund „einer weitgehend verfehlten, ideologisch-dogmati-schen Bildungspolitik“ (Ministerium für Bildung und Wissenschaft 1990, S. 3) vor einer Erneuerung stehe. Nauendorf und Pews-Hocke (1990, S. 13) forderten von den Lehrkräf-ten „verschiedene Auffassungen der Entstehung des Lebens auf der Erde, über die Evo-lution der Organismen sowie über die Entwicklung des Menschen aus dem Tierreich [zu] erörtern.“ Ein Vergleich der Vorworte der letzten beiden Lehrpläne der DDR für das Fach Biologie in Klasse 10 (1969, 1988) bestätigt, dass „das Lehrplanwerk der 80er Jahre […] gegen- 1 Genetische Erkenntnisse belegen, dass die Einteilung der Menschen in Rassen wissenschaftlich nicht haltbar

ist (vgl. Hoßfeld 2012b, S. 5).

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über dem vorhergehenden neben der Rücknahme von überzogener Verwissenschaftli-chung durch eine stärker ausgeprägte Pädagogisierung von Schule und Unterricht ge-kennzeichnet war“ (Neuner 2009, S. 136). Dennoch kam es trotz der damit verbundenen Reduktion ideologischer Aussagen „kaum noch zum Zuge“ (ebd.). Im Vorwort des Lehrplans von 1969 erörterten die Verfasser den „spezifische[n] Beitrag des Biologie-unterrichtes zur Erziehung sozialistischer Staatsbürger“ (MfV 1969, S. 38). Eingebettet in die Vermittlung evolutionsbiologischer Aspekte sollten die Schülerinnen und Schüler erkennen, „daß die eigentlichen Ursachen für den Widerstand der herrschenden Klassen gegen die Verbreitung der Abstammungslehre darin lagen, daß diese Theorie den Kampf der Arbeiterklasse gegen die Ausbeuterordnung ideologisch stärkte“ (MfV 1969, S. 39). Die Autoren betonten, dass „das Stoffgebiet ,2. Abstammungslehre‘ […] ein Schwer-punkt sowohl weltanschaulicher und politisch-ideologischer Systematisierung und Wer-tung der Erkenntnisse durch die Schüler […] sein [muss]“ (MfV 1969, S. 40). In den Unterrichtshilfen Biologie Klasse 10 von 1971 war zu lesen, dass „menschen- und natur-feindliche Theorien, Haltungen und Unternehmungen“ (Graef et al. 1985, S. 11) ein Grundzug des kapitalistischen Systems seien. Eine Reduktion derartiger ideologischer Aussagen im Zusammenhang mit evolutionsbio-logischen Fachinhalten zeichnete dagegen den durch das Ministerium für Volksbildung herausgegeben Lehrplan von 1988 aus. Er erschien mit Wirkung zum 1. September 1988 unter dem Titel Lehrplan Biologie Klassen 5 und 10. Die Autoren forderten einzig, dass die Schüler und Schülerinnen „ihre Überzeugungen vom unwissenschaftlichen und men-schenfeindlichen Charakter des Rassismus“ (MfV 1988, S. 10f.) festigen sollten. Der administrativen Vorgabe, die sich an Aussagen des 11. Parteitages der SED orientierte (vgl. Kaiser 1988), ging im Prozess der Ausarbeitung eine öffentliche Diskussion in der Zeitschrift Biologie in der Schule voraus. Inhaltlich von einem bewährten Konzept aus-gehend, sollten von Klasse 5 an Möglichkeiten zur Vertiefung des Evolutionsgedankens umfassender genutzt werden (vgl. Horn/Kaiser 1986; Horn 1987). Auch in den Unter-richtshilfen Biologie Klasse 10 von 1988 reduzierten die Autoren ideologische Formulie-rungen. Graef et al. (1989, S. 82) betonten lediglich, dass „der Unterricht in diesem Stoffgebiet einen hervorragenden Beitrag zur weiteren Begründung des wissenschaftli-chen Weltbildes der Schüler [leistet].“ Die Akademie der pädagogischen Wissenschaften der DDR gab noch ergänzend im Jahr 1989 Inhaltliche und methodische Erläuterungen heraus. Diese sollten „das Lehrplanverständnis vertiefen helfen, indem Funktion und Ziele des Biologieunterrichtes, Auswahl und Anordnung des Inhalts sowie Hauptmerk-male der didaktisch-methodischen Konzeption des Gesamtlehrgangs dargestellt und erläutert“ (Horn 1989, S. 7) wurden. Gerhart Neuner (2009, S. 136), von 1970 bis 1990 Präsident der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, formuliert rückblickend, dass „die Versuche im letzten Jahr der DDR, unter kritischer Aufarbeitung von DDR-Realitäten auch im Schulwesen Lösungen zu erarbeiten, […] zu spät [kamen].“ 5. Resümee Seit der Veröffentlichung des Artenbuches von Charles Darwin (1859) wurde die wis-senschaftliche Entwicklung der Evolutionstheorie(n) von gesellschaftlichen Diskursen und konkreten historisch-politischen Entwicklungen begleitet. Die Auswertung der Do-

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Der Einfluss der deutschen Wiedervereinigung auf die Darstellung der Evolutionsbiologie 199

kumente hat gezeigt, dass die Evolutionsbiologie im Biologieunterricht der DDR ideolo-gisch eingebunden war. Die Fachdisziplin diente der Vermittlung einer materialistischen Weltanschauung, der Bekämpfung von Rassismus als Übel des Imperialismus und der Ablehnung der Schöpfungslehre. Dies erfolgte im Biologielehrbuch primär im Zusam-menhang mit Darstellungen zu Evolutionstheorien und der Evolution des Menschen (Hominisation). Nach der Wiedervereinigung entfernten die Autoren im Lehrbuch von 1991 alle offensichtlich dem Marxismus-Leninismus entsprechenden Inhalte in Text und Bild. Dies bestätigt die zu Beginn des Artikels formulierte Annahme, dass Modifikatio-nen in den gesellschaftlich gewünschten Norm- und Wertevorstellungen im Verlauf der deutschen Einheit auf die Lehrwerke zurückwirkten. Die Anpassungen im Biologielehr-buch für die Klasse 10 des Verlages Volk und Wissen erfolgten zeitnah und konsequent. Dass Veränderungen auch ideologischer Art nicht einzig ein Phänomen der Wiederver-einigung sind, sondern sich bereits kurz vor dem Ende der DDR zeigten, konnte anhand der Reduzierung ideologischer Aussagen im Lehrplanwerk der 1980er-Jahre aufgezeigt werden. Die angewandte Methode (Inhaltsanalyse), die in Quellen fixierte Kommunika-tion systematisch, regel- und theoriegeleitet zu analysieren (vgl. Mayring 2010), erwies sich hierbei als hilfreich. Abschließend stellt sich die Frage, ob Evolutionsbiologie überhaupt wertneutral/ideolo-giefrei vermittelt werden kann und sollte. Erkenntnisse der Evolutionsbiologie wirken einerseits auf Ideologien – oben beschrieben als ein System von Weltanschauungen sowie (politischen) Grundeinstellungen und Wertungen – ein, indem sie beispielsweise rassistische Argumente widerlegen und kreationistischen Anschauungen widersprechen. Andererseits können ihre Erkenntnisse dazu beitragen, Grundeinstellungen und Wertun-gen zu festigen, die geprägt sind von Aufklärung, Humanismus und der Auflösung eines anthropozentrischen Weltbildes. Evolutionsbiologie ist insofern ideologisch, da sie Be-gründungszusammenhänge sowohl für als auch gegen bestimmte Weltanschauungen liefern kann. Wie anders ist es zu erklären, dass Lehrer mit einer konträren Einstellung sich mitunter weigern, diese Fachdisziplin zu vermitteln (vgl. Graf 2011). Da insbeson-dere durch die Lehre der Evolutionsbiologie auch die Weltanschauung der Schülerinnen und Schüler beeinflusst werden kann, leistet die Lehrkraft zumindest indirekt nicht nur Wissensvermittlung. Literatur Untersuchte Schulbücher Kummer, Gertrud/Matzke, Manfred/Schwier, Hans-Joachim/Sommer, Karl/Theuerkauf, Horst/Ullrich, Herbert

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200 Karl Porges

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Der Einfluss der deutschen Wiedervereinigung auf die Darstellung der Evolutionsbiologie 201

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Anja Sauer / Aylin Coskun Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989 Ein Vergleich der Darstellung von großtechnischen chemischen Prozessen und Fertigungstechniken Abstract School textbooks are an interpretation of the curriculum for the respective discipline (cp. Wiater 2005). The orientation of the curricula shows differences in East Germany and Saxony-Anhalt before and after the political turn in 1989. This can for example be seen in the emphasis that is given to technical processes. This provides the basis for a deeper investigation of technical topics. Data were gathered using processes as coding units to identify production technologies and technical processes in the textbooks. These are analyzed using two different category systems, according to the principles of Qualitative Content Analysis (cp. Mayring 2008). The category systems take on the one hand the dimension “technical process” (DIN 8580; cp. Sommer 1996) into consideration and on the other hand the dimension “structural elements in textbooks” (cp. Meyendorf 1974; Sujew 1986). This method allows for a comparison of technical contents in chemistry textbooks. It turns out that within the schoolbooks from the publishing company “Volk und Wissen”, a shift took place in the way technical processes are described before and after 1989. Production technologies remain a side issue in those textbooks throughout the analyzed period. 1. Betonung von technischen Kontexten im Chemieunterricht

im Wandel der Zeit „Naturwissenschaft und Technik prägen unsere Gesellschaft in allen Bereichen und bilden heute einen bedeutenden Teil unserer kulturellen Identität.“ (KMK 2004, S. 6) In dieser Aussage wird die große gesellschaftliche Rolle deutlich, welche die Kultusminis-terkonferenz in den Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss den technischen Prozessen im Fach Chemie zuweist. Aber auch in der Vergangenheit wurde die Bedeu-tung der technischen Bildung bereits betont. Unter dem Konzept der polytechnischen Bildung finden sich diese Aspekte bereits in den Bildungsplänen der ehemaligen Sow-jetunion wieder (vgl. Bode 1975). Das Wechselspiel aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Anwen-dungen bewirkt gesamtgesellschaftliche Fortschritte, die auch den Alltag und damit die

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Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989. Ein Vergleich 203

Lebenswelt der Lernenden – unabhängig von der Epoche – beeinflussen. Ziel dieser Bil-dung ist „eine aktive Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation und Meinungsbildung über technische Entwicklungen und naturwissenschaftliche Forschung“ (vgl. KMK 2004). 2. Stand der Forschung Die chemische Technik beruht auf der praktischen Anwendung chemisch-wissenschaftlicher Kenntnisse und konstruktionstechnischer Erfahrungen mit dem Ziel, chemische Grundsubstanzen und Verbrauchsgüter zu produzieren. Dabei umfasst die chemische Technik nicht nur den Prozess der Stoffproduktion, sondern den gesamten Herstellungsprozess für ein angestrebtes Produkt. Hierfür werden Erkenntnisse über physikalische Vorgänge und reaktionskinetische Überlegungen genutzt, um den chemi-schen Prozess zu optimieren (vgl. Henglein 1994). Auch innerhalb der Materialwissenschaft werden Erkenntnisse auf naturwissenschaftli-chen Grundlagen genutzt. Diese Ingenieurwissenschaft fasst diejenigen Erkenntnisse, Arbeitsmethoden und Denkansätze zusammen, welche zur wissenschaftlichen Beherr-schung der Werkstoffe beitragen. Dabei bezeichnet der Begriff „Werkstoff“ einen Stoff, dessen fester Zustand technisch verwertbare Eigenschaften besitzt, die wirtschaftlich genutzt werden können. Die Fertigungstechnik ist ein Teilgebiet der Materialwissenschaft und betrachtet die Entwicklung, Herstellung und Verarbeitung von Werkstoffen (vgl. Gräfen 1991). DIN 8580 unterteilt diese Verfahren in sechs Hauptgruppen (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Hauptgruppen der Fertigungstechnik (nach DIN 8580, S. 1)

Zusammenhalt schaffen

Zusammenhalt beibehalten

Zusammenhalt vermindern

Zusammenhalt vermehren

Änd

erun

g de

r

Form Hauptgruppe 1

Urformen (Formschaffen)

Hauptgruppe 2 Umformen

Hauptgruppe 3 Trennen

Hauptgruppe 4 Fügen

Hauptgruppe 5 Beschichten

Stoff-eigen- schaft

Hauptgruppe 6 Stoffeigenschaftändern

durch Umlagern

von Stoffteilchen

Aussondern von

Stoffteilchen

Einbringen von

Stoffteilchen

Die Nutzung von Methoden und Erkenntnissen der Chemie in großtechnischen Synthe-sen und Fertigungstechniken bietet das Potential, naturwissenschaftliche Gesetzmäßig-keiten an technikrelevanten Beispielen zu betrachten. Die in den Bildungsplänen der Sowjetunion beschriebene polytechnische Bildung hatte das Ziel, die heranwachsende Generation theoretisch und praktisch mit allen Hauptzwei-gen der Produktion vertraut zu machen. Hierbei galt das Interesse vorrangig den Verfah-ren im Bereich der mechanischen und chemischen Produktion. Aus dieser Fokussierung erklärt sich auch die außerordentliche Bedeutung der Naturwissenschaften und der Ma-thematik für das Verständnis dieser Prozesse (vgl. Sapovalenko 1959; Bode 1975). Ent-sprechend explizit betonte auch der Bildungsplan der DDR technische Kontexte in ei-nem höheren Maß als die aktuellen Bildungsstandards (vgl. KMK 2004).

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204 Anja Sauer / Aylin Coskun

Der Lehrplan Chemie der DDR sah die Betrachtung der chemischen Industrie sowohl am Anfang als auch am Ende des Chemieunterrichtes in der Sekundarstufe I vor. Außerdem war im Lehrplan vorgesehen, dass in den Klassen 7 bis 10 mit durchschnittlich drei Un-terrichtsstunden neun technische Verfahren behandelt werden (vgl. Lehrplan Chemie 1972). Der Lehrplan von Sachsen-Anhalt hingegen enthält Hinweise zur Thematisierung von Beschichtungsverfahren unter dem Aspekt der Elektrochemie sowie eine explizite Bemerkung zur Betrachtung der Ammoniaksynthese, des Ostwald-Verfahrens, der Auf-bereitung und Veredelung von Erdöl und Erdgas sowie zur Schmelzflusselektrolyse von Aluminium (vgl. Lehrplan Sachsen-Anhalt 2003). Um eine erste Aussage über die Thematisierung von technischen Prozessen im Chemie-unterricht im Verlaufe der Zeit zu treffen, bieten sich Schulbücher als Untersuchungsge-genstand an. Denn Schulbücher interpretieren die Lehrpläne und werden deshalb von Lehrenden als konkrete Lehrplanübersetzung wahrgenommen (vgl. Stein 1977). Für einen zeitlichen Vergleich hat sich in der Schulbuchforschung die Längsschnittstudie etabliert. Sie ermöglicht Aussagen über die inhaltliche und gestalterische Schwerpunkt-verschiebung in den Untersuchungsgegenständen (vgl. Meyers 1976). Quantitative Aus-sagen über die untersuchten Schwerpunkte können mittels Frequenz- und Raumanalyse erhoben werden (vgl. Meyers 1976; Uhe 1976). Neben der Untersuchung des Inhalts hat sich außerdem die Analyse der verwendeten Strukturelemente bewährt. Eine Einteilung schlägt Sujew (1986) vor: Er unterteilt in textliche und außertextliche Komponenten, die nach ihren verschiedenen Funktionen dann weiter differenziert werden (vgl. Abb. 1). Texte, welche die verbindlichen Informationen für ein Thema enthalten, sind der Grund-text; zusätzliche Details befinden sich im Ergänzungstext, und Elemente, die das voll-ständige Erschließen und Aneignen des grundlegenden Stoffes ermöglichen – wie Wör-terverzeichnisse oder Bestimmungstabellen –, sind ein Erläuternder Text. Die Elemente des Apparates zur Organisation der Aneignung zielen direkt auf eine Wissensaneignung ab und setzen damit eine konkrete Schülertätigkeit voraus, zum Bei-spiel Aufgaben und Fragen. Illustrationen, die einen Sachaspekt darstellen oder künstle-risch sind, befinden sich in der Kategorie Illustrationsmaterial. Der Orientierungsappa-rat bietet den Lernenden eine Strukturierungshilfe für die Arbeit mit dem Buch (z.B. Gliederung des Buches, Bibliographie) (Sujew 1986). So konnte Sujew (1986) zeigen, dass die Nutzung verschiedener Strukturelemente eine Aussage über die Relevanz des jeweiligen Unterrichtsstoffes ermöglicht. Abb. 1 Kategoriensystem zur Einteilung verschiedener Strukturelemente nach Sujew (1986, Seite 103)

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Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989. Ein Vergleich 205

Für die vorliegende Untersuchung wurden exemplarisch zwei technische Themen aus-gewählt: Fertigungstechniken und großtechnische chemische Prozesse. Beide Themen sind aufgrund ihres Bezugs zur Chemie unterschiedlich stark im Lehrplan verortet und basieren in verschiedenem Maße auf den Fachmethoden der Chemie. 3. Ziel und Fragestellung Die Funktion des Schulbuches als „potentially intended curriculum“ (vgl. Beerenwin-kel/Totter 2011) impliziert, dass sich technische Themen in Chemieschulbüchern wie-derfinden. Allerdings ist anhand der Angaben in den Lehrplänen noch keine Aussage über die Intensität der Darstellung in Schulbüchern möglich. Trotzdem lässt sich auf-grund der expliziten Betonung der polytechnischen Bildung im Bildungssystem der ehemaligen DDR (vgl. Bode 1975) ein Unterschied in den Chemiebüchern vor und nach der Wiedervereinigung vermuten. Damit stellen sich exemplarisch für die Fertigungs-techniken und die großtechnischen chemischen Prozesse folgende Forschungsfragen: Zeigen sich Unterschiede in der Darstellung 1. der großtechnischen Prozesse und 2. der Fertigungstechniken in den Chemieschulbüchern aus dem Haus Volk und Wissen vor und nach der deutschen Wiedervereinigung

a) hinsichtlich der Wahl der technischen Verfahren, b) in Bezug auf den im Schulbuch genutzten Raum, c) in Bezug auf die Wahl der verwendeten Strukturelemente?

4. Untersuchungsmethode 4.1 Stichprobenwahl Die für die Untersuchung ausgewählten Chemieschulbücher (vgl. Tab. 2) sind für die Jahrgangsstufe 7 bis 10 konzipiert. Die Bücher Chemie stammen aus dem Verlagshaus Volk und Wissen. Chemie plus wurde ausgewählt, da dieses Buch ebenfalls im Verlags-haus Volk und Wissen – inzwischen Teil der Cornelsen Holding – veröffentlicht wurde. Außerdem war Barbara Arndt bei beiden Werken als Autorin tätig, wodurch eine gewis-se Konstanz innerhalb der Autorengruppe vorhanden ist.

Tab. 2 Die zur Analyse ausgewählten Chemieschulbücher

Verlag Schulbuch Jahr-gang

Erschei-nungsjahr

Seiten-zahl

Analyse-einheiten

Cornelsen / Volk und Wissen

Chemie plus Gymna-sium Sachsen-Anhalt

7|8 2004 223 204 9|10 2004 184 166

Volk und Wissen Chemie

7 1971 112 104 8 1969 207 194 9 1970 112 104 10 1971 127 118

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206 Anja Sauer / Aylin Coskun

Um die Veränderung der Schulbücher als Reaktion auf neue Lehrpläne als Einflussfaktor auf die Darstellung der Inhalte auszuschließen, wurden Bücher einer Reihe aus einer Dekade ausgewählt. Das Inhaltsverzeichnis und der Anhang der Chemieschulbücher wurden von der Untersuchung ausgeschlossen, da auf diesen Seiten keine Beschreibun-gen der Verfahren zu erwarten sind. 4.2 Untersuchungsinstrumente Instrumente zur Datenerhebung Die Analyse von Chemieschulbüchern auf technische Inhalte hin wurde mithilfe der Raumanalyse durchgeführt. Dieses Vorgehen ermöglicht eine Aussage über den genutz-ten Raum und daraus abgeleitet über die Bedeutung, die dem Thema innerhalb des Schulbuches beigemessen wird (vgl. Uhe 1976). Dazu wurden die beiden Schulbuch-bände sukzessiv auf Verfahren hin analysiert, die vorher in einem Diktionär festgelegt wurden (vgl. Tab. 3). Die Grundlage dieses Diktionärs waren einerseits die in DIN 8580 beschriebenen Hauptgruppen der Fertigungstechnik und die in materialwissenschaftli-cher Literatur beschriebenen Verfahren (vgl. Hornbogen 2006; Seidel/Hahn 2012); ande-rerseits wurden für die großtechnischen chemischen Prozesse unterrichtspraktische Lite-ratur (vgl. Sommer 1996) sowie Unterrichtshilfen für den Chemieunterricht nach dem Lehrplan der ehemaligen DDR (vgl. Meyendorf 1973) herangezogen. Die Validierung der Kodiereinheiten im Sinne der Inhaltsvalidität (vgl. Früh 2007; Mayring 2008) erfolg-te für die Fertigungstechniken durch eine Diskussion mit drei Experten1 aus dem Bereich Materialwissenschaft; für die großtechnischen Synthesen erfolgte die Validierung durch Abgleich mit der Literatur (vgl. Henglein 1994).

Tab. 3 Diktionär „Großtechnische Synthesen und Fertigungstechniken“

Chemisch-technisches Verfahren zur Herstellung von

anorganischen Grund-chemikalien

Ammoniaksynthese Gips-Schwefelsäure-Verfahren; Kalkbrennen/Kalklöschen Salpetersäureherstellung; Schwefelsäure-Kontaktverfahren (inkl.

Schwefeldioxid; Schwefeltrioxid)

makromolekularen Stoffen

Herstellung von Phenoplasten; Polyamid; PAN; Polyester; PE; PS; PVC

Kautschuksynthese

Metallen Aluminiumgewinnung Herstellung von Roheisen; Stahl

organischen Grund-chemikalien

Gärung bzw. Synthese von Ethanol; Ethansäure; Methanol; Methansäure

1 Die Expertengruppe setzte sich aus Prof. Dr. M. Pohl, Inhaber des Lehrstuhls für Werkstoffprüfung an der

Ruhr-Universität Bochum (RUB), Prof. Dr. A. Hartmaier, Lehrstuhlinhaber am Interdisciplinary Centre for Advanved Materials Simulation an der RUB, und Dr. F. Fischer, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde e.V. zusammen. (Unveröffentlichtes Transkript des Workshops „Darstellung von Materialwissenschaft in Chemieschulbüchern“ vom 08.03.2013, Bochum.)

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Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989. Ein Vergleich 207

Chemisch-technisches Verfahren zur Veredelung von

Kohle, Erdöl und Erdgas

Carbidherstellung Druckvergasung; Kohlevergasung Cracken; Erdölaufarbeitung Synthese von Ethen; Ethin; Methanal; Synthesegas Verkoken

Fertigungstechniken Urformen Gießen; Schmelzen; Schäumen; Blasen; Sintern

Umformen Pressen; Walzen; Hämmern; Schmieden; Ziehen; Schmelz-spinn-Verfahren; Biegen

Trennen Schneiden; Zerkleinern; Sägen; Bohren; Feilen; Fräsen; Schleifen; Ätzen

Fügen Thermit-Verfahren; Schweißen; Löten; Kleben

Beschichten

Bedampfen; Phosphorisieren; Ölen; Wachsen; Farbschicht; Keramikschicht; Kunststoffschicht; Lack;

Elektrolysieren (mit Nickel, Zinn, Chrom, Zink, Kupfer; Feuerverzinken; Eloxal-Verfahren); Galvanisieren

Stoffeigenschaftsänderung Härten; Legieren

Instrumente zur Datenauswertung Die mittels Diktionär identifizierten Verfahren wurden mithilfe von Kategoriensystemen einerseits auf die explizite Angabe von prozesstechnischen Aspekten und andererseits auf die im Buch verwendeten Strukturelemente hin analysiert. Im ersten Schritt wurde das genutzte Strukturelement analysiert und basierend auf der In-formation, ob die Nennung in einem kontinuierlichen oder nicht-kontinuierlichen Text vor-liegt (vgl. Ballstaedt 1997), wurden die Zeilenzentimeter bzw. die Fläche im Buch (vgl. Stoletzki 2013) ermittelt. Das zugrundeliegende Kategoriensystem für die Strukturelemente orientiert sich an der Einteilung nach Sujew (1986) und enthält aufgrund der Beschreibung der Kategorien typische Strukturelemente des Chemieschulbuches (vgl. Tab. 4).

Tab. 4 Kategoriensystem zur Einteilung verschiedener Strukturelemente in Chemie-schulbüchern2 (vgl. Sauer/Sommer 2014)

Texte Außertextliche Komponenten

Grundtext Ergänzungstext Apparat zur Organisation der Aneignung (AOA) Illustrationsmaterial (IM)

Texte Einleitungs-texte

Informations-texte

Arbeits-aufträge

Aufgaben Untertitel {Tabellen} Experimentieranleitung

{Fotos} {Abbildungen} {Diagramme} {Experimentieranordnung} {fachwissenschaftliche

Zeichen}

2 Die nicht-kontinuierlichen Texte wurden in Tabelle 4 in geschweifte Klammern gesetzt.

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208 Anja Sauer / Aylin Coskun

Es wurde der Raum im Buch erfasst, der Angaben zu den Ausgangsstoffen, Hilfsstoffen, Reaktionsprodukten, Reaktionsgleichungen, Nutzung von verfahrenstechnischen Prinzi-pien (Gegenstromprinzip, kontinuierliche Arbeitsweise, Kopplung von Prozessen) sowie apparative Informationen zum Aufbau der Reaktionsapparatur oder die Beschreibung der Prozessabläufe enthält. Außerdem wurden wirtschaftliche Angaben, wie die Menge an eingesetzten Ausgangsstoffen oder die benötigte Energie, gewertet. Zusätzlich wurden geographische Angaben erfasst. Darstellungen der zugrundeliegenden chemischen Me-thode bzw. Gesetzmäßigkeiten ohne einen Bezug zur praktischen Umsetzung wurden nicht gewertet. Enthält eine Zeile eine oder mehrere dieser Informationen, so wird sie gewertet. Wenn die Information in einem Satz dargestellt ist, der sich über mehrere Zei-len streckt, so wird auch die Zeile gezählt, in der der Satz endet. Enthält ein nicht-kontinuierlicher Text eine der oben genannten Informationen, so wird bei Elementen des IM die gesamte Fläche gezählt und bei Tabellen die Teilfläche der entsprechenden Zeile bzw. Spalte (siehe das Kodier-Beispiel in Abb. 2). Um die Reliabilität der Kategoriensysteme zu bestimmen, wurde die Intercoderreliabili-tät (nach Mayring, 2008) ermittelt. Hierfür wurden drei Verfahren (Thermit-Verfahren, Ammoniaksynthese, Carbid-Verfahren) ausgewählt, die hinsichtlich der Übereinstim-mung des genutzten Raumes und des verwendeten Strukturelementes überprüft wurden. Diese Verfahren wurden ausgewählt, um verschiedene technische Prozesse zu berück-sichtigen, die in beiden Büchern vorhanden sind.

Technische Herstellung – OSTWALD-Verfahren. Im Jahre 1908 entwickelte der deutsche Chemiker WILHELM OSTWALD (1853–1932) das nach ihm benannte Verfahren zur Herstellung von Salpetersäure, das bis heute hauptsächlich angewendet wird. Die katalytische Oxidation von Ammoniak erfolgt in einem Ammo-niakverbrennungsofen an einem äußerst feinmaschigen Platinnetz (etwa 2000 Maschen je cm2), an dem das Gasgemisch mit hoher Geschwindigkeit vorbeiströmt. Die Verweilzeit des Gasgemisches am Katalysator darf nicht mehr als 10–3 s betragen. In dieser Zeit reagiert das Gasgemisch aus Ammoniak und Sauerstoff (Luft) bei einer Temperatur von über 800°C zu Stickstoffmonooxid und Wasserdampf. Das Mischungsverhältnis zwischen Ammoniak und Sauerstoff muss dabei genau eingehalten werden, da die beiden Gase auch zu Stickstoff und Wasser reagieren können.

keine verfahrenstechni-schen Aspekte genannt

Angabe des Katalysa-tors und der Reaktions-bedingungen

Abb. 2 Kodier-Beispiel

5. Ergebnisse Bei der Analyse der zwei untersuchten Schulbuch-Bände Chemie und Chemie plus konn-te festgestellt werden, dass sowohl Fertigungstechniken als auch großtechnische Prozes-se präsentiert werden. Die Übereinstimmung der Strukturelemente lag bei R = 0.93 und für den zur Verfügung stehenden Raum bei R = 0.75, wobei eine Abweichung von 1 Prozent der Fläche bzw. der Zeilenzentimeter noch akzeptiert wurden.

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Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989. Ein Vergleich 209

5.1 Großtechnische Verfahren Es zeigt sich, dass die großtechnischen Synthesen in den untersuchten Chemieschulbü-chern ein großes Spektrum an Verfahren aufweisen (vgl. Tab. 5). Allerdings konnte auch festgestellt werden, dass einige Verfahren nur in einem der beiden Bände vertreten sind. So finden sich die meisten Verfahren für die Herstellung von makromolekularen Stoffen in Chemie. Bei der Hüttentechnik wird deutlich, dass beide Bände den Hochofenprozess betrachten; allerdings ist nur in Chemie heute die Gewinnung von Aluminium aus Bauxit dargestellt. Bei den Verfahren zur Veredelung von fossilen Energien ist festzustellen, dass Verfahren zur Weiterverarbeitung von Kohle nur in Chemie betrachtet werden, während Verfahren zur Destillation von Öl in beiden Bänden von Relevanz sind. Den geringsten Unterschied zeigen die beiden Bände bei den Herstellungsverfahren für anor-ganische Grundchemikalien.

Tab. 5 Vorkommen der Verfahren für großtechnische Synthesen in den Schulbuch-Bänden3

Anorganische Grundchemikalien Ammoniaksynthese Gips-Schwefelsäure-VerfahrenA; Kalkbrennen/Kalklöschen Salpetersäureherstellung; Schwefelsäure-Kontaktverfahren (inkl. SO2; SO3) Makromolekulare Stoffe Herstellung von PhenoplastenA; PAA; PANA; Polyester; PE; PSA; PVC Kautschuksynthese Metalle AluminiumgewinnungB Herstellung von Roheisen; Stahl Organische Grundchemikalien Gärung bzw. Synthese von Ethanol; Ethansäure; MethanolA; MethansäureA Veredelung von Kohle, Erdöl und Erdgas Carbidherstellung Druckvergasung; KohlevergasungA Cracken; Erdölaufarbeitung Synthese von Ethen; Ethin; Methanal; Synthesegas VerkokenA

Bei der Betrachtung des genutzten Raumes werden die Unterschiede noch deutlicher (vgl. Abb. 3 auf der folgenden Seite). In Chemie nehmen die großtechnischen Synthesen eine Fläche von 4.432 cm2 und einen Zeilenumfang von 1.768 Zeilenzentimeter ein. Dies sind 12 Prozent der Gesamtzeilen und 19 Prozent der Fläche an nicht-kontinuier-lichen Texten im gesamten Band. Chemie plus hingegen präsentiert 755 Zeilenzentime-ter (5 Prozent der Gesamtzeilen) und 1099 cm2 (3 Prozent der Gesamtfläche). Damit zeigt sich ein deutlicher Schwerpunkt bei der Betrachtung von großtechnischen Synthe-sen im DDR-Band.

3 In Tabelle 5 sind die Verfahren, die nur im Band Chemie identifiziert wurden, mit „A“ gekennzeichnet, und die nur im Band Chemie plus gefunden wurden, mit „B“. Verfahren ohne Kennzeichnung sind in beiden enthalten.

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210 Anja Sauer / Aylin Coskun

Abb. 3 Anzahl der Zeilenzentimeter und Flächen für großtechnische Synthesen in den Bänden Chemie und Chemie plus

Einen großen Unterschied kann man bei der Betrachtung des Hochofenprozesses und der Fertigung zu Stahl beobachten. Während Chemie plus den Hochofenprozess als Ausblick im Thema Redoxreaktionen darstellt und einen kurzen Text sowie die Reaktionsglei-chung präsentiert, widmet Chemie diesem Prozess sechs Seiten, auf denen der Aufbau des Hochofens, die verfahrenstechnischen Prinzipien sowie die wirtschaftlichen Aspek-te betrachtet werden. Dem entsprechend wurden 221 Zeilen und 348 cm2 in Chemie zum Thema Hochofenprozess und Stahlherstellung identifiziert, aber nur 35 Zeilen und 131 cm2 in Chemie plus. Dafür ist bei der technischen Elektrolyse von Aluminium ein umgekehrter Trend zu konstatieren. Dieses Thema findet sich nur in Chemie plus; hier wird ein Raum von 40 Zeilen und 60 cm2 genutzt. Es werden der schematische Aufbau eines Elektrolyseofens, eine Beschreibung der Vorgänge in der Elektrolysezelle und eine Fotografie von einem Abstich dargestellt. Die Ammoniaksynthese hingegen wird in beiden Bänden präsentiert. Allerdings zeigt sich, dass das Kapitel „Technische Ammoniaksynthese“ (Chemie 10) neun Seiten um-fasst, das Kapitel „Technische Herstellung von Ammoniak – die Ammoniaksynthese“ (Chemie plus 7/8) zwei Seiten. Beide Bücher enthalten die gleichen Schwerpunkte: che-mische Grundlage, Reaktionsbedingungen und technische Umsetzung. Allerdings wer-den im Buch Chemie 10 zusätzlich der Aufbau der verschiedenen Reaktionsapparate beschrieben sowie die gesellschaftliche Bedeutung der Ammoniaksynthese für die sozia-listische Gesellschaft diskutiert. In Chemie konnten außerdem bei den Darstellungen von großtechnischen Prozessen geo-graphische Angaben zu den Produktionsstandorten in der ehemaligen DDR identifiziert werden. So findet sich bei der Ammoniaksynthese ein Bezug zum VEB-Werk „Walter Ulbricht“ (Chemie), während in Chemie plus der Hinweis erfolgt, dass Ammoniak in Deutschland und weltweit produziert wird. Gleiches konnte für weitere zwölf Verfahren in Chemie identifiziert werden. In Chemie plus hingegen finden sich lediglich noch die Lagerstätten für Salpeter als Hauptbestandteil für die Salpetersäureherstellung.

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Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989. Ein Vergleich 211

Durch die konzentrierte Darstellung der Verfahren in einzelnen Kapiteln findet sich eine Vielzahl an verwendeten Strukturelementen. Es zeigt sich, dass in allen Hauptgruppen der Text das meistverwendete Strukturelement ist und zwischen 296 (Herstellung von Metallen) bis 1.062 Zeilenzentimeter (Herstellung von anorganischen Grundchemika-lien) umfasst. Dies wird durch weitere außertextliche Elemente unterstützt. Hier zeigt sich für die Bände jedoch kein Unterschied in der Wahl der Strukturelemente, lediglich in der genutzten Fläche (vgl. Abb. 1). Damit kann festgestellt werden, dass der Band Chemie ein ausführlicheres Bild von großtechnischen Prozessen enthält. Denn er stellt mehr Verfahren dar und bieten durch die Konzeption von ausführlichen Kapiteln zu technischen Aspekten der Verfahren die Möglichkeit, verfahrenstechnische, ökonomische und geographische Details zu betrach-ten. Diese Informationsfülle wird im Band Chemie plus, der nach der Wiedervereinigung veröffentlicht wurde, nicht mehr präsentiert.

5.2 Fertigungstechniken Für die Fertigungstechniken zeigt sich, dass in beiden Bänden alle sechs Hauptgruppen der Fertigungstechniken vertreten sind (vgl. Tab. 6). Es lassen sich allerdings große Unterschiede in der Anzahl der betrachteten Verfahren sowie im dafür genutzten Raum feststellen. Chemie plus betrachtet eine Vielzahl von Galvanisierungsverfahren sowie die Nutzung verschiedener Materialien als Überzug zum Schutz vor Rost. Der Rostschutz findet sich auch im Band Chemie, jedoch ohne die Darstellung verschiedener Galvanisie-rungen. Auch die weiteren Hauptgruppen sind in Chemie vertreten, jedoch bis auf das Fügen und Beschichten mit je einem Verfahren. Hier zeigt Chemie plus eine größere Bandbreite an Verfahren und stellt auch die Fertigung verschiedener Stoffklassen dar. So werden hier bei den Urformprozessen sowohl das Gießen von Metallen als auch das Schmelzen von Glas präsentiert.

Tab. 6 Verfahren der Fertigungstechnik in den Schulbuch-Bänden4

Diese Unterschiede äußern sich auch in den Daten der Raumanalyse (vgl. Abb. 4). Hier lässt sich erkennen, dass Chemie plus in fünf der sechs Hauptgruppen höhere Ergebnisse in der Raumanalyse zeigt. Lediglich bei den Fügetechniken konnten größere Räume in

4 Kennzeichnung analog zu Tab. 5.

Urformen Fügen Stoffeigenschaftsänderung Gießen SchmelzenB

KlebenB Schweißen Thermit-Verfahren

Legieren

Umformen Trennen Beschichten PressenB SchmiedenB Walzen ZiehenB

ÄtzenB BeizenB SchleifenB Schneiden

GalvanisierenB (Vernickeln, Versilbern, Verzinken) KunststoffüberzugB Lackanstriche Ölschicht RostschutzA

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212 Anja Sauer / Aylin Coskun

Chemie identifiziert werden. Im Band Chemie wurden rund 192 cm2 und 87 Zeilen iden-tifiziert, die eine Fertigungstechnik darstellen. Davon betrafen allein 58 Zeilen Füge-techniken. Der Raum für die Fertigungstechniken entspricht im Vergleich zu den gesam-ten Zeilen und Flächen des Bandes jedoch nur einem relativen Anteil von 0,6 bzw. 0,7 Prozent. In Chemie plus konnte ein größerer Raum identifiziert werden. Insgesamt sind 160 Zeilen und 415 cm2 vorhanden, die sich jedoch gleichmäßiger auf die einzelnen Hauptgruppen verteilen als in Chemie. Jedoch liegt auch hier der relative Anteil nur bei 0,9 bzw. 1 Prozent. Damit kann festgestellt werden, dass dieses Thema nur einen sehr geringen Umfang in den Bänden einnimmt. Im Gegensatz zu den großtechnischen Synthesen enthalten die Bände bei den Ferti-gungstechniken keine geographischen Angaben.

Abb. 4 Anzahl der Zeilenzentimeter und Flächen für Fertigungstechniken in den Bänden Chemie und Chemie plus

Bei den Strukturelementen zeigt sich, dass der Text das meistverwendete Element in beiden Bänden ist (n = 129 Zeilenzentimeter). Mit deutlichem Abstand werden Aufga-ben (n = 43) und Infotexte (n = 31) eingesetzt. Entsprechend der Verteilung der Räume in beiden Bänden befindet sich die Hälfte der Zeilen, in denen eine Fertigungstechnik dargestellt wird, in einem Text. Bei den nicht-kontinuierlichen Texten zeigen sich Unterschiede hinsichtlich der Wahl der Strukturelemente. Während im Band Chemie hauptsächlich Abbildungen verwendet werden (A = 71 cm2), nutzt Chemie plus überwiegend Fotos (A = 305 cm2). Insgesamt werden jedoch sämtliche außertextlichen Strukturelemente in beiden Büchern verwen-det. Für die Hauptgruppen zeigt sich ein interessantes Phänomen. In Chemie plus findet sich die größte Fläche für ein Verfahren beim Schneiden (A = 105 cm2), allerdings nur fünf Zeilenzentimeter in einem Text. Damit wird dieses Verfahren überwiegend bildlich dargestellt, ohne dass die Möglichkeit aufgegriffen wird, die zugrundeliegenden chemi-schen Vorgänge ausführlich darzustellen. Die meisten Zeilen (n = 42) hingegen werden

0 20 40 60 80 100 120 140 160 180

StoffeigenschaftsändernBeschichten

FügenTrennen

UmformenUrformen

Chemie plus - Fläche [qcm] Chemie plus - Zeilenzentimeter

Chemie - Fläche [qcm] Chemie - Zeilenzentimeter

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Chemieschulbücher des Verlags Volk und Wissen vor und nach 1989. Ein Vergleich 213

in Chemie plus für das Schweißen verwendet, davon 26 Zeilenzentimeter in einem Info-text. Es wird deutlich, dass dieses Verfahren zwar den größten Anteil an Zeilenzentime-tern einnimmt, dies jedoch nicht essentiell für den Lerninhalt ist. In Chemie hingegen lässt sich ein deutlicher Fokus auf das Thermit-Verfahren (n = 53 Zeilenzentimeter) erkennen. Dieses konnte in sämtlichen nicht-kontinuierlichen Texten (n = 115 cm2) sowie kontinuierlichen Texten (n = 53 Zeilenzentimeter), die im Buch vorhanden sind, identifiziert werden. Durch diese Darstellung wird das Thermit-Verfahren aus verschie-denen Perspektiven betrachtet. Auch findet sich im Buch Chemie 7 ein dreiseitiges Kapi-tel zum Thema „Aluminothermisches Schweißen“. Umgekehrt zeigt sich jedoch auch, dass die übrigen Verfahren der Fertigungstechnik nur einen sehr begrenzten Darstel-lungsrahmen erhalten. 6. Beantwortung der Fragestellung und Diskussion Basierend auf der Analyse der Chemieschulbücher Chemie und Chemie plus kann eine Aussage zur Darstellung von Fertigungstechniken und großtechnischen Prozessen ge-troffen werden. Es konnte festgestellt werden, dass zwischen dem Band der ehemaligen DDR und dem Band für Sachsen-Anhalt deutliche Unterschiede in der Thematisierung von technischen Prozessen zu erkennen sind. Chemie (DDR) präsentiert eine größere Bandbreite an Verfahren (vgl. Tab. 3) und stellt dafür einen rund dreimal größeren Raum zur Verfügung als Chemie plus (Sachsen-Anhalt; vgl. Abb. 3). Außerdem werden die verfahrenstechnischen Details vielfach durch geographische Bezüge unterstützt. Bei der Wahl der Strukturelemente zeigen sich hingegen keine Unterschiede. Beide Bände nut-zen verschiedene textliche und außertextliche Strukturelemente – insbesondere Texte und Aufgaben. Durch die Konzeption einzelner Kapitel oder Teilkapitel werden die großtechnischen Prozesse ganzheitlich betrachtet. Damit zeigt sich einerseits, dass in beiden Bänden die Technische Chemie ein essentiel-ler Bestandteil des Chemieunterrichtes ist, und andererseits, dass dieses Thema im Band aus der DDR einen deutlich höheren Stellenwert besaß. Die Fertigungstechniken hingegen erleben in Chemie plus quantitativ eine Verstärkung sowohl in Bezug auf die Anzahl der Verfahren als auch auf die genutzte Fläche. Aller-dings ist der Flächenanteil der Fertigungstechniken im Vergleich zur Gesamtfläche der Bücher in beiden Bänden so gering, dass nur mit Einschränkungen von einem Anstieg in Chemie plus gesprochen werden kann. Die Wahl des Strukturelementes deutet jedoch auf keine Einbindung in die verbindlichen Inhalte des Chemieschulbuches hin. Für die Fertigungstechniken kann damit lediglich eine inhaltliche Veränderung identifiziert wer-den, was an der Schwerpunktverschiebung für die Fügetechniken zu Gunsten der Be-schichtungsverfahren deutlich wird. Ursachen dafür können in den Lehrplänen identifiziert werden. Während der Lehrplan der DDR (1972) explizit den Beitrag der Chemie zur polytechnischen Bildung betont und eine Vielzahl von technischen Verfahren mit einem großzügigen Stundendeputat in den Vorgaben aufführt, sind im Lehrplan von Sachsen-Anhalt (2003) lediglich vier Ver-fahren angesprochen. Die Ursache für den geringen Stellenwert der Fertigungstechniken in beiden Bänden lässt sich in Sachsen-Anhalt in der schwachen Berücksichtigung im Lehrplan (2003) und in der DDR in der Verortung des Themas im Unterrichtsfach „Ein-

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214 Anja Sauer / Aylin Coskun

führung in die sozialistische Produktion“ – welches den Rahmen zur praktischen und theoretischen Betrachtung von Fertigungstechniken bot (vgl. Bode 1975) – vermuten. Basierend auf den Änderungen in den Lehrplänen kann auch für die Chemieschulbücher aus dem Verlagshaus „Volk und Wissen“ vor und nach 1989 ein Wandel bei der Be-trachtung der Technischen Chemie konstatiert werden, während die Fertigungstechniken ein Nischenthema bleiben. Literatur Untersuchte Schulbücher Chemie 7 (1971). 5. Aufl., 1. Druck. Berlin-Ost: Volk und Wissen. Chemie 8 (1969). 7. Aufl., 1. Druck. Berlin-Ost: Volk und Wissen. Chemie 9 (1970). 6. Aufl., 1. Druck. Berlin-Ost: Volk und Wissen. Chemie 10 (1971). 5. Aufl., 1. Druck. Berlin-Ost: Volk und Wissen. Chemie plus Gymnasium Klasse 7|8 Sachsen-Anhalt (2004). 1. Aufl., 1. Druck. Berlin: Cornelsen. Chemie plus Gymnasium Klasse 9|10 Sachsen-Anhalt (2004). 1. Aufl., 1. Druck. Berlin: Cornelsen. Sekundärliteratur und Internetquellen Ballstaedt, Steffen-Peter (1997): Wissensvermittlung. Die Gestaltung von Lernmaterial. Weinheim: Beltz/Psy-

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forschung

forschung

„1989“ und Bildungsmedien“1989” and Educational Media

Eva MatthesSylvia Schütze(Hrsg./Eds.)

978-3-7815-2085-1

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes befassen sich mit den

Auswirkungen, die „1989“ – verstanden als Chiffre für die funda-

mentalen politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa um

1989, häufig als „Wende“, zutreffender als „(Friedliche) Revolution“

bezeichnet – auf Bildungsmedien hatte.

Dabei geht es zum einen um die veränderten Produktionsbedingungen

und die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor die Autorinnen und

Autoren sowie Verleger von Bildungsmedien sich in den ehemals sozia-

listischen Ländern gestellt sahen.

Des Weiteren behandeln etliche Beiträge inhaltliche Veränderungen

in Lehrmitteln für einzelne Fächer, die den politisch-gesellschaftlichen

Veränderungen in den betreffenden Ländern einschließlich der ehema-

ligen DDR geschuldet waren. Dies betrifft u.a. die Fächer Heimatkunde,

Englisch, Chemie, Biologie, Geschichte und Geographie.

Neben diesen Beiträgen aus Deutschland, Polen, Rumänien, Russland,

Serbien und Tschechien geht es auch um die Darstellung des verein-

ten Deutschlands und des veränderten Europas in Schulbüchern von

Ländern, die selbst nicht von den Umwälzungen betroffen waren – in

England, Finnland, Italien, Norwegen und der Schweiz.

Die Herausgeberinnen

Prof. Dr. Eva Matthes, geboren 1962, ist Lehr-

stuhlinhaberin für Pädagogik an der Universität

Augsburg.

Sylvia Schütze, geboren 1957, ist wissenschaft-

liche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswis-

senschaft der Leibniz Universität Hannover und

an der Wissenschaftlichen Einrichtung Oberstu-

fenkolleg der Universität Bielefeld.

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Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuch- und Bildungsmedienforschung