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Abenteurer Gottes

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Abenteurer Gottes

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Dave und Neta Jackson

Gladys Aylward

Heimatlos

ChristlicheLiteratur-Verbreitung e.V.

Postfach 110135·33661 Bielefeld

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1. Auflage 2001

Originaltitel: Flight of the Fugitives© 1994 by Dave und Neta Jackson

© der deutschen Ausgabe 2001 by CLVChristliche Literatur-VerbreitungPostfach 11 01 35 · 33661 Bielefeld

Übersetzung: Mechthild NiemöllerUmschlag: Dieter Otten, GummersbachSatz: CLVDruck und Bindung: Ebner Ulm

ISBN 3-89397-445-8

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Inhalt

Vorwort 7

Die Zigeunerin 9

Fremder Teufel 18

Herberge zur Achten Glückseligkeit 27

Weniger wird mehr 37

Aufstand im Gefängnis! 47

Regelverstoß 59

Der fremde Mann 71

Aus der Vergangenheit 83

Feuer vom Himmel 94

Zwei Höhlen im Berg 104

Einhundert Dollar Belohnung! 116

Über die Berge 125

Übers Wasser gehen 135

Mehr über Gladys Aylward 146

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Vorwort

Dies ist eine wahre Geschichte. Alle Personen unddie wichtigsten Ereignisse in diesem Buch ent-

sprechen den Tatsachen. Das Kriegsgeschehen derJahre 1938 – 1940 wurde jedoch, im Interesse der Ge-schichte, gekürzt. So wurde z. B. Feng nicht vor 1939,als die Bewohner von Yangcheng zum zweiten Malnach Bei Chai Chuang flohen, in die Obhut von Gla-dys Aylward gegeben. Gladys Aylwards Begegnung mit Colonel Linnanwährend des Krieges fand nicht in Yangcheng, son-dern in der ›Christian Mission‹ in Tsehchow statt.Seine frühere Rolle bei der Festnahme von Ninepen-ces Onkel ist frei erfunden.Wahrscheinlich waren auch die einhundert adoptier-ten Kinder Gladys Aylwards nicht zum Abschieds-dinner beim Mandarin eingeladen; hier nehmen siedaran teil, um die Aussage der Geschichte zu unter-stützen. Die einhundert Kinder, die sie mit über die Bergenahm, waren aus der Mission in Tsehchow. Es istnicht bekannt, ob Feng auch dabei war; er war jedochüber viele Jahre mit Gladys Aylward zusammen. Gladys Aylward hatte fünf adoptierte Kinder, vondenen nur drei in dieser Geschichte eine Rolle spie-len.

Dave und Neta Jackson sind als Ehepaar ein Team,das zahlreiche Bücher über Familie, Kirche und Be-

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ziehungen geschrieben und mitgeschrieben hat,einschließlich der ›Secret Adventurers‹-Videoserie,der ›Pet-Parables‹-Serie, der ›Caring Parent‹-Serieund der neu erschienenen Hero Tales, Folge I und II.

Die Jacksons haben zwei verheiratete Kinder: Julian,der die ›Trailblazer Books‹ illustriert hat, und Rachel,die ihnen kürzlich ihre erste Enkeltochter, HavahNoelle, geschenkt hat. Dave und Neta sind in Evan-ston, Illinois, zu Hause, wo sie aktive Glieder derReba Place Church sind.

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Die Zigeunerin

Mei-en umklammerte verzweifelt die Schulternihres Stiefvaters, während dieser über den stei-

nigen Pfad in Richtung des nächsten Dorfes kletterte.Wenn sie herunterfiele, würde sie sicher den steilenAbhang hinunterrutschen und auf die zerklüftetenFelsen aufprallen, die weit unten zu sehen waren.

Aber diese Sorge war nur ein kleines Hirsekörnchenim Vergleich zu der viel größeren Not, die wie einriesiger Kloß im Bauch der Sechsjährigen lag. Wohinwürde ihr Stiefvater sie bringen? Warum war er sowütend?

Mei-en hielt sich weiter fest und kniff die Augen festzu, damit sie nicht in den Abgrund neben sichblicken musste. Aber sobald siedie Augen schloss, sah sie wie-der den Sand auf die rau ge-zimmerte Holzkiste mit demKörper ihrer Mutter fallen.Heiße Tränen stiegen in ihreAugen, als sie sich daran erin-nerte, wie sie ihre Mutter andiesem Morgen weckenwollte …

»Mama! Mama-san!«,hatte sie gerufen unddabei den leblosenKörper ihrer Muttergeschüttelt, der auf

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dem flachen Ziegelofen lag, auf dem die kleine Familie jedeNacht schlief, um nicht zu frieren. Seit zwei Wochen hatteihre Mutter Husten und Fieber, so dass sie manchmalkaum in der Lage war, den Hirsebrei und die dünne, wäss-rige Suppe zu kochen, die sie jeden Tag aßen. Aber an je-nem Morgen wachte ihre Mutter nicht auf.

Ihr Stiefvater war wütend. Ohne auch nur ein Wort zuMei-en zu sagen, zimmerte er die Kiste, grub das Loch imAcker außerhalb ihres Bergdorfes und ließ den buddhisti-schen Priester holen. Nachdem der Weihrauch verbranntund die Begräbniszeremonie beendet war, hatte der Vaterdas Mädchen genommen und sich mit ihr auf den Weg ge-macht.

»Geh’ runter … geh’ runter!«, hörte sie ihn sagen,während er sie abschüttelte. Mei-en öffnete ihre Au-gen und glitt seinen Rücken hinab. Dann kauerte siesich dankbar über die Rast auf den Boden. Das kleineMädchen hatte großen Durst, aber bis jetzt waren sienoch an keinem Bach vorbeigekommen.

»Nein, nein! Steh’ auf!«, schimpfte ihr Stiefvater. »Dubist zu schwer … lauf! Los, lauf!« Dann setzte er sei-nen Weg über den steinigen Pfad fort.

Mei-en rappelte sich auf. Sie versuchte, den stechen-den Schmerz zu ignorieren, der ihr in die Beine fuhr,während sie den Weg entlang stolperte. Ihre Füßeschmerzten immer: Wie bei allen chinesischenMädchen waren auch ihre Füße fest mit Stoffstreifenumwickelt. Das war ungeschriebenes Gesetz. Undwie alle heranwachsenden Mädchen, die später schö-ne, kleine Füße haben wollten, wagte sie nicht, sichdarüber zu beklagen.

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Aber der Schmerz machte es ihr unmöglich, mit demStiefvater Schritt zu halten, der zügig weiterwander-te. Mei-en humpelte auf ihren kleinen Füßchen vo-ran, fiel immer wieder hin, bis sie mit einem Malihren Stiefvater aus den Augen verloren hatte.

»Papa!«, rief sie laut. Sie hatte solche Angst! »Papa-san! Komm zurück!«

Für einen Moment war alles, was sie hörte, das Echoihrer eigenen Stimme, das von den Bergen wieder-hallte. Dann kam ihr Stiefvater zurück. Ärger über-schattete sein eingefallenes Gesicht.

»Wertloses Mädchen!«, stieß er hervor, zog sie hochund schlang sie sich wieder über die Schultern.

***Die Sonne versank gerade hinter den Bergen, als derMann mit dem Mädchen über der Schulter ins Dorfstolperte. Ihre dunkelblauen Hosen und Hemdenwaren von der langen Wanderung ganz staubig.Mei-en blickte über die Schultern ihres Stiefvaters.Die Häuser an der Straße schienen ihr vertraut, abersie wusste nicht woher.

Ihr Stiefvater betrat den Hof eines Holzhauses mitgeschwungenem roten Ziegeldach, dessen Schiebe-fenster mit Papier dekoriert waren. Als er an der Tür-glocke zog, rief ihr Klang die Erinnerung in Mei-enwach …

Jetzt wusste sie es! Dies war das Haus ihrerGroßmutter, der Mutter ihres richtigen Vaters.

Bevor sie noch überlegen konnte, warum sie eigent-lich hier waren, flog die Tür des Hauses auf und eine

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Frau mittleren Alters mit rundem, faltigen Gesichterschien. Ihr schwarzes Haar war von grauen Sträh-nen durchzogen und straff im Nacken zu einem Kno-ten gebunden.

Wie Pfeile schossen ihre Blicke von dem Mann zudem Mädchen, das vor Erschöpfung schwankend ne-ben ihm stand, und wieder zurück.

»Was machst du hier?«, stieß sie wütend hervor. »Ichhabe dich bezahlt. Du hast versprochen, dich nie wie-der hier sehen zu lassen!«

Die Lippen des Mannes verzogen sich. »Es war einschlechter Handel, Mrs. Chou. Als Ihr Sohn starb,habe ich zugestimmt, Ihre Schwiegertochter zu heira-ten und auch das wertlose Mädchen mitzunehmen.Ihr hattet mir versprochen, dass sie mir Söhne gebenwürde.« Er lachte heiser. »Nun, alles was sie mir gab,waren zwei tote Babies.«

»Was ist pass-?«

»Tot«, sagte Mei-ens Stiefvater ärgerlich. »Lungen-entzündung. Ich habe sie heute Morgen begraben.Hier habt Ihr das Mädchen zurück.«

Die Frau biss die Zähne zusammen. »Aber wir warenuns einig!«

»Der Handel gilt nicht mehr!«, schimpfte der Mann.»Hier habt Ihr das Kind Eures Sohnes! Was kann ichdafür, dass er so dumm war, den Berg hinunterzu-stürzen und zu sterben? Und jetzt ist die Mutter desKindes auch noch tot. Sie sind ihre Blutsverwandte –nicht ich!«

Mei-en spürte wieder den großen Klumpen in ihremBauch. Ihr Herz klopfte heftig. Sie konnte sich nur

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schwach an ihren richtigen Vater erinnern, aber siehatte oft von ihm geträumt. In ihren Träumen war erein gut aussehender Chinese, mit goldglänzenderHaut und pechschwarzen Haaren. Er hatte lachendeMandelaugen, weiße Zähne und starke Schultern. Sieträumte, dass er sie in seinen Armen hielt … dass ermit ihr redete und lachte …»Komm sofort zurück!«, kreischte ihre Großmuttermit schriller Stimme. Mei-en riss den Kopf herum und sah ihren Stiefvaterdurch das Tor verschwinden. Dann wandte sie sichlangsam zurück und blickte zu ihrer Großmutter auf. Mrs. Chou hatte die Fäuste in die Hüften gestemmtund blickte ärgerlich auf das kleine Mädchen hinab.»Bei den Göttern! Ich werde mir doch nicht so einwertloses Mädchen ans Bein binden!« Damit schrittsie zurück ins Haus und schlug die schwere hölzerneTür hinter sich zu. Instinktiv eilte Mei-en auf ihren gebundenen Füßenzurück zum Tor und blickte die Straße hinauf undhinunter. Bauern kehrten von ihren Feldern an denBerghängen heim … Frauen balancierten geflochteneKörbe an Holzstangen auf ihren Schultern … einstreunender Hund stand mitten auf der Straße undbellte niemand Bestimmtes an. Aber von ihrem Stief-vater war weit und breit nichts zu sehen.Mei-en stand zitternd im Tor. Die Schatten wurdenimmer länger; die schwache Wärme des Frühlingsta-ges in den Bergen schwand mit dem Tageslicht. Wassollte sie jetzt tun? Ihre Mutter war tot … ihr Stiefva-ter wollte sie nicht … die ehrenwerte Großmutterauch nicht.

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Sie sank zu Boden und konnte die Tränen nicht län-ger zurückhalten. Ihr kleiner Körper wurde vomSchluchzen geschüttelt, als sie mit ihren dünnen Ar-men die Beine umschlang, den Kopf auf die Knie leg-te und weinte.Mei-en hatte lange geweint, als sie auf einmal merk-te, dass jemand neben ihr stand. Verwundert blicktesie auf. Eine fremde Frau stand wenige Schritte ne-ben ihr und starrte sie an. Es war jetzt fast dunkel.Trotzdem konnte Mei-en erkennen, dass die Fraunicht wie die meisten Männer und Frauen in denBergdörfern der Provinz Shansi gekleidet war: AnStelle von Hemd und Hose aus dunkelblauem Stofftrug sie mehrere Kleidungsstücke übereinander. Zu-oberst hatte sie einen schmutzigen rot-gelben Rockan, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Auf demKopf trug sie einen Turban. Das Gesicht war wetter-gegerbt und von vielen Falten durchzogen. An denOhren baumelten silberne Ohrringe. Dazu hatte sienoch zahlreiche silberne Spangen und Reifen an denArm- und Fußgelenken. Mei-en saß mit offenem Mund auf dem Boden; inihrem ganzen Leben hatte sie noch nie eine solch selt-same Gestalt gesehen.»Warum weinst du?«, fragte die Frau das Mädchen.Mei-en versteckte ihr Gesicht. Ein junges Mädchendurfte nicht mit Fremden reden.»Was geht dich das an, Zigeunerin?«, fragte eine an-dere Stimme. Mrs. Chou war herausgekommen undstand im Tor, die Hände in die Hüften gestemmt. Der Mund der Fremden verzog sich zu einem Lächeln,wobei ihre schwarzen, verfaulten Zähne sichtbar wur-

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den. »Ich habe mich nur gefragt, zu wem dieses Kindgehört«, meinte sie. »Es wird bald Nacht … sie sitzt al-lein im Tor … vielleicht hat sie sich verlaufen?«

Mei-en wünschte, dass ihre Großmutter sagen wür-de: »Sie gehört zu mir! Mach, dass du fort kommst!«Stattdessen hörte sie ihre Großmutter langsam sagen:»Warum willst du das wissen?«

Mit zuckersüßer Stimme begann die Fremde: »Nun… so ein junges Mädchen könnte mir vielleicht nütz-lich sein … aber sich um ein Kind zu kümmern,macht natürlich viel Arbeit … es würde sich sicherauch nicht lohnen, es sei denn …«

Mei-en rappelte sich auf und sah ihre Großmutter fle-hend an. Sie wollte nicht mit dieser Frau gehen! Siewürde leise sein … sie würde keinen Ärger machen… sie würde Kochen und Nähen und Putzen für dieGroßmutter lernen …

Ihre Großmutter ignorierte sie. Schroff fragte sie:»Wie viel verlangst du?«

»Oh … zweihundert cash würden für ein paar Wo-chen Essen und ein Dach über dem Kopf für michund das Kind reichen«, meinte die Frau grinsend.

»Zweihundert cash! Ein ganzer Dollar?«, schrie dieGroßmutter. »Das ist ja Diebstahl! Kommt nicht inFrage! Dieses Kind hat mich schon genug gekostet,und ich bin nicht gewillt, noch mehr gutes Geld zuopfern.«

Die Zigeunerin hob die Schultern und hob ein großesBündel auf, das zu ihren Füßen lag. »Na gut. Ichwollte auch nur mal fragen.« Damit wandte sie sichum und wollte gehen.

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»Warte!«, sagte Mrs. Chou. »Ich gebe dir hundertcash – einen halben Dollar – und du nimmst dasMädchen. Es ist ein Verbrechen! Ich weiß, dass du siean irgendeinen Mandarin verkaufen wirst, oder aneine arme Familie, die noch eine Braut für ihren Sohnsucht. Egal, du wirst deinen Gewinn schon machen.Schlag ein oder lass es!«

Das Gesicht der Frau erhellte sich. »Ich werde sienehmen. Komm, komm!« Sie streckte ihre klauenarti-ge Hand aus und griff nach dem Geld der Großmut-ter. »Der Handel gilt.«

Zitternd beobachtete Mei-en, wie ihre Großmutter ei-nige Münzen aus einem Beutel holte, den sie unter ih-rer Kleidung versteckt hatte.

»Hier«, sagte sie und legte die Geldstücke in die aus-gestreckte Hand der Zigeunerin. »Aber wenn ichdich oder das Kind jemals wiedersehe, werde ich diePolizei rufen und dafür sorgen, dass man dich wegenKinderraub einsperrt!«

Die Fremde grinste wieder und entblößte ihre verrot-teten Zähne. »Keine Angst, ehrenwerte Großmutter«,meinte sie überfreundlich. »Wir werden diesen Ortjetzt verlassen. Komm mit, Mädchen.«

Mei-en spürte, wie die klauenartige Hand der Zigeu-nerin sie bei ihrer blauen Jacke packte und mitriss.Dann wurde sie auf die dunkle Straße hinausge-stoßen.

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Fremder Teufel

Auf der Hauptstraße von Yangcheng drängtensich Lebensmittelhändler, Marktbesucher und

Maultiertreiber, die ihre Tiere durch die Stadt in denBergen trieben. Menschen eilten an der schäbig aus-sehenden Zigeunerin vorüber, die bettelnd am Ran-de der Straße hockte: »Eine milde Gabe für die Ar-men?« … und kaum jemand bemerkte das dünne,sechsjährige Mädchen, das zu ihren Füßen imSchmutz lag.

Mei-en war so hungrig, dass sie an gar nichts anderesals an Essen denken konnte. Seit zwei Tagen hatte sienichts mehr gegessen … und es war Wochen her,dass sie sich das letzte Mal satt gegessen hatte. Siehatte aufgehört, die Dörfer zu zählen, die sie umGeld und Essen bettelnd durchquert hatten; oder wieoft sie im Freien auf dem harten Boden geschlafenhatten … Manchmal hatte die Zigeunerin versucht,Mei-en an den Dorfältesten oder einen anderen pro-minenten Bürger zu verkaufen. Aber niemand inte-ressierte sich für die schmächtige kleine Heimatlose.

Und so gelangten sie schließlich nach Yangcheng,der größten Stadt in diesem Gebiet: eine kleine Stadt

mit einer Stadtmauer, die in einem Talzwischen zwei Bergen lag –

was sie zu einem belieb-ten Rastplatz für Maul-

tierkarawanen machte,die Essen, Koch-

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töpfe, Stoffe, Baumaterialien – und Neuigkeiten vonOrt zu Ort brachten. Obwohl im Jahre 1934, gab eskeine Straßen in dieser bergigen Landschaft im Nor-den Chinas. Da es dort weder Busse noch Eisenbah-nen gab, waren Maultierkarawanen die einzige Ver-bindung zwischen den kleinen Dörfern und ummau-erten Städten.

Nie zuvor war Mei-en in einer Stadt von der GrößeYangchengs gewesen … aber im Augenblick war ihrdas völlig egal. Ihre fest umwickelten Füße schmerz-ten fürchterlich von der wochenlangen Wanderung.Und erst der Hunger … Aber noch schlimmer als derHunger war der Durst! Die Mittagssonne brannte aufihrer schmutzigen, rauen Haut; ihre Lippen warentrocken und rissig, und wenn sie versuchte, sie mitihrer Zunge zu befeuchten, fühlte sich diese trockenund geschwollen an.

Hin und wieder machte es pling, wenn jemand eineMünze in die Schale der Zigeunerin warf. Mei-enwusste jedoch, dass, wenn es nicht genug Pennieswaren, um sie beide satt zu machen, die Zigeunerinallein essen würde und sie eine weitere Nacht hun-gern müsste.

Mei-en schloss die Augen; ihr Gesicht lag im Straßen-schmutz; die Geräusche des Marktes drangen inihrem Bewusstsein ein und aus. Dann hörte sie einenneuen Klang … jemand sprach ganz in der Nähe …

»Du hier, Bettlerin?«, fragte jemand. Mei-en öffnetemühsam die Augen. Im gleißenden Licht der Sonnesah sie den Schatten einer Person. Es waren die Um-risse einer Frau, klein, wie eine chinesische Frau …aber der Klang ihrer Stimme war seltsam fremd.

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»Warum lässt du dein Kind ohne Kopfbedeckung aufder Straße liegen, ohne Hut, der sie vor der Sonneschützt?«, fragte die Frau. »Sie wird einen Sonnen-stich bekommen! Oder sogar sterben!«Die Zigeunerin seufzte. »Dann stirbt sie eben … zu-mindest muss ich sie dann nicht mehr füttern.«»Du verfluchte Frau!«, schrie die Person. »Hast dudenn gar kein Mitleid mit deinem eigenen Kind?« Die Zigeunerin zuckte nur mit den Schultern. »Wenndu dir solche Sorgen um sie machst, warum kaufstdu sie dann nicht? Für … na, sagen wir zweihundertcash gehört sie dir.« »Zweihundert!«, schnappte die Stimme nach Luft.»Ich … ich habe nicht so viel Geld.«»Was?«, höhnte die Zigeunerin. »Ein fremder Teufelwie du hat kein Geld? Jedermann weiß, dass ihrEngländer reich seid.« Fremder Teufel? Mei-en rappelte sich auf und blinzeltein die Sonne. Wieder klopfte ihr Herz zum Zersprin-gen, und die Angst ließ sie für einen Moment dieBauchschmerzen vergessen. Sie wollte nicht an einenfremden Teufel verkauft werden! Sie wollte weglau-fen … sie wollte …»Hier«, meinte die Fremde, kramte ein paar Münzenaus ihrer Hosentasche und hielt sie der Zigeunerinhin. »Das ist alles, was ich habe. Nimm es … und gibmir das Mädchen.«»Ninepence?«, schimpfte die Alte entrüstet. »Ich habeeinen halben Dollar für sie bezahlt! Ich kann es mirnicht leisten, zu …«»Nimm es!«, befahl die Frau und warf der Zigeune-

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rin die Münzen in die Hand. »Wenn du es nicht tust,stirbt das Kind und du hast gar nichts!«

Die Zigeunerin überlegte einen Augenblick, dann er-hob sie sich rasch und verschwand im Gedränge zwi-schen den Marktständen. Mei-en ließ sie zurück …

Mei-en wurde von den starken Armen der fremdenFrau hochgehoben. Das kleine Mädchen starrte sie an– und sah runde, dunkle Augen in einem blassen,weißen Gesicht. Die Frau war wirklich ein fremderTeufel, bekleidet mit chinesischer Kleidung!

Nein … nein! wollte sie schreien, aber aus ihrem aus-getrockneten Mund kam nur ein Krächzen. Sie zap-pelte in den Armen der Fremden, war jedoch vorHunger und Erschöpfung zu schwach, um irgendet-was zu erreichen.

Der fremde Teufel trug Mei-en zuerst durch dasdichte Gedränge einer Straße, bog dann in eine ande-re Straße und gelangte schließlich in einen großenHof. »Yang!«, rief sie. »Yang, komm schnell!«

Mei-en zitterte vor Angst! Würde der fremde Teufelsie jetzt in einem großen Topf kochen und auffres-sen? Irgendwie fand sie nun neue Kraft und häm-merte mit ihren Fäusten auf die Frau ein.

Überrascht setzte diese sie auf den Boden. Plötzlichfrei, krabbelte Mei-en schnell wie eine Krabbe in eineEcke des Hofes und versteckte sich hinter einer Urnevoll mit blühenden Blumen. In diesem Moment kamein alter Chinese mit blauem Hemd und Hose ausdem großen Haus, das wie eine Art Herberge aussah.Es hatte zwei Stockwerke, ein rotes, geschwungenesDach und Stallungen an einem Ende.

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»Yang, sprich mit ihr«, meinte die Frau ängstlich.»Sag ihr, dass sie keine Angst zu haben braucht …dass ich ihr helfen möchte.«

Der Mann mit Namen Yang blickte zu Mei-en hinü-ber, die hinter der großen Urne kauerte. Dann verzogsich sein Mund zu einem riesigen Lächeln.

»Nein, nicht reden, Miss Gladys«, kicherte er undverschwand ins Haus. Gleich darauf kam er zurückund hielt eine Schüssel mit einer heißen, dampfen-den Flüssigkeit in den Händen. Als er sich ihr näher-te, stieß Mei-en einen heiseren Schrei aus und ver-suchte, noch weiter hinter die Urne zu kriechen. AberYang stellte die Schüssel einfach nur auf die Erde,drehte sich um, nahm die Frau am Arm und kehrtemit ihr ins Haus zurück.

Mei-en war allein im Hof. Die Schüssel mit der Suppestand gerade so, dass sie sie nicht erreichen konnte.Voller Angst starrte sie das Essen an. Was würde ge-schehen, wenn sie es berührte? War es vergiftet?Wollte man versuchen, sie umzubringen?

Aber, so ermutigte sie sich selbst, wenn sie es nicht zusich nehmen würde, dann würde sie in Kürze vorDurst sterben. Nachdem sie sich das klar gemachthatte, kroch sie hinter der Urne hervor, langte mit zit-ternden Fingern nach der Schale, um sie dann an ihreLippen zu setzen. Die ersten Tropfen der warmenBrühe flossen langsam in ihren Mund. Nur mit Mühekonnte sie schlucken … dann wieder etwas Brühe …

Schließlich war die Schüssel leer. Mit einem Seufzerkroch Mei-en wieder hinter die Urne zurück undschlief augenblicklich ein.

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***Als Mei-en einige Stunden später erwachte, schim-merte das rote Ziegeldach in der Nachmittagssonne.Vorsichtig schaute sie hinter der Urne hervor … underblickte vor sich die Schüssel. Aber sie war nicht leer,sonder gefüllt mit Hirsebrei und gekochtem Gemüse!

Das kleine Mädchen sah sich um. Sie war ganz alleinim Hof. Dann kroch sie wieder zu der Schüssel, lang-te mit ihren Fingern hinein und stopfte sich eineHand voll Hirse mit Gemüse in den Mund.

Mei-ens trockene Lippen rissen auf und bluteten alssie kaute, aber sie hörte erst auf zu essen, als die Scha-le leer war. Während sie noch das letzte Bisschen vonden Fingern leckte, blickte sie auf … und sah den al-ten Chinesen und die fremde Teufelsfrau, die im Hofstanden und sie betrachteten.

In Panik wollte Mei-en zurück hinter die Urne, aberder alte Mann war schneller! Er hob sie auf, hielt siefest, während sie trat und zappelte, und setzte sichmit ihr auf eine steinerne Bank an der Hofmauer.

Das Essen hatte Mei-en neue Kraft gegeben und ihreSchreie hallten von den Mauern zurück. Aber Yanghielt sie einfach fest, begann zu summen, wiegte siesanft hin und her und flüsterte beruhigende Worte inihr Ohr. Bald hörte das Mädchen auf zu zappeln; ihreAugen waren aber immer noch vor Angst geweitet.

Als Mei-en sich beruhigt hatte, kam die Frau zu ih-nen und kniete sich vor dem alten Mann und demMädchen auf den Boden. »Hab’ keine Angst … ichwill dir nicht weh tun«, sagte sie leise und schob ihrdunkelbraunes Haar hinter’s Ohr.

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Und dann machte die Frau etwas ganz Seltsames. Siezog Mei-en die abgetragenen Stoffschuhe aus undfing an, die Bänder zu lösen, die die Füße des kleinenMädchens eingeschnürt hatten. Wieder schrie Mei-en vor Angst und versuchte, sich zu befreien. AberYang hielt sie fest und summte beruhigende Melodi-en in ihr Ohr. »Ist ja gut … es ist alles in Ordnung«, murmelte dieFrau. »Ich bin der offizielle Fußinspektor fürYangcheng und den ganzen Distrikt Shansi … dieNationalistische Regierung möchte, dass alle chinesi-schen Mädchen ihre Füße loswickeln … ja, ja … istschon gut … ist ja gut …«Die Frau wickelte und wickelte … bis ein kleinerblasser Fuß zum Vorschein kam. Mei-en stieß einenkleinen Schrei aus – sie konnte sich nicht mehr erin-nern, wie ihr nackter Fuß ausgesehen hatte. Die Ze-hen waren gekrümmt und der ganze Fuß sah ver-formt aus. »Oh … oh«, sagte die Frau bekümmert. »Seht euchdiesen armen Fuß an. Nie wieder sollen dieseschrecklichen Bänder ihn fesseln.« Und dann fing siean, den kleinen Fuß behutsam und vorsichtig zumassieren. Als Mei-ens Angst sich gelegt hatte, geschah wieder et-was Unerwartetes: Durch die sanfte Massage beganndas Blut, wieder im Fuß zu zirkulieren – was heftigeSchmerzen hervorrief. Mei-en fing an zu wimmern.»Das ist in Ordnung … weine ruhig … ich weiß, dasses weh tut, aber es wird bald besser werden … istschon in Ordnung«, murmelte die Frau und fuhr fort,jeden kleinen Zeh zu massieren.

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Dann löste sie auch die Bänder des anderen Fußes …die sanfte Massage … dann der Schmerz und die Trä-nen …

Schniefend beobachtete das kleine Mädchen, wie diefremde Frau mit ihren Händen vorsichtig jeden Zehzum Leben erweckte. Sie starrte auf das kurze, dunk-le Haar – es war braun und nicht schwarz – und dasweiße Gesicht. Haben alle Engländer so große Nasen?wunderte sie sich. Nicht hübsche, flache Nasen wie dieChinesen. Aber am meisten faszinierten sie die Augender Frau … Augen, die mild und gütig waren.

Plötzlich brach Mei-en wieder in Tränen aus, verbargihr Gesicht an der Brust des alten Mannes undschluchzte, als ob es ihr das Herz zerreißen würde.

Aber diesmal war es nicht der Schmerz, der die Trä-nen verursachte: Seit dem schrecklichen Tag, als ihreMutter gestorben war, hatte sie niemand so sanft undliebevoll berührt …

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Herberge zur Achten Glückseligkeit

Dreimal täglich badete die Engländerin, die YangMiss Gladys nannte, Mei-ens Füße in warmem

Wasser und massierte die armen, gebundenen Ze-hen. Aber als die Frau das kleine Mädchen nachihrem Namen fragte, senkte Mei-en nur schüchternden Kopf.

»Nun, sei’s drum«, lächelte Gladys. »Ab jetzt nennenwir dich Ninepence. Wie bin ich froh, dass ich da-mals, als ich dich fand, eine Ninepence-Münze beimir hatte!«

Es blieb bei diesem Spitznamen. »Seht, wie viel Sup-pe Ninepence heute gegessen hat!«, freute sich Yangam folgenden Tag und hielt die leere Schüssel deskleinen Mädchens hoch. Und: »Zeig mir, wie gut duüber den Hof laufen kannst, Ninepence«, forderteGladys sie freundlich auf.

Schon bald humpelte das kleine Mädchen umher, sahYang zu, wenn er in großen Töpfen dicken Hirsebrei,Nudelteig und Gemüsebrühe für die Maultiertreiberkochte, die in der Herberge Haltmachten. Doch … es warennicht viele Maultierkarawa-nen, die in einer Herbergerasten wollten, die voneinem »fremden Teu-fel« geführt wurde.Auch dann nicht, wenn

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ein Schild mit der freundlichen Aufschrift »Herbergezur Achten Glückseligkeit« über dem Tor hing.

Während Yang ein mageres Huhn für die Supperupfte, erklärte er dem Mädchen geduldig: »Weißtdu, Ninepence, es ist noch nicht lange her, da warenzwei englische Frauen hier in Yangcheng. Zuerst kamMrs. Lawson … sie lebte schon sehr, sehr lange alsMissionarin in China.«

Ninepence überlegte, was eine »Missionarin« war,aber sie wollte Yangs Geschichte nicht unterbrechen.

»Aber als Mrs. Lawson nach Yangcheng kam«, fuhrder alte Mann fort, »wollte niemand einem ›fremdenTeufel‹ zuhören, der über den Gott der Christen er-zählte.« Yang strahlte, als er seinen Blick durch diegroße Herberge mit den drei k’angs aus Ziegelsteinen(gemauerte Schlafstätten, unter denen man ein Feueranzünden kann, um sich nachts vor der bitteren Kältezu schützen) schweifen ließ. »Darum kaufte Mrs.Lawson diese alte Herberge … oh! Es war eine Ruine!Zu viel Arbeit für die alte Mrs. Lawson und den altenYang. Dann kam Gladys Aylward den ganzen langenWeg von England hierher, um Mrs. Lawson zu hel-fen. Aber vor ein paar Monaten hatte Mrs. Lawsoneinen Unfall …«

Ninepence bemerkte, dass Yang plötzlich Tränen inden Augen hatte, während er dem schlaffen Huhnweiter die Federn ausriss. Doch schon bald hatte deralte Chinese seine Sprache wiedergefunden und sag-te: »So … nun sind nur noch ich und Miss Gladyshier.« Sein breites Grinsen kehrte zurück. »Sie sprichtschon ziemlich gut chinesisch, nicht wahr? Schließ-lich habe ich es ihr beigebracht!«

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Um die widerstrebenden Maultiertreiber dazu zubringen, in ihrer Herberge einzukehren, schrubbteGladys Aylward täglich jeden Zentimeter des Fußbo-dens, legte frisches Stroh für die Maulesel in die Stäl-le und goss die Blumen in den großen Urnen, damitder Hof für die müden Wanderer nett und einladendwar. Wenn dann abends die Karawanen in der Stadteintrafen, öffnete sie das Tor und rief: »Muyo beatcha!Wir haben keine Wanzen! Muyo goodso! Wir habenkeine Flöhe!« Dann winkte die zierliche Engländerinund wies in den Hof. »Lai-lai-lai! – Kommt, kommt,kommt!«

Aber als einige Tage vergangen waren und alle Esels-treiber eilig weitergeritten waren, sobald sie den›fremden Teufel‹ erblickt hatten, hörte Ninepence siezu sich selber sagen: »Nun gut, wenn sie stur sein wol-len, dann werde ich ihre Sturheit zu nutzen wissen.«

An diesem Abend streute Gladys einen Arm voll fri-sches Heu in den Hof. Dann stieß sie das Hoftor aufund wartete auf die Maultiertreiber. Als die ersten Tie-re, klipp-klapp, die Straße aus festgetretenem Staubherunterkamen, rief sie wie immer: »Muyo beatcha! Wirhaben keine Wanzen! … Muyo goodso! Wir haben keineFlöhe! … Lai-lai-lai! Kommt, kommt, kommt!«

Aber als die Reiter wieder eilig an ihr vorüberreitenwollten, griff sie nach dem Halfter des Leittieres undzog es mit aller Kraft in den Hof. War es das Gewichtder kleinen Frau, die an seinem Halfter hing, oderder Geruch von frischem Heu? Jedenfalls war dasMaultier in den Hof getrottet – gefolgt von den ande-ren Tieren, die sogleich ihre Köpfe in das duftendeHeu steckten.

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Ninepence fand das recht lustig. Sie hüpfte auf undnieder, klatschte in die Hände und rief: »How-how-how! Gut, gut, gut!«

Erstaunt blickte Gladys Aylward zu dem Mädchenhinüber. Dies waren die ersten Worte, die Ninepenceseit ihrer Ankunft vor ein paar Tagen gesprochenhatte!

Währenddessen waren die Maultiertreiber entsetzt!All ihre Maultiere und ihr Gepäck waren im Hof vondiesem ›fremden Teufel‹! Sie rannten umher und ver-suchten, die Tiere wieder auf die Straße zu ziehen.Aber nachdem die erschöpften Maulesel angehaltenund vom frischen Heu gefressen hatten, waren sienicht mehr vom Hof zu bewegen.

Ängstlich versammelten sich die Männer draußenvor dem Hoftor und tuschelten. Doch schließlichstimmten sie widerwillig ein, die Nacht in der ›Her-berge zur Achten Glückseligkeit‹ zu verbringen. Im-merhin waren sie zu viert gegen einen fremden Teu-fel, einen alten Mann und ein kleines Mädchen.

Nachdem die Männer den müden Tieren die Lastenabgenommen und sie für die Nacht in den Ställen un-tergebracht hatten, schoben sie sich ängstlich in denHauptraum der Herberge, wo sie dicht zusammen-gedrängt stehen blieben und vorsichtig umherblick-ten. Es war eine Sache, einem fremden Teufel drau-ßen auf der Straße zu begegnen; aber eine andere, inihrem Haus zu schlafen!

Aber Yang hatte bereits Schüsseln mit Nudelstreifen,Hühnchen und Gemüsebrühe gefüllt. Ninepence, dieimmer noch etwas unsicher auf ihren verformten

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Füßen ging, verteilte die Stäbchen und den Tee.Dann, während die hungrigen Männer aßen, holteGladys Aylward einen Hocker und setzte sich mitdem Gesicht zu ihnen hin. Die Männer hörten auf zukauen und blickten unsicher zu ihr hinüber. Waswürde das fremde Teufelsweib nun tun?

»Vor langer, langer Zeit«, begann Gladys und lächel-te freundlich zu den zerlumpten Maultiertreibernherüber, »hüteten einige Hirten in einem Land, dasPalästina heißt, ihre Schafherden …«

Die Männer schienen sich wieder zu entspannen.Eine Geschichte? Nun … eine Geschichte tat nieman-dem weh.

»Eines Nachts, als sie draußen auf dem Feld bei ihrenHerden schliefen«, fuhr Gladys fort, »wurden sie voneinem hellen Licht geweckt. Es war ein Engel vomHimmel mit einer Botschaft für sie. ›Heute wurde inder kleinen Stadt Bethlehem, die ganz in der Näheliegt, Gottes Sohn geboren‹, sagte der Engel. ›DasKindlein heißt Jesus und es wird der Retter für alleMenschen auf der ganzen Welt sein.‹ Dann warenplötzlich noch viel mehr Engel am Himmel und san-gen: ›Ehre sei Gott in der Höhe! Friede auf Erden al-len Menschen!‹«

Ninepence saß mit gekreuzten Beinen auf dem Bo-den und hörte zu.

»Als die Engel verschwunden waren, waren die Hirtensehr aufgeregt!«, sagte Gladys. »Sie hatten schon viele,viele Jahre auf den Erlöser gewartet. Und nun war erendlich geboren! Aber würde man einfachen Hirten er-lauben, solch ein besonderes Baby zu sehen?«

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Die Männer murmelten und nickten mit den Köpfen.Sie hatten sich bereits dieselbe Frage gestellt.

Gladys erzählte ihre Geschichte weiter: »Aber siehörten auf das, was der Engel ihnen gesagt hatte undliefen eilig nach Bethlehem … und dort fanden siedas Kind in einem Bett aus Stroh liegend, genau wieder Engel ihnen gesagt hatte! Die Hirten waren über-rascht. Sie hatten reiche, wichtige Menschen erwar-tet, aber diese Menschen schienen einfaches Land-volk zu sein. Sie sahen müde aus und waren schein-bar seit vielen Tagen unterwegs gewesen.«

Auf den Gesichtern der Maultiertreiber erschien einLächeln. Die Geschichte handelte von Leuten wie sie!

Ninepence dachte, die Geschichte sei nun vorbei …aber Gladys erzählte von drei reichen Königen auseinem anderen Land, die ebenfalls gekommen waren,dieses besondere Baby zu besuchen. Sie waren einemhellen Stern gefolgt, der ihnen die Geburt des Kindesangezeigt hatte. Der König, der in dem Land regierte,in dem das Baby geboren war, fühlte sich bedrohtund wollte das Kleine töten. Aber ein Engel warntedie Eltern, so dass sie rechtzeitig in ein anderes Landflüchten konnten, aus dem sie erst wieder zurück-kehrten, nachdem der böse König gestorben war.

Als die Geschichte zu Ende war, schienen die Maul-tiertreiber sehr zufrieden. Während Ninepence nochdie schmutzigen Schüsseln abräumte, kauerten siesich auf den warmen Ziegeln des k’angs zum Schlafenzusammen.

»Hat dir die Geschichte gefallen?«, fragte Yang dasMädchen und zeigte ihr unterdessen, wie die Schüs-

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seln abgewaschen wurden. »Die Geschichte ist ausdem Buch, das man Bibel nennt. Diese Bibel ist vollvon wunderbaren Geschichten über den Gott derChristen.«

Die Geschichte hatte Ninepence gefallen … auchwenn sie sie nicht ganz verstanden hatte. In dieserNacht, als sie oben in dem kleinen Zimmer auf ihremLager neben Gladys Aylwards Bett schlief, träumtesie von Babys in Ställen und Königen, die auf Maul-tieren ritten und Engel über die Berge jagten.

Am nächsten Abend ging Gladys wieder nach dersel-ben ›Methode‹ vor und zog das Leittier einer anderenKarawane in den Hof. Beim Abendessen erzählte sieden mürrischen Eselstreibern die Geschichte voneinem Mann namens Noah. »Vor langer, langer Zeitsagte Gott zu Noah, dass er ein großes, großes Bootbauen sollte; groß genug, ein Männchen und einWeibchen von jeder Tierart darin aufzunehmen. Je-dermann hielt ihn für verrückt … bis es eines Tageszu regnen anfing. Es regnete und regnete, bis dieganze Welt überflutet war.«

Die Männer nickten und murmelten zustimmend.Sie kannten Überschwemmungen. Trat der YellowRiver auf der anderen Seite der Berge nicht auch vonZeit zu Zeit über die Ufer und riss ganze Dörfer mitsich fort?!

»All die gottlosen Menschen sind ertrunken«, fuhrGladys fort. »Alle, außer Noah, seine Familie und dieTiere, denn sie waren ja in dem großen Boot. Und alsder Regen aufgehört hatte, setzte Gott einen Regen-bogen an den Himmel zum Zeichen, dass ER nie wie-

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der eine so große Flut auf die Erde kommen lassenwürde.«

Ninepence konnte es kaum bis zum nächsten Abendabwarten, so gespannt war sie auf die nächste Ge-schichte. Den Maultiertreibern schien es ähnlich zuergehen: Es breitete sich die Nachricht aus, dass es inder Herberge zur Achten Glückseligkeit in Yang-cheng saubere Ställe für die Tiere, gutes Essen undeine wunderbare Geschichte während der Mahlzeitgäbe – und das alles für nur ganz wenig cash!

***Am Ende des Sommers waren die drei Ziegel-k’angsvoll belegt mit Maultiertreibern, die gespannt denGeschichten von Gladys lauschten, worüber die Eng-länderin natürlich sehr erfreut war! Obwohl Nine-pence erst sechs Jahre alt war, hatte sie bald heraus-gefunden, dass ein ›Missionar‹ jemand war, der ger-ne Geschichten über den Gott der Christen aus einemdicken Buch erzählte, das die Bibel genannt wurde.

Leider reichte das bisschen cash, das Gladys für dieÜbernachtung in der Herberge zur Achten Glückse-ligkeit verlangte, kaum aus, um die Kosten für Essen,Heu und Stroh zu decken.

»Ich werde wohl wieder eine Reise in die Bergdörfermachen, als offizieller Fußinspektor des Mandarin«,meinte Gladys eines Tages zu Yang. »Das ist die ein-zige Möglichkeit, zu Geld zu kommen … außerdemwird es bald Winter, und wir brauchen noch warmeKleidung für Ninepence.«

Ninepence erschrak! Gladys wollte fortgehen? Was,wenn sie in den Bergen abstürzen würde wie ihr Va-

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ter? Oder Banditen würden sie töten? Wer würdesich dann um sie kümmern?

»Bitte lass mich mit dir gehen!«, bettelte das kleineMädchen. »Ich werde ganz artig sein und dir keinenÄrger machen.«

Gladys lächelte und hockte sich neben Ninepence.»Natürlich würdest du mir keinen Ärger machen!«,sagte sie. »Aber … deine Füße sind noch nicht kräftiggenug für eine Reise in die Berge. Vielleicht nächstesJahr.«

Sanft strich sie über Ninepences trauriges Gesicht.»Außerdem, wer würde Yang helfen, wenn wir beidefortgingen?«

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Weniger wird mehr

Am nächsten Tag sah Ninepence traurig zu, wieGladys auf einem Maultier des Mandarin und

in Begleitung von zwei seiner Soldaten davonritt …was wäre, wenn die sturen Dorfbewohner sich wei-gerten, das neue Gesetz zu befolgen, das es ihnenverbat, die Füße ihrer Töchter einzuschnüren? Nine-pence wackelte mit ihren Zehen, die sich nun schöngerade gestreckt hatten und nicht länger verformtaussahen, auch wenn sie am Ende des Tages noch im-mer schmerzten.

»Heh, steh’ nicht so herum, Ninepence«, schalt Yang,während er zurück ins Haus eilte. »Wir haben nochviel Arbeit zu tun, bis MissGladys zurückkommt!«

Yang meinte, er sei zualt, um die Ställe aus-zumisten; daher stellteer den Großneffen sei-nes Schwagers ein, dieschmutzige Arbeit zutun. Ninepence bot sichan, frisches Stroh auf denBoden zu streuen und dieFutterkrippen mit Heu zufüllen.

Als sie in die Herberge trat,rührte Yang in seinenTöpfen und murmelte vor

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sich hin. Also entschied sich das Mädchen, die k’angszu scheuern, um die Wanzen zu vertreiben. Dannlegte sie neue Kohlen in die Glut darunter, damit dieSchlafstätte schön warm blieb. Als die Sonne hinter den Bergen versank, lief Nine-pence zum Tor, öffnete es weit und rief: »Muyo beat-cha! Wir haben keine Wanzen! … Muyo goodso! Wirhaben keine Flöhe! … Lai-lai-lai! Kommt, kommt,kommt!«Die erste Maultierkarawane trottete vorbei, ohne derHerberge zur Achten Glückseligkeit Beachtung zuschenken. Ninepence erschrak! Würde sie das Half-ter des Leitesels greifen müssen, so wie Gladys esmanchmal machte? Sie war nicht sicher, ob sie dazuüberhaupt groß genug war. Zum Glück wurde dienächste Karawane von einem Mann angeführt, derfrüher schon mal in der Herberge zu Gast war. Ertrieb seine Tiere in den Hof und begann, die Lastenabzuladen. Bald hatten sich die Männer auf die k’angs gehocktund schaufelten eifrig Nudelstreifen und Gemüse insich hinein. Aber als sie den Tee servierte, erschrakNinepence. Die Geschichte! Wer sollte die Geschichteerzählen, jetzt, wo Gladys doch nicht da war? Aber da trat Yang aus der Küche und wischte seineHände an dem großen, weißen Handtuch ab, das ihmals Schürze diente. Der alte Mann holte den Hocker,setzte sich und begann:»Vor langer, langer Zeit lebte ein Mann namensNoah«, sagte er und grinste breit. »Gott befahl ihm,ein großes Boot zu bauen und Tiere hineinzubringen,denn es sollte ein großer Sturm kommen. Mitten in

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dem Sturm lief Jesus über das Wasser zu dem Boothin. Noah dachte, es wäre ein Geist! Aber Jesus klopf-te an und sagte: ›Lass’ mich herein, Noah!‹ Als Jesusin das Boot trat, hörte der Sturm sofort auf und dasBoot war am anderen Ufer des Sees Genezareth.«

Ninepence runzelte die Stirn. Irgendetwas war hierverkehrt … aber sie wusste nicht genau was. Dochden Maultiertreibern machte das nichts aus. Für siewar es eine wunderbare Geschichte.

Am nächsten Abend erzählte Yang eine Geschichtevon Mose. »Ein großer Stern erschien am Himmel undMose führte die Kinder Israel nach Bethlehem, um dasJesuskind zu sehen.« Dabei lächelte er glücklich.

Am dritten Abend erzählte Yang, dass Noah die Tie-re sicher über das Rote Meer geschifft hatte, währenddie Ägypter jedoch alle in den Fluten ertrinken muss-ten.

Als Ninepence am vierten Abend das Tor aufstieß,fragte sie sich, welche seltsame Geschichte Yangwohl an diesem Abend erzählen würde. Während siedie Staße hinauf und hinunter blickte und nach denMaultierkarawanen Ausschau hielt, sah sie einenJungen, der nur wenig älter als sie schien. Er lehntesich an die Hofmauer und starrte das Mädchen an. Erwar barfuß und seine ehemals blaue Jacke und Hosewaren dreckig und zerrissen. Ninepence wusstenicht, ob sie das Tor besser wieder zuschlagen oderihn fragen sollte, was er dort wollte. Aber noch bevorsie eine Entscheidung treffen konnte, hob der Jungeden Kopf: Klap-klap-klap machten die Hufe eines he-rantrabenden Maulesels … und mit einem erschreck-ten Aufschrei rannte er davon.

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Ninepence reckte ihren Hals, um zu sehen, ob sicheine Maultierkarawane näherte … und erblicktestattdessen einen einzelnen Esel mit Reiter, begleitetvon zwei Soldaten zur Rechten und zur Linken. »Sie ist wieder da!«, schrie sie, rannte ins Haus undzog Yang am Ärmel. »Komm schnell … Gladys istzurück!« Sie hatten kaum Zeit sich zu begrüßen und dasGepäck abzuladen, da trotteten auch schon die erstenMaultiere einer Karawane in den Hof. Yang schluggroßzügig vor, dass er den Männern die abendlicheBibelgeschichte erzählen könnte, während Gladyserst einmal in Ruhe etwas essen sollte. Dankbarnahm Gladys seinen Vorschlag an und ging die Stu-fen zu ihrem kleinen Zimmer hoch, um sich auszuru-hen. Mitten in der Geschichte kam sie jedoch herun-ter, um sich noch etwas von den Nudeln und demGemüse zu holen. Sie lehnte sich an den Türpfostenund lauschte. »… da sprach Jesus aus dem brennenden Dornbuschzu Noah und sagte: ›Du darfst von allen Früchten derBäume im Garten essen, außer von dem Baum der Er-kenntnis des Guten und des Bösen.‹ Aber dann hatNoahs Frau trotzdem von der verbotenen Frucht ge-gessen, darum sandte Gott eine große Flut …«»Ach, du liebes Bisschen«, flüsterte Gladys zu Nine-pence gewandt, die auf dem Boden hockte und da-rauf wartete, die leeren Teetassen wieder zu füllen.»Hat er die ganze Zeit, als ich nicht da war, solcheGeschichten wie diese erzählt?« Das Mädchen nickte nüchtern. Gladys rollte mit denAugen und seufzte … und dann fing sie an zu ki-

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chern. Jetzt wusste Ninepence, dass sie mit ihrer Ver-mutung Recht gehabt hatte: Yang hatte alle Bibelge-schichten durcheinander geworfen! Sie presste ihreHand auf den Mund, um ihr eigenes Kichern zu un-terdrücken … aber gleich darauf schlüpften die klei-ne englische Frau und das kleine chinesische Mäd-chen in den Hof hinaus, wo sie sich im Dämmerlichtauf eine Steinbank setzten und lachten und lachten!

***Am nächsten Tag begleitete Ninepence Gladys Ayl-ward auf den Markt in Yangcheng, wo sie Weizen fürden Nudelteig und einen großen Sack Hirse kauften.Von den Bauern, die auf den terrassenartig angeleg-ten Feldern an den Berghängen Gemüse zogen, er-standen sie noch einige Karrotten, weiße Rüben, To-maten und Kohl. Ninepence trug das Gemüse ineinem Tuch auf ihrem Rücken; die schweren Säckemit Weizen und Hirse hingen zu beiden Seiten aneiner Stange, die Gladys wie eine echte Chinesin aufihren Schultern balancierte.

Auf dem Heimweg zur Herberge erblickte Nine-pence wieder den Jungen, der vor dem Hoftor herumlungerte. Aber sobald er sie entdeckt hatte,rannte er davon.

Den ganzen Nachmittag dachte Ninepence ange-strengt darüber nach, warum er wohl ein zweites Malan ihr Tor gekommen war. Schließlich schlich sie aufZehenspitzen zu der großen Tür, öffnete sie neugierigeinen Spalt breit und spähte hinaus. Und tatsächlich:Da stand der Junge wieder und starrte sie an … dies-mal hielt er eine kleine, leere Schüssel in den Händen.

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Ninepence schloss leise das Tor und lief zurück insHaus, wo Yang gerade den Tisch für ihr karges Mit-tagsmahl deckte, das aus Hirsebrei bestand. Sie aßengewöhnlich immer am späten Nachmittag, bevor dieMaultierkarawanen ankamen, denn dann wurde eslebhaft und hektisch. »Miss Gladys«, sagte Nine-pence schüchtern und blickte dabei auf ihre Schüsselmit dampfendem Brei, während sie mit gekreuztenBeinen auf einem der Ziegelöfen saß. »Wenn ich einwenig von meinem Brei nehme, etwa so viel …«, undNinepence tat etwas von der Mahlzeit in eine leereSchüssel. »Was hätte ich dann in meiner Schüssel?«

Gladys Aylward sah sie erstaunt an. »Wozu? Du hät-test ein bisschen weniger.«

Ninepence zeigte auf den Hof hinaus. »Da draußensteht ein Junge, der hat noch weniger als mein Weni-ges. Könnte … könnte ich ihm nicht ein bisschen vonmir geben? Dann hätte er auch ein wenig …«

Gladys Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Ach,Yang, warum geben wir nicht auch jeder einen Löffelvon unserem Brei in diese Schüssel? Dann hätten wiralle ein bisschen weniger; aber der Junge da draußenhätte etwas mehr.«

Yang grinste breit, und bald war der Brei auf vier an-statt drei Schüsseln verteilt. Ohne ein Wort kletterteNinepence vom k’ang, überquerte den Hof und öffne-te das Tor. Der Junge war noch da. Sie öffnete das Tornoch weiter und bat ihn herein. Aber als der Jungeeingetreten war, blieb er wie angewurzelt stehen undstarrte auf Gladys. Diese hielt die vierte Schüssel Breiausgestreckt hin.

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»Bitte gib mir die Schüssel«, sagte Ninepence. Dannfüllte sie mit ihren Stäbchen den Hirsebrei in dieSchüssel des Jungen. Sogleich hockte dieser sich aufden Boden und schob die warme Mahlzeit hungrig inseinen Mund.

»So«, murmelte Gladys. »Das ist also ›Less‹*, der Jun-ge, der noch weniger hat als unser Weniges.«

***Der Spitzname blieb … wie auch der Junge, dessenGeschichte nach und nach ans Licht kam. Banditenhatten sein Dorf in den Bergen überfallen. Sie hattenalle Männer getötet, die Häuser niedergebrannt undFrauen und Kinder mitgenommen. Auf diesem Ge-waltmarsch war die Mutter des Jungen krank gewor-den, worauf die Banditen sie zum Sterben einfach imGraben liegen ließen. Als der Junge seiner Mutternicht mehr helfen konnte, zog er weiter von Dorf zuDorf und bettelte um Essen. Schließlich war er einerMaultierkarawane nach Yangcheng gefolgt.

Von Anfang an fühlte der Junge sich zu Ninepencehingezogen und ließ sie kaum aus den Augen. EinBad, frische Kleidung und ein voller Bauch hatteneinen neuen Menschen aus ihm gemacht. Bald tobtendie beiden Kinder über den Hof, spielten Fangen,verteilten frisches Stroh für die Maultiere und halfenin der Küche.

Einige Tage später bekam Ninepence zufällig eineUnterhaltung zwischen Gladys und Yang mit: »Kön-nen wir mit unserem geringen Einkommen vier

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* ›Less‹ bedeutet auf engl. ›wenig‹.

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Mäuler satt bekommen – besonders einen heran-wachsenden Jungen?«, fragte Gladys besorgt.

»Bestimmt!«, antwortete Yang. »Ein kräftiger Jungekönnte sich hier sehr nützlich machen. Sie solltennicht jeden Tag die Ställe ausmisten, Miss Gladys …und Yangs Knochen sind für diese Arbeiten zu alt.«

»Aber wenn er für uns arbeitet, dann müssten wirihn auch bezahlen«, meinte Gladys verzagt.

»Was soll das heißen, ihn zu bezahlen?«, entrüstetesich Yang. »Jeder Sohn in einem chinesischen Haus-halt muss diese Aufgaben erledigen!«

So blieb Less weiterhin in der Herberge zur AchtenGlückseligkeit. Und es war genau so, wie Yang es ge-sagt hatte: Ein kräftiger, junger Bursche war sehrnützlich! Less kümmerte sich fortan um die Arbeit inden Ställen, und als Gladys das nächste Mal in ihrerRolle als offizieller Fußinspektor in die Bergdörferreiten musste, brauchte Yang niemanden von außer-halb zur Hilfe: Sie kamen sehr gut zurecht … nurdass Yang immer noch seine Bibelgeschichten durch-einander warf.

Als Gladys wieder zurück war, rief sie Yang, Nine-pence und Less zusammen und sagte: »Während ichauf diesem alten Gerippe von einem Maulesel überdie Berge geritten bin, hatte ich viel Zeit zum Nach-denken.« Dann fuhr sie fort: »Weißt du noch, was dugesagt hast, Yang, dass jeder Sohn in einem chinesi-schen Haushalt seine Aufgaben zu erledigen hat?«

Yang nickte und grinste breit. »Aber sicher doch.Und Less hat seine Aufgaben immer sehr gut erle-digt.«

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Less senkte verlegen den Kopf.

»Genau!«, stimmte Gladys zu. »Aber … ich habe darüber nachgedacht, dass wir es offiziell machenmüssten – das mit dem Sohn, meine ich.«

Drei chinesische Gesichter sahen sie verblüfft an.Was in aller Welt meinte sie damit?

»Also, ich meine … ich habe gedacht … dass es …«Gladys Aylward holte tief Luft. »Ich würde Nine-pence und Less gerne als meine eigenen Kinder an-nehmen, sie adoptieren.«

Jetzt starrten die drei Gesichter sie mit offenemMund an.

»Nun … was haltet ihr davon?«, fragte Gladys ängst-lich.

Ninepence fand als Erste ihre Stimme wieder.»Wärest du dann meine Mutter?«

»Ja … ja, das wäre ich«, meinte Gladys lächelnd.

»Und wäre Ninepence meine Schwester?«, fragteLess mit weit aufgerissenen Augen.

Gladys nickte.

Die Kinder sahen sich an, dann Yang, dann wiederGladys. »Ja! Ja!«, riefen sie. »Hurra, Hurra!«

Gladys klatschte in die Hände. »How! How! Gut!Gut!«, sagte sie. »Dann werden wir morgen zumMandarin gehen und es offiziell machen.«

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Aufstand im Gefängnis!

Ninepence war aufgeregt. Sie war noch nie im ya-men – so nannte man das offizielle Haus des

Mandarin – gewesen. Ein Diener mit einer blauenBrokatjacke und blauer Seidenhose öffnete ihnenund führte sie in einen kühlen Raum. Kunstvolle Pa-pierlaternen mit Quasten an allen Ecken hingen anden Wänden. Auf Tischen aus glänzendem schwar-zen Holz standen alte Porzellankrüge und -vasen.Die Fächer der Schiebetüren, die von einem Raum inden nächsten führten, waren mit Papier bespanntund mit aufwändigen Bildern bemalt.

Gladys hatte den Kindern die Haare gewaschen undihre Kleider geschrubbt. Trotzdem kam sich Nine-pence in der eleganten Umgebung ziemlich schäbigvor. »Mach dir nichts draus«, flüsterte Gladys, alshätte sie die Gedanken des Mädchens gelesen. »Den-ke nur daran, dich respekt-voll vor dem Mandarin zuverbeugen, und sprich nichteher, bis er zu dir spricht.«

Nachdem sie ein paarMinuten gewartet hat-ten, glitt eine Schie-betür zur Seite und derMandarin betrat denRaum. Ninepence undLess waren so überwäl-tigt, den Mandarin zu se-

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hen, dass sie fast vergessen hätten, sich zu verbeu-gen. Für einen Chinesen war er sehr groß; er hattehohe Wangenknochen und einen Schnurrbart, derbis unter sein Kinn reichte. Unter seiner roten Seiden-kappe war sein glänzendes, schwarzes Haar zueinem langen Zopf geflochten, der ihm bis zu denKnien reichte. Er trug ein langes Gewand in den Far-ben rot, blau, grün und gold. Weite, bestickte Ärmelverbargen seine Hände, die er vor sich gefaltet hatte.

»Gladys Aylward, meine Freundin«, sagte der Man-darin freundlich, ging durch den Raum auf sie zuund verneigte sich erfreut vor der kleinen Englände-rin. »Was führt Sie heute zu mir? … Und wer sinddiese Kinder?«

Gladys verneigte sich ehrfurchtsvoll – wobei Nine-pence bemerkte, dass sie nicht unterwürfig auf demBoden kniete, so wie es die meisten Menschen in An-wesenheit des Mandarin sonst taten. Sie legte ihreArme um Less und Ninepence. »Dies sind Waisen-kinder, die ich in meinem Haus aufgenommen habe.Ich würde sie gerne adoptieren. Können Sie mir da-bei behilflich sein?«

Der Mandarin zog eine Augenbraue hoch. »Sind Siesicher, dass Sie das wirklich wollen – Sie, eine Eng-länderin?«

Gladys errötete. »Ja. China ist jetzt meine Heimat; IhrVolk ist auch mein Volk. Diese Kinder haben nie-manden mehr … nur mich.«

»Ich verstehe«, meinte der Mandarin nachdenklich.»Haben Sie versucht, ihre Eltern ausfindig zu ma-chen?«

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Da erzählte Gladys ihm alles, was sie über die Her-kunft der Kinder wusste.

»Also gut«, sagte der Mandarin. »Dann sollten wirjetzt die notwendigen Formalitäten erledigen.« Erklatschte zweimal in die Hände, und sogleich er-schien ein Schreiber. Man bat Gladys an einen derglänzenden, schwarzen Holztische, wo sie die Federin die Tinte tauchte und wichtig aussehende Papiereausfüllte.

Die Stille im Raum und das kratzende Geräusch derFeder wurden plötzlich von Tumult draußen vor derTür unterbrochen. Ärgerliche Stimmen wurden laut,dann glitt die Tür zur Seite, und ein Mann, der sehrverwirrt aussah, betrat das Zimmer.

»Gouverneur!«, rief der Mandarin entrüstet. »Washat das zu bedeuten? Sehen Sie nicht …«

»Ich bitte um Vergebung, Exzellenz!«, sagte derMann, riss sich die Kappe vom Kopf und fiel vor demMandarin auf die Knie, so dass sein Kopf den Bodenberührte. Dann rappelte er sich wieder auf: »Aberdies ist ein dringender Notfall! Die Gefangenen …«

»Einen Moment«, unterbrach ihn der Mandarin, im-mer auf gutes Benehmen bedacht. »Miss Aylward,dies ist der Aufseher des Gefängnisses. EhrenwerterGouverneur, dies ist Miss Gladys Aylward, meineoffizielle Fußinspektorin.«

Der Mann warf sich erneut zu Boden, dann stieß erhervor: »Die Gefangenen machen einen Aufstand! Oh!Es ist so schrecklich! Sie bringen sich gegenseitig um!«

»Warum schicken Sie nicht Ihre Soldaten, damit siedem Ganzen ein Ende bereiten?«, fragte der Mandarin.

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»Diese Häftlinge sind Mörder, Verbrecher, Diebe!«,warf der Aufseher ein und knautschte die Kappe inseinen Händen. »Wir haben nicht genug Soldaten,um den Aufstand zu beenden. Man würde sie ziem-lich sicher umbringen! Kommen Sie! Kommen Sieschnell!«

Der Mandarin war verstört, rief jedoch seinen Schrei-ber, um sich mit ihm zu beraten. Dann eilte er in Be-gleitung einiger Wächter und Beamten zum Gefäng-nis. Da sie nicht wussten, was sie tun sollten, folgtenGladys und die Kinder ihnen nach.

Als sie in eine schmale Gasse einbogen, sah Nine-pence an deren Ende die dicken Gefängnismauern.Dahinter erscholl ein großer Lärm: Ärgerliches Ru-fen, gellende Schreie, die einem das Blut in denAdern gefrieren ließen, und Schmerzensschreie.Ninepence klammerte sich an Gladys Hand. Sie hattedas Gefängnis schon früher gesehen, hatte aber niedarüber nachgedacht, dass hinter diesen MauernMenschen eingesperrt waren.

Der Mandarin und der Aufseher besprachen sichkurz mit den Gefängniswärtern, die sich ängstlichvor dem Tor versammelt hatten. Das Kreischen undSchreien hinter der Mauer machte es fast unmöglich,zu reden oder nachzudenken. Ninepence bemerkte,dass Gladys ihre Augen geschlossen hatte undstumm die Lippen bewegte. Das kleine Mädchenwusste, dass die Missionarin betete. Dann merkte sie,wie alle anderen ihre Blicke ebenfalls auf Gladys ge-lenkt hatten.

Der Mandarin löste sich aus der Gruppe der Beamtenund Wächter und ging auf Gladys zu. »Miss Ayl-

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ward«, sagte er, sein Gesicht von tiefen Sorgenfaltendurchzogen. »Sie müssen hineingehen und den Auf-stand beenden.«

»Ich!«, rief Gladys erstaunt. »Ich soll gehen! Was re-den Sie da? Haben Sie nicht gehört, was der Gouver-neur gesagt hat: Dass die Gefangenen die Soldatenumbringen würden, wenn sie da hinein gingen?Wenn ich da hineingehe, dann töten sie mich!«

Aber der Mandarin starrte Gladys mit einem selt-samen Gesichtsausdruck an. »Nein, nein! Wie solltensie Sie töten? Sie sagen unserem Volk, dass Gott in Ihnen lebt …«

»G-gott in mir lebt …?«, stammelte Gladys. »Gut, ja,aber …«

»Ich habe von den Geschichten gehört, die Sie denMaultiertreibern und dem Bergvolk erzählen, wennSie sie in Ihrer Rolle als offizieller Fußinspektor be-suchen, nicht wahr? Geschichten über Gott, der eingroßes Meer zurückhält, damit Sein Volk trockenenFußes hindurchmarschieren kann … und wie Gotteinen Seiner Propheten beschützt hat, damit ihn dieLöwen nicht fressen konnten. Wenn es wahr ist, wasSie erzählen, dann wird Ihr Gott Sie auch beschützen,wenn Sie in das Gefängnis gehen.«

Der Mandarin meinte es ernst. Seine Augen sahen sieflehend an.

Gladys starrte ihn mit offenem Mund an. Ninepencewar so erschrocken, dass ihr fast der Atem stockte.Sie wusste, dass sie in Gegenwart dieser wichtigenMänner keinesfalls etwas sagen durfte, ohne dass siegefragt wurde. Aber in ihrem Innersten schrie sie:

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»Nein! Nein! Schickt meine Mutter nicht da hinein!Sie werden sie töten!«Nach einer Zeit, die wie eine Ewigkeit erschien,schluckte Gladys Aylward und sagte leise: »Gut. Sa-gen Sie dem Gouverneur, dass er das Tor öffnen soll… ich werde sehen, was ich machen kann. Less, bleibbei Ninepence; bleibt zusammen, was auch passierenmag.«Angstvoll zog Less Ninepence vom Tor fort und hieltsie mit beiden Händen fest. Entsetzt sah Ninepence,wie das große Holztor entriegelt wurde, sich einenSpalt weit öffnete und die kleine Engländerin mitden verblichenen blauen Kleidern dahinter ver-schwand. Sofort wurde das Tor wieder verriegelt. Gladys Aylward war in einem Gefängnis voller Ver-rückter gefangen!

***Ungläubig blickte Yang auf Gladys. »Warum habtIhr so einer riskanten Idee zugestimmt? Für eine Frauist es schon unter normalen Umständen äußerstleichtsinnig, in ein Männergefängnis zu gehen …aber mitten in einem Aufstand …«Ninepence lehnte sich an Gladys und sah in das Ge-sicht ihrer Adoptivmutter hinauf. »Hattest du keineAngst?«, fragte sie leise.Gladys Aylward nahm einen weiteren beruhigendenSchluck heißen, grünen Tees. »Natürlich hatte ichAngst! Aber … ich wusste, wenn ich nicht hineinge-gangen wäre, hätte ich nicht länger Missionarin inChina sein können. Ich habe den Menschen hier er-zählt, dass Gott allmächtig ist, dass Er sie beschützen

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wird … aber wenn ich selber nicht genug Vertrauenhabe, dass Er mich beschützen wird …« Ihr versagtedie Stimme.

»Aber was geschah, als sie das Tor hinter dir ge-schlossen hatten?«, fragte Less ängstlich. »DasSchreien war erst noch einen Moment zu hören, unddann war es ganz plötzlich still.«

Während sie redeten, wanderten Ninepences Gedan-ken zurück zum Morgen. Waren wirklich erst einpaar Stunden vergangen, seit sie im Haus des Man-darin waren und die Adoptionspapiere ausgefüllthatten? Es schien ihr, als seien seither Jahre vergan-gen. Jetzt saßen sie auf einem der Ziegelöfen der Her-berge zur Achten Glückseligkeit, tranken Tee und be-richteten Yang, was passiert war. Selbst Ninepenceund Less wussten nicht genau, was sich hinter demGefängnistor zugetragen hatte, als es von innenklopfte und Gladys wieder herauskam.

»Nun«, meinte Gladys und fuhr mit ihrem Berichtfort, »als sich das Tor hinter mir schloss, war ich ent-setzt. Zuerst konnte ich nichts sehen, denn ich standin einer Art Tunnel, der vom Tor in den Gefängnishofführte. Aber am Ende dieses Tunnels sah ich Männerhin und her rennen. Sie gingen mit Schwertern undMessern aufeinander los, jagten sich und schrien wiedie Irren. Ich weiß nicht mehr, wie ich durch denTunnel gegangen bin – meine Beine zitterten ganzfürchterlich –, aber plötzlich stand ich draußen imSonnenlicht. Überall lagen Tote und Verwundete;der Boden war rot vom Blut. Ich sah auf … und da!Mit hoch erhobener Axt rannte ein Riese von einemMann direkt auf mich zu!«

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Ninepence lief ein kalter Schauer den Rücken hinun-ter und sie bekam eine Gänsehaut. »Ich hatte solche Angst! Ich stand da und war wiegelähmt«, fuhr Gladys fort. »Plötzlich blieb der Mannstehen, nur wenige Schritte vor mir, und hielt seineAxt in Händen, von der noch das Blut tropfte. So wiedie Gefangenen mich bemerkt hatten, hörten sie auf,einander zu jagen und kamen einer nach dem ande-ren langsam auf mich zu.«»Und was hast du dann gemacht?«, wollte Less wis-sen, dessen Augen so groß wie Untertassen waren. »Ich … nun, ich wurde verrückt! Er war einfach einriesiger Stier, der die anderen Gefangenen mit dieserAxt in schreckliche Furcht versetzte. Ich habe dannernst von ihm verlangt: ›Gib mir die Axt‹.« Yang kniff die Augen zusammen. »Ihr habt einfachgesagt: ›Gib mir die Axt‹?!« Der alte Mann schüttelteungläubig den Kopf. Gladys nickte. »Und der Mann hat sie mir ganz lang-sam gegeben. So … wurde ich etwas mutiger und be-fahl den anderen mit fester Stimme: ›Ihr Männer!Stellt euch in zwei Reihen vor mir auf!‹, und alleMänner drängelten sich in zwei Reihen vor mir. Aber…« Gladys’ Stimme versagte und sie zögerte, bevorsie weitererzählte. »Sie waren alle so dünn und aus-gezehrt. Ihre Kleider waren nicht mehr als dreckigeLumpen. Ich sah den Hunger und die Not in ihrenAugen.«Ninepence rückte noch näher an Gladys. Sie erinner-te sich, wie es war, hungrig und schmutzig und kaltzu sein … es war so schlimm, dass sie es aus ihrer Er-innerung verdrängt hatte.

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Gladys berichtete weiter: »Ich erzählte ihnen, dassder Gefängnisaufseher mich geschickt hatte, weil erwissen wollte, warum sie so kämpften. Allesschwieg. Also sagte ich ihnen, dass sie einen ausihren Reihen zum Sprecher bestimmen sollten. We-nig später trat ein junger Mann vor. Nachher erfuhrich, dass er ein ehemaliger buddhistischer Priestersei, der zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde,weil er Geld aus dem Tempelschatz gestohlen hatte.›Mein Name ist Feng‹, stellte er sich höflich vor. ›Wirwissen nicht mehr, wie alles angefangen hat. Aber …wenn Männer nicht genug zu essen haben und denganzen Tag nichts zu tun …‹«

Gladys’ Augen funkelten. »Kannst du das glauben,Yang? All diese Männer, eingesperrt, und nichts, wo-mit sie sich beschäftigen können. Natürlich ver-wickeln sie sich dann in Schlägereien! Also habe ichFeng gesagt, wenn die Männer versprechen sich zuvertragen und den Hof säubern und die Toten begra-ben, dann würde ich mich bei dem Aufseher für sieeinsetzen.«

»Das hat sie getan!«, triumphierte Less fröhlich. »Alssie wieder herauskam, hat sie ein ernstes Wort mitdem Aufseher gesprochen! Sie hat ihm gesagt, dasser Arbeit für die Männer beschaffen soll, damit sieGeld verdienen und Essen kaufen können, weil dasihre Selbstachtung stärkt.«

»Hat er zugehört?«, wollte Yang wissen.

»Das will ich hoffen«, lachte Gladys. »Ich werde Fengjeden Tag im Gefängnis besuchen, bis alle Forderun-gen erfüllt sind.«

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Plötzlich erinnerte Ninepence sich an etwas. »Als al-les vorbei war«, wandte sie sich an Yang, »gingen wirzurück zum yamen des Mandarin – um die Adopti-onspapiere weiter auszufüllen, du weißt schon – undals wir gingen, sagte der Gefängnisaufseher: ›Danke,Ai-weh-deh‹.«

»Das stimmt«, meinte Gladys nachdenklich. »Wa-rum hat er mich nur so genannt? Ai-weh-deh …Yang, weißt du, was das bedeutet?«

Ein Lächeln überzog Yangs rundes Gesicht. »Ai-weh-deh? Also, es bedeutet ›Die Tugendhafte‹!«

***Die Geschichte von Gladys Aylward, die im Gefäng-nis von Yangcheng einen Aufstand beendet hat, ver-breitete sich wie ein Lauffeuer innerhalb der Stadt-mauern und entlang den Wegen der Maultierkara-wanen in den Bergen. Niemand nannte die kleineenglische Frau mit den chinesischen Kleidern mehreinen ›fremden Teufel‹; auch nicht mehr Gladys Ayl-ward. Wohin sie auch gingen, hörte Ninepence dieLeute nur noch sagen: »Guten Morgen, Ai-weh-deh!«, oder: »Wie wäre es heute mit einem schönenKohlkopf, Ai-weh-deh?« Selbst Yang nannte sie beiihrem neuen Namen, wenn er an ihr herumnörgelte:»Diese Jacke ist schon ganz fadenscheinig, Ai-weh-deh! Ihr braucht eine neue, ehe der Schnee kommt!«

Jeder nannte sie so, außer Ninepence und Less. AmAbend, nachdem die Adoptionspapiere unterzeich-net waren, zupfte Ninepence schüchtern an GladysÄrmel. »Jetzt, wo wir adoptiert sind«, begann sieängstlich, »können wir …« Verlegen hielt sie inne.

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Less nahm allen Mut zusammen: »Dürfen wir dichMama-san nennen?«

»Aber natürlich!«, stimmte Gladys freudig zu undnahm beide ganz fest in die Arme. »Jetzt seid ihrwirklich meine Kinder und nichts und niemand kanneuch je von mir fortnehmen!«

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Regelverstoß

Als es draußen immer kälter wurde und in denBergen der erste Schnee fiel, kamen immer we-

niger Maultierkarawanen durch Yangcheng. Jetztmussten Gladys, Yang und die Kinder nicht mehr sohart arbeiten, um die Herberge zur Achten Glückse-ligkeit zu unterhalten … dafür hatten sie nun genugdamit zu tun, die Vorräte so zu strecken, damit sie fürden Winter ausreichten. Gladys trennte einige ihreralten englischen Wollkleider auf, um den Kinderndaraus Mäntel zu nähen, die sie über ihren altenJacken tragen konnten. Des Nachts schliefen sie allenah beieinander auf den k’angs, um sich so warm zuhalten.

Ninepence, die nun sieben Jahre alt war, war froh alsder Schnee endlich schmolz und die Frühlingssonnedie Vögel und Blumen auf die Bergwiesen zurück-brachte. Die ersten Maultierkarawanen stolpertendie steinigen Pfade hinauf und brachten lang ersehn-ten Nachschub an Stoff, Decken, Schuhen, Weizen,Graupen, Hirse und Saat-gut – und neue Gästefür die Herberge zurAchten Glückselig-keit.

»Worüber redensie miteinan-der?«, wollteYang von Less

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und Ninepence wissen, die mit Tassen voll Tee undSchüsseln voll Hirsebrei für die hungrigen Maultier-treiber hin und her liefen.

»Oh … von Kämpfen unten im Tiefland zwischenchinesischen Kommunisten und nationalistischenSoldaten«, meinte Less und tat es mit einem Achsel-zucken ab.

»Nun, nun«, beruhigte sie Gladys. »Das sind dochnur Gerüchte. Soldaten finden immer einen Grundzum Kämpfen. Uns hier in den Bergen betrifft das so-wieso nicht. Wir haben schon genug mit den Bandi-ten hier oben zu tun!«

Am ersten warmen Tag kamen die Frauen vonYangcheng am Bach zusammen, der nahe beim Ost-tor der Stadt vorbeifloss, um auf den Steinen ihreWäsche zu waschen und den neusten Klatsch zuhören. Less und Ninepence halfen Gladys, all ihreWinterkleidung und die Bettwäsche zum Bach zuschleppen. Sie brachten den ganzen Morgen damitzu, die schmutzigen Sachen in das eiskalte Wasser zutauchen, um sie danach mit einem Holzknüppel aufden Felsen auszuklopfen.

»Ai-weh-deh, hast du schon gehört?«, fragte dieFrau, die neben ihnen mit einem schlafenden Babyauf dem Rücken ihre Wäsche auswrang. »MeinMann ist mit einer der Maultierkarawanen nachTsehchow gezogen, weil er dort etwas zu erledigenhatte. Und er hat erzählt, dass japanische Soldatenüber die Grenze nach China eingedrungen sind.«

»Die Japaner?«, mischte sich eine andere Frau ein.»Ich habe schreckliche Sachen über sie gehört! Viel-

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leicht sollten wir unsere Familien weiter oben in denBergen in Sicherheit bringen?«

»Hah!«, rief eine andere Zuhörerin dazwischen. »Ja-pan ist doch nur ein kleiner Fußnagel im Vergleich zuunserem riesigen China! Und wer fürchtet sich schonvor einem Fußnagel?!«

»Wir sollten nichts überstürzen«, mahnte Gladys.»Das letzte Stück meiner Reise nach China habe ichauf einem japanischen Schiff zurückgelegt. Und ichmuss sagen, dass die Japaner alle sehr freundlich undhöflich waren. Sollte irgendeine Gefahr drohen, wirdder Mandarin es uns wissen lassen.«

Ninepence langweilte das Gerede der Erwachsenen.Sie bat um Erlaubnis, spielen zu gehen. Gladys nicktegeistesabwesend.

Eine Zeit lang spielten Ninepence und Less Fangenmit einigen anderen Kindern. Dabei hüpften sie vonStein zu Stein am Bachlauf entlang. Plötzlich bemerk-ten sie ein kleines Kind von etwa zwei Jahren, dasweinend auf einem Stein saß. Es war ganz allein.

»Warum weint der Kleine denn?«, fragte Ninepencebesorgt und hielt Less am Ärmel.

»Er wird seine Mutter verloren haben. Komm!«,meinte Less und kletterte zu dem Kleinen hinüber.»Wir wollen ihm helfen, dass er sie wiederfindet.«

Ninepence putzte dem Jungen mit ihrem Taschentuchdie Nase. Dann hob Less ihn hoch und trug ihn vonFrau zu Frau am Bach entlang und fragte jede: »Kennstdu dieses Kind? Weißt du, wer seine Mutter ist?«

Die Frauen zogen die Schultern hoch oder schütteltenden Kopf. Niemand hatte das Kind vorher gesehen.

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»Seine Mutter muss doch hier sein«, meinte Less un-geduldig und setzte den Kleinen auf den Boden,denn für einen Zehnjährigen war er ganz schönschwer zu tragen. »Er ist doch nicht einfach aus demBoden gewachsen.«

»Vielleicht hat er keine Mutter«, überlegte Nine-pence.

»Natürlich hat er eine!«, sagte Less. »Komm, wir wol-len ihn zu unserer Mutter bringen. Sie wird wissen,was zu tun ist.« Sie nahmen jeder eine Hand des Kin-des und machten sich auf, um Gladys zu suchen, diegerade die saubere Wäsche zu einem nassen Bündelzusammenrollte.

Gladys sah sie kommen. »Was macht ihr denn mitdem Kind?«, rief sie ihnen entgegen. »Bringt es sofortzurück zu seiner Mutter!«

»Aber das ist es ja gerade«, meinte Less. »Wir habenseine Mutter gesucht, aber niemand weiß, zu wemder kleine Kerl gehört.«

»Nun … vielleicht ist er aus der Stadt hierher gelau-fen. Es wird sicher bald jemand kommen und ihn su-chen.«

»Und wenn niemand kommt, nehmen wir ihn dannmit?«, fragte Ninepence voller Hoffnung.

»Auf gar keinen Fall!«, entrüstete sich Gladys, wobeisie mit dem schweren Wäschebündel das Ufer hinauf-kletterte. »Man würde uns des Kinderraubes beschul-digen! Kommt … irgendwie werden wir seine Elternschon finden.«

Aber obwohl sie jeden fragten, der ihnen begegnete,vermisste niemand ein kleines Kind. Schließlich bat

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Gladys den Mandarin um Hilfe. Dieser schickteeinen Ausrufer, der in allen Straßen von Yangchengmit lauter Stimme verkündete, dass man ein Kind ge-funden hatte. Aber niemand meldete sich.

Als das alles vergeblich war, nahmen Gladys und dieKinder den kleinen Jungen mit zur Herberge zurAchten Glückseligkeit. Ninepence erbat sich etwasHirsebrei von Yang und löffelte ihn in den hungrigenMund des Kleinen, wobei sie beruhigend auf ihn ein-redete: »Das macht dein Bäuchlein voll, bao-bao …«

»Ich glaube, dass Bao-Bao für immer bei uns bleibenmöchte«, meinte Yang, der zusah, wie Ninepence dasKind fütterte.

»Bao-Bao?«, fragte Gladys erstaunt. »Was bedeutetdas?«

»Ach, das bedeutet ›Kleiner Schatz‹«, grinste Yang.

***Ninepence trat aus dem Stall, wo sie Less dabei ge-holfen hatte, frisches Stroh für die Maultiere auszu-streuen, als sie überrascht bemerkte, dass der Man-darin persönlich in ihrem Hof stand.

»Aber, Excellenz«, protestierte Gladys, den kleinenBao-Bao auf der Hüfte tragend, »wie Sie sehen istmeine Familie gewachsen … und dieser Kleine istdoch fast noch ein Baby. Ich kann jetzt unmöglich ge-hen und die Bergdörfer besuchen.«

Der Mandarin beugte respektvoll seinen Kopf. »Ichverstehe, Ai-weh-deh. Aber die nationalistische Re-gierung wird langsam ungeduldig. Sie wollen end-lich wissen, ob ihr Verbot, die Füße zu binden, in die-

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ser Region befolgt wird. Und mir ist zu Ohren ge-kommen, dass sich ein bestimmtes Dorf dieser Rege-lung widersetzt. Ihr müsst gehen und das Gesetzdurchsetzen.«

»Aber …«

»Ihr seid die Einzige, die das kann, Ai-weh-deh«,sagte der Mandarin ernst. »Das kann nur eine Frau –eine Frau, deren Füße nicht verkrüppelt sind. Undjetzt, wo Ihr chinesische Staatsbürgerin seid, sprechtIhr nicht nur mit meiner Autorität, sondern mit derAutorität ganz Chinas!«

Ninepence stupste Less an und grinste. Sie waren anjenem Tag so stolz auf ihre Mutter gewesen, dass siedie chinesische Staatsbürgerschaft angenommen hat-te – an dem Tag, als sie Bao-Bao adoptierte.

»Aber …«

»Ich werde Euch einen weiteren Maulesel besorgen.Dann könnt Ihr den Kleinen mitnehmen und«, dabeinickte er Ninepence zu, »die Hilfe einer Mutter.«Dann blickte er an Ninepence herab und sah ihreFüße. »Zumal die nicht-gebundenen Füße dieser jun-gen Dame ein gutes Beispiel sein werden.«

Alles Protestieren half nichts. Befehl war Befehl.Ninepence kam sich sehr erwachsen vor, als sie einpaar Tage später auf dem großen Maulesel saß, derschwankend den steinigen Pfad hinauftrabte. Gladysund Bao-Bao ritten vor ihnen her. Drei Soldaten, diedie Esel führten, marschierten zum Schutz vor Bandi-ten mit ihnen. Yang und Less blieben daheim in derHerberge zur Achten Glückseligkeit, wo sie sich umdie durchreisenden Maultiertreiber kümmerten.

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Als sie am späten Nachmittag hoch oben im Gebirgs-dorf ankamen, begann Gladys sogleich mit der Ar-beit. Sie rief die Dorfbewohner zusammen, las ihnenden Befehl des Mandarin vor und verlangte, alleMädchen unter zwölf Jahren zu sehen. Die Mütterund Väter waren zuerst recht mürrisch, gehorchtendann aber missmutig, als die Soldaten ihnen klar ge-macht hatten, dass sie keine andere Wahl hätten. Gla-dys zeigte ihnen dann, wie sie die Füße ihrer kleinenMädchen ganz langsam von den schmerzhaften Ban-dagen befreien sollten, um danach die kleinen ver-formten Zehen zu baden und zu massieren. Nine-pence spielte mit Bao-Bao, damit Gladys ungestörtarbeiten konnte … aber als Gladys sie rief, weil sieden Dorfbewohnern ihre starken, gesunden Füße zei-gen sollte, schritt sie voller Stolz vor ihnen auf undab.

Als die Dämmerung hereinbrach, ging Gladys vonTür zu Tür, klopfte überall an, um sich zu vergewis-sern, dass auch kein Mädchen übersehen wordenwar. Bei einem Haus trafen sie auf eine grimmigeDorfbewohnerin, die sie nur anstarrte, aber nicht inihr Haus hineinließ.

»Mein Herr ist nicht zu Hause. Ich kann euch nichthereinlassen«, meinte sie stur. »Er hat mir strengeAnweisungen gegeben. Er …«

»Wie ist Ihr Name, Mrs. –?«, fragte Gladys höflich.

»Mrs. Cheng. Ich bin die Haushälterin hier. Ihr dürftnicht hinein.«

»Nun, Mrs. Cheng«, meinte Gladys, »ich habe An-weisungen vom Mandarin …«

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Aber bevor sie die Frau höflich überzeugen konnte,sie ins Haus zu lassen, schoben die Soldaten sie bei-seite und drangen ein.»Raus! Raus mit euch!«, schrie die Frau. »Ihr habtkein Recht …«»Mama-san, sieh nur!«, rief Ninepence, die Bao-Baoauf ihrer Hüfte trug und ihn mit einer Hand hielt. Mitder anderen zeigte sie in eine Ecke des Hauses.Da, auf einer Strohmatte, lag ein kleines Mädchenvon etwa vier Jahren. Es nuckelte am Daumen undwimmerte – seine Füße waren nach der Tradition festumwickelt.»Gut, gut … hier ist ein kleines Mädchen«, lenkteMrs. Cheng ein. »Aber sie gehört nicht mir … siegehört meinem Herrn! Er wird sehr ärgerlich wer-den, wenn Ihr die Füße losbindet!«»Ruhig … wir müssen es tun«, sagte Gladys, knietesich neben die Kleine auf den Boden und begannlangsam mit der schmerzvollen Prozedur. »So ist dasGesetz.«Anstatt ängstlich zu schreien, wie die meisten Mäd-chen es getan hatten, wenn Gladys ihre Bandagenlöste, fügte sie sich demütig und lächelte sogar nochNinepence zu. »Wie heißt du?«, fragte Gladys sanft, während sieden zweiten Fuß loswickelte und die verkrümmtenZehen massierte.»Tiger Lily«, flüsterte das Mädchen.»Man spricht nicht zu Fremden!«, schrie Mrs. Cheng,die wütend im Zimmer auf und ab schritt. »Dukennst doch die Regeln!«

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Aber Tiger Lily sah Gladys, Ninepence und Bao-Baomit bittenden Augen an: »Wirst du auch die Füßevon Precious Pearl losbinden?«, fragte sie schüch-tern. »Und Jade Lily … und Glorious Ruby … undChrystal?«

»Was?«, rief Gladys erstaunt. Sie wirbelte herum undfuhr Mrs. Cheng an. »Es sind noch mehr Kinder hier!Wo sind sie, du böse Frau? Sagt es sofort, oder ich las-se euch ins Gefängnis werfen!«

Wieder warteten die Soldaten nicht ab. Sie durch-suchten das Haus und fanden noch vier weitere klei-ne Mädchen, alle im Alter von Tiger Lily, die ineinem Hinterzimmer eingesperrt waren.

Ninepence war verwirrt. Wie konnte eine Familie soviele Kinder im selben Alter haben? Gladys jedochhatte alles durchschaut; sie war schrecklich wütend!

»Euer Herr ist nicht der Vater dieser Kinder!«, schriesie Mrs. Cheng an. »Wer sind sie? Warum sind siehier?«

Ängstlich gab Mrs. Cheng zu, dass ihr Herr alle fünfMädchen von Familien gekauft hatte, die sie nichtwollten, und dass er sie zu einem guten Preis anEhemänner oder Bordelle weiterverkaufen würde,sobald ihre Füße ›fertig‹ wären.

Jetzt war es Gladys Aylward, die wütend im Zimmerauf und ab schritt. Die fünf kleinen Mädchen saßenschweigend und ängstlich in der Ecke. Bao-Bao fingan zu weinen.

Gladys blieb stehen. »Wir werden heute Nacht hierbleiben«, ließ sie die anderen wissen. »Morgen frühbeim ersten Tageslicht werde ich alle fünf Mädchen

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mit nach Yangcheng nehmen. Wenn wir sie hierzurückließen, würde man ihre Füße wieder bindenund sie als Sklaven verkaufen. Das werde ich nichtzulassen! Ich habe mich entschieden.«

Am nächsten Morgen schlängelte sich eine seltsameProzession den Bergpfad vom Dorf hinab. Vorn gingein Soldat, der Gladys Aylwards Maultier führte;darauf saßen Gladys, Bao-Bao, Precious Pearl undGlorious Ruby. Danach kam der zweite Soldat, derden Esel führte, der Ninepence, Tiger Lily, Jade Lilyund Chrystal trug. Am Schluss ging der dritte Soldatmit der Waffe im Anschlag, um sie vor Banditen zuschützen.

Doch kaum hatten sie das Dorf aus den Augen verlo-ren, als ihnen jemand auf dem Pfad hinterherrannteund rief: »Wartet! Wartet!« Ninepence drehte sichum und sah die einsame Figur einer Frau, die ihnenauf ihren kleinen Füßen hinterherhumpelte. Die Sol-daten zuckten nur mit den Schultern und hieltennicht an. Aber als der Weg eine scharfe Kurve mach-te, rutschte die Frau einfach den Abhang hinab undlandete so direkt naben dem Treck.

Es war Mrs. Cheng.

»Ai-weh-deh! Ai-weh-deh!«, jammerte sie und zogan Gladys Hosenbein. »Nehmt mich mit! Wenn meinHerr zurückkommt und die Mädchen nicht mehr dasind, wird er mich schlagen … oder er bringt michum! Bitte nehmt mich mit!«

Gladys sah auf die Mädchen, dann auf die Soldaten.Niemand sagte ein Wort oder machte eine Geste, dieja oder nein bedeutet hätte.

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Gladys seufzte. »In Ordnung«, willigte sie ein. »Aber… es tut mir leid, Mrs. Cheng. Die Maulesel sind allebesetzt. Ihr werdet nach Yangcheng laufen müssen.«

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Der fremde Mann

Ninepence war ganz aufgeregt: über Nacht warsie die ›große Schwester‹ für fünf kleine

Mädchen geworden, die ihr wie kleine Küken überallhin folgten. Zuerst hatte sie gar nicht bemerkt, dassLess bei der Ankunft von Mrs. Cheng und den vier-und fünfjährigen Kindern immer mürrischer gewor-den war. Aber als er am nächsten Tag für mehrereStunden verschwand, machte sich Ninepence auf dieSuche nach ihm.

Sie fand ihn schmollend im Stall. »Was hast du?«,fragte sie besorgt. »Freust du dich nicht, dass TigerLily und die anderen Mädchen jetzt bei Ai-weh-dehin Sicherheit sind?«

Less stieß mit dem Fuß ins Stroh. »Ach,ja, ich denke, aber …« Er sahziemlich unglücklich aus. »Aber… du hast jetzt viele Freundin-nen und ich habe niemanden …außer Bao-Bao. Aber der ist jafast noch ein Baby.«

Ninepence nahm seineHand. »Du darfst nichttraurig sein«, tröstete sieden Jungen. »Du bistmein lieber adoptierterBruder – du und Bao-Bao.Du wirst immer mein bester Freund sein.«

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Zweifelnd sah Less sie an. »Wirklich?«

»Wirklich! Aber komm jetzt«, sagte sie und zog ihndabei am Ärmel. »Wir sollten jetzt unserer Mutterhelfen, die Füße der Kleinen zu massieren, damit siestark und kräftig werden – wie meine!«

***Mit acht Kindern, die in jenem Jahr im Hof der Her-berge umherliefen, wurde das Leben dort laut undlebhaft, und voll von kleinen Freuden und Proble-men – Fangen und Bockspringen … ewig laufendeNasen … endlos Jacken und Hosen waschen undflicken … Beschwerden von Yang, weil das Spülwas-serbassin nicht ausgeleert oder die Schüsseln undTeetassen nicht weggeräumt waren … Picknick inden Bergen … nicht enden wollende spannendeBibelgeschichten von Gladys zur Schlafenszeit …dann das Lauschen an den Ritzen im Boden, wennGladys den Maultiertreibern dieselben Geschichtenerzählte (und man annahm, dass die Kinder längstschliefen).

Mrs. Cheng blieb für einige Wochen bei ihnen, abersie hatte Angst, dass ihr Herr sie finden und womög-lich schlagen würde. Eines Tages war sie dann ein-fach verschwunden. Tiger Lily flüsterte Ninepencezu, wie froh sie war, dass Mrs. Cheng fort war. »Siehat uns immer geschlagen. Der einzige Grund, dasssie es hier nicht getan hat, war Ai-weh-deh. Sie fürch-tete sich vor ihr.«

»Sie fürchtete sich?«, fragte Ninepence erstaunt. Wiekonnte sich jemand vor ihrer guten Mama-san fürch-ten, die nur fünf Fuß groß war?

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»Oh, ja!«, bekräftigte Tiger Lily. »Jeder in den Bergenweiß schließlich, dass Ai-weh-deh hundert Mördermit Äxten besiegt hat, und das, obwohl ihr eine Handauf den Rücken gebunden war.«

Als Ninepence Less erzählte, was Tiger Lily gesagthatte, konnten sie sich vor Lachen kaum noch halten– und beschlossen, es niemandem weiterzusagen.Wenn Ai-weh-deh wüsste, was die Leute sagten,würde sie keine Zeit verlieren und die Sache geradestellen … aber Ninepence und Less dachten, dass die-ses Gerücht vielleicht Räuber davon abhalten könnte,über Ai-weh-deh herzufallen, wenn sie wieder ein-mal in ihrer Rolle als offizieller Fußinspektor in denBergdörfern unterwegs war.

Als die zwei ältesten Kinder wurden Less und Nine-pence oft zum Markt gesandt, um etwas zu besorgenoder eine Nachricht zu überbringen. Als der Frühlingin den Sommer überging und der Sommer in denHerbst, bemerkten sie, dass immer häufiger Offiziereder Nationalistischen Armee auf ihren großen, star-ken Pferden durch Yangcheng ritten. Manchmal blie-ben sogar zwei oder drei von ihnen über Nacht in derHerberge zur Achten Glückseligkeit. Aber meistenshatten sie etwas mit dem Mandarin und seinen Beam-ten zu besprechen oder waren auf dem Weg über dieBerge nach Sian in der nächsten Provinz. Sie bliebennie länger als ein paar Tage und zogen dann weiter.

Eines Tages im Spätherbst kam Gladys leicht errötetim Gesicht und etwas verstört von einem Besuchbeim Mandarin heim. »Heute habe ich einen sehr in-teressanten Offizier im yamen getroffen«, sagte sie zuYang und den Kindern, während sie ihr Abendessen

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einnahmen, das aus Nudelstreifen, Hühnchen undGemüse bestand. »Sein Name ist Colonel Linnan –ich glaube, er ist Nachrichtenoffizier in General Chiang Kai-sheks nationalistischer Armee. Seltsam… er ist ein sehr gebildeter Mann, bekannt mit Philo-sophie, spricht das klassische Mandarin-Chinesisch… wir hatten eine sehr interessante Unterhaltung! Zutraurig, dass er bei der Armee gelandet ist.«

Aber Gladys hatte zu viel im Kopf, um interessantenArmeeoffizieren viel Aufmerksamkeit zu schenken.Der Winter 1935/36 war, wie Yang meinte, ein ›Drei-Jacken-Winter‹, der Yangcheng monatelang unterSchnee begrub. Die bittere Kälte kroch durch die zu-gige alte Herberge. Des Nachts kuschelten sie sichalle auf den warmen Ziegel-k’angs zusammen undwaren dankbar, dass der tiefe Schnee zumindest be-deutete, dass kein Maultiertreiber die Herberge be-suchen würde.

Aber Ninepence und Less wussten, dass Gladys undYang sich Sorgen machten, ob ihr Vorrat an Kohleund Nahrung für den Winter ausreichen würde.Gemüse, Eier und das gelegentliche Hühnchen wa-ren bald nur noch Erinnerung. Im Januar servierteYang Brot, Kartoffeln und Hirsebrei zum Frühstückund zum Abendessen. Dennoch brachte Gladys denKindern ein Danklied bei, das sie vor jeder kargenMahlzeit sangen.

Count your blessings!Name them one by one!Count your many blessings,See what God has done.*

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***Als der Schnee schließlich zu tauen begann, hüpftendie Kinder fröhlich in den Pfützen im Hof.

»Seht her! Seht doch nur!«, rief Glorious Ruby. »Daist ein roter Vogel – da! Auf der Hofmauer!«

»Ich habe ihn zuerst gesehen … nicht wahr, Nine-pence?«, nörgelte Precious Pearl.

»Chrystal! Jade Lily! Zieht sofort eure Mäntel an!«,schimpfte Less, der nun elf Jahre alt war und seineRolle als ›großer Bruder‹ sehr ernst nahm.

»Ah, die süßen Klänge des Frühlings!«, neckte Yangaus der Tür heraus, als Ai-weh-deh zusah, wie dieacht Kinder sich im matschigen Schnee kugelten unddabei tropfnass wurden. Hilflos verdrehte sie die Augen.

Dann eines Tages, als der Schnee weiter geschmolzenwar, hatte Less wirkliche Neuigkeiten. »Mama-san!Ninepence! Yang! Kommt schnell! Eine Maultierka-rawane kommt über den Berg!«

Ai-weh-deh und die Kinder rannten in den Hof hin-aus und blickten in die Richtung, in die Less zeigte –nicht hinunter ins Tal, wo man gewöhnlich die erstenKarawanen ausmachen konnte, die von Tsehchowher kamen, sondern hinauf zu den felsigen Pfaden,die von der anderen Seite der Berge kamen, aus der

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* Zähl’ die Segenstaten,nenne jede beim Namen.Zähl’ die Segenstaten,sieh’, was Gott getan hat.

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Richtung des Gelben Flusses. Eine lange Reiheschwarzer Punkte schien sich den Berghang hinunterzu bewegen. Aber irgendetwas war seltsam bei die-ser Karawane …

Als die schwarzen Punkte größer wurden, merktendie Bewohner von Yangcheng, dass es gar keineMaultierkarawane war: Männer, Frauen und Kinder– viele, viele Kinder – wankten, mit schweren Bün-deln beladen, erschöpft in die Straßen der Stadt. Less,der herausfinden sollte, was los war, kam mit üblenNeuigkeiten zurück.

»Durch die Schneeschmelze ist der Gelbe Fluss überdie Ufer getreten und hat alles überschwemmt. Alldiese Menschen haben ihre Bauernhöfe und Dörferverloren und … ganz viele sind auch ertrunken.«

In diesem Augenblick hörte man ein Klopfen amHoftor. Ai-weh-deh sah Yang an. Ninepence wusste,was ihre Adoptivmutter dachte. All diese Flüchtlingebrauchten einen Platz, wo sie bleiben konnten … aberwie sollten sie noch mehr hungrige Mäuler stopfen,wenn die Maultierkarawanen aus Tsehchow, dieneue Vorräte bringen sollten, noch nicht eingetroffenwaren? Seufzend ging Ai-weh-deh zum Tor undstieß es auf.

»Lai-lai-lai!«, rief sie. »Kommt, kommt, kommt! Ihrkönnt hier übernachten. Wir haben viel Platz … Lai-lai-lai!«

Alle Herbergen in Yangchen waren in dieser Nachtbesetzt; viele Bewohner nahmen zudem noch Flücht-linge in ihre Häuser auf. Schon nach ein paar Tagenwaren viele von ihnen weitergezogen, um bei Ver-

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wandten unterzukommen, die in anderen Städtenund Dörfern lebten. Einige hatten auch provisorischeHütten vor der Stadtmauer errichtet, bis sie eine Ar-beit und ein Haus in der Stadt fanden. Der Mandarinhielt Krisensitzungen mit den Beamten der Stadt ab,wie man die verbleibenden Flüchtlinge mit Nahrungversorgen könnte … und all jene, die noch über dieBerge kamen. Aber selbst wenn die Hirse- und Wei-zenrationen mit den Neuankömmlingen geteilt wür-den, so gab es noch ein weiteres Problem: Was solltemit den Kindern geschehen, die ihre Eltern durch dieFlut verloren hatten?

Der Mandarin schickte einen Boten zu Ai-weh-dehund ließ ihr ausrichten, dass sie zum yamen kommensollte. Als sie zurückkam, setzte sie sich erschöpft hinund ließ ihre Blicke über die acht Kinder schweifen:Drei adoptierte und fünf Waisen. Bao-Bao kletterte aufihren Schoss und steckte den Daumen in den Mund.

»Nun?«, meinte Yang und stämmte die Hände in dieHüften.

Ai-weh-deh seufzte. »Es sind sechzehn Kinder im ya-men … Waisen der Flut vom Gelben Fluss. Der Man-darin fragte mich …« Ihre Stimme versagte.

Es war ganz still. Die Kinder sahen sich an. Crystal,die mit fünf Jahren die Jüngste der fünf Waisen war,meinte schüchtern: »Ai-weh-deh, ich werde etwasweniger essen …«

»Ich auch!«, stimmte eines nach dem anderen ihr zu. Less nickte. »Wir werden alle teilen … so, wie derJunge in der Bibel, der Jesus sein Essen gegeben hat!«

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»Und außerdem, Mama-san«, kicherte Ninepence,»sechzehn sind gar nicht so viele … viel weniger alsdie fünftausend, die Jesus mit nur einer Mahlzeit sattbekommen hat.«

Ai-weh-deh gab sich kläglich lächelnd geschlagen.»Was soll ich da noch sagen? Seht euch den Glaubender Kinder an!«

Also war es entschieden. Bald hallte das Geschrei,das Lachen und das Weinen von vierundzwanzigKindern im Alter von zwei bis fünfzehn Jahren durchdie Herberge zur Achten Glückseligkeit. Der Manda-rin quetschte noch etwas Geld aus dem Schatz des yamen, damit den Waisen geholfen werden konnte;einige Bauern aus der Umgebung von Yangcheng»verloren« einen Sack Weizen oder einen Korb Eiervor dem Tor; und als die Maultierkarawanen wiederüber die Berge zogen, beladen mit Vorräten zum Ver-kauf, »vergaßen« einige der Männer, die in der Her-berge zur Achten Glückseligkeit übernachteten,einen Ballen Stoff oder einige warme Decken.

»Seht ihr, wie Gott für uns sorgt?«, staunte Ai-weh-deh eines Tages mit den Kindern, als Yang vomMarkt nach Hause kam und wieder einmal einenKorb mit Gemüse, das schon leicht verwelkt war,mitbrachte. Ein Händler hatte ihn für »Ai-weh-dehsWaisen« beiseite gestellt. »Jetzt müssen wir für eineSchule beten, denn ich kann unmöglich einem jedenvon euch das Lesen und Schreiben der chinesischenSchrift selber beibringen!«

***

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Ninepence ging mit dem fünfjährigen Bao-Bao aufdem Rücken durch die Straßen von Yangcheng. Siewar auf dem Weg zum Gefängnis. Es war nun fastzwei Jahre her, dass der Gefängnisaufseher Ai-weh-deh angeboten hatte, bei der Gründung einer Schulebehilflich zu sein. »Ich habe drei Kinder«, erklärte erAi-weh-deh, »und es gibt hier in Yangcheng noch an-dere Eltern, die ihre Kinder gerne zur Schuleschicken würden, weil sie ihnen zu Hause nicht soviel beibringen können. Wenn sich nun alle Elternzusammenschließen und jeder etwas bezahlt, könn-ten wir einen Lehrer mieten!«

Gerüchte über vorrückende japanische Soldaten, so-wie Berichte von Kämpfen zwischen chinesischenNationalisten und Kommunisten machten immermehr die Runde. Eines Tages marschierte eine ganzeKompanie chinesischer kommunistischer Soldaten inYangcheng ein. Jeder blickte sich um und wundertesich über das plötzliche Verschwinden der nationa-listischen Soldaten, an deren Anblick man sich be-reits gewöhnt hatte. Aber nach drei Tagen zogen dieKommunisten weiter und das Leben in Yangchengging trotz der Unterbrechung wieder seinen ge-wohnten Gang.

Es war wieder Frühling, 1938; Ninepence war zehnJahre alt, Less dreizehn. Einige Waisen der Über-schwemmung des Gelben Flusses waren von besorg-ten Verwandten ausfindig gemacht worden und leb-ten nun bei Onkeln, Tanten oder Großeltern … aberirgendwie hatten einige zerlumpte Jungen und unge-wollte Mädchen ihren Weg in die Herberge zur Ach-ten Glückseligkeit gefunden und ihren Platz ersetzt.

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So waren es immer noch etwa fünfundzwanzig Jun-gen und Mädchen, die von der Herberge zur Schuledes Aufsehers in der Nähe des Gefängnisses zogen.

Eines Tages, als die laut schwatzende Gruppe derKinder sich dem alten Wachhaus näherte, aus demder Gefängnisaufseher ein Schulhaus hatte bauenlassen, hatte Ninepence ein komisches Gefühl. Seitzwei Tagen schon hatte sie einen fremden Mann nachSchulschluss in der Straße gesehen, der sie zu be-obachten schien.

Mit Bao-Bao auf dem Rücken fühlte sie sich jedoch et-was sicherer. Mit fünf Jahren war ihr kleiner Bruderlängst alt genug, um selber zur Schule zu gehen.Aber wenn sie ihn huckepack nahm, quietschte erstets vor Vergnügen. Als sie um die letzte Ecke bog,griff sie seine Beine fester … und war umso mehr er-leichtert, als sie sah, dass der Fremde nicht da war.

»Wie konnte ich nur so dumm sein!«, schalt sie sichim Stillen, während Bao-Bao auf den Boden rutschte.»Warte hier nach der Schule auf mich!«, rief sie ihmnoch nach, als er mit den jüngeren Kindern in denHof rannte.

Nach der Schule wartete Bao-Bao am Tor als sie herauskam. »Komm … komm doch schon!«, zog ersie jammernd an der Hand. »Ich will nach Hause undetwas zu Essen!«

»Warte noch einen Moment«, meinte Ninepence.»Less ist noch nicht da. Ich möchte auf ihn und TigerLily warten.«

Bao-Bao plumpste auf die staubige Straße. Nine-pence lehnte am Tor und hielt vergeblich Ausschau,

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während der Kleine Kiesel aufsuchte und sie gegendie Schulmauer warf. Sie wünschte, Less würde sichbeeilen. Der Unterricht war langweilig gewesen …wer interessierte sich schon für die Ming-Dynastie,die China vor hunderten von Jahren beherrscht hat-te? Sie wollte auch nach Hause gehen.

In dem Moment fühlte sie jemanden nach ihrem Armgreifen. »Oh, gut«, sagte sie. »Da bist du ja endlich,Less …«

Sie sah auf – direkt in das Gesicht des fremden Man-nes!

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Aus der Vergangenheit

Lasst mich los!«, schrie Ninepence und versuchte,ihren Arm wegzuziehen.

»Keine Angst, Mei-en«, sagte der Mann grinsend.»Ich will nur mit dir reden.«

»Ninepence hatte Angst. Niemand hatte sie Mei-engenannt, seit … seit sie bei Ai-weh-deh lebte. Woherwusste dieser Fremde ihren alten Namen? Ihr Ins-tinkt sagte ihr, einfach wegzurennen … aber siekonnte Bao-Bao doch nicht einfach allein lassen.

»Ich will nicht mit euch reden!«, stieß sie hervor undzog Bao-Bao an seinem Kragen auf die Füße hoch.

Genau in dem Augenblick schob sich Less zwischenNinepence und den fremden Mann. »Was wolltihr?«, fragte er. »Lasst meine Schwester in Ruhe!«

»Deine Schwester?«, lachte der Mann. »Das glaubstauch nur du. Halt den Mund, Junge – ich will mitMei-en reden.«

»Ninepence … Bao-Bao … wir gehen sofort nachHause!«, befahl Less, nahm die beiden an die Handund zog sie mit sich die Straße hinunter.

Ninepences Herz klopftezum Zerspringen. Lessging schnell. Denjammernden Bao-Bao hatte erpraktischer-weise hoch-gehoben.

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Verfolgte der Mann sie? An der Ecke riskierte ereinen Blick über die Schulter. Der Mann stand immernoch beim Schultor und sah ihnen mit einem saurenGesicht hinterher.

Als die Kinder in die Herberge zur Achten Glückse-ligkeit stürmten, sahen sie, dass Ai-weh-deh gerademit Colonel Linnan, dem gut aussehenden nationa-listischen Nachrichtenoffizier, der sie öfter besuchte,Tee trank. Als sie ihre erschrockenen Gesichter er-blickte, fragte sie sogleich: »Less … Ninepence …was ist passiert? Ist etwas mit einem der Kinder?«

Less und Ninepence begannen beide gleichzeitig, dieGeschichte zu erzählen. Der kleine Bao-Bao zog da-bei an Ai-weh-dehs Ärmel und jammerte: »Mama,ich habe Hunger!«

Gleich darauf kamen die anderen Kinder lärmend insHaus und wurden sogleich von Yang abgefangenund zu ihren Aufgaben geschickt. Bao-Bao schließ-lich wurde mit einer Hand voll Erdnüssen vertröstet,die Colonel Linnan ihm gab. Less hingegen fragte ärgerlich: »Warum hat dieser Mann Ninepence Mei-en genannt? Warum hat er das getan?«

»Nun«, sagte Ai-weh-deh langsam und legte denArm um Ninepences Schulter, »Mei-en ist ihr rich-tiger Name … er steht in ihren Adoptionspapieren,so wie dein richtiger Name – Sheng-Li – in deinenAdoptionspapieren steht, Less. Aber … aber …« Ai-weh-de schickte einen besorgten Blick zu ColonelLinnan. »Könnte es jemand sein, der Ninepenceschon vorher kannte … bevor ich sie fand?«

»Mei-en, ›Schöne Anmut‹«, murmelte der Colonel.

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»Diesen Mann … hast du ihn schon einmal gesehen,Ninepence?«

Weinend schüttelte Ninepence den Kopf. »Nur vorzwei Tagen habe ich ihn gesehen, wie er vor derSchule stand und mich anstarrte.«

Ai-weh-deh war entsetzt. »Colonel«, meinte sie,»kann man ihn nicht verhaften? Jetzt gleich … bevornoch etwas Schlimmeres passiert?«

Colonel Linnan schüttelte nachdenklich mit demKopf. »Alles, was wir haben, sind die Worte der Kin-der. Man müsste ihn auf frischer Tat ertappen, ehe erins Gefängnis kann.«

»Auf frischer Tat?«, rief Ai-weh-deh. »Aber … wie?«

»Nun ja, also«, sagte Colonel Linnan ruhig, »ich den-ke, ich habe da einen Plan …«

***Ninepence zitterten die Knie, als sie, Less und die an-deren Kinder aus der Herberge zur Achten Glück-seligkeit am nächsten Morgen zur Schule gingen.Aus den Augenwinkeln sah sie einen Mann langsamneben ihnen hergehen. Der Schatten eines großenStrohhutes verdeckte sein Gesicht und eine langeStange mit zwei schweren Marktkörben daran beug-ten seine Schultern. Nur sie selbst, Less und Ai-weh-deh wussten, dass es Colonel Linnan war, der sichverkleidet hatte.

Ninepence blickte sich ängstlich um, konnte denfremden Mann aber nirgendwo entdecken. Sie gingschnell in die Schule, konnte aber dem Unterrichtkaum folgen. Als der Lehrer sie aufrief und fragte,

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welches Land 1644 in China eingefallen war und dieMing-Dynastie verdrängt hatte, konnte sie nurdumm auf ihre Füße blicken.

Endlich war der lange Schultag vorbei. Wieder zitter-ten ihre Knie, als sie nach draußen trat. Sie versuchtesich zu erinnern, was Colonel Linnan ihr gesagt hatte… sie sollte am Tor stehen bleiben und so tun, als obsie auf die anderen Kinder warten würde, damit derfremde Mann die Möglichkeit hätte, sich ihr wiederzu nähern.

Aber Ninepence hatte Angst! Sie konnte den Mannmit dem Strohhut und der Stange über den Schulternnicht sehen … was, wenn der Fremde kam und Colo-nel Linnan nicht da wäre, ihr zu helfen?

Immer mehr Kinder strömten aus dem Schultor.Ninepence wurde von den lachenden und schwat-zenden Kindern angerempelt, als diese hinaus aufdie Straße liefen. Versehentlich wurden ihr die Schul-bücher aus der Hand geschlagen; sie bückte sich, umsie wieder aufzuheben.

Im selben Moment wurde sie hochgerissen und weg-gezogen – von dem Fremden! Voller Angst schrie sie:»Lasst mich los! Lasst mich los!«

Da durchschnitt ein anderer Schrei die Luft. Schein-bar aus dem Nichts warf sich Less auf den fremdenMann, schlug ihn mit den Fäusten und trat mit denFüßen auf ihn ein. »Lasst sie los!», schrie er, wober erden Fremden an den Haaren zog und festhielt.

Aber der Mann hielt Ninepences Arm nur noch fester. Dann schüttelte er Less ab und zog die schrei-ende Ninepence die Straße hinunter. Less zögerte

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jedoch keine Sekunde, rannte hinter dem Fremdenher und biss ihn ordentlich in den Arm. Vor Schmerz laut aufheulend ließ dieser dasMädchen los. »Lauf!«, rief Less und zog Ninepence fort. In dem Moment sah Ninepence den Mann mit demStrohhut kommen und hörte Colonel Linnans lauteStimme: »Keine Bewegung! Ihr seid verhaftet!«

***Am nächsten Tag kam ein Bote aus dem yamen zurHerberge zur Achten Glückseligkeit und bat Ai-weh-deh zusammen mit Ninepence zu einem Treffen mitdem Mandarin. Während ein Diener die beiden in das Empfangszim-mer des Mandarin brachte, klammerte Ninepencesich fest an Ai-weh-dehs Hand. Colonel Linnan, dernun wieder seine Uniform trug, war da und derfremde Mann lehnte lässig an einem Tisch, wobei erein säuerliches Gesicht machte. Als Ninepence he-reinkam, sah er sie kurz an, wandte dann aber denKopf ab und ignorierte sie. Ninepence hörte, wie eine Schiebetür geöffnet wur-de. Dann trat der Mandarin ein. Er trug seine farbigelange Robe aus fließendem Stoff und hielt seine gefal-teten Hände wie immer in den weiten Ärmeln ver-steckt. Der Fremde warf sich sofort ehrerbietig aufden Boden, Colonel Linnan machte eine tiefe Verbeu-gung und Ai-weh-deh und Ninepence senkten höf-lich ihre Köpfe. »Ein jeder setze sich«, begann der Mandarin höflich.Als sich jeder gesetzt hatte, fuhr er fort. »Ich habe

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euch rufen lassen, Ai-weh-deh, weil ich denke, dassihr hören solltet, was dieser Mann zu sagen hat. Nun,mein Herr», wandte er sich dem Fremden zu, »sagtuns, wer ihr seid.«

Der Mann räusperte sich. »Mein Name ist Wang-LuChou. Ich bin der einzige lebende Sohn von Mrs.Mei-Ling Chou.« Er warf Ninepence einen Blick zu.

»Fahrt fort«, drängte der Mandarin.

»Meine Mutter, Mrs. Chou, hatte noch einen Sohn,Yung-Wu, der jedoch vor acht Jahren bei einem Un-fall in den Bergen ums Leben kam. Dieses Mädchen…« – dabei nickte er mit dem Kopf in NinepencesRichtung – »Mei-en Chou … ist das Kind meines Bru-ders. Ich bin ihr Onkel.«

Ninepence verschlug es den Atem. Ihr Onkel! DerBruder ihres Vaters! Aber … warum hatte er ihr soeinen Schrecken eingejagt? Warum hatte er versuchtsie zu stehlen?

»Aber … woher wusstet Ihr, dass sie hier inYangcheng war?«, weinte Ai-weh-deh.

Der Mann hob die Schultern. »Ich hatte so etwasgehört. Meine Mutter wusste, dass das Mädchen beidem fremden Teufel lebt.«

»Sie wusste es?«, stieß Ai-weh-deh hervor. Ninepencesah, wie ihrer Stiefmutter das Blut den Hals hinaufstieg und wusste, dass sie sehr ärgerlich werden wür-de. »Wusste diese Mrs. Chou auch, dass ich sie adop-tiert habe? Ninepence … Mei-en … ist jetzt meineTochter.«

Gleichgültig hob der Mann die Schultern, als ob ihmdas alles nichts ausmachte. Aber Ai-weh-deh war

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noch nicht fertig. »Und warum kommt Ihr nun, nachso vielen Jahren, das Kind zu sehen?«, wollte sie wis-sen. »Ihre Großmutter wollte sie nicht haben … siehat sie an eine Zigeunerin verkauft, wie alten Plun-der. Das Kind war halbtot, als ich es … gefundenhabe.«

»Gekauft habe, meint Ihr wohl.« Der Mann grinste hä-misch.

»A-aber … i-ich …«, stotterte Ai-weh-deh.

»Kommt, kommt«, unterbrach Colonel Linnan. »Wirwollen auf den Punkt kommen. Tatsache ist, dassdieser Mann verhaftet wurde – ich habe ihn verhaftet–, weil er ein Kind entführen wollte. Nun stellt sichheraus, dass er mit ihr verwandt ist. Raus mit derSprache, Mann, was hattet ihr mit dem Mädchenvor?«

Wang-Lu grinste verschlagen. »Ich wollte nur mit ihrreden … aber sie hat sich so angestellt. Wisst Ihr, mei-ne Mutter, Mrs. Chou, ist kürzlich gestorben; ich binihr einziger noch lebender Verwandter … und natür-lich noch das Kind meines Bruders«, fügte er hastighinzu. »Da wäre also die Sache mit dem Erbe, wissenSie –«

»Oh, natürlich, ich verstehe«, sagte Ai-weh-deh sar-kastisch. »Ich nehme an, dass Ihr sehr besorgt seid,dass Ninepence – Mei-en – ihren Anteil bekommt.«

»Nun«, meinte Wang-Lu und nickte mit dem Kopfhöflich in Richtung des Mandarin, »wie Eure Excel-lenz wissen, besagt das chinesische Gesetz, dass dasgesamte Erbe, Geld und Häuser, zu gleichen Teilenunter den Erben aufgeteilt werden muss. Aber es

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wäre doch eine Schande, wenn der Hof der Familieverkauft werden müsste, damit der Erlös geteilt wer-den kann … also dachte ich, wenn Mei-en bei mir le-ben würde, könnte ich ihren Anteil verwalten; undwenn ich eines Tages sterbe, bekäme sie natürlich dasGanze.«

Ninepence erschrak! Sollte sie bei diesem … diesemFremden leben? Sie sah Ai-weh-deh flehend an. Ai-weh-deh drückte beruhigend ihre Hand und wandtesich an den Mandarin.

»Eure Excellenz«, bat sie inständig, »Ihr könnt dochnicht zulassen, dass dieser Mann Ninepence bean-sprucht. Es war ganz offensichtlich, dass die Choussie nicht wollten … bis jetzt. Aber jetzt ist sie meineAdoptivtochter!«

»Und ich bin ihr Onkel!«, unterbrach Wang-Lu ärger-lich. »Was wird vor Gericht wohl mehr zählen?«

Der Mandarin hob die Hand. »Der Mann hat ein be-rechtigtes Anliegen, Ai-weh-deh, das vor Gerichtentschieden werden muss.«

»Vor Gericht?«

Der Mandarin nickte. Er sah Ai-weh-deh an, wobeiein Lächeln über seine Lippen huschte, aber alles waser sagte, war: »Es muss alles seine Ordnung haben.«

***Die Gerichtsverhandlung zog sich über zwei Wochenhin. Colonel Linnan musste wegen dringender Ar-meeangelegenheiten nach Tsehchow zurück, Ai-weh-deh und Ninepence jedoch gingen jeden Tag inden Verhandlungsraum.

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Wang-Lus Anwalt plädierte brennend dafür, dassMei-en wieder zu ihrer richtigen Familie – das heißtihrem Onkel – zurückkommen sollte, damit das An-wesen der Familie Chou erhalten bliebe. Ob dennetwa die Blutsverwandschaft geringeren Wert habeals eine so genannte ›Mutter‹, die einfach ein Kind›kauft‹? Und nicht nur das, hob der Anwalt hervor,auch dass die Frau, die man Ai-weh-deh nannte, ei-gentlich Gladys Aylward hieß und eine Engländerinsei, und obwohl Mei-en eigentlich wertlos sei, wolltedenn das Gericht wirklich, dass sich eine Ausländerinin die Erbschaftsangelegenheiten einer chinesischenFamilie einmischt?

Der vom Gericht bestellte Anwalt, der Ninepencevertrat, argumentierte, dass der Onkel das Mädchentatsächlich entführen wollte; nicht auszudenken, waspassiert wäre, wenn es ihm gelungen wäre! Hättedenn Wang-Lu oder die Großmutter jemals zuvor ir-gendein Interesse an dem Kind gehabt? Wenn dasMädchen aus dem Weg geschafft würde, wäre derOnkel alleiniger Erbe. Und das Gericht solle sich daran erinnern, dass Mei-en – auch bekannt als Nine-pence – heute wohl nicht mehr am Leben wäre, wennnicht Ai-weh-deh sich damals ihrer angenommenhätte.

Schließlich hatte der Mandarin seine Entscheidunggetroffen. Ninepence war des Morgens so nervös,dass sie kaum ihr Frühstück herunterbekam. Sie ver-suchte, nicht daran zu denken, was sein würde, wennder Mandarin sagen würde, dass sie fortan bei ihremOnkel leben müsste! »Vertraue auf Gott«, flüsterteAi-weh-deh ihr zu, während sie den Maultiertrei-

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bern, die über Nacht in der Herberge zur AchtenGlückseligkeit geblieben waren, Tee und mit Zucker-rohr gesüßten Hirsebrei servierten. Vertraue auf Gott,dachte sie während sie half, die jüngeren Kinder fürdie Schule fertig zu machen.

Bao-Bao hatte bereits das Haus verlassen, als ernochmal zurück lief um Ninepence zu umarmen.Dann ging Ninepence Hand in Hand mit Ai-weh-dehzum Gericht des Mandarin, wobei sie Tränen derAngst wegzublinzeln versuchte.

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Feuer vom Himmel

Ein verschlafen dreinblickender Gerichtsdienerleierte die anstehenden Fälle herunter: »Fall 685,

Wang-Lu Chou gegen Mei-en Chou … das Gericht istzu einer Entscheidung gekommen. Alle aufstehen.«

Ai-weh-deh und Ninepence standen mit dem Ge-sicht zum Mandarin in einer Reihe mit Wang-LuChou, der grimmig wie immer dreinblickte. Ni-nepences Mund war so trocken, dass sie kaumschlucken konnte.

Der Mandarin stand stolz und unbewegt, als er dasUrteil verkündete. »Das Gericht erkennt Gladys Ayl-ward, auch bekannt als Ai-weh-deh, ›Die Tugend-hafte‹, als Sorgeberechtigte für Mei-en Chou, auchbekannt als Ninepence, an.«

Ninepence quiekte vor Aufregung, aber ein strengerBlick vom Mandarin ließ sie sogleich wieder ver-

stummen. »Der Nachlass von Mrs.Mei-Ling Chou besteht sowohlaus Land als auch aus Geld«, fuhrer fort, »wobei der jeweilige Wertnach Auffassung des Gerichtsetwa gleich ist. Ai-weh-deh, alsSorgeberechtigte von Mei-enmögt Ihr wählen, ob Ihr Euchfür das Geld oder das Landentscheiden wollt. Derübrige Teil ist dann dasErbe von Wang-Lu Chou.«

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Erstaunt blickte Ai-weh-deh den Mandarin an. »Ichsoll wählen?«, fragte sie. Die kleine englische Frausah Ninepence an, die mit ihren zehn Jahren nur we-nig kleiner war als sie selbst. »Von welchem Nutzenwäre Land für uns in der Herberge zur AchtenGlückseligkeit? Wir könnten es nicht beackern. AberGeld … man könnte es für Ninepences Ausbildungbeiseite legen und für eine Aussteuer, wenn sie ein-mal heiratet.« Ai-weh-deh wandte sich wieder demMandarin zu. »Wir wählen das Geld.«Wang-Lu Chou hob den Kopf. »Der Hof gehört mir?«Über sein mürrisches Gesicht huschte tatsächlich einLächeln. »Das ist eine gute Entscheidung. How-how!Gut, gut!« Ohne sich noch einmal umzublicken ver-ließ der Mann eilig den Gerichtssaal und verschwand.

***Als die anderen Kinder von der Schule nach Hausekamen, scharten sie sich alle um Ninepence undwollten wissen, was passiert war. »Ist dieser schreckliche Mann fort?«, wollte Less wis-sen. Als Ai-weh-deh lächelnd sagte: »Fort für immer!«,wich zum ersten Mal seit Wochen die Anspannungvon dem Jungen. Nachdem die Geschichte wenigstens zweimal er-zählt worden war, klatschte Ai-weh-deh in die Hän-de und rief: »Nun los … los! An eure Arbeit! DieMaultiertreiber können jeden Moment in der Stadteintreffen und wir müssen fertig sein.«Less und zwei der älteren Jungen liefen hinaus zuden Ställen, um das alte Stroh gegen frisches auszu-

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tauschen. Ninepence und einige der größeren Mäd-chen waren eingeteilt, in der Küche das Gemüseklein zu schneiden, während Tiger Lily, GloriousRuby und Jade Lily mit Bao-Bao und den anderenKleinen im Hof spielten.

Bald wurde das Tor weit geöffnet und die erste Maul-tierkarawane trabte in den gepflasterten Innenhof.

Der Anführer war Hsi-Lien, einer ihrer regelmäßigenGäste. Außerdem war er der erste Maultiertreiber, derChrist geworden war. Gewöhnlich neckte Hsi-Liendie Kinder immer und lief mit ihnen huckepack imHof umher – selbst nach einem langen Ritt über dieBergpfade. Aber heute machte er ein langes Gesichtund schien die Kinder überhaupt nicht zu bemerken.

»Was bedrückt dich so, mein Freund?«, fragte Ai-weh-deh, während Less und einige Jungen beim Ab-laden der Lasten halfen.

Hsi-Lien schüttelte den Kopf. »Die Neuigkeiten … essieht sehr schlecht aus. Als wir vor ein paar Tagen inLuan Halt machten, fürchtete man dort einen Angriffder Japaner.«

»Luan!«, stieß Ai-weh-deh hervor. »Aber das ist inunserer Provinz! Die Japaner sind doch wohl nicht soweit vorgedrungen!«

»Oh, doch, das sind sie«, seufzte Hsi-Lien. »Sie sindsogar schon über die nördliche Grenze von Shansigegangen! Wie lange wird es wohl noch dauern, bissie hierher nach Süden kommen? Meine Frau, meineKinder … sie sind allein in meinem Dorf.«

»Ach«, meinte Ai-weh-deh nachdenklich, »wir lebendoch hoch in den Bergen. Nur über die Eselspfade

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kann man uns erreichen. Für Armeefahrzeuge istüberhaupt kein Platz! Aber wenn du dir Sorgenmachst, dann ist es wichtig, zu beten. Komm mit …lass uns sofort beten, noch vor dem Essen!«

Einige andere Christen aus Yangcheng, die ebenfallsdie schlechten Neuigkeiten von den Maultiertreiberngehört hatten, eilten zur Herberge, wo man sich zudem spontanen Gebetstreffen in das obere Stockwerkzurückzog. Yang schüttelte den Kopf und jammerte,dass das Essen kalt würde, aber dann schloss auch ersich der kleinen Gebetsgemeinschaft an. Währenddie anderen Maultiertreiber noch in den Ställen ihreTiere abrieben, freuten sich Ninepence und die ande-ren Kinder über die zusätzliche Zeit zum Spielen undrannten hinaus in den Hof.

»Sieh doch, Ninepence, sieh!«, rief Bao-Bao und zeig-te zum Himmel hinauf. »Schöne Vögel!«

Ninepence beschirmte ihre Augen mit den Händengegen die Nachmittagssonne, die sich bereits denBerggipfeln im Westen zuneigte, und blickte nachNorden in Richtung Tsehchow. Drei silberne Vögelflogen aus den Wolken.

Die anderen Kleinen jauchzten und klatschten in dieHände. »Oh, seht doch!« … »Schön, schön!«

Less schützte ebenfalls seine Augen und argwöhnte:»Ich denke nicht, dass das Vögel sind«, sagte er. »Essind Flugzeuge!«

»Flugzeuge! Flugzeuge!«, kreischten die Kinder. Kei-nes von ihnen hatte je ein Flugzeug gesehen, aber siehatten schon von diesen ›Vögeln aus Metall‹ gehört.

Die Straße vor der Herberge zur Achten Glückselig-

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keit war bereits mit Männern, Frauen und Kinderngefüllt, die alle aus ihren Häusern gekommen waren,um das ungewöhnliche Schauspiel zu betrachten.Ninepence konnte schon das Brummen hören, dasimmer lauter und lauter wurde, als die Flugzeugenach links schwenkten und tiefer und tiefer flogen.

»Seht doch! Seht!«, schrie Bao-Bau und zeigte in dieRichtung. »Die Silbervögel lassen etwas herunter-fallen! Vielleicht sind das Geschenke für uns?« DerFünfjährige kicherte. Ach, war das aufregend!

Während Ninepence die seltsamen Dinger beobach-tete, die aus den Flugzeugen fielen, bekam sie eineGänsehaut. Was um alles in der Welt könnte dassein? Was, wenn jemand von den Dingern getroffenwürde und sich verletzte?

In diesem Moment gab es eine Explosion irgendwoin der Stadt. Feuer, Holz und Steine wurden in dieLuft geschleudert. Dann noch eine Explosion … undnoch eine! Das Lachen der Kinder wechselte zuSchreien, als sie voll Panik in die Herberge flüchte-ten. Die Flugzeuge dröhnten über ihren Köpfen,drehten eine Runde über dem Tal und flogen dannerneut Yangcheng an.

»Mama!«, schrie Ninepence, die noch immer im Hofstand. Sie hatte die aufgehende Sonne gesehen, dieauf die Tragflächen der Flugzeuge gemalt waren.»Japaner!«

Less rannte zurück in den Hof und griff Ninepenceam Arm. »Geh ins Haus!«, rief er.

Da hörte Ninepence ein lautes, pfeifendes Geräusch… und eine Explosion warf die beiden Kinder zu Bo-

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den. Überall war Feuer, Rauch und umherfliegendeTrümmer. Less warf sich über Ninepence und drück-te ihr Gesicht auf das harte Kopfsteinpflaster, wäh-rend Holz und Steine auf sie niederprasselten.

Und dann … Stille. Wie betäubt setzten sich Less undNinepence auf und blickten umher. Eine Ecke derHerberge zur Achten Glückseligkeit war wegge-sprengt. Der Balkon im oberen Stockwerk hing schiefherab. Ninepence hörte, wie die Esel in den Ställenschrecklich zu schreien anfingen … aber sonst herr-schte eine unnatürliche Ruhe.

Und dann begann das Wehklagen. Hinter der Hof-mauer, draußen auf der Straße hörte man die Men-schen jammern. Dann … ganz nah, ein neuer Ton –das Wimmern und Schreien der Kinder aus dem In-neren der Herberge.

Ninepence rappelte sich auf. Ihr Gesicht schmerzte,wo es auf die harten Pflastersteine gedrückt war,aber ihre Knochen waren scheinbar alle heil geblie-ben. Blindlings rannte sie zur Tür, die offen in denAngeln hing, und stürmte hinein.

Es dauerte erst einen Moment, ehe sich ihre Augen andas Halbdunkel im Inneren des Hauses gewöhnt hat-ten. Einige der Balken, die das Obergeschoss stützten,waren umgestürzt und fast die halbe Zimmerdeckehing herab, berührte fast den Boden. Ninepence blick-te in großer Angst umher. Auf der Seite des Raumes,auf der die Decke nicht beschädigt war, hockten einigeder Kleinen eng aneinander gedrängt und weinten.

Bao-Bao erblickte sie und streckte ihr gleich seineArme entgegen, wobei sein ängstliches Wimmern

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sich in Erleichterung wandelte. Ninepence hob ihnhoch und schloss ihn fest in ihre Arme. Dabei stelltesie fest, dass er unverletzt geblieben war. Auch dieanderen Kinder schienen bis auf einige Schrammenund Prellungen heil geblieben zu sein.

Dann hörte sie Less von der anderen Seite desRaumes rufen: »Ninepence! Hol’ Hilfe! Ich glaube,Mutter und Yang sind noch unter diesen Balken!«

Schnell setzte sie Bao-Bao zu Tiger Lily auf den Bo-den und lief hinaus. Dort traf sie geradewegs auf dieentsetzten Maultiertreiber, die aus den Ställen geeiltwaren, um zu sehen, was passiert war. Die Männerwaren schnell zur Stelle und stemmten Deckenteileund Holzbalken zur Seite.

Aus den Trümmern war ein Stöhnen zu hören. »Sieist hier! Sie ist hier!«, schrie Less und versuchte, Holzund Gipsbrocken mit den Händen beiseite zu schaf-fen. Ai-weh-deh lag mit dem Gesicht zur Erde. Eingroßer Balken auf ihrem Rücken klemmte sie fest.Der Balken war so schwer, dass ihn drei Männer zu-sammen anheben und wegtragen mussten.

»Mama-san! Mama-san!«, riefen Ninepence und Lessund knieten sich neben Ai-weh-deh. Die kleine Fraubewegte sich nicht. Ninepence hatte Angst; war ihreMutter schwer verletzt? War sie … tot?

In dem Moment rollte sich Ai-weh-deh auf die Seiteund setzte sich seufzend auf. »Oh … mein Rücken«,stöhnte sie. Sie sah sich um, erblickte die erschrocke-nen Gesichter und dann das zerstörte Haus. »Was istpassiert? Ich … ich habe ein Krachen gehört … unddann schwankte der Boden, alle fielen hin …«

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Ihre Stimme erstarb als ihr alles wieder zu Bewusst-sein kam. »Yang! Hsi-Lien … und die anderen! Wirmüssen ihnen helfen!«

Es schien Stunden zu dauern, aber endlich hatten Ai-weh-deh, die Maultiertreiber und die Kinder Yang,Hsi-Lien und die anderen Christen gefunden, die imoberen Stockwerk gebetet hatten. Jeder hatte Hautab-schürfungen und kleinere Wunden, aber auf wun-derbare Weise war niemand getötet oder ernsthaftverletzt worden.

Als jeder aus der Herberge versorgt war, beschlossAi-weh-deh: »Yang, du bleibst hier bei den Kindern.Sieh nach, ob du irgendetwas zu essen für sie hast.Hsi-Lien, du und die anderen Maultiertreiber kom-men mit mir. Wir müssen sehen, was passiert ist …die Leute werden unsere Hilfe brauchen.«

***Es war schon spät, als Ai-weh-deh und die Maultier-treiber zurückkamen. Ninepence hörte ihre Stimmendraußen im Hof und ließ sich von dem kalten k’angherabrollen, auf dem sie und die Kinder eingeschla-fen waren. Auf Zehenspitzen schlich sie sich zu derzerstörten Tür, wobei sie darauf achtete, keines derKleinen zu wecken.

»Wie schlimm?«, fragte Yang besorgt.

»Sehr schlimm«, entgegnete Ai-weh-deh. Sie klangerschöpft. »Viele sind bei den Explosionen verletztoder getötet worden, weil jeder hinaus auf dieStraßen gelaufen ist um die Flugzeuge zu sehen. Wirhaben viele aus den Trümmern der Häuser gezogen,

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aber … einige könnten immer noch unter dem Schuttbegraben liegen.«

Hsi-Lien meldete sich zu Wort: »Der Mandarin hateine Rettungsmannschaft gebildet –«

»Wer?«, unterbrach Yang.

»Der Mandarin, der Gefängnisaufseher und einHändler namens Lu Tchen – und natürlich Ai-weh-deh!«, sagte der Maultiertreiber.

»Oh, natürlich haben sie Ai-weh-deh genommen«,schimpfte Yang. »Es macht ja auch nichts, dass dasHaus über ihr zusammenbrach! Und dass sie fünf-undzwanzig Kinder zu versorgen hat! Und dass sieEssen und Ruhe braucht!«

»Es ist in Ordnung so, Yang«, hörte Ninepence dieStimme Ai-weh-dehs. »Die Rettungsmannschaft isterstmal nur für die Organisation zuständig … abermorgen wird jeder, der noch stehen oder laufen kann,gebraucht, um die Toten zu begraben und die Ver-wundeten zu pflegen – auch die Kinder werden hel-fen. Also lasst uns nun etwas essen und dann ausru-hen, soweit das möglich ist … hast du noch etwasSuppe übrig, Yang? Wir sind am Verhungern!«

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Zwei Höhlen im Berg

Less und Ninepence schleppten den Eimer mitheißem Wasser zu dem freigeräumten Platz, zu

dem man alle Verwundeten gebracht hatte. Stummnahm Ai-weh-deh eine Flasche aus ihrer Tasche undschüttete ein stark riechendes Desinfektionsmittel indas dampfende Wasser. Sie wrang ein sauberes Tuchaus und kniete sich neben einem kleinen Kind vonetwa sechs Jahren nieder, das verwirrt und sprachlosim Staub hockte.

Nachdem sie die lange Schnittwunde auf der Stirndes Kindes gesäubert und verbunden hatte, hob Ai-weh-deh es hoch und gab es Less. »Bring es zurück indie Herberge zur Achten Glückseligkeit«, sagte siemüde. »Sein Vater wurde von der Bombe getötet …und seine Mutter ist eben an ihren Verletzungen ge-storben.«

Auf ihrem Weg zurück zur Herberge, vorbei an zer-störten Häusern und Läden, trafen Less und Nine-pence mit dem kleinen Jungen auf einige Gefängnis-insassen, die mit Schaufeln unterwegs waren.

»Da ist Feng!«, rief Ninepence, zeigte aufgeregt in dieRichtung des Gefangenen und winkte ihm zu. Er wares, der Ai-weh-deh seinerzeit geholfen hatte, Arbei-ten für die Häftlinge zu organisieren. »Was machstdu da, Feng?«

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»Wir schaufeln Gräber außerhalb der Stadtmauer«,rief er traurig zurück und schüttelte den Kopf. »Soviele Tote … so viele …«

Less und Ninepence sahen die Gefangenen mit ihrenSchaufeln durch das Stadttor gehen. Dann brachtensie ihren kleinen Schützling zurück zur Herberge.

Am Ende des zweiten Tages waren bereits zehn wei-tere Kinder, die durch die Bombe zu Waisen gewor-den waren, zur Herberge gebracht worden. Less,Ninepence und die anderen Kinder waren damit be-schäftigt, heißes Wasser bereitzustellen und saubereTücher in Streifen zu reißen, die Ai-weh-deh als Ver-bandmaterial benötigte … sie halfen Yang, die Klei-nen zu füttern und zu trösten, die ihre Eltern verlorenhatten … und räumten die Trümmer aus dem großenRaum der Herberge.

Abends hielt die Rettungsmannschaft im Hof derHerberge eine Besprechung ab. Beinahe hätte Nine-pence den Mandarin nicht erkannt, der seine kostba-re Robe abgelegt hatte und stattdessen die einfacheblaue Bekleidung der Arbeiter trug. Er überwachtedie Suche nach Toten oder Verwundeten in denTrümmern. Nur sein langer Schnurrbart, der gefloch-tene Zopf und sein entschlossenes Benehmen unter-schieden ihn von den erschöpften BewohnernYangchengs.

Yang, Hsi-Lien, seine Maultiertreiber und einige derälteren Kinder standen im Schatten und lauschtenden Gesprächen. »Ich habe berunruhigende Neuig-keiten«, sagte der Mandarin betrübt. »Die Japanerhaben Luan eingenommen und marschieren jetztnach Tsehchow. Es ist nur noch eine Frage der Zeit,

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ehe ihre Armee vor den Toren Yangchengs steht. Wirmüssen die Stadt so schnell wie möglich evakuie-ren.«

»Aber … wie?«, fragte Ai-weh-deh. »Viele sind ver-wundet und können nicht laufen.«

»Excellenz, wie viele Tage bleiben uns noch bis dieTruppen ankommen?«, wollte Lu-Tchen, der Händ-ler, wissen. »Vier? Fünf? Wir könnten Boten in dieBergdörfer schicken und den Leuten sagen, dass sieihre verwundeten Verwandten zu sich holen sollen.«

»Eine gute Idee!«, lobte der Mandarin. »Alle anderensollen die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Diemeisten hier haben Verwandte in anderen Dörfern.«

Der Gefängnisaufseher hatte bis jetzt geschwiegen.Doch nun fragte er: »Und was ist mit meinen Gefan-genen? Wir können sie doch nicht zurücklassen – derFeind wird sie sicher töten!«

Für einen Moment wusste niemand etwas zu sagen.

Schließlich meinte Ai-weh-deh: »Ihr müsst sie freilas-sen.«

»Sie freilassen?«

»Ja. Benachrichtigt ihre Angehörigen; sie müssenherkommen und unterschreiben, dass sie die Verant-wortung übernehmen.«

»Aber –«

»Ai-weh-deh hat Recht«, stimmte der Mandarin zu.»Selbst einen Gefangenen darf man nicht einfach wieein Schwein abschlachten lassen.«

Also war der Entschluss gefallen. Der Stadtschreierwurde durch die Straßen von Yangcheng geschickt,

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um alle Bewohner aufzufordern, die Stadt so baldwie möglich zu verlassen. Boten machten sich eilends zu den Bergdörfern auf, um den Leuten zusagen, dass sie ihre verwundeten Angehörigen unddie Häftlinge, mit denen sie verwandt waren, zu sichholen sollten. Hsi-Lien, der Maultiertreiber, verab-schiedete sich von Ai-weh-deh und ritt wieder hinunter in sein Dorf, um Frau und Kinder in Sicher-heit zu bringen.

In der Herberge zur Achten Glückseligkeit hatte Ai-weh-deh entschieden, dass man mit den Kindernnach Bei Chai Chuang wandern würde, einem klei-nen Bergdorf hoch oben auf einem Bergrücken, süd-lich von Yangcheng. Ai-weh-deh war früher schoneinmal dort gewesen, als sie noch in der Rolle der of-fiziellen Fußinspektorin unterwegs gewesen war.Damals hatten die Menschen sie gebeten, wiederzu-kommen und ihnen noch mehr Geschichten aus derBibel zu erzählen.

»Ich glaube nicht, dass sie ›mit fünfunddreißig Kin-dern wiederkommen‹ gemeint haben«, gab Yang mitverzogenem Gesicht zu bedenken.

Ai-weh-deh lächelte. »Die Bibel sagt: ›Wer eines die-ser Kleinen in meinem Namen aufnimmt, der nimmtmich auf.‹ Wir werden diesen guten Leuten die Gele-genheit geben, Jesus in ihr Dorf aufzunehmen, eh,Yang?«

Yang schwieg einen Moment. »Ai-weh-deh«, sagteer. »Ich werde nicht mit Euch kommen. Ich bin zu alt,um noch auf die Berge zu klettern. Wenn Yangchengnun nicht länger meine Heimat sein kann, werde ichin mein altes Dorf zurückkehren.«

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Ai-weh-dehs Augen füllten sich mit Tränen. »Ich …ich verstehe, Yang. Aber … ich werde dich vermis-sen. Du warst mir ein guter Freund … mehr als einFreund: Du warst wie ein Vater für mich. Ich werdedich niemals vergessen.« Und, entgegen jeder chine-sischen Gewohnheit, nahm sie den alten Mann fest inihre Arme.

Am nächsten Morgen weckte Ai-weh-deh die Kindernoch vor Tagesanbruch und drängte zum Aufbruch.Mit den ersten Sonnenstrahlen würden sie RichtungBei Chai Chuang ziehen. Ninepence hatte darauf zuachten, dass jedes Kind an seinem Bündel, das Klei-dung zum Wechseln und eine Decke enthielt, eineSchüssel und ein Paar Essstäbchen befestigt hatte.Gerade als sie Bao-Bao half, sein Bündel auf denRücken zu schnüren, klopfte jemand laut ans Tor.Less öffnete und der Gefängnisaufseher stürmte her-ein. »Wo ist Ai-weh-deh?«, fragte er. Feng war beiihm.

»Was ist denn?« Ai-weh-deh trat aus der Herberge,ein kleines Kind auf ihren Rücken gebunden, ein anderes auf ihrer Hüfte sitzend. »Ai-weh-deh, Ihrmüsst mir helfen!«, jammerte der Aufseher. »Feng …er hat keine Angehörigen, die für ihn unterschreibenkönnten.«

»Aber was kann ich denn da machen?«, rief Ai-weh-deh und blickte auf die Kinderschar, die verschlafenaus der Tür kam.

»Ihr müsst für ihn unterschreiben … er muss mitEuch gehen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Hilflos sah Ai-weh-deh den jungen Mann an.

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Feng unterbrach die peinliche Stille: »Wenn Ihr fürmich unterschreibt, helfe ich Euch bei den Kindern.Ihr werdet einen Mann bei euch gebrauchen können.Ihr seid mir ein Freund gewesen … und jetzt werdeich Euch ein Freund sein.«

Ai-weh-deh lächelte … und dann lachte sie laut heraus. »Wenn mich meine Feunde in England jetztsehen könnten! Meine chinesische ›Familie‹ bestehtaus fünfunddreißig Kindern und einem Zuchthäus-ler! Jemand hat mir einmal gesagt, dass ich verrücktwäre, Missionarin in China zu werden … und ichglaube, er hat Recht gehabt!« Sie hielt Feng ihre Hän-de hin. »Ja, ja … ich werde für dich unterschreiben.«

Als sie das Papier unterzeichnet hatte, mahnte sie:»Jetzt kommt, Kinder! Stellt euch in einer Reihe auf.Die großen Jungen und Mädchen nehmen jeweils einkleines Kind an die Hand. Fertig zum Aufbruch. Alsolos, lasst uns singen …«

Count your blessings,Name them one by one. …

***Die kleine Gruppe erreichte Bei Chai Chuang nochvor der Dunkelheit. Für die meisten Kinder war esein Vergnügen gewesen … besonders als sie denEselspfad verlassen hatten um über die Felsen denBerg hinaufzuklettern. Als sie eine Pause gemachthatten, um aus einem großen Topf, den einige dergrößeren Jungen mitgeschleppt hatten, kalten Hirse-brei zu essen, schien es ihnen wie ein Picknick.

Wie Ai-weh-deh vorausgesagt hatte, hießen die Be-wohner von Bei Chai Chuang die seltsame kleine Ge-

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sellschaft willkommen. Entsetzt hörten sie dem Be-richt über die Bombardierung Yangchengs durch dieJapaner zu. Die Dorfältesten steckten ihre Köpfe zu-sammen, um zu beraten, wie man den FlüchtlingenSchutz und Nahrung bieten könnte.

Da Bei Chai Chuang an einem Berghang gebaut war,nutzten die Dorfbewohner die natürlichen Höhlenim Berg als Ställe für ihr Vieh. Zwei Bauern botensich an, ihre Tiere draußen anzubinden, die Höhlenzu säubern und Ai-weh-deh und den Kindern alsUnterschlupf zu bieten. Feng und die größeren Jun-gen begannen sogleich mit der Arbeit; in dieserNacht breiteten die Kinder ihre Decken auf saube-rem, frischem Stroh aus, die Jungen in der einen, dieMädchen in der anderen Höhle. Ninepence schliefein, während ein kleines, flackerndes Feuer seineSchatten über die Wände der Höhle huschen ließ.

Eine Woche verging. Ai-weh-deh sorgte dafür, dassdie Kinder den Dorfbewohnern bei der Arbeit zurHand gingen. Sie jäteten auf den kleinen, steinigenHirse-, Mais- und Leinsamenfeldern Unkraut, fütter-ten die Schweine, trieben die wenigen Kühe zumMelken zusammen und hüteten die Schafe, die zwi-schen den Felsen nach dem harten Berggras suchten.Im Gegenzug teilten die Dörfler ihre kargen Vorrätemit den unerwarteten Besuchern und kamen jedenAbend zusammen, um Ai-weh-dehs Bibelgeschich-ten von Jesus, Noah, Moses und Paulus zu hören.

Eines Abends, Ninepence war gerade dabei, ein stör-risches Schaf zum Dorf zurückzutreiben, sah sie, wiejemand den Berg hinaufkletterte. Es schien ein Mannzu sein … in Uniform.

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»Mama-san! Mama-san, komm schnell!«, rief sie, ver-gaß das Schaf und hastete eilig den steinigen Pfadhinauf, der zu den Felshöhlen im Berghang führte.»Es kommt jemand!«

Ai-weh-deh folgte Ninepence zurück zu der Stelle,wo sie den Mann zuerst gesehen hatte. Er war jetztviel näher. Plötzlich blickte er auf und sah sie.

Ai-weh-deh schnappte nach Luft. »Es ist Linnan!«

Colonel Linnan brauchte nur wenige Minuten, dannhatte er das letzte Stück Weg zu ihnen geschafft. ZuNinepences Verwunderung hielt er nicht an und ver-beugte sich höflich, wie er es sonst immer getan hat-te, wenn er Ai-weh-deh besuchte, sondern ging mitgroßen Schritten auf sie zu und schloss sie fest in sei-ne Arme.

»Oh, Ai-weh-deh … Ai-weh-deh!«, murmelte er. »Ichhatte solche Angst, als ich von dem Bombenangriffhörte …«

Einen Augenblick verharrte Ai-weh-deh in ColonelLinnans Umarmung … dann trat sie einen Schrittzurück, das Gesicht freudig gerötet. Der Colonelnahm Ninepence bei der Hand, und zu dritt wander-ten sie zurück zu den Höhlen.

»Als ich gehört habe, dass die Japaner Yangchengbombardiert haben, bin ich so schnell es ging gekom-men«, sagte Colonel Linnan, »aber da hatten die Ja-paner die Stadt schon eingenommen. Ich habe michin den Bergen versteckt, bis sie nach ein paar Tagenweitergezogen sind … aber Yangcheng war ganz ver-lassen. Ich wusste nicht, ob du noch lebtest oder totwarst! Ich habe in den umliegenden Dörfern nach dir

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gefragt; schließlich sagte mir jemand, dass du mitden Kindern hierher nach Bei Chai Chuang gegangenseiest.«Feng zog die Augenbrauen hoch als Ai-weh-deh sag-te, dass Colonel Linnan gekommen war und zum Es-sen bleiben würde. Die größeren Jungen waren sehrinteressiert und stellten dem Offizier Fragen zumKrieg. Wer würde gewinnen? Ob sie wohl auchkämpfen dürften? Würden die Japaner nachYangcheng zurückkehren?Lachend entließ Colonel Linnan die Kinder schließ-lich und zog Ai-weh-deh zu einem Spaziergang hinaus in die Dämmerung. Als sie schließlich wiederzurückkamen, waren die meisten Kinder schon ein-geschlafen. Sie ließen sich am Feuer nieder und rede-ten miteinander. Ninepence tat, als ob sie schliefe; dabei versuchte sie angestrengt, dem Gespräch zulauschen.»Ja, Linnan, ich liebe dich wirklich«, sagte Ai-weh-deh, »und … ich würde dich gerne heiraten, aber …«»Aber was? Wir könnten zur ›Christian Mission‹nach Tsehchow gehen und Reverend David Davisbitten, uns zu trauen.«Es folgte eine lange Stille. Das Licht des Feuers tanzteüber die Wände der Höhle. Ninepence hielt denAtem an. »Nein«, sagte Ai-weh-deh schließlich. »Verstehst du,wir könnten während des Krieges nicht zusammensein. Ich bin für all’ diese Kinder verantwortlich …und du hast auch deine Pflichten. Im Moment ist al-les im Umbruch. Wir brauchen Zeit, diese Sache zudurchdenken.«

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»Ist es, weil du Engländerin bist und ich Chinese?«,fragte Linnan. Dabei nahm seine Stimme etwas anSchärfe zu.

»Oh, nein!«, sagte Ai-weh-deh. »Ich würde stolz sein,deine Frau zu sein. Aber … ich bin Christ.«

»Natürlich bist du das!«, stimmte Linnan zu. »Ich res-pektiere deinen Glauben. Ich interessiere mich sehrfür deinen Gott.«

»Ich weiß, aber …« Ai-weh-deh seufzte. »Lass unsspäter nochmal darüber reden – nach dem Krieg.«

Ninepence dachte, das Gespräch sei zu Ende. Abernach ein paar Minuten erhob Colonel Linnan erneutdie Stimme. »Ai-weh-deh, darf ich dich um etwas bit-ten? Würdest du mir über die japanischen Truppen-bewegungen berichten, wenn du etwas siehst – undauch über chinesische Kommunisten?«

»Ich? Spionieren?«, stieß Ai-weh-deh hervor. »Aberich bin ein Christ! Gottes Sohn starb für alle Men-schen – auch für Japaner. Ich kann in diesem Kriegnicht Partei ergreifen … ich muss neutral bleiben.«

»Neutral!« Linnans Stimme hatte wieder an Schärfezugenommen. »Ich versuche doch nur, das Lebenmeiner Leute zu retten … deiner Leute, Ai-weh-deh!Du bist schließlich auch chinesischer Staatsbürger.Bitte denk nochmal darüber nach. Ich verlange nicht,dass du gegen deine Überzeugung handelst – nur,dass du Informationen weiterleitest.«

»Nun, gut«, versprach Ai-weh-deh. »Ich werde darü-ber nachdenken.«

Man hörte ein leises Rascheln am Eingang der Höhle,als Colonel Linnan zu den Jungen hinüberging, um

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zu schlafen. Ai-weh-deh kroch in die Höhle derMädchen und suchte sich einen Platz zwischen denwarmen Körpern, die sich eng aneinander ge-schmiegt hatten.

Ninepence lag noch lange wach und starrte auf dieflackernden Lichter, die an den Wänden entlanghuschten.

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Einhundert Dollar Belohnung!

Als Ninepence am nächsten Morgen erwachte,war Colonel Linnan fort.

Doch an diesem Tag hatten sie wieder Besuch! Nie-mand konnte sich Bei Chai Chuang nähern, ohne ge-sehen zu werden. Trotzdem war Ninepence über-rascht, als einer der Dorfbewohner einen Mann zuAi-weh-deh führte, als diese gerade dabei war, denTopf mit Hirse und Gemüse auf achtunddreißigSchüsseln zu verteilen. Zuerst schien der Mann Nine-pence völlig fremd. Er sah alt und gebrochen aus;sein Mund stand offen und seine Augen starrten insLeere. Jedoch, irgendetwas an dem Alten kam ihr be-kannt vor …

»Ai-weh-deh?«, flüsterte er mit rauer Stimme. »Sie …sie sind alle fort.«

»Hsi-Lien!«, rief Ai-weh-deh und erkannte ihren al-ten Freund, den Maultiertreiber. »Was ist passiert?Ist etwas mit deiner Familie? … Less! Gib Hsi-Lien et-was zu essen.«

Der Maultiertreiber schien das Essen, das man ihmvorgesetzt hatte, gar nicht zu bemerken. Ai-weh-deh

musste immerwieder nach-haken, aberschließlichkam seineGeschichte

heraus.

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Nachdem Hsi-Lien Yangcheng verlassen hatte undnach Chowtsun, seinem Dorf, zurückgekehrt war,hatte er seine Frau mit den Kindern wohlbehaltenvorgefunden. Aber einige Tage darauf, als sie geradezu Abend aßen, kam eine japanische Patrouille. Sieführten Hsi-Lien vor die Hütte. Als sie erfuhren, dasser Maultiertreiber war, meinten sie: »Du bist starkund kennst dich in den Bergen aus. Du wirst unsereMunition tragen. Wenn du tust, was wir dir sagen,wird deiner Familie nichts geschehen.«

»Aber ich kann nicht!«, hatte er geschrien. »Ich binjetzt ein Christ; ich kann nicht kämpfen und meineBrüder töten – oder meine Feinde. Wenn ich eureMunition trage, helfe ich euch, mein Volk zu töten.Ich … ich kann das nicht!«

Die japanischen Soldaten gerieten außer sich vor Wut.Aber anstatt Hsi-Lien zu töten, banden sie ihn an einenPfosten vor seinem Haus. Dann sperrten sie seine Frauund die Kinder darin ein und zündeten das Haus an …

Ninepence hielt sich die Ohren zu und lief zurück indie Höhle. Sie wollte nichts mehr hören! Diese Nachtweinte sie sich in den Schlaf, weinte wegen der ar-men Kinder von Hsi-Lien, die man verbrannt hatte,weil ihr Vater Christ war.

»Es ist zu schwer, ein Christ zu sein«, meinte Nine-pence am nächsten Tag zu Less, als sie Ai-weh-deh,Hsi-Lien, Feng und zwei kräftigen Bauern aus BeiChai Chuang nachsahen, die Richtung Chowtsunaufgebrochen waren, um Hsi-Liens Familie ein ange-messenes Begräbnis zu bereiten. »Ich hätte das nichttun können, was Hsi-Lien getan hat. Ich hätte ihreblöde Munition getragen.«

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»Ich weiß«, meinte Less. »Aber … die Soldaten hättenHsi-Lien und seine Familie vielleicht auch so getötet.Feng sagt, so ist der Krieg nun mal.«

Als Ai-weh-deh, Feng und die Bauern zurückkamen,war Hsi-Lien immer noch bei ihnen. »Wir sind jetztseine Familie«, meinte Feng zu den Kindern und leg-te seinen Arm um den alten Maultiertreiber, der im-mer noch vor Trauer und Entsetzen wie gelähmt war.»Ich werde mich um ihn kümmern, wie um meineneigenen Bruder.«

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Ai-weh-deh hatte Neuigkeiten für alle. »Die nationa-listischen Soldaten haben die Japaner aus Yangchengvertrieben. Der Mandarin ist bereits zurückgekehrt… und wir haben den guten Leuten von Bei ChaiChuang schon lange genug zur Last gelegen.« Sie sahzu Feng und den Kindern hinüber. »Darum … denkeich, sollten wir zur Herberge zur Achten Glückselig-keit zurückgehen und unseren Leuten beim Wieder-aufbau der Stadt helfen. Was meint ihr?«»Hurra!«, jubelte Less. Er war es langsam leid, Scha-fen und Kühen über die steilen Bergpfade nachzu-jagen. »Hurra!«, jubelten die anderen Kinder. Das Abenteu-er, in Berghöhlen zu schlafen, hatte langsam seinenReiz verloren und sie freuten sich auf ihr Zuhause,wo sie einen schönen, warmen k’ang zum Schlafenhatten.»Ich auch?«, fragte Bao-Bao und zeigte mit dem Fin-ger auf sich. Alle lachten!Nur Feng war nicht erfreut über die Rückkehr nachYangcheng. »Muss ich dann wieder ins Gefängnis,Ai-weh-deh?«, fragte er ernst. »Nein, nein!«, versicherte sie ihm. »Ich habe für dichunterschrieben; nun bin ich für dich verantwortlich –und ich werde dich nicht zurück ins Gefängnis las-sen.«

***Ohne Yang war die Herberge zur Achten Glückselig-keit nicht mehr wie früher. Feng gab sein Bestes, umKochen zu lernen, aber der Hirsebrei war oft ange-brannt, das Gemüse fast roh, die Bandnudeln … nun

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ja. Manchmal dachte Ninepence, dass sie wahr-scheinlich besser für ihre große Familie kochen könn-te als er.

Nur etwa die Hälfte der Bewohner Yangchengs wa-ren zurückgekehrt, so dass die Aufbauarbeiten rechtschleppend vorangingen. Einige hielten es für reineZeitverschwendung. »Diese Flugzeuge kommenvielleicht zurück und werfen wieder ihre Bomben ab;dann ist alle Arbeit umsonst gewesen«, grollten sie.An erster Stelle, vor dem Wiederaufbau der Häuser,stand jedoch die Bestellung der Felder, damit manwieder etwas zu essen hatte.

Mit der Hilfe von Feng, Hsi-Lien und einigen Män-nern des Mandarin gelang es, das obere Stockwerkder Herberge wieder zu reparieren. Einige wenigeMaultierkarawanen kamen über die Pfade und eini-ge Männer übernachteten in der Herberge; die Ge-schäfte liefen aber eher schlecht. Seit die Stadt Luanim Norden sich in der Hand der Feinde befand, waraus der Warenflut von früher nur ein spärliches›Rinnsal‹ geblieben.

Manchmal kamen nationalistische Soldaten nachYangcheng und brachten Neuigkeiten über denKrieg. Tsehchow war von den Japanern eingenom-men worden … dann hatten die Nationalisten eszurückerobert. Die meisten Kämpfe fanden unten inden Tälern statt; Yangcheng schien sicher zu sein …für’s Erste.

Ai-weh-deh nahm ihre Besuche der umliegendenDörfer wieder auf, jedoch nicht in der Rolle der offizi-ellen Fußinspektorin. Es war jetzt nicht die Zeit, dasneue Gesetz durchzusetzen … aber sie wollte die

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kleinen Gruppen der Christen ermutigen, die sichnicht nur in Yangcheng, sondern auch in Bei ChaiChuang, Chowtsun und einigen anderen Bergdör-fern gebildet hatten.

Ninepence war sicher, dass das nicht alles war, wasAi-weh-deh auf ihren Reisen tat. Wenn sie zurück-kam, sah Ninepence sie Briefe an Colonel Linnan,Nationalistische Armee, Tsehchow, schreiben. HatteAi-weh-deh sich nach allem nun doch entschlossen,für den Colonel zu spionieren?

Ninepence hatte nicht viel Zeit, über diese Briefenachzudenken, denn immer wieder brachte Ai-weh-deh ein oder zwei Kinder von ihren Reisen mit, diebei den Kämpfen zwischen Chinesen und Japanern,oder Nationalisten und Kommunisten, zu Waisen ge-worden waren. Als der Sommer in den Herbst über-ging und der Herbst in den Winter, waren immermehr Kinder in der Herberge zur Achten Glückselig-keit. Ai-weh-dehs Sicht der Dinge schien zu sein: »Essind schon so viele, also kommt es auf eins mehr –oder zehn – auch nicht an. Gott wird uns versorgen… irgendwie.«

Aber es war ein strenger Winter. Jedes größere Kindhatte auf ein kleineres Kind – oder zwei oder drei –zu achten. Die Menschen von Yangcheng gaben soviel Lebensmittel wie sie konnten. Trotzdem musstenNinepence und die anderen Kinder oft mit nur einerkleinen Schüssel Hirsebrei auskommen.

Jedoch beschwerte sich niemand über die Kälte undden Schnee, der sie in der Herberge zur AchtenGlückseligkeit gefangen hielt. Zumindest hatte derSchnee die Bergpässe unpassierbar gemacht, so dass

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die japanischen Soldaten nicht zu ihnen konnten.Zum ersten Mal seit die Bomben auf Yangcheng ge-fallen waren, fühlten die Menschen sich entspanntund sicher.

***Als die warme Frühlingsluft den Schnee auf den süd-lichen Bergen von Shansi schmelzen ließ, kamen wie-der Neuigkeiten über die Maultierpfade den Berghoch: Die Japaner waren im Anmarsch! Die Bürgervon Yangcheng gerieten in Panik und flohen eilig indie umliegenden Bergdörfer. Ai-weh-deh und ihrewachsende Kinderschar, zudem noch Feng und Hsi-Lien, kletterten hinauf nach Bei Chai Chuang undverbargen sich in den Höhlen bis die Gefahr vorüberwar. Dann wurden die Japaner erneut zurückge-drängt, so dass die Bewohner von Yangcheng in ihreHäuser zurück konnten und das Leben wieder in ge-wohnten Bahnen verlief. Im kommenden Winter hatten sie in der Herbergezur Achten Glückseligkeit noch mehr Münder zustopfen, doch gab ihnen der Schnee eine gewisse Sicherheit. Manchmal lag Ninepence, die jetzt zwölfJahre alt war, nachts auf einem der k’angs, einge-pfercht zwischen Tiger Lily, Crystal oder einem derneueren Mädchen und versuchte sich daran zu erin-nern, wie das Leben ›vor der Bombe‹ gewesen war.Sie vermisste den alten Yang … und die Nudelstrei-fen und die Hühnersuppe und die süßen Plätzchen,die er immer gemacht hatte. Jetzt gab es Tag für Tagimmer nur Hirsebrei, Hirsebrei, Hirsebrei …Als der Frühling des Jahres 1940 den Maultierpfadwieder gangbar gemacht hatte, hörte man eines

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Nachts ein lautes Klopfen am Tor. Less, der nun fünf-zehn Jahre alt war, lief hinaus, um zu sehen, wer dortwar.

»Es ist Colonel Linnan, der dich sprechen möchte,Mama-san!«, rief er und rannte zurück in die Herber-ge. Der hübsche Offizier verschwendete keine Zeitauf Begrüßungszeremonien, sondern folgte Lessgleich ins Haus, wo Ai-weh-deh gerade einigen klei-neren Kindern half, sich für’s Bett fertig zu machen.

»Ai-weh-deh«, sagte er gehetzt, »ich bin gekommen,um den Mandarin zu treffen … aber zuerst wollte ichdich sprechen – allein.«

Ai-weh-deh schien erfreut, ihn zu sehen. »Allein?«,lachte sie und tippte sich an ihr Kinn, wobei ihreBlicke durch den Raum voll mit Kindern schweiften.»Leichter gesagt als getan, Linnan.« Aber nachdemsie Feng gebeten hatte, die biblische Geschichte zu er-zählen, ging Ai-weh-deh mit Colonel Linnan hinausin den matschigen Innenhof und schloss die Tür hin-ter sich. Sie waren immer noch im Hof, als Feng dieLampen löschte und die Kinder schlafen schickte;man konnte ihre Stimmen hören, die abwechselndlaut und leise wurden.

Am nächsten Morgen schien Ai-weh-deh sehr erregtzu sein; Ninepence bemerkte, dass sie beim Verteilendes Hirsebreis manchem Kind einen zweiten Löffelauftat, während sie andere gänzlich übersah.

»Lass mich das machen«, meinte Ninepence plötzlichund nahm ihr den Löffel aus der Hand. Als alle Kin-der etwas in ihren Schüsseln hatten, zog sie Ai-weh-deh zur Seite. »Was wollte Colonel Linnan, Mama-

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san?«, fragte sie ernst. »Wirst du … wirst du ihn hei-raten und uns verlassen?«

»Oh, Ninepence!«, seufzte Ai-weh-deh und berührtesanft das Gesicht des Mädchens. »Ich würde dich nie-mals verlassen! Du bist meine adoptierte Tochter,hast du das vergessen? Colonel Linnan wollte nur …hatte nur Neuigkeiten über den Krieg. Ich … ichmuss nur nachdenken, was ich tun soll. Mach dir kei-ne Sorgen … in Ordnung?«

Ninepence nickte und Ai-weh-deh nahm sie schnellin die Arme. Aber als die kleine Frau hinauseilte, umdie morgentlichen Aufgaben zu überwachen, rutsch-te ein Stück Papier aus ihrer Hosentasche und flatter-te auf den Boden. Schnell hob Ninepence es auf.

»EINHUNDERT DOLLAR BELOHNUNG!«, standoben auf dem Papier. Und weiter: »EinhundertDollar Belohnung wurden von der japanischen Ar-mee für Informationen ausgesetzt, die zur Ergreifung– lebendig – von …« Hier waren drei Namen aufge-listet. Die ersten beiden waren Männer, von denenNinepence nie etwas gehört hatte. Aber ihr Herzblieb fast stehen, als sie den dritten Namen las:

»Gladys Aylward, genannt Ai-weh-deh.«

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Über die Berge

Ninepence hätte Ai-weh-deh gerne auf das Pa-pier angesprochen, fürchtete sich aber davor.

Dann kam ein Bote vom Mandarin in die Herbergezur Achten Glückseligkeit. Atemlos und erregt stießer hervor: »Die Japaner planen einen Großangriff!Colonel Linnan hat Befehl von der obersten Heeres-leitung der nationalistischen Armee bekommen, dieTaktik der ›verbrannten Erde‹ anzuwenden!«»Verbrannte Erde?«, fragte Feng verdutzt, währenddie Kinder sich mit großen Augen im Hof um Ai-weh-deh und Hsi-Lien geschart hatten, um die Neu-igkeiten zu hören. »Was bedeutet das?«»Wir müssen unsere Ernten verbrennen, die Dächervon den Häusern reißen, fliehen – jedoch keineVorräte oder Unterschlupf für den Feindzurücklassen! Dann werden sie nicht soschnell vorankommen. Das ist ein Befehl!«»Mama-san, sieh!«, rief Less und zeigtezum Horizont. Hinter den Mauern vonYangcheng stieg Rauch auf. Einige derälteren Jungen rannten zum Balkonim Obergeschoss hinauf, um zu se-hen, was los war. »Es sind nationalis-tische Soldaten … sie verbrennen dieErnte!«, rief Less hinunter.Der Bote wandte sich an Ai-weh-deh.»Ja, man hat bereits mit der Vernich-tung begonnen. Bis morgen müsstIhr bereit zum Aufbruch sein.«

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»Aber … wohin sollen wir gehen?«, fragte Ai-weh-deh. »Ich habe fast hundert Kinder hier! Wir sind vielzu viele, um uns in den Höhlen von Bei Chai Chuangzu verstecken.«»Nein, nein«, meinte der Bote. »Das ist viel zu nah.Der Mandarin lässt Euch sagen, dass Madame Chi-ang Kai-Shek, die Frau des nationalistischen Gene-rals, in Sian Waisenheime errichtet hat; dorthin solltIhr die Kinder bringen.«»Sian!«, entrüstete sich Ai-weh-deh. »Aber … das istin der nächsten Provinz … hinter den Bergen … aufder anderen Seite des Gelben Flusses!«»Ja, ja!«, stimmte der Bote zu. »Aber dort werdet Ihrsicher sein.« Dann wandte er sich zum Gehen. »Oh …eine Sache noch. Der Mandarin möchte Euch nochLebewohl sagen bevor Ihr geht. Würdet Ihr wohlheute Abend zu einer Feierstunde in den yamenkommen? Ihr seid mit Euren drei Adoptivkinderneingeladen.«»Ja … ja, natürlich«, sagte Ai-weh-deh geistesabwe-send. Minutenlang stand sie mit geschlossenen Au-gen da. Ninepence bemerkte, wie müde ihre Adop-tivmutter aussah. Aber dann straffte Ai-weh-deh ihre Schultern undholte tief Luft. »Kommt, Kinder … wir haben eingroßes Abenteuer vor uns – wir gehen über die Ber-ge! Less, du gehst mit den Jungen hinauf und zer-störst das Dach! Ninepence … Tiger Lily … GloriousRuby … alle größeren Mädchen – ihr helft mir beimPacken. Jedes Kind muss eine Decke, eine zusätzlicheJacke, ein Paar Schuhe, eine Schüssel und Essstäb-chen in seinem Bündel haben …«

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***Less, Ninepence und Bao-Bao waren so aufgeregtüber die Einladung des Mandarins zu einem Ab-schiedsfest in seinem Haus, dass sie kaum essenkonnten. Ai-weh-deh war die einzige anwesendeFrau … und saß auf dem Ehrenplatz direkt nebendem Mandarin. Der Gefängnisaufseher war da, Lu-Tchen und einige andere wichtige Kaufleute, Regie-rungsbeamte, so wie Colonel Linnan und einige Offi-ziere der Armee.

Das »Festmahl« war jedoch sehr einfach: GedämpftesObst, Brot, Fisch, Schüsseln mit Hirse, Erdnüsse undTee – gut, aber nicht gerade so, wie Ninepence es sichvorgestellt hatte. »Das ist wegen dem Krieg. Zudumm«, flüsterte Less. »Niemand hat jetzt noch teu-res Essen – nicht einmal der Mandarin.«

Nach dem Mahl stand der Mandarin auf, hob seineHand und bat um Ruhe. »Ich habe Euch heute Abendzu diesem Festessen gebeten, um Abschied zu neh-men«, begann er mit sichtlich bewegter Stimme,»aber auch, um einer ganz bestimmten Person dieEhre zu erweisen. Wir alle kennen Ai-weh-deh, ehe-mals Gladys Aylward …«

Verlegen senkte Ai-weh-deh die Augen. Less grinsteund stupste Ninepence an.

»In ihrer Rolle als mein offizieller Fußinspektor hatsie sich sehr verdient gemacht«, fuhr der Mandarinfort, »während sie gleichzeitig eine bekannte Herber-ge für die Maultiertreiber führte – ein wichtiger Wirt-schaftsfaktor für unsere Stadt. Seit damals haben sieund ich viele lange Gespräche über den christlichen

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Glauben geführt – über den Glauben, der sie, wie siegesagt hat, seinerzeit nach China geführt hat. Ichmeine, dass wir alle diesen Glauben an ihren Werkenerkennen konnten, als sie sich um unsere Armen undKranken gekümmert hat … als sie geholfen hat, mehrMenschlichkeit für die Häftlinge in das Gefängnis zubringen … und sich mütterlich um zahllose Waisengekümmert hat.«Alle um den Tisch Versammelten nickten respektvollmit den Köpfen.»Es gibt keine Möglichkeit, Euch angemessen dafürzu danken, Ai-weh-deh«, sagte der Mandarin undblickte ihr ins Gesicht, »außer … dass ich Euren Glau-ben teilen möchte, Ai-weh-deh. Ich will Christ wer-den.«Ai-weh-dehs Augen wurden groß, der Mund standihr vor Erstaunen offen. »E-eure Excellenz«, stottertesie, »ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll,außer … das ich glücklich bin. Oh, ja, ich bin soglücklich!«Der siebenjährige Bao-Bao war eingeschlafen undlehnte an Ninepence, als sich das Gespräch dennäherrückenden Japanern zuwandte und wie mandie Stadt am besten evakuieren könnte. Die Kinderwarteten noch, während Ai-weh-deh allein mit demMandarin sprach, nachdem die anderen Gäste be-reits gegangen waren. Als sie schließlich den yamenverließen, um nach Hause zu gehen, war Ninepenceüberrascht, Colonel Linnan zu sehen, der draußenauf sie gewartet hatte.»Ai-weh-deh«, sagte der Colonel, sein junges, hüb-sches Gesicht von Sorgenfalten durchzogen, »hast du

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dir mein Angebot nochmal überlegt? Es ist meineSchuld, dass die Japaner nach dir suchen! Aber mei-ne Soldaten werden dich schützen und in Sicherheitbringen.«

Ai-weh-dehs Augen füllten sich mit Tränen. »Ichdanke dir, Linnan. Ich … ich weiß, dass du nur anmeine Sicherheit denkst. Aber …« Sie zog Bao-Baound Ninepence nahe an sich heran, während Less be-schützend dabeistand. »… ich bin für diese Kinderverantwortlich. Ich werde niemals meine eigeneSicherheit vor ihre stellen.«

Colonel Linnan schluckte mühsam. Es fiel ihmschwer, zu sprechen. »Ich weiß«, sagte er flüsternd.»Aber ich fürchte … dass dies ein Abschied für im-mer ist.«

Niemand sagte ein Wort. Die Sterne standen amHimmel; die Nacht über Yangcheng war ruhig undfriedlich. Colonel Linnan nahm Ai-weh-dehs Handin seine und küsste sie zärtlich. Im nächsten Momentwar er verschwunden.

***Die lange Reihe der Kinder schlängelte sich den Pfadentlang, auf dem sonst die Maultierkarawanen überdie Berge zogen. Es ging nach Shansi, in die nächsteProvinz. Die Aprilsonne schien warm auf ihre bloßenKöpfe. Die kleinen Kinder hüpften über die Steinewie aufgeregte Hasen.

Der Mandarin hatte ihnen zwei Säcke voll Hirse fürdie Reise mitgegeben, sowie zwei Männer, die sie ab-wechselnd trugen. Feng trug einen eisernen Topfzum Kochen und Ai-weh-deh einen großen Vorrat an

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Streichhölzern und heißem Tee in ihrem Bündel.Aber schon bald stellte sich heraus, dass Hsi-Lien zuschwach für die Reise war. Der Mandarin, der nungläubig geworden war, hatte eingewilligt, den un-glücklichen Maultiertreiber mit in sein Heimatdorfzu nehmen.

Als die Sonne am Ende des ersten Tages hinter denBergen verschwand, wurden viele der kleinsten Kin-der von den größeren huckepack getragen.

»Wo werden wir schlafen, Ninepence?«, fragte Bao-Bao ängstlich und blickte auf die länger werdendenSchatten. Von den Maultiertreibern hatte er viele Ge-schichten über Räuber gehört, die in den Bergen ihrUnwesen trieben.

»Ai-weh-deh sagt, dass es weiter oben ein Dorf gibt,nur etwa einen Tagesmarsch von Yangcheng ent-fernt. Vielleicht wird man uns dort Schutz geben«,antwortete Ninepence. Auch sie dachte an die Bandi-ten.

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In dem Moment ging die Nachricht durch die Reihe:»Das Dorf! Es liegt gleich hinter der nächsten Bie-gung!«

Das Dorf lag in den Bergen versteckt wie viele andereauch. Die meisten Bewohner bebauten kleine Felderin den Schluchten oder hatten sich kleine Acker-flächen an den Berghängen ausgehauen. Dieses Dorfbesaß auch einen eigenen buddhistischen Tempel. Indiesem durften die Kinder übernachten. Müde vonder langen Reise kauerten sie sich wie kleine Hundeauf dem Fußboden zusammen und schliefen sofortein.

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Nach den dürren Büschen, die entlang des Maultier-pfades wuchsen, gelangten sie am nächsten Tag ineinen dichten Wald. Ungeduldig über das langsameVorankommen der kleineren Kinder liefen die älte-ren Jungen voraus und markierten den Weg für dieanderen.

Der fröhliche Eifer, mit dem sie morgens losgezogenwaren, ließ jedoch schon bald nach. »Ich bin müde,Ai-weh-deh … können wir nicht Rast machen?«,und: »Sind wir bald da?«, beschwerten sich die Kin-der.

»Nein, nein … wir müssen noch viele Tage weiter-wandern«, tröstete Ai-weh-deh. »Aber kommt, lasstuns etwas singen! Das wird uns für einige MeilenKraft geben. Hört her … ich werde euch ein neuesLied beibringen.«

Und bald hallte das Lied »We are marching to Zion,beautyful, beautyful Zion« in jungen chinesischenStimmen von den Bergen.

In dieser Nacht gab es kein Dorf, so dass Ai-weh-deh,Feng und die Kinder ihre Decken ausrollten und imFreien übernachten mussten. Wieder fielen die Kin-der, müde von der langen Wanderung, sogleich intiefen Schlaf.

Drei Tage vergingen, dann vier; Routine kehrte ein.Der Morgen begann gewöhnlich mit Fangenspielen.Fröhliches Jauchzen erscholl aus den Reihen. Wenndie Sonne hoch über ihren Köpfen stand, pfiff Ai-weh-deh mit ihrer Pfeife, so dass alle zusammenka-men, um das Mittagessen einzunehmen, das in demgroßen Eisentopf gekocht wurde. Dann, wenn die

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Schatten länger wurden, mussten viele der kleinerenKinder getragen werden. Das war der Augenblick,wo Less und ein paar ältere Jungen vorausliefen, umeinen Platz zum Übernachten zu finden. Manchmalließ ein mitfühlender Dorfbewohner sie in seinemHof übernachten; die anderen Nächte verbrachtensie unter dem Sternenzelt in den Bergen. Am fünften Tag ging die Hirse, die der Mandarin ih-nen mitgegeben hatte, zur Neige und die beiden Hel-fer machten sich zurück auf den Heimweg. Am sechs-ten Tag fanden sie kein Dorf, von dem sie sich etwaszu essen hätten erbetteln können. In jener Nacht roll-ten die Kinder sich in ihre Decken ein und hatten nurdas Wasser einer Bergquelle, um ihre Mägen zu füllen. Als Ninepence sich nah bei Tiger Lily in ihre Deckegekuschelt hatte, Precious Pearls warmen Atem imNacken spürend, sah sie Ai-weh-deh, die immernoch am Lagerfeuer saß. Und dann hörte sie eine be-kannte Melodie, die sie in den Schlaf sang:

Count your blessings,Name them one by one. …

»Welche Segnungen?«, murrte Ninepence vor sich hinund rutschte mit ihrer Hüfte von einem scharfen Stein,der durch ihre Decke drückte. »Blasen an meinenFüßen, kein Abendessen, Sonnenbrand auf meinerNase … und jetzt fängt es auch noch an zu regnen!«Am nächsten Morgen waren alle Kinder entmutigt,hungrig und schlecht gelaunt. Ninepence war ge-reizt. »Lasst mich in Ruhe!«, fauchte sie schließlichTiger Lily und Bao-Bao an, mit denen sie sonst immergerne zusammen war. Dann stapfte sie durch diekrüppeligen Büsche davon.

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Die Zwölfjährige verließ den Zug und kletterte denfelsigen Berghang höher hinauf, hielt an und schrittdann parallel zu den anderen weiter. Das ist groß-artig! dachte sie. Als eines der ›großen‹ Mädchen hat-te sie nur selten einen Moment für sich allein. Sie warständig damit beschäftigt, Nasen zu putzen, aufge-schlagene Knie zu küssen oder die Geschichte vonNoah und den Tieren zu erzählen – zum hunderttau-sendsten Mal.

Nach dem nächtlichen Regenschauer begann der Tagverhangen, doch schon bald brach die Sonne durch.Ninepence schloss halb die Augen und genoss diewillkommene Wärme auf ihrer feuchten Jacke. Siehörte das Jammern der müden Kinder tief unter ihr,fühlte sich jedoch weit fort von der zerlumptenSchar, die sich in einer langen Schlange den Pfad ent-lang bewegte, vorbei an Felsblöcken, durch struppi-ges Gebüsch und Fichtengehölz. Während sie in derfriedlichen Landschaft versank, nahmen ihre Augenplötzlich eine Bewegung weiter vorne auf dem Wegwahr. Waren einige der Jungen etwa so weit vorge-laufen? Sie wunderte sich. Aber nein! Jetzt konnte siees sehen: Mindestens zwanzig Personen gingen denPfad entlang … auf sie zu!

Dann blitzte Metall im Sonnenlicht auf … viel Metall… und der Bergwind trug das eindeutige Wieherneines Pferdes an ihr Ohr.

Ninepences Mund wurde trocken.

Soldaten! Ai-weh-deh und die Kinder liefen direkt indie Arme feindlicher Soldaten!

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Übers Wasser gehen

In Windeseile warf sich Ninepence auf den Bodenund rutschte den steinigen Abhang bis zu den an-

deren hinunter.

Ihre Hände schmerzten, als sie nach den rauen Zwei-gen der Büsche griff, um nicht abzustürzen.

Eine Lawine aus kleinen, losen Steinen und Sandkündigte sie an. »Ninepence!«, fing Ai-weh-deh anzu schimpfen. »Wo bist du gewesen –«

»Soldaten, Mama-san!«, flüsterte sie aufgebracht.»Direkt vor uns! Ich habe sie gesehen!«

Sofort begann Ai-weh-deh zu laufen und die voraus-eilenden Kinder zurückzuholen. Ninepence lief dieReihen entlang zum Ende des Zuges und flüsterteden Kindern zu: »Versteckt euch! Soldaten! Schnell,versteckt euch!«

Ein dreijähriges Mädchen sah, wie einige der größe-ren Kinder den Pfad verließen, um sich im Geländezu verstecken, und stieß einen ängstlichen Schrei aus.Ninepence schnappte die Kleine und hielt ihr denMund zu. »Pssst! Pssst!«, wisperte sie dem Kind insOhr, während sie über die Felsen auf ein kleines Fich-tenwäldchen zukletterte.

Als sie die Bäume er-reicht hatten, ließen siesich auf den Bodenfallen. Nochfünf oder sechsweitere Kinder

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hatten sich dort zwischen den Zweigen versteckt. Ninepences Herz schlug zum Zerspringen. So vieleKinder konnten sich unmöglich vor den Soldaten ver-stecken! dachte sie außer sich vor Angst. Ein kleinesKind könnte weinen … jemand würde entdeckt werden! Inihrer Verzweiflung presste sie weiter die Hand aufden Mund der Kleinen, die von lautlosen Schluch-zern geschüttelt wurde.

Nach einer Weile hörte sie Ai-weh-dehs Stimme.»Kinder! Kinder! Es ist alles in Ordnung … ihr könntherauskommen. Einige nationalistische Soldaten ha-ben uns gefunden!«

Froh und erleichtert kamen die Kinder hinter bei-nahe jedem Baum und großem Felsen entlang desWeges hervor. Ninepence nahm die Hand vomMund des Mädchens, das sogleich eine Hand zurFaust ballte und nach ihr schlug. Dann lief sie davon.

Als Ninepence zu den anderen Kindern und den Sol-daten zurückging, schämte sie sich. Sie hatte alle inAngst und Schrecken versetzt; dabei waren es dochnur nationalistische Soldaten.

»Sie gehen den ganzen Weg nach Sian zu Fuß … mit alldiesen Kindern?«, fragte der diensthabende Offiziererstaunt. »Aber bis dahin sind es noch viele Tage …«

»Ja, ja, wir sind auf dem Weg nach Sian«, unterbrachihn Ai-weh-deh ungeduldig. »Aber im Augenblickbrauchen wir etwas zu essen. Die Kinder habenschrecklichen Hunger. Können Sie uns helfen?«

Der Offizier bellte einen Befehl und sofort öffneteneinige Soldaten ihr Gepäck, um ihre Rationen an Erd-nüssen zu teilen, während der Koch einen großen

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Topf Hirse zum Kochen brachte. Schon bald daraufstreckten die Kinder ihre Schüsseln nach dem ver-trauten Essen aus.

Ninepence hielt sich im Hintergrund; sie schämtesich immer noch, weil sie falschen Alarm gegebenhatte. Doch Ai-weh-deh beugte sich zu ihrem Ohrund flüsterte: »Ninepence, du hast genau das Richti-ge getan. In Kriegszeiten kann man gar nicht vorsich-tig genug sein. Ich bin stolz auf dich! Jetzt geh undhol’ dir deine Ration … geh’! Geh’ schon!«

***Der Sack Hirse, den die Soldaten Ai-weh-deh gege-ben hatten, reichte für vier Tage aus – aber nur, weilFeng an einem Abend kein Wasser zum Kochen auf-treiben konnte. Am zwölften Tag nach ihrer Abreiseaus Yangcheng wurde der gesundheitliche Zustandder Kinder jedoch zusehends schlechter.

Wie bei den anderen waren auch Ninepences faden-scheinigen Stoffschuhe schon lange durchgelaufenund sie stolperte mit Blasen an den geschwollenenFüßen auf dem Maultierpfad entlang. Das fröhlicheSingen hatte fast ganz aufgehört. Der ständige Auf-enthalt unter der Sonne hatte ihr Gesicht verbranntund die Lippen aufspringen lassen. Ihre Zunge fühltesich vor Durst dick und pelzig an. Kleider und Haarewaren staubbedeckt, aber das war ihr egal. Alles, wassie wollte, war, den Fluss zu erreichen … den Fluss …

Und dann ging der raue Schrei die Reihe entlang:»Der Fluss! Der Gelbe Fluss!«

Wahrhaftig! Als die Reihe der Kinder sich die Ge-birgsausläufer hinunterschlängelte, konnten sie die

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Stadt Yuan Ku unter sich erkennen – und hinter derStadt glitzerte in einiger Entfernung der Flusslauf inder Sonne.

Aufregung besiegte Erschöpfung und Blasen: Was-ser, Essen und Schutz waren nur ein paar Meilen entfernt! Kindliche Stimmen begannen spontan zusingen: »Count your blessings, name them one byone …«

Als sie jedoch die Stadt Yuan Ku erreicht hatten, herr-schte dort seltsame Stille und Leere. Viele Häuserund Gebäude waren zerstört; Trümmer lagen aufden Straßen.

»Hallo! Ist hier jemand?«, rief Feng, als er mit derFaust an ein Hoftor nach dem anderen schlug. Aber erbekam keine Antwort. Nicht einmal ein Hund bellte.

Die ganze Stadt war verlassen.

Einige Kinder fingen vor Enttäuschung und Hungeran zu weinen. Selbst Ai-weh-deh hatte Mühe zu spre-chen. »Das macht nichts«, meinte sie schließlich.»Wir werden zum Fluss weiterziehen. Alle Jungenüber zehn … ihr sucht in den leeren Häusern nach et-was Essbarem. Alle anderen kommen mit mir … wirhaben es über die Berge geschafft; dann schaffen wires auch bis zum Fluss.«

Die letzten drei Meilen waren eine Qual für Nine-pence. Aber als sie den Anlegeplatz der Fähre amFlussufer erreicht hatten, ließen sie und die Kindersich ins flache Wasser fallen, lachten und spritztendas kühle Nass über ihre verbrannten Gesichter undgeschundenen Füße. Die älteren Jungen fanden et-was angeschimmelte Hirse in einem der Häuser, so-

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wie etwas flaches, hartes Brot in einer verlassenenBäckerei. Feng kochte die Hirse – es war eher einewässrige Suppe als ein Brei – und sie tauchten kleine

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Stücke Brot hinein, um sie den kleinsten Kindern zugeben. »Aber wo ist die Fähre?«, wollte Less wissen, schirm-te die Augen mit seiner Hand vor der untergehendenSonne ab und hielt den Fluss hinauf und hinunterAusschau nach dem Schiff. Nichts!»Vielleicht sind wir zu spät gekommen und sie ist be-reits auf der anderen Seite«, überlegte Ai-weh-deh.»Kommt … wir wollen noch eine biblische Geschich-te hören und dann schlafen gehen. Morgen wirddann ein Boot kommen.«Jedoch es kam kein Boot. Und als sie noch einen wei-teren Tag und eine Nacht gewartet hatten, begannAi-weh-deh sich ernstlich Sorgen zu machen. Nine-pence hörte, wie sie zu Feng sagte, dass offensichtlichJapaner Yuan Ku bombardiert hatten und die Bevöl-kerung über den Fluss geflüchtet war. Aber warumschickten sie die Fähre nicht für andere Flüchtlingezurück? Die größeren Jungen gingen noch zweimal nachYuan Ku zurück, um nach Nahrung zu suchen. Diewenigen Dinge, die sie fanden, wurden in einemTopf zusammengeworfen, jedoch stillte die wässrigeSuppe kaum den ständigen Hunger in ihren Bäu-chen. Als die Sonne zum dritten Mal tief über demweit entfernten anderen Ufer des Flusses stand, lagendie Kinder im Sand, zu hungrig und müde, um imWasser zu spielen. Ai-weh-deh ging auf und ab undsuchte mit den Augen den Horizont ab. Aber da warimmer noch kein Boot. Etwas beschäftigte Ninepence. »Mama-san?«, fragtesie. »Erinnerst du dich an die Geschichte in der Bibel,

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die du uns so oft erzählt hast … wie Mose die KinderIsrael bis ans Rote Meer geführt hat … und ihre Fein-de ihnen dicht auf den Fersen waren?«

Ai-weh-deh runzelte die Stirn. »Ja, ich erinneremich.«

»Und Gott sagte Mose, dass er die Fluten teilen sollte– und Gottes Volk konnte auf dem Trockenen hin-durchziehen?«

»Ja.«

»Also … warum teilt Gott nicht den Gelben Fluss füruns, damit wir auf die andere Seite können?«

Ai-weh-deh war für einen Moment sprachlos; dannrannen Tränen über ihre Wangen. »Ich bin nichtMose, Ninepence.«

»Aber … Gott ist Gott – das hast du uns so oft gesagt.Wenn Gott wirklich Gott ist, dann kann Er uns auchüber den Fluss bringen.«

Ai-weh-deh war lange Zeit still. Dann zog sie Nine-pence zu sich heran und nahm sie in die Arme. »Duhast Recht, meine liebe Tochter. Mein Glaube ist soklein gewesen … lass uns alle Kinder zusammenru-fen. Wir wollen beten!«

Feng schichtete das Feuer auf und die Kinder ver-sammelten sich um die Flammen. Dann erzählte Ai-weh-deh noch einmal die Geschichte von Mose unddem Roten Meer. Danach betete sie. Viele Kinder ta-ten es ihr gleich und sprachen ebenfalls, eines nachdem anderen, ein Gebet.

»Bitte, Gott, schick’ uns ein Boot«, sagte Tiger Lily.

»Gott, könntest du das Wasser zurückhalten und

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einen Maultierpfad für uns auf dem Grund schaf-fen?«, betete Ninepence.

»Oder vielleicht könnten wir auf dem Wasser gehen,wie Jesus!«, piepste Bao-Bao und kniff dabei seineAugen fest zu.

»Danke, Gott, dass du uns alle sicher über die Bergegeführt hast«, betete Less. »Wenn es nicht zu viel ver-langt ist, würden wir jetzt auch gerne über den Gel-ben Fluss kommen.«

Kaum jemand konnte danach schlafen. So erzählteAi-weh-deh noch eine biblische Geschichte … undnoch eine. Zwischendurch sangen sie: »Jesus lovesme« … »This little light of mine« … und »Trust andObey«.*

Plötzlich trat ein Fremder zu ihnen ans Feuer.

»Ein Soldat!«, schrie jemand.

Erstaunt stand Ai-weh-deh auf. Zum ersten Mal be-merkte Ninepence, wie dünn ihre Adoptivmutter ge-worden war, wie sie schwankte, als ob sie vornüberfallen würde.

»Sind Sie auf Befehl hier?«, fragte der Soldat grimmigund blickte die kleine Frau von oben bis unten an.Ninepence konnte an seiner Uniform erkennen, dasser ein nationalistischer Soldat war. »Wer sind Sie …und wer sind all’ diese Kinder?«

Ai-weh-deh antwortete höflich, dass sie eine Missio-narin aus Yangcheng sei und all’ diese Kinder in einWaisenhaus nach Sian brächte.

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* »Jesus liebt mich«; »Ich bin ein kleines Licht«;»Vertraue und gehorche«.

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»Sie meinen … Sie haben diese Kinder den ganzenWeg über die Berge gebracht?«, fragte der Mann er-staunt.

»Ja«, sagte sie müde. »Wir wollen den Fluss überque-ren, um in Sicherheit zu gelangen.«

»Aber … merken Sie denn nicht, dass dieses Gebietbald ein Schlachtfeld sein wird?«, schimpfte der Offi-zier. »Die japanischen Bomber waren bereits da undihre Armee ist auf dem Vormarsch!«

Feng erhob die Stimme: »Noch ein weiterer Grund,dass diese Kinder schnellstens über den Fluss ge-bracht werden! Aber … wir sind schon seit drei Ta-gen hier und es ist noch kein Boot gekommen. Was istgeschehen?«

Der Offizier schüttelte den Kopf. »Der Fluss ist vonder nationalistischen Regierung gesperrt worden.Aber … ich denke, dass ich ein Boot für Sie besorgenkann. Es ist jedoch sehr gefährlich! Wenn ein japani-sches Flugzeug kommt, während Sie auf dem Wassersind …«

Ai-weh-deh schwankte erneut. Erschrocken liefenLess, Ninepence und Bao-Bao zu ihr, um sie zu stüt-zen.

»Diese Frau ist krank!«, meinte der Offizier in erns-tem Ton zu Feng. »Ihr müsst dafür sorgen, dass sie inärztliche Behandlung kommt, sobald ihr das andereUfer erreicht habt.«

»Nein … es geht schon wieder«, meinte Ai-weh-dehund ein Lächeln huschte über ihr erschöpftes Ge-sicht. »Seht ihr?«, wandte sie sich den Kindern zu, diesich um sie versammelt hatten. »Gott wird uns über

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dieses Gelbe ›Meer‹ bringen … genau wie Mose unddie Kinder Israel!«»Nur dass wir auf dem Wasser gehen«, lachte Bao-Bao.Der Offizier ging zum Anlegeplatz und blies dreimallaut auf einer Pfeife. Als sie die Pfeife hörten, kamenacht junge Männer eines Aufklärungstrupps aus demGebüsch. Dort hatten sie sich so lange versteckt ge-halten, bis der Offizier herausgefunden hatte, dassdas Feuer und der Gesang keine Falle der Japanerwaren. Sie waren nur wenig älter als Less … Zur sel-ben Zeit erscholl ein Ruf von den Kindern her: »DasBoot! Das Boot kommt!«Es war das Boot, das den Offizier und seine Truppenach Sonnenuntergang abholen sollte, wenn die Ge-fahr durch tief fliegende japanische Flugzeuge nichtmehr so groß war. Die Bootsleute waren überrascht,als sie das Ufer voller Kinder vorfanden! Doch dannluden sie so viele wie möglich ein und rudertenzurück. Sie mussten dreimal fahren, um alle Kinder hinüber-zubringen. Feng fuhr mit dem ersten Boot und warte-te am anderen Ufer. Ai-weh-deh kam mit dem letztenBoot, zusammen mit Bao-Bao, Less und Ninepence. Das letzte Tageslicht verlosch am Horizont, als Nine-pence die großen Ruder des Bootes beobachtete, dieins Wasser tauchten und wieder hoch kamen. DieProvinz Shansi war auf der anderen Seite … darüberhinaus – immer noch ein paar Tagesmärsche entfernt– die Stadt Sian, ihre neue Heimat. Hinter ihnen lag Yangcheng und die Herberge zurAchten Glückseligkeit … jetzt nur noch eine ausge-

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bombte Ruine. Würden sie jemals wieder dorthinzurückkehren? Etwas tief in ihrem Inneren sagteNinepence, dass es ein Abschied für immer war.Sie lehnte sich an Ai-weh-deh und merkte, dass Bao-Bao eingeschlafen war; sein Kopf lag in Ai-weh-dehsSchoss. »Mama-san«, flüsterte sie, um ihren Brudernicht aufzuwecken, »wirst du auch im Waisenhausvon Sian bleiben?«Ai-weh-deh schüttelte den Kopf. »Nein, Ninepence.Ich bin nach China gekommen, um das Evangeliumzu verbreiten … und meine Aufgabe ist noch nichtbeendet. Ich muss in die Dörfer gehen und den Men-schen die gute Nachricht von Gottes Sohn erzählen.«Ninepence setzte sich erschrocken auf und blickteAi-weh-deh ins Gesicht. »Aber … was ist mit uns?Mit mir, Less und Bao-Bao? Wirst du uns verlassen?«Ai-weh-deh lächelte und schüttelte wieder den Kopf.»Nein, Ninepence. Ich werde euch nie verlassen. Duund Less und Bao-Bao, ihr seid meine eigenen adop-tierten Kinder. Ihr werdet bei mir bleiben, egal wo ichauch hingehen werde.«Mit einem Seufzer entspannte sich Ninepence undlehnte sich wieder an Ai-weh-deh. Jetzt wusste sie,wo ihre Heimat sein würde: ›Heimat‹ war überall dort, wo Ai-weh-deh war.

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Mehr über Gladys Aylward

Gladys Aylward wurde im Februar des Jahres1902 als Tochter eines Postboten in einer fest-

gefügten, glücklichen Familie geboren. Wie vieleenglische Mädchen der Arbeiterklasse arbeitete sieals Stubenmädchen. Dieses Stubenmädchen hatte jedoch einen brennenden Wunsch: Sie wollte als Missionarin nach China gehen.

1928, im Alter von sechsundzwanzig Jahren, bewarbsie sich bei der China-Inland-Mission. Aber nach nurdrei Monaten Ausbildungszeit riet ihr der Vorsitzen-de, ihre Hoffnung, nach China zu gehen, aufzugeben.Ihre Noten waren schwach und bis zum Erreichen derAbschlussprüfung wäre sie fast dreißig Jahre alt ge-wesen. Außerdem war man bei der Mission davonüberzeugt, nur jüngere Menschen seien in der Lage,eine so schwere Sprache wie Chinesisch zu erlernen.

So entmutigt wurde Gladys dann »rescue sister«(Rettungsschwester). Als solche kümmerte sie sichum die Prostituierten, die in den Swansea Docks inSüdwales herumlungerten. Aber die Gewissheit,dass Gott sie nach China gerufen hatte, blieb weiter-hin bestehen. Als sie hörte, dass eine ältere Missiona-rin in China, Jenny Lawson, eine jüngere Hilfe such-te, war Gladys klar: »Das bin ich!« Sie ging zurück inden Dienst als Stubenmädchen und sparte ihrenLohn für eine einfache Fahrkarte nach China.

Endlich, am Samstag, den 15. Oktober 1932, nahmGladys Abschied von ihrer Familie und Freunden

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und fuhr mit der Eisenbahn von England über Euro-pa, Russland und Sibirien nach Tientsin, China, wosie fast einen Monat später ankam.

Jenny Lawson sollte in Tsehchow (was so viel wie›die Straße endet hier‹ bedeutet) in der Provinz Shan-si sein; als Gladys jedoch einige Wochen später mit dem Bus dort eintraf, musste sie feststellen, dassMrs. Lawson in die Berge nach Yangcheng gezogenwar, etwa zwei Tagesreisen weiter westlich. Die ein-zige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, war mit demMaulesel.

Als Gladys schließlich in Yangcheng ankam, konntesie kaum ihre Freude unterdrücken, dass Gott sieendlich nach China gebracht hatte. Jenny Lawsonhatte ein baufälliges, altes Gasthaus außerhalb derStadtmauern erworben; ihre Idee war es, daraus eineHerberge für die Maultiertreiber zu bauen, die mitden Eselskarawanen ihre Waren über die Bergetransportierten. Die Herberge sollte ihnen nicht nurein gutes Essen und einen Platz zum Schlafen bieten,die Frauen wollten ihnen auch noch Geschichten er-zählen – biblische Geschichten.

Als Gladys gerade acht Monate in Yangcheng war,hatte Jenny Lawson einen Unfall und starb nur weni-ge Monate später an den Folgen. Die Einnahmen ausder Herberge deckten kaum die Ausgaben, so dassGladys dankbar war, als ihr der Mandarin vonYangcheng sagte, er bräuchte einen »offiziellenFußinspektor«, denn die alte Sitte, nach der man al-len Mädchen die Füße einschnürte, damit sie kleinblieben, war gerade verboten worden. Der Mandarinentschied, dass der Fußinspektor eine Frau mit

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großen Füßen sein sollte – also fiel seine Wahl aufGladys. Obwohl sie nur eine kleine Schuhgröße hat-te, schienen ihre Füße im Vergleich zu den einge-schnürten Füßen der Chinesinnen, riesig zu sein.

Diese Entscheidung erwies sich schon bald als eineFügung Gottes. Die Position sicherte ihr nicht nur einkleines Einkommen zu, sondern auch ein Maultierund die Erlaubnis, die Dörfer in den Bergen zu besu-chen – wo sie den Menschen von Jesus erzählte.

Während ihres zweiten Jahres in Yangcheng wirkteGladys an der Beilegung eines Gefängnisaufstandesim örtlichen Gefängnis mit. Anschließend setzte siesich stark für verbesserte Haftbedingungen dort ein.Schon bald darauf hörten die Leute auf, sie »fremderTeufel« zu nennen; stattdessen war sie nun »Ai-weh-deh«, die Tugendsame. Nachdem Gladys einige Jah-re in Yangcheng gelebt hatte, beschloss sie, die chine-sische Staatsbürgerschaft anzunehmen. So konnte siesich besser mit den Menschen identifizieren, die sieliebte.

Der Mandarin machte sie später mit Colonel Linnanbekannt, dem gut aussehenden Nachrichtenoffizierder nationalistischen Armee, in den sie sich verliebte.

Gerüchte über einen Krieg zwischen China und Ja-pan oder den Nationalisten und Kommunisten wur-den von der Landbevölkerung in den Bergen weitge-hend ignoriert. Wer würde sich schon für diese abge-legenen Dörfer interessieren? Aber an einem strah-lenden Frühlingstag des Jahres 1938 flogen laute»Silbervögel« über sie hinweg. Die Menschen vonYangcheng liefen aus ihren Häusern, um das Schau-spiel besser sehen zu können – bis die Bomben explo-

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dierten. Die Japaner griffen Yangcheng an! Der Kriegwar da.

Die Japaner gingen immer nach dem selben Mustervor: Zuerst bombardierten sie ein Dorf oder eineStadt, dann, ein paar Tage später, kamen ihre Trup-pen und nahmen die Stadt ein. Aber meistens fandensie die Häuser verlassen vor, weil die Bewohner indie Berge geflüchtet waren. Dann kamen die nationa-listischen Soldaten und schlugen die Japaner in dieFlucht. Die Bewohner kehrten zurück, begruben ihreToten und bauten ihre Häuser wieder auf … dannfing alles von vorne an.

Während des Krieges versuchte Gladys, neutral zubleiben; aber als Colonel Linnan sie bat, durch dasWeiterleiten von Informationen, die sie auf ihren Rei-sen zu den Bergdörfern erhielt, China zu helfen, wur-de sie Spionin, obwohl sie deswegen oft innereKämpfe wegen ihres Glaubens hatte.

Im Februar 1940 besuchte Gladys David Davies, derals Missionar in Tsehchow lebte, das von den Japa-nern besetzt war. Dort entdeckte sie zweihundertKriegswaisen. Obwohl die Japaner die Missionsstati-on meistens in Ruhe ließen, überfielen eines Tages ja-panische Soldaten das Gebäude und versuchten, dieFrauen dort zu vergewaltigen. Als Gladys sie davonabzuhalten versuchte, wurde sie zu Boden geschla-gen. Dabei erlitt sie innere Verletzungen, unter derenFolgen sie noch Jahre später litt.

Als sie erfuhr, dass Madame Chiang Kai-shek einigeWaisenheime für Kriegswaisen errichtet hatte – einesdavon war in Sian, der nächsten Provinz – schicktesie Tsin Pen Kuang, einen zum Glauben an Jesus

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Christus gekommenen Chinesen, mit hundert Kin-dern über die Berge. Nachdem er die Kinder sicherabgeliefert hatte, wurde er auf dem Rückweg vonden Japanern gefangen. Also musste Gladys die rest-lichen Kinder selbst fortbringen.

Die zweiten »hundert« Kinder schickte sie mit eini-gen christlichen Frauen von Tsehchow nach Yang-cheng. Aber die Japaner kamen immer näher. Dannerfuhr Gladys, dass sie zu ihrer Ergreifung ein Kopf-geld ausgesetzt hatten, weil sie spioniert hatte. Alssie aus Tsehchow flüchtete, wurde sie von einer Ku-gel an der Schulter getroffen; trotzdem gelang ihr dieFlucht. Zwei Tage später erreichte sie schließlichYangcheng und die Herberge zur Achten Glückselig-keit.

Da sie nun wusste, dass man sie suchte, entschlossGladys sich, das südliche Shansi zu verlassen und dieKinder mitzunehmen. Schon am nächsten Tag brachsie auf, um mit den fast hundert Kindern im Alterzwischen drei und sechzehn Jahren über die Berge zuziehen. Fast einen Monat später, nach größten An-strengungen, Mut und Gottvertrauen, erreichte Gla-dys schließlich zusammen mit allen Kindern dieStadt Sian, wo sich Madame Chiang Kai-shek so-gleich der Kinder annahm. Ihre »New Live«-Organi-sation brachte die Kinder ins nahe gelegene Fufeng,wo ein Waisenhaus und eine Schule war. Es warApril 1940.

Aber Gladys war geschwächt und krank. Schließlichverlor sie das Bewusstsein: Schuld daran war eineKombination aus Typhus und inneren Verletzungendurch die Schläge. Bauern brachten sie zur Scandina-

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vian-American Mission nach Hsing P’ing unter dieObhut des dortigen Oberarztes. Nach vielen Wochenerholte sie sich wieder, war aber immer noch ge-schwächt. Sie nahm ihre fünf adoptierten Kinder undließ sich mit ihnen in Baochi nieder, einer Stadt imWesten der Provinz Chengtu, wo sie mit Gelegen-heitsarbeiten ihren Lebensunterhalt bestritt.

Colonel Linnan besuchte sie dort und hielt erneut um ihre Hand an, doch diesmal sagte sie nein. Etwas hatte sich verändert. Sie wusste, dass sie frei seinmusste, um das Evangelium weiterhin in die Dörferzu tragen.

Nach zwanzig Jahren in China bezahlte 1942 einAmerikaner ihr eine Fahrkarte nach England (ohneihre Kinder). Während sie dort weilte, schlossen sichjedoch unter der kommunistischen Regierung dieTüren nach China. So blieb sie bis 1957 dort. In dieserZeit traf sie Alan Burgess, einen Autor und Produ-zenten des BBC, der das Buch The Small Woman (Diekleine Frau) schrieb, Grundlage des HollywoodfilmsDie Herberge zur sechsten Glückseligkeit mit IngridBergman in der Hauptrolle.

Am 4. April 1957 segelte Gladys zurück nach China,diesmal jedoch nach Hongkong und Formosa. Zuihrer großen Freude wurde sie wieder mit einigenihrer Adoptivkinder vereinigt, die bereits verhei-ratet waren und eigene Familien gegründet hatten.Less war jedoch tot – erschossen von den Kom-munisten: Er hatte sich geweigert, etwas entgegenseiner Glaubensüberzeugung zu tun. Andere warenins Gefängnis oder Konzentrationslager ver-schleppt worden.

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Im Alter von fünfundfünfzig Jahren hatte Gladysnicht die Absicht, wieder unter Waisenkindern zu arbeiten; jedoch schon bald fanden sich ungewollteBabies und Kinder auf ihrer Türschwelle. Sie eröff-nete das Gladys-Aylward-Waisenhaus in Formosaund hatte in kurzer Zeit bereits hundert Kinder dort.

Dort diente Gladys Aylward, die »kleine Frau«, diefür eine Missionarin zu »unqualifiziert« war, bis zuihrem Tod im Jahre 1970.

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Weitere Bücher

Burgess, Alan. The Small Woman. London: Evans Brothers Ldt., 1957, 1969.

»Inn of the Sixth Happiness«/»Die Herberge zur sechstenGlückseligkeit« (Film/Video) mit Ingrid Bergman.Basierend auf dem Buch The Small Woman von AlanBurgess.

Swift, Catherine. Gladys Aylward. Minneapolis: Bethany House Publishers, 1989.

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