Ab h ä n g i g k e i t - IBIOim Gehirn, das Serotonin. Die Opiate (z. B. Heroin), Cannabis und...

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1 Drogensucht stellt in unseren Wohl- standsgesellschaften ein wachsendes Problem dar und ist wegen ihres Einflusses auf Kriminalität und Gesundheit mit gros- sen sozialen und wirtschaftlichen Kosten verbunden. In den letzten fünfzig Jahren bestand unsere Politik darin, Süchtige als Kriminelle zu behandeln und zu bestrafen, aber offensichtlich ist es dadurch nicht gelungen, eine Zunahme des Drogen- missbrauchs zu verhindern. Auch Kampagnen, welche die Leute über die Gefahren von Drogen, Tabak und Alkohol aufklären sollten, zeigten nur eine relativ kleine Wirkung. Die Neurowissenschaften verstehen Sucht mehr und mehr als eine organische Störung der Hirnfunktionen; wenn diese Einsicht vermehrt anerkannt würde, könnten Süchtigen wirksamere Behandlungsformen angeboten werden. Die Definition von „Sucht“ hat sich in den letzten Jahren verändert. Früher ge- brauchte man den Ausdruck ausschliess- lich im Zusammenhang mit „harten“ Drogen, wie Heroin, das bei gewohnheits- mässigem Konsum zu offenkundigen Anzeichen von Toleranz und körperlicher Abhängigkeit und beim Absetzen der Droge zu einem schmerzvollen oder gar lebensgefährlichen Entzugssyndrom führt. Heute ist in der Psychiatrie der Ausdruck „Abhängigkeit (von einer Substanz)“ geläufig, der sowohl die psy- chische Abhängigkeit (möglicherweise ohne erkennbares Entzugssyndrom oder Toleranz) als auch die körperliche Ab- hängigkeit umfasst. Wer Zigaretten raucht und nicht davon los kommt oder wer Cannabis raucht und von dieser Gewohn- heit beherrscht wird, ist trotz der ver- gleichsweise geringen Entzugssymptome im Falle eines Absetzens der Droge nicht weniger süchtig als der chronische Heroinkonsument. Leslie Iversen, Pharmakologisches Institut, Universität Oxford, England 1 ABHÄNGIGKEIT 2 DAS PROBLEM DES RÜCKFALLS 2, 3 & 4 HIRNMECHANISMEN IM ZUSAMMENHANG MIT SUCHT 4 HINWEISE AUS DER FORSCHUNG 5 & 6 INDIVIDUELLE SUCHTANFÄLLIGKEIT EuroBrain Vol.1, N°2 – Juli / August 1999 The European Dana Alliance for the Brain CONTACT Béatrice Roth, Ph.D. Institut de Physiologie 7, rue du Bugnon CH-1005 Lausanne Switzerland Tél./Fax: +41 21 692 55 25 [email protected] Elaine Snell Vicarage House 58-60 Kensington Church Street London W8 4DB UK Tel.: +44 171 937 7713 Fax: +44 171 937 4314 [email protected] Abhängigkeit

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Drogensucht stellt in unseren Wo h l-standsgesellschaften ein wachsendesProblem dar und ist wegen ihres Einflussesauf Kriminalität und Gesundheit mit gros-sen sozialen und wirtschaftlichen Kostenverbunden. In den letzten fünfzig Jahrenbestand unsere Politik darin, Süchtige alsKriminelle zu behandeln und zu bestrafen,aber offensichtlich ist es dadurch nichtgelungen, eine Zunahme des Drogen-missbrauchs zu verhindern. AuchKampagnen, welche die Leute über dieGefahren von Drogen, Tabak und Alkoholaufklären sollten, zeigten nur eine relativkleine Wirkung. Die Neurowissenschaftenverstehen Sucht mehr und mehr als eineorganische Störung der Hirnfunktionen;wenn diese Einsicht vermehrt anerkanntwürde, könnten Süchtigen wirksamereBehandlungsformen angeboten werden.Die Definition von „Sucht“ hat sich in denletzten Jahren verändert. Früher ge-brauchte man den Ausdruck ausschliess-

lich im Zusammenhang mit „harten“Drogen, wie Heroin, das bei gewohnheits-mässigem Konsum zu offenkundigenAnzeichen von Toleranz und körperlicherAbhängigkeit und beim Absetzen derDroge zu einem schmerzvollen odergar lebensgefährlichen Entzugssyndromf ü h r t . Heute ist in der Psychiatrie derAusdruck „Abhängigkeit (von einerSubstanz)“ geläufig, der sowohl die psy-chische Abhängigkeit (möglicherweiseohne erkennbares Entzugssyndrom oderToleranz) als auch die körperliche Ab-hängigkeit umfasst. Wer Zigaretten rauchtund nicht davon los kommt oder werCannabis raucht und von dieser Gewohn-heit beherrscht wird, ist trotz der ver-gleichsweise geringen Entzugssymptomeim Falle eines Absetzens der Droge nichtweniger süchtig als der chronischeHeroinkonsument.

Leslie Iversen, Pharmakologisches Institut,Universität Oxford, England

1 ABHÄNGIGKEIT2 DAS PROBLEM

DES RÜCKFALLS2, 3 & 4 HIRNMECHANISMEN

IM ZUSAMMENHANGMIT SUCHT

4 HINWEISEAUS DER FORSCHUNG5 & 6 INDIVIDUELLE

SUCHTANFÄLLIGKEIT

E u r o B r a i n Vol.1, N°2 – Juli / August 1999

TheEuropean

Dana Alliancefor the Brain

CONTACT

Béatrice Roth, Ph.D.Institut de Physiologie 7, rue du BugnonCH-1005 LausanneSwitzerlandTél./Fax: +41 21 692 55 [email protected]

Elaine SnellVicarage House58-60 Kensington Church StreetLondon W8 4DB UKTel.: +44 171 937 7713Fax: +44 171 937 [email protected]

Ab h ä n g i g k e i t

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WIE WIRKEN DROGENAUF DAS GEHIRN?Das Verständnis der Mechanismen, überwelche Abhängigkeit erzeugende Sub-stanzen auf das Gehirn einwirken, hatwesentlich zugenommen. Denken wir etwaan die „Psychostimulantien“ – eine grosseGruppe von Substanzen, zu denen Kokainund verschiedene Amphetamine gehören.Ihre Wirkung besteht in einer Stimulierungjener Rezeptoren, die auf den Neuro-transmitter Dopamin ansprechen. Kokainverhindert die Desaktivierung von Dopa-min nach seiner Freisetzung durch die

Nervenendungen im Gehirn – ein Vo r g a n g ,bei welchem die freigesetzte Substanz vonden Nervenendungen wieder aufgenom-men wird. Wenn dies verhindert wird, stehtmehr Dopamin zur Verfügung, um dieHirnrezeptoren zu stimulieren. Die Wirkungder Amphetamine beruht darauf, dass siedas Dopamin von den Nervenendungenverdrängen. Die rave dance - D r o g eEcstasy ist ein Amphetaminderivat, dasdie anregenden (Dopamin) Eigenschaftenmit einer leichten halluzinogenenWirkung kombiniert – diese beruhtvermutlich auf der Stimulierung derRezeptoren für einen anderen Botenstoffim Gehirn, das Serotonin. Die Opiate (z. B.Heroin), Cannabis und Nikotin beeinflus-sen je besondere im Gehirn vorhandeneRezeptoren, welche auf diese Drogenansprechen. Wenn sich die Droge an denRezeptor bindet, löst sie die Aktivierungder Nervenzellen aus. Man mag sich fra-gen, weshalb das Gehirn über solcheRezeptoren verfügt, da es sich bei diesenDrogen ja um pflanzliche Produkte handelt,die im Gehirn nicht natürlicherweisevorkommen. Der Grund dafür bestehtdarin, dass für die Aktivierung eines jedendieser Rezeptoren sehr wohl natürlicheSubstanzen existieren und dass dieDrogenmoleküle diese normalen Mechanis-men des Gehirns in Beschlag nehmen.Ausgerechnet beim Alkohol wissen wirnicht genau, wie er wirkt; aber man vermu-tet, dass er die Empfindlichkeit des Gehirnsauf das grundlegende chemische Signaldes „Ein- und Ausschaltens“ (durch Gluta-minsäure und GABA) verändert und soseine Erregbarkeit herabsetzt.

DER „SCHALT K R E I SDES WOHLBEFINDENS“Die Erkenntnis des Wirkmechanismusdieser Substanzen erklärt noch nicht,

Hi rnmechanismenZusammenhang m

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DAS PROBLEM DES RÜCKFALLSZusätzlich zur Veränderung des Gehirns und des Verhaltens als Folgedes chronischen Drogenkonsums, sind möglicherweise auch dieUmwelt und Gewohnheiten Faktoren, welche die Funktionsweise desGehirns verändern und die Wirkungen der Droge beeinflussen. DieseUmweltfaktoren oder bedingten Auslöser – etwa Leute, Orte undDinge, die mit dem Drogenkonsum in Verbindung gebracht wurden –können bei der Entstehung einer Sucht eine wesentliche Rolle spielen.Auch wenn gar keine Drogen vorhanden sind, können diese Auslöserein gewaltiges Verlangen nach ihnen hervorrufen. Dieses Verlangen,dieser starke und überwältigende Wunsch, eine Droge zu konsumie-ren, kann bei einem ehemals Süchtigen sogar noch nach Jahrenerfolgreicher Abstinenz einen Rückfall herbeiführen.Eine lebenslange völlige Abstinenz kommt relativ selten vor; Rückfälleentsprechen eher der Norm. Deshalb sollte man eine Sucht eher wieeine chronische Krankheit – etwa Diabetes, chronisch erhöhtenBlutdruck – und nicht wie eine akute Erkrankung – etwa einen bakte-riellen Infekt oder einen gebrochenen Knochen – behandeln. DasVerlangen und den Rückfall als einen wesentlichen Teil der Suchtanzusehen ist für die Entwicklung von Behandlungsstrategien vongrösster Bedeutung. Insbesondere müssen diese Strategien es demPatienten ermöglichen, Verhaltensweisen zu entwickeln, die es erlau-ben, noch lange nach Beendigung der eigentlichen Therapie mitAuslösern umzugehen, die mit der Droge in Zusammenhang gebrachtwerden.

Alan Leshner, Ph.D.

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weshalb sie zu Abhängigkeit führen.Zudem scheint durch die verschiedenenTypen von Drogen eine verwirrendeVielzahl unterschiedlicher Hirnvorgängeaktiviert zu werden. Entsprechend grosswar das Interesse, als sich ersteAnzeichen von gemeinsamen Wirk-mechanismen sich abzuzeichnen began-nen. Eine Reihe von bedeutendenForschungsergebnissen weist darauf hin,dass alle uns bekannten Abhängigkeiterregenden Drogen denselben Hirnvor-gang aktivieren: Es handelt sich dabeium die Aktivierung des Dopamin-Mechanismus in einem Gebiet desVorderhirns, dem sogenannten Nucleusaccumbens (Fig. 1). Dieses kleine dopa-minhaltige Gebiet im Gehirn, liegt unterden grösseren, für die Bewegungskontrolleverantwortlichen, dopaminhaltigen Zentren– dem Nucleus caudatus und Putamen. DerNucleus accumbens gehört zum limbi-schen System des Vorderhirns, das füremotionales Verhalten sowie für Schmerzund Wohlbefinden bedeutsam ist. DirekteMessungen der Dopaminfreisetzung imGehirn von Tieren, denen man feineSonden in den Nucleus accumbenseingeführt hatte, ergaben, dass Kokain,Amphetamine, Alkohol, Nikotin undCannabis eine Wirkung gemeinsam haben:Sie bewirken einen erhöhten Dopamin-spiegel. Werden die Drogen nur in kleinenMengen verwendet, weist nur der Nucleusaccumbens einen erhöhten Dopamin-spiegel auf. Zudem fand man, dass Ratten,deren Dopamin enthaltenden Nervenen-dungen im Nucleus accumbens (durch dasselektiv wirkende Neurotoxin 6-Hydroxy-dopamin) zerstört worden waren, sichnicht mehr selbst Amphetamine oderKokain verabreichten. Könnte es also sein,dass die Freisetzung von Dopamin imNucleus accumbens der gemeinsame

Mechanismus ist und den angenehmenWirkungen dieser Drogen zu Grunde liegt?Somit würden also die Drogen lediglicheinen normalen Hirnvorgang ausnützen,dessen angenehme oder „verstärkende“Reize dazu beitragen, dass das Tier lernt,ein bestimmtes Verhalten zu wiederholen.Sucht liesse sich demnach als ein „fehlge-

leitetes Lernen“ verstehen – die Drogenverwenden Hirnvorgänge, die normaler-weise für das kognitive und emotionaleLernen nötig sind, und leiten ihre Funktionfehl; dadurch „lernt“ die süchtige Person,die Droge weiterhin zu konsumieren.

ABHÄNGIGKEIT ERZEUGENDEM E C H A N I S M E NZu verstehen, wie Abhängigkeit hervorru-fende Drogen auf das System der chemi-

schen Botenstoffe im Gehirn einwirken,macht es sicher leichter, einen gemein-samen Nenner zu finden, aber reicht nichtaus, um den Vorgang der Sucht, der aufeiner allmählichen Anpassung normalerHirnvorgänge beruhen muss, zu erklären.Daher wendet sich die Forschung heutevor allem der Frage zu, in welcher We i s e

eine wiederholte Drogenexposition zueiner Veränderung der in den Hirnzellenexprimierten Genmuster führen könnte;dies würde dann zu einer Veränderung dervon ihnen produzierten Proteine führenund damit lang andauernde Ve r ä n d e-rungen der Nerventätigkeit verursachen.Zwar wurden, was das Erkennen vonVeränderungen der Expression gewisserGene – insbesondere jener der „CREB“-Familie von Transkriptionsfaktoren –

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Hirnstrukturen, die durch Abhängigkeit erzeugendeSubstanzen betroffen sind. Das mesolimbische

Dopaminsystem hat seinen Ursprung im ventralenTegmentum des Mittelhirns (V TA) und projiziert in den

Nucleus accumbens (N A). Die Amygdala (A), derHippocampus (H C) und der mediale präfrontale Cortex

(P F C) senden exzitatorische Axone in den NucleusAccumbens (N A). C, Nucleus Caudatus (Striatum).

Figur 1

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Fortschritte erzielt, doch zeigt sich bisherkein gemeinsamer Nenner für dieWirkungsweise der verschiedenen Ab-hängigkeit erzeugenden Drogen.Trotzdem wurden gewisse Gemeinsam-keiten bei Abhängigkeit erzeugendenDrogen gefunden, die scheinbar sehrunterschiedliche Wirkmechanismen auf-weisen. Beispielsweise aktiviert Cannabis,ebenso wie andere Sucht erzeugendeDrogen die Freisetzung von Dopamin imNucleus accumbens; diese Wirkungkommt aber offensichtlich indirekt zu-stande über die Aktivierung eines Opiat-systems im Gehirn. Werden die Ti e r emit der Substanz Naloxon behandelt,welche selektiv die Hirnrezeptoren fürOpiate hemmt, vermag Cannabis keineFreisetzung von Dopamin zu bewirken.Ausserdem finden sich bei Tieren, die wie-derholt mit hohen Dosen von Cannabisbehandelt wurden, gewisse Zeichen eineskörperlichen Entzugs, wenn man ihnenNaloxon verabreicht. Mit der SubstanzNaltrexon, einem anderen Opiat-Rezeptor-Antagonisten, konnten chronische Alkoho-liker erfolgreich vor Rückfällen bewahrtwerden – ein Hinweis darauf, dass auchAlkohol Opiat-Mechanismen im Gehirnaktivieren könnte.

ZUKÜNFTIGEBEHANDLUNGSMÖGLICHKEITENTrotz der grossen Bedeutung, die diesesForschungsgebiet hat, wenn es umzukünftige Behandlungsstrategien geht,stehen zur Zeit bedauerlich wenig Mittelzur Verfügung. Wenn wir an Behandlungendenken, die dazu beitragen könnten,Süchtige von ihrem Stoff zu entwöhnen,müssen wir verschiedene Zielvor-stellungen entwickeln: darauf hin wirken,dass das Verlangen nach der Droge nach-lässt; mithelfen, dass die psychischen und

physischen Entzugssymptome erträglichwerden; dazu beitragen, den gebessertenSüchtigen vor dem Rückfall zu bewahren.Zur Zeit sind wir keinem dieser Ziele sehrnahe. Die beste Strategie, über die wirmomentan verfügen, besteht darin, dieSüchtigen mit einer sichereren Form derDroge selbst zu behandeln – den

Heroinsüchtigen mit Methadon, denZigarettenraucher mit Nikotinpflasternoder Kaugummis. Um dem Problem wir-kungsvoll begegnen zu können, brauchenwir aber sowohl differenziertere als auchwirksamere Methoden.

Leslie Iversen, Pharmakologisches Institut,Universität Oxford, England

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HINWEISE AUS DER FORSCHUNGMan weiss heute mehr über den Zusammenhang von Hirnvorgängenund Drogenmissbrauch als über beinahe irgend ein anderen Bereich derHirnfunktionen. Grund dafür sind Aufsehen erregende Fortschritte derletzten zwei Jahrzehnte im Bereich der Neuro- und derVerhaltenswissenschaften. Forschenden ist es z. B. gelungen, für jedehäufig missbräuchlich verwendete Substanz die entsprechendenMoleküle im Gehirn zu identifizieren. Sie haben die Rezeptoren aufNervenzellen identifiziert, an die sich Drogen wie Kokain, Marihuanaund Opiate im Gehirn binden. Im Falle von Kokain wurde erkannt, dassder Dopamin-Wiederaufnahme-Transporter in spezifischen Nerven-zellen einer der wichtigsten Wirkungsorte für das Kokain ist.Die Forschenden haben nicht nur spezifische Schaltkreise im Gehirnentdeckt, die mit Erlebnissen während des Drogengebrauchs, etwa derEuphorie, zusammenhängen, sondern auch herausgefunden, dass dieEntwicklung einer Sucht die Folge von Langzeitwirkungen missbräuch-lich verwendeter Stoffe auf das Gehirn ist – und dass die Sucht selbst zueinem veränderten Gehirn führt.Im Laufe der Jahre wurde auch viel unternommen, um mit gewissenAmmenmärchen im Zusammenhang mit Sucht aufzuräumen (allerdingshaben wir noch einen weiten Weg vor uns). Im Gegensatz zur weit ver-breiteten Meinung, ist Sucht wissenschaftlich nicht einfach miteinem grossen Drogenkonsum gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sichdabei um eine andere Weise des Seins, einen Zustand, in dem dasBewusstsein von Drogen beherrscht wird. Es handelt sich dabei tatsäch-lich um eine Hirnkrankheit. Bei jemandem, der süchtig geworden ist,dreht sich das ganze Leben nur noch um die Suche nach Drogen undihren Konsum. Ein Süchtiger kümmert sich nicht mehr um die Folgen derDrogeneinnahme. Dies unterscheidet ihn grundlegend von jemandem,der einfach eine Substanz missbräuchlich verwendet. Der letztere hat dieWahl, ob er den Stoff anwenden möchte oder nicht. Deshalb wirdDrogenmissbrauch oft als eine Willensentscheidung angesehen;Drogensucht ist aber eine Krankheit, die sich durch ein zwanghaftes, oftunkontrollierbares Verhalten der Drogensuche und -anwendung – selbstangesichts entsetzlicher negativer Folgen – charakterisieren lässt.Man weiss heute auch, weshalb Leute Drogen konsumieren. Es gibtdafür verschiedene Gründe: sie wollen ihre Stimmung beeinflussen, ihreWahrnehmung, ihren emotionalen Zustand; oder sie versuchen, sichselbst zu behandeln, um eigene Probleme zu bewältigen. Im Grundegenommen nimmt man Drogen, weil man sich durch sie sofort besserfühlt – was eine Folge der durch Drogen veränderten Hirnfunktion ist.Die Vorliebe für Drogen bezieht deshalb weniger auf sie selbst als aufderen Wirkung auf das Gehirn.

Alan Leshner, Ph.D.

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In d i v i d u e l l eSu c h t a n f ä l l i g k e i t

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Michel Le Moal, Professor für experimen-telle Psychopathologie an der Universitätvon Bordeaux 2 (Frankreich) ist der Ansicht,dass die in den Gemeinschaften der westli-chen Welt durch Sucht entstandenenProbleme zu einseitig von einem klassi-schen epidemiologischen Standpunkt a u sbetrachtet wurden: Man versuchte, dieHändler zu eliminieren. Dem „Drogen zen-trierten“ Ansatz entsprechend habe sichdie sogenannte „Drogenbekämpfung“ da-rauf konzentriert, die Verfügbarkeit illegalerSubstanzen einzuschränken; man meinte,weniger Drogen bedeuteten automatischauch weniger Süchtige. Um dieses Ziel zuerreichen, verschlingen Polizeischulungenund Erziehungskampagnen auch weiterhinenorme Summen. Dennoch hat dieDrogensucht auch am Ende diesesJahrhunderts nichts von ihrer heimtük-kischen Gefahr eingebüsst. Gleichzeitigsehen sich Ärzte, Psychiater undSozialarbeiter vor eine andere Logikgestellt. Wenn man bedenkt, wie vieleLeute in ihrer Freizeit oder in einembestimmten gesellschaftlichen UmfeldDrogen konsumieren, fällt auf, dass nursehr wenige von ihnen zu einem ernst-

haften Missbrauch schädlicher Substanzenübergehen und nur ein kleiner Prozentsatzabhängig, also süchtig wird. We s h a l beinige dem Stoff verfallen und anderenicht, ist eine grundlegende biomedizi-nische Frage, die laut Le Moal zu einer völ-lig anderen, nämlich der „Menschen zen-trierten“ Betrachtungsweise führt. DieFrage, weshalb manche Leute auf Drogenbiologisch anfällig sind, führt immer mehrzu einem medizinischen Ansatz. „Die bei-den Ansichten müssen sich ergänzen“meint Le Moal, „aber noch immer erwägennur wenige Institutionen die Gründe dieserindividuellen Unterschiede, seien sie nunangeboren oder erworben.“Das im letzten Jahrzehnt enorm gewach-sene Verständnis, was die Einwirkungvon Drogen auf bestimmte chemischeBotenstoffe im Gehirn anbelangt – dieSysteme der Neurotransmitter auf derEbene der Zellen und der Moleküle undganz besonders die langfristigen, sichanpassenden Veränderungen der Nerven –all dies muss von einer neuen Warte ausbetrachtet werden. Nach Le Moal lässtsich nicht leugnen, dass gewisse Personeneinen „besonderen Hirnzustand“ aufwei-

sen, und die medizinische Anfälligkeit mussmit dem Ziel weiter erforscht werden, jeneverlässlichen biologischen Parameter zuentdecken, die zwingend vorherbestim-men, ob gewisse Leute abhängig werden.Ein solcher Ansatz bildet die Grundlage füreine moderne Medizin und Psychiatrie.Während der letzten fünfzehn Jahre habenProf. Le Moal und seine Gruppe, der auchP. V. Piazza angehört, Arbeitshypothesenund Tiermodelle entwickelt, um die patho-physiologische Kette jener Ereignisse zuerforschen, die zu dieser unterschied-lichen Anfälligkeit führen.Sie zeigten auf, dass Stress und Stress-hormone, vor allem Adrenalin, Gluco-corticoide, über die Dopamin-Neuronendes Gehirns wirken, also über den selbenzentralen Weg, den sämtliche Drogen neh-men, und dass sie die Ansprechbarkeit die-ser Neuronen auf Drogen steigern. Dasheisst: Bei diesen Personen ist dieStressregulierung in bestimmten, für dieIntegration von Belohnung verantwort-lichen, Hirnbereichen auf der molekularenEbene der Zelle gestört; Ursache dafürkönnen – möglicherweise bereits vorge-burtliche – Lebenserfahrungen oder

Michel Le Moal ,

Universität von Bordeaux, Frankreich

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Erbanlagen und lang andauerndeVeränderungen des Dopaminspiegels sein.Interessanterweise konnte das Te a mnachweisen, dass als „resistent“ einge-stufte Tiere – völlig unabhängig von derMenge der zur Verfügung stehendenDrogen – weniger dazu neigten, sich dieDroge zuzuführen als anfällige. Letztereunterscheiden sich auch bezüglich desDopaminsystems und dem Funktionierenihrer Stressregulierung.

ABHÄNGIGKEIT UNDA N PA S S U N G S M E C H A N I S M E NIn seinen neuesten, gemeinsam mitG. F. Koob, San Diego veröffentlichtenPublikationen (Koob, G. F. & Le Moal, M.,S c i e n c e , 278, S. 52-58, 1997) betontLe Moal, dass die biologischen Grundlagender Abhängigkeit – so bedeutungsvoll sieauch sein mögen – nur einen Teil derKomplexität menschlicher Abhängigkeitausmachen. Tiermodelle werden nichtallen Aspekten der Krankheit gerecht. FürWissenschafter wie Le Moal gibt die Artund Weise, wie unser Gehirn unter norma-len Umständen das Streben nachWohlbefinden und Belohnung reguliert,

Hinweise auf gestörte Mechanismen, diedann zur Drogenabhängigkeit führen.Die Nervenstrukturen, die Belohnungund Bestrafung regulieren, also dasBelohnungssystem, werden, wie die üb-rigen Systeme, durch die Erziehung unddas soziale Umfeld beeinflusst. DurchÜben lassen sich die Ve r k n ü p f u n g e nerweitern und vermehren. Nach Ansichtvon Le Moal lernen wir sehr früh in un-serem Leben – zu einer Zeit, in der dieFormbarkeit unseres Nervensystems opti-mal ist – unser Verhalten zu steuern undunser natürliches Bedürfnis nachWohlbefinden zu hemmen. Kontrollverluststeht im Zentrum der medizinischenDefinition von Sucht und Abhängigkeit.Wenn wir, zusammen mit Prof. Le Moaldavon ausgehen, dass Umgebung, Übung,Erziehung, Psychologie sowie dieStruktur und Funktionsweise des Gehirnsmiteinander in Beziehung stehen, ist esnotwendig, die Forschung in all diesenBereichen zu fördern; dann liesse sich dieBedeutung von „Hemmung“, „Selbst-beherrschung“, und „Kontrollverlust“ aufder begrifflichen Ebene der Neurobiologieklären.

Editorial board:Pierre J. Magistretti, C h a i r m a nColin Blakemore, Leslie IversenWolf Singer, Piergiorgio StrataJacques Glowinski, Norbert HerschkowitzProduction Manager:Béatrice RothContributing editor:Elaine Snell

TheEuropean

Dana Alliancefor the Brain

C h a i r m a nDavid Mahoney

Vice ChairmenColin Blakemore, PhD, ScD, FRSW. Maxwell Cowan,BM, BCh, DPhil, FRS

Chief ExecutiveColin Blakemore, PhD, ScD, FRS

Executive CommitteeAlain Berthoz, Dr ès Sci, Dr IngAlbert Gjedde, Dr MedMalgorzata Kossut, MSc, PhDPierre J. Magistretti, MD, PhDRichard Morris, DPhil, FRSE, FRSWolf Singer, MD PhDPiergiorgio Strata, M D

Dana Alliance for Brain Initiatives – US

Executive DirectorBarbara E. Gill

European Dana Alliance for the Brain LimitedRegistered Office: 165 Queen Victoria Street,London EC4V 4DDRegistered in England: 3532108

Michel Le Moal