Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society,...

13
1 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter “Aber Turin!” Nietzsches Entdeckung der Stadt Im April 1888, in jenem stürmischen Finale, kurz nach seiner Ankunft in Turin 1 , berichtete Friedrich Nietzsche 2 seinem Freund Franz Overbeck, dass dies die erste Stadt sei, die mehr „ein Paradies für die Füße“ 3 als für die Augen sei. In Turin könne man „halbe Stunden in Einem Athem durch hohe Bogengänge gehen“ 4 . Damit schienen jene Hoffnungen in Erfüllung gegangen zu sein, die Nietzsche gut zwanzig Jahre zuvor schon einmal gehegt hatte. Damals, Anfang 1869, hatte er mit seinem „treusten und verständnißreichsten“ Freund Erwin Rohde, nach dem Ende des Studiums, einen längeren Aufenthalt in Paris geplant. Wie „ein paar philosophische Flaneurs“ hatten sie „mit ernstem Auge und lächelnder Lippe, mitten durch den Pariser Strom hindurch schreiten“ 5 wollen. Nietzsches Berufung nach Basel ließ die Pläne scheitern. Umso

Transcript of Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society,...

Page 1: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

1

in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284

Jörg H. Gleiter

“Aber Turin!” Nietzsches Entdeckung der Stadt

Im April 1888, in jenem stürmischen Finale, kurz nach seiner Ankunft in Turin

1, berichtete Friedrich Nietzsche

2 seinem Freund Franz Overbeck,

dass dies die erste Stadt sei, die mehr „ein Paradies für die Füße“3 als

für die Augen sei. In Turin könne man „halbe Stunden in Einem Athem durch hohe Bogengänge gehen“

4. Damit schienen jene Hoffnungen in

Erfüllung gegangen zu sein, die Nietzsche gut zwanzig Jahre zuvor schon einmal gehegt hatte. Damals, Anfang 1869, hatte er mit seinem „treusten und verständnißreichsten“ Freund Erwin Rohde, nach dem Ende des Studiums, einen längeren Aufenthalt in Paris geplant. Wie „ein paar philosophische Flaneurs“ hatten sie „mit ernstem Auge und lächelnder Lippe, mitten durch den Pariser Strom hindurch schreiten“

5

wollen. Nietzsches Berufung nach Basel ließ die Pläne scheitern. Umso

Page 2: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

2

mehr war jetzt 1888 Turin, die Stadt, die mit ihren Boulevards, mit dem rechtwinkligen Straßenraster, den Passagen, Arkaden und dem Klassizismus der Gebäude einige Ähnlichkeiten mit Paris aufweist, „eine capitale Entdeckung“

6. Turin ist der erste Ort, „in dem ich möglich

bin!“7 In einem Brief an Heinrich Köselitz schreibt Nietzsche: „Aber

Turin! […] Das ist wirklich die Stadt, die ich jetzt brauchen kann“8.

Von der Nietzscheforschung bisher übersehen, wandelte sich Nietzsche in seinen letzten Monaten vor dem Zusammenbruch vom Spaziergänger der Oberengadiner Bergwelt in jenen “philosophischen Flaneur” der modernen Metropole, als den er sich schon gut zwanzig Jahre zuvor vorgestellt hatte. Die Anziehungskraft der französischen Kultur und Paris’ auf Nietzsche war ungebrochen. In Turin stellte sich auch ein geradezu heiteres, getragenes Weltverhältnis ein. „Ich bin so erleichtert, so gestärkt, so guter Laune, – ich hänge den ernstesten Dingen einen kleinen Schwanz von Posse an“

9, schrieb Nietzsche an

Georg Brandes. Von sich selbst nicht wenig überrascht, heißt es an Köselitz am 16. Dezember 1888: “Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, in den Straßen zu gehn! – früher hätte ich’s für unmöglich gehalten”

10.

Während Nietzsche als Einsiedler von Sils-Maria noch Platon gleich spazierengehend in der freien Natur seine philosophischen Einfälle empfangen hatte, scheint er sich jetzt in Turin ganz auf die Seite von dessen Lehrer Sokrates zu schlagen. Im Gegensatz zu Platon, der sich aus der Stadt in die Stille der Olivenhaine, in den heros akademos,

zurückgezogen hatte, zog es Nietzsche im Frühjahr 1888 und dann noch einmal im Herbst desselben Jahres unter die Arkaden Turins. Wie Nietzsche in der Geburt der Tragödie Jahre zuvor schon angemerkt hatte, waren für Sokrates auf seinen „kritischen Wanderung[en] durch Athen“

11 die ganze Stadt, die Stoa, die Straßen und der Marktplatz Orte

seiner philosophischen Erweckertätigkeit. In Die Geburt der Tragödie hatte sich Nietzsche im Traum in eine „althellenische Existenz zu-rückversetzt“ gefühlt, „im Wandeln unter hohen ionischen Säulengän-gen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Li-nien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklär-ten Gestalt in leuchtendem Marmor.“

12

Wie Giorgio Colli feststellte, bliebe Nietzsche unverstanden, wollte man von seinem Philosophieren den Impuls zum direkten Einwirken ins Leben abziehen. Besonders die Absage des Projekts des Willens zur Macht im Sommer 1888 und die daraus resultierenden Schriften des Herbsts 1888 sind nach Colli Ausdruck des „geheimen Wunsch[es] zu direktem Eingreifen ins Leben”

13. Nietzsche sei der Philosoph, der die

Grenzen zwischen Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Leben aufzuheben versuchte. Es habe sein Denken immer das „unmittelbare Gewebe des Lebens”

14 berührt und sich mit ihm gemischt. In der

frenetischen Unruhe, ja Euphorie seiner letzten Monate scheint Nietzsche nicht mehr nur distanziert über die Dinge philosophieren, sondern in deren Gang eingreifen zu wollen.

Die Turiner Monate, ab Anfang April 1888, mit der Unterbrechung der Sommermonate in Sils Maria, wären falsch verstanden, wollte man sie

Page 3: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

3

als einen Endpunkt des intellektuellen Lebens Nietzsches bezeichnen, der in den Wahnsinnsepisteln und dem Zusammenbruch Anfang Januar 1889 seinen Abschluss gefunden hätte. Die Zeit in Turin ist alles andere als das. Im Gegenteil, es scheint sich in den letzten Monaten etwas zu vollziehen, das die Turiner Zeit mit einiger Berechtigung nicht als Endpunkt, sondern als Wendepunkt erkennen lässt. Es ist Nietzsches Entdeckung der Polis, aber nicht im klassischen, hellenistischen, politischen Sinne. Es ist die Entdeckung der Metro-Polis, der Metropole der Moderne. Was Nietzsche bisher in immer neuen Konstellationen und Versuchsanordnungen zu thematisieren versucht hatte, ohne zu einer eindeutigen Position zu finden, kristallisiert sich jetzt in großer Klarheit aus: Nietzsches Entdeckung der Stadt findet vor dem Hintergrund seiner Abwendung von der Musik als “Sonderkunst”

15 des 19. Jahrhunderts und der Hinwendung zur

Architektur als “Leitkunst” der Moderne statt. Das Konzept der Physiologie der Kunst setzt sich nun als Grundlage für das durch, was man Nietzsches leibphänomenologische Wende bezeichnen kann. Nach der Aufgabe des Projektes des Willens zur Macht tritt dann die Décadence endgültig als neuer Zentralbegriff ins Zentrum seiner Philosophie. In Turin findet damit die Ablösung von der Verführungskraft der ‘deutschen’ Moderne Wagners und Hinwendung zur französischen Moderne statt. Die Entdeckung der modernen Stadt bildet den Hintergrund für diese dreifache Wendefigur. Ohne sie bliebe vieles der letzten Monate im Dunkeln.

Von der Musik zur Architektur 1888 spitzte sich für Nietzsche die Frage der Kunst, besonders die nach seinem Verhältnis zur Musik zu. Das zeigt sich in den zwei Büchern Der Fall Wagner und Nietzsche contra Wagner. Es ist eine Zeit großer Zweifel an der Musik, besonders der Musik Richard Wagners. Auslöser ist, dass die Kunst im System Nietzsches ihre Stellung und ihre Funktion änderte. Mit dem Begriff der Physiologie, der sich immer weiter in den Vordergrund schob, forderte Nietzsche mehr und mehr eine Stellung der Kunst zwischen Geist und Leib, zwischen kognitiver und sinnlicher Erkenntnis, zwischen den Überzeugungen und den Instinkten.

Dies hatte Nietzsche schon 1887 im Nachlass formuliert und wiederholt thematisiert. Dort forderte er von der Kunst, besonders von der Musik, eine „Erleichterung des Lebens“, er wollte eine Musik, „bei der man das Leiden vergißt; bei der das animalische Leben sich vergöttlicht fühlt und triumphirt“

16. Dies war noch ganz im Sinne von Schopenhauers

Metaphysik der Ästhetik formuliert, aber zunehmend mit Zweifeln verbunden. Seine Kritik galt der Musik Wagners, die ihm, wo sie der Ästhetik Schopenhauers folgte, „unmöglich geworden [sei], weil er nicht gehen kann, geschweige denn tanzen“, während er, Nietzsche, nach einer Musik verlange, „bei der man tanzen möchte; bei der man vielleicht, cynisch gefragt, gut verdaut?“

17 Unmittelbar, nachdem er dies

formuliert hatte, schlugen die Zweifel an der Metaphysik der Ästhetik in erlösende Erkenntnis um: „Aber das sind physiologische Urtheile, keine aesthetische“

18. In der Turiner Zeit kommt dann Nietzsche im Zuge

seiner “Einwände gegen die Musik Wagner’s” zu Erkenntnis: “Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie“

19.

Page 4: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

4

Im Mai 1888 stellte Nietzsche die „Frage: wohin die Architektur gehört“

20. Es rückte die Architektur, die bisher kein Thema war, in den

Fokus seines philosophischen Interesses. In Der Wille zur Macht hatte er sogar ein Kapitel Zur Physiologie der Kunst geplant, in dem er die Architektur behandeln wollte und nicht die Musik. Kritisch wollte Nietzsche dort Stellung nehmen gegen die drei „unkünstlerischen Zustände“, die er mit „der verarmte Wille“, „die verarmten Sinne“ und „der verarmte Leib“

21 bezeichnete. Sein Vorwurf galt der verhärteten

„Ton-Semiotik“22

und der hohlen „Theater-Rhetorik“23

. Damit konkretisierte er seine Kritik an Wagner, dessen Musik immer intellektueller geworden sei. Sie zeichne sich nur noch durch die “wissenschaftliche Lust an den Kunststücken der Harmonik und Stimmführung“

24 aus.

Nietzsches Kritik richtete sich gegen die unkünstlerischen Zustände der “Musik als Sonderkunst”, gegen ihre intellektuelle „Auszehrung, Verarmung, Ausleerung“

25. Er forderte, was man als Rückführung der

Künste in den Alltag beschreiben kann, die „Mitarbeit der künstlerischen Vermögen am normalen Leben“

26 und vor allem die Wiederherstellung

der Künste auf „physiologische[r] Grundlage“27

. Während Nietzsches Unbehagen im Frühjahr 1888 noch der physiologischen Unzulänglichkeit der Musik Wagners galt, hatte sich spätestens im Herbst desselben Jahres mit der Frage: wohin die Architektur gehört, eine andere Kunst vor die Musik geschoben: die Architektur.

Vor diesem Hintergrund muss man Nietzsches Äußerungen über Turin in den Briefen jener Zeit lesen. „Was für Sicherheit, was für Pflaster, gar

nicht zu reden von den Omnibus und trams, deren Einrichtung hier bis ins Wunderbare gesteigert ist!“

28 Er sei auch „nirgendswo mit so viel

Vergnügen spazieren gegangen als in diesen vornehmen unbeschreiblich würdigen Straßen“

29. In den folgenden Monate riss das

Lob nicht ab. Unter den „herrlichen hochräumigen Portici, Säulen- und Hallengänge[n]“ Turins, deren Ausdehnung „10020 Meter (d. h. zwei Stunden gut zu marschiren)“

30 betrage, könne man „halbe Stunden in

Einem Athem“ gehen; und „daß man mitten in der Stadt die Schnee-Alpen sieht! Daß die Straßen schnurgerade in sie hineinzulaufen scheinen! Die Luft trocken, sublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch Licht so schön werden könnte.“

31

Nietzsches Beschreibungen von Turin widersprechen dem Klischee vom Philosophen, der die Städte gemieden und nur „auf einsamen Bergen, am Meer“

32 seine Gedanken ergangen haben soll. Gegen die

Stadt sei einfach nichts einzuwenden, es sei „eine herrliche und seltsam wohltuende Stadt“

33, wie Nietzsche in immer neuen

Formulierungen bestätigte. Von Turin ging ein äußerst positiver Einfluss aus. An Overbeck schreibt er: „Ich bin jetzt der dankbarste Mensch von der Welt […] Alles wird mir leicht, Alles geräth mir“

34. Während bisher

die Krankheit „ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben“

35 darstellte, fiel in Turin das leidvoll Quälende von Nietzsches

Erkenntnisritual ab. Es stellte sich eine geradezu heitere Stimmung ein. Im Frühjahr 1888 hatte Nietzsche noch bekannt: „Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn man uns mit den Künstlern verwechselt.“

36 Welche Kunst er meinte, daran ließ er zu Beginn seiner

Turiner Zeit noch keinen Zweifel. Es war die Musik. In Der Fall Wagner

Page 5: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

5

heißt es dazu noch unmissverständlich: „Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist frei macht? Dem Gedanken Flügel giebt? Dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird?“

37 Unmittelbar

nach seiner Ankunft in Turin sah Nietzsche demnach Musik und Philosophie in einer Allianz, am Ende des Jahres waren es Philosophie und Architektur. Spätestens nach seiner Rückkehr aus Sils-Maria im Herbst war für Nietzsche die Architektur an die Stelle der Musik getreten.

In diesem Wandel spielte die Turiner Mole Antonelliana eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Die Mole Antonelliana ist bis heute das höchste Bauwerk Turins. Sie war 1863 als Synagoge begonnen worden und ursprünglich 47 m hoch geplant. Aufgrund des „absoluten Höhentriebs“ ihres Architekten Alessandro Antonelli wurde sie dann im Jahr 1900 in 168 m Höhe beendet. In Ermangelung einer eindeutigen Funktion und Typologie hat man für die Mole keinen Namen gefunden, bis heute heißt sie nach ihrem Architekten Mole Antonelliana, also Großer Bau des Antonelli. „Vorhin gieng ich an der mole Antonelliana vorbei, dem genialsten Bauwerk, das vielleicht gebaut worden, – merkwürdig, es hat noch keinen Namen – aus einem absoluten Höhentrieb heraus, – erinnert an gar nichts außer an meinen Zarathustra. Ich habe es Ecce homo getauft und im Geiste einen ungeheuren freien Raum herum gestellt,“

38 schrieb Nietzsche am 30.

Dezember 1888 in einem Briefentwurf an Köselitz. Nietzsche brachte das Gebäude mit seinem Zarathustra in Verbindung und nannte es Ecce homo nach dem Buch, das er im Herbst beendet hatte. Dann, kurz vor dem Zusammenbruch am 6. Januar 1889, erwähnte er das

Gebäude noch einmal. Er habe im November am Begräbnis des Architekten teilgenommen, heißt es im Postskriptum an Jacob Burckhardt: „Ich war noch beim Begräbniß des uralten Antonelli zugegen, diesen November. – Er lebte genau so lange, bis Ecce homo, das Buch fertig war. – Das Buch und der Mensch dazu …“

39

Nietzsche stellte also sein im Herbst fertiggestelltes autobiographisches Buch und den Architekten des beeindruckenden Gebäudes in eine direkte Beziehung. Eine ähnliche Verknüpfung zwischen dem Tod eines Künstlers und einem seiner Bücher hatte Nietzsche einige Jahre zuvor schon gemacht. Im Februar 1883 wollte er die Arbeit am Zarathustra in jenem Moment beendet haben, als ihn die Nachricht vom Tod Wagners erreicht habe. Zarathustra wurde „genau in der heiligen Stunde fertig gemacht, in der Richard Wagner in Venedig starb“

40, so Nietzsche.

Indem er Zarathustra und den Tod Wagners, Ecce homo und den Tod Antonellis in direkten Zusammenhang brachte, spannte Nietzsche die eigene Existenz in einen Zyklus von Geburt und Wiedergeburt ein. Beide Male sah Nietzsche in seinen Büchern das Vermächtnis eines Künstlers, erst eines Musikers, dann eines Architekten. Zarthustra und Wagner. Ecce homo und Antonelli. Erst der Philosoph und der Musiker, jetzt der Philosoph und der Architekt.

Décadence Im Dezember 1888 blätterte Nietzsche in seiner „Litteratur“ und fühlte sich ihr zum ersten Mal gewachsen. An Heinrich Köselitz schrieb er: „Teufel, was steckt da drin! – Über die dritte und vierte Unzeitgemäße werden Sie in Ecce homo eine Entdeckung lesen, daß

Page 6: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

6

Ihnen die Haare zu Berge stehn – mir standen sie auch zu Berge […] Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden. – Zeichen und Wunder!“

41 In den letzten Monaten in Turin vollzog Nietzsche eine

radikale Neuaneignung der eigenen, intellektuellen Biographie. Voraussetzung dafür war der neu ins Zentrum gerückte Begriff der Décadence. Nach der Absage an den Willen zur Macht war die Décadence zum zentralen Begriff seiner Philosophie avanciert.

1886 schon war Nietzsche auf eine Definition der Décadence in Paul Bourgets Essay de psychologie contemporaine gestoßen und hatte den Satz exzerpiert. Bei Bourget heißt es unter der Überschrift „Théorie de la décadence“:

„Der Stil der décadence zeichnet sich dadurch aus, dass er die Einheit des Buches zugunsten der Autonomie der Seite auflöst, dass er die Seite selbst wiederum zugunsten der Autonomie des Satzes und den Satz zugunsten der Autonomie des Wortes auflöst.“

42

Nietzsche folgte der Definition Bourgets insofern, als dieser Théophile Gautiers Definition der Décadence als Stilphänomen ablehnte. Nietzsche wie Bourget wandten sich gegen Gautiers Vorstellung des Dekadenten und Häßlichen, von „la laideur“ oder „l‘horreur” als lediglich stilistische Formen, die allein einen Effekt des Neuen erzeugen sollten. Beide sahen im Phänomen der Décadence weniger eine stilistische Methode denn „Reizqualitäten der Inhalte“. Es ging nicht um die Décadence als ästhetische Kontrasterfahrung zum Schönen oder als „Reinigungsideal“

43 einer verwahrlosten, degenerierten Kultur, sondern

als genuine Erfahrungsqualität der Moderne.

Nietzsche folgte aber Bougets Definition nur bedingt. Wohl bestand auch für ihn wie für Bourget die literarische Décadence darin, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnte, er kehrte aber, mit weitreichenden Konsequenzen für die Theorie der Décadence, die Reihenfolge von Bourgets Dekonstruktionen um, bei fast wörtlicher Übernahme von dessen Metaphorik. In Der Fall Wagner präzisierte Nietzsche dann seine Vorstellung der Décadence:

„Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr ihm Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz heraus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, »Freiheit des Individuums«, moralisch geredet […]“

44

Der Unterschied zu Bourget liegt in der Frage, wie die Auflösung des Ganzen geschehen soll, wie die angemaßten Autoritäten, der Idealismus als eine „Instinkt gewordne Unwahrhaftigkeit“

45 gesprengt

werden konnten. Während Bourget die Auflösung des großen Stils von der übergeordneten Einheit absteigend zum Kleinen und Kleinsten wollte, galt Nietzsches Interesse der gegenteiligen Bewegung, nämlich dem Ziel, die falschen Autoritäten, das heißt die großen Stile von innen heraus, also aus dem kleinsten Detail heraus aufzubrechen. Es sprengt

Page 7: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

7

das Wort den Satz, der Satz sprengt die Seite, die Seite sprengt das Buch. Was nur konsequent war, denn ein Aufbrechen der Stile, Ordnungen und Systeme von außen hieße, diese durch Ordnungen und Systeme noch höherer Ordnung zu ersetzen und damit übergeordneten Autoritäten die Oberhand zu überlassen. Hier bedurfte es für Nietzsche einer Umwertung der Definition der Décadence. Damit erhielt die Décadence jene Ambivalenz, die sie zum Ausdruck des Verfalls und zugleich dessen Überwindung, zum Wahrheitsbegriff wie auch Modell der Kritik werden ließ. Wo das Kleinste die nächst höhere Einheit sprengt, erhält der Verfall selbst gestalterisches, kreatives Potenzial, nicht nur “moralisch geredet”.

Nietzsches Auseinandersetzung mit der Décadence setzte 1883 mit der Lektüre von Paul Bourget ein. Zum zentralen Begriff seines Philosophierens rückte die Décadence jedoch erst mit dem Verzicht auf sein groß angelegtes Werk Der Wille zur Macht auf. In ihm hatte er noch einmal die Welt aus einem Prinzip heraus denken wollen, musste sich aber im Spätsommer 1888 sein Scheitern eingestehen. An die Stelle des Willens zur Macht trat die Décadence, jetzt aber in Bezug auf die Physiologie der Kunst selbst mit umwertender Kraft. 1887 war die Physiologie der Kunst noch positiv und dem Nihilismus entgegengesetzt. Jetzt erfuhr sie eine Neubewertung als physiologische Degenerenz und „physiologische Widersprüchlichkeit“

46.

Im Sinne der „Zweideutigkeit der Werthe«“47

ist damit die Décadence „Symptom des Niedergangs“

48 wie auch lebensbejahende Kraft.

„Vielheit und Unruhe“ der Moderne sind ein „Symptom der décadence“

49 und ihre Zweideutigkeit die „höchste Form des

Bewußtwerdens“50

, der „corrupte und gemischte Zustand der Werthe entspricht dem physiologischen Zustand der jetzigen Menschen: Theorie der Modernität“

51.

Modernität Während der wundersamen Konvergenz der anfallfreien Turiner Zeit, als Nietzsche der Körper das gewohnte, immer wieder eingeforderte Leiden versagte, vollzog sich Nietzsches Wende von der Musik, der Sonderkunst des 19. Jahrhunderts, zur Architektur als Leitkunst der Moderne und mit der physiologischen Degenerenz, was man die leibphänomenlogische Wende Nietzsche bezeichnen kann. Damit war der Weg frei zu der in Die fröhliche Wissenschaft schon skizzierten, dort aber noch isolierten Idee der Verschränkung von Architektur und menschlichem Körper.

„Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter […] Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken […] Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln.“

52

Unklar bleibt, an welche Architektur Nietzsche gedacht hatte, als er Bauwerke forderte, welche „als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken“, wenn wir uns „in Stein

Page 8: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

8

und Pflanze übersetzt haben“ und in uns spazieren wollen. Genau daran schien Nietzsche in Turin anzuknüpfen, indem er sich zu dem wandelte, was er gut zwanzig Jahre zuvor schon als „philosophischen Flaneur“ bezeichnet hatte. Das war einerseits an Nietzsches Berufung nach Basel, andererseits an der Bekanntschaft mit Wagner gescheitert. Wagner wohnte zu jener Zeit in Tribschen bei Luzern und damit gut erreichbar nur wenige Zugstunden von Basel entfernt. Spätestens im September 1868 war Nietzsche infiziert: „Mir behagt an Wagner […] der faustische Duft“

53. Mit der ersten Begegnung war Nietzsche der

Verführungskraft Wagners, dem „alte[n] Minotaurus“54

, dem Meister des Labyrinths und Vorkämpfers einer spezifisch deutschen, romantischen Moderne verfallen. „Schließlich freue ich mich darauf [auf Tribschen] mehr als auf alles, ausgenommen unsre Pariser Reise“

55,“ schrieb er an

Rohde in jenem Brief, in dem er diesem seine Absage auch an die gemeinsame Reise nach Paris verkündete.

Gut zwanzig Jahre nach den Parisplänen wurde Turin dann zum Ort der Rückkehr von Nietzsches Frankreichsehnsucht. Durch die französische Kultur geprägt war Turin ein Paris en miniature, weniger prachtvoll, aber ehemalige Residenzstadt mit „ernste[n] und feierliche[n] Plätzen”

56. Wie Paris war die Stadt damals schon ein bedeutendes

Zentrum der Industrie, das die ganze Ausstattung einer modernen Met-ropole, wenn auch in kleinerem Maßstab, besaß: einen gerasterten Stadtgrundriss, Arkaden, Passagen und Boulevards mit weiten Blicke, „nicht zu reden von den Omnibus und trams, deren Einrichtung hier bis ins Wunderbare gesteigert ist!“

57 Mit der Mole Antonelliana, die von

ihrem Architekten Antonelli als steinernes Pendant zum stählernen

Eiffelturm geplant war, war Turin zu jener Zeit darüber hinaus in ein direktes Konkurrenzverhältnis zu Paris getreten. Dennoch, wie Nietz-sche feststellte, war in Turin auf den Straßen die „Stille […] noch die Regel“

58. Das klingt, als ob sich in der Stadt seine frühe Vision aus Die

fröhliche Wissenschaft erfüllt habe, als er „stille und weite, weitgedehn-te Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengän-gen”

59 gefordert hatte. In den Arkaden scheint die pathetische und be-

fangene Sprache der Kirchenräume, das heißt die vita contemplativa, die bisher immer zuerst eine vita religiosa gewesen war, ihre Deklinati-on ins Säkulare erfahren zu haben.

Über die Passagen und Arkaden hinaus ist es eine weitere architektonische Figur, die Nietzsches Erfahrung der Stadt als Stadtlandschaft prägte: das Labyrinth. Es ist die moderne Metropole, wie Walter Benjamin mit Bezug auf Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts feststellte, die „Realisierung des alten Menschheitstraumes vom Labyrinth”

60. Voraussetzung für die Erfahrung

der modernen Metropole als Labyrinth ist ihre rationale Struktur. Erst der Umbau der unübersichtlichen mittelalterlichen Stadt durch Baron Haussmann zur rationalen Struktur der heutigen Boulevards schuf in Paris jene Stadtfigur, die mit den breiten, uniformen, ins Unendliche fluchtenden Boulevards, mit dem gleichmäßigen Pflaster und den klassizistischen Fassaden labyrinthisch ist, weil „nur scheinbar gleichförmig“

61.

Labyrinthe sind Figuren von äußerster Rationalität, in deren geometrisch exakter Form der Weg ohne Alternative ins Zentrum führt

Page 9: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

9

und von dort wieder heraus. Labyrinthe sind das Gegenteil von Chaos oder verwinkelter Unübersichtlichkeit. Sie sind Formen gesteigerter rationaler Ordnung und als solche das Gegenteil von Irrgärten. In ihren meandrierenden Wegen, in denen der Mensch in den unzähligen Windungen die Orientierung auf das Außen des Labyrinths verliert, sind die Labyrinthe Figuren des Rückbezugs des Intellekts auf den Körper, der Verschränkung von Mythos und Logik. In Morgenröthe hatte Nietzsche das Labyrinth schon thematisiert. Unter dem Titel Das Griechische uns sehr fremd heißt es dort: „[...] wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber in ihrer Vorstellung! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntniss! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsere Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) – so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein!“

62

Für Benjamin hing die Entdeckung der Stadt als Labyrinth keineswegs von der Schwierigkeit ab, sich in ihr zu orientieren, sondern im Gegenteil von ihrer neuen, modernen Übersichtlichkeit und Rationalität. Dazu braucht es Erfahrung: „Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Wald sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockener Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln“

63. Die Stadt als Labyrinth erschließt sich nur

dem, der im leibhaftigen Kontakt in den perspektivischen Durchblicken der langen Straßenfluchten, in ihren im Halbdunkel gehüllten Neben-

und Abwegen und den trügerischen Abkürzungen der Passagen sich zu verlieren verstehe. Erste Voraussetzung ist, dass sich in langen Spaziergängen die „Zeit in ein Rauschgift“

64 verwandele; dann erst, im

„Bund mit diesen Straßen“65

würden die Traumbilder als dialektische Bilder mobilisiert, wandelte sich die Stadt zum Text und der Körper zum Erkenntnisinstrument.

Zur Erweckung des labyrinthischen Charakters der Stadt bedarf es einerseits der leibphänomenologischen Erfahrung, andererseits aber auch der literarischen Tätigkeit des Flaneurs. Nach Benjamin ist es der Flaneur, der als Fußgänger, „ohne es zu wissen“, die Stadt als Labyrinth erst verwirklicht. Dies brauche „Schulung”, es gehöre dazu die leibliche Erfahrung des „monotonen, faszinierend sich abrollenden Asphaltband[es]“

66 der Großstadt. Nicht in mittelalterlichen Städten,

allein in der Monotonie der rationalen Struktur der Metropole wandle sich mit der „Erreglichkeit des Leibes“ dem Flaneur die Stadt zum Labyrinth. Daher war für Nietzsche Venedig trotz aller Décadence „keine Stadt für einen Spaziergänger“

67. Dagegen besaß Turin, die als

einzige der historischen Städte Italiens keinen mittelalterlichen Stadtkern hat, mit seinem schachbrettartigen Straßensystem, den langen, gegen die Berge fluchtenden Achsen die für den Flaneur so wichtige Monotonie der Straße.

Damit lassen sich auch einige Notizen Nietzsches vom Herbst 1888 deuten. Wie Anweisungen zur Benjaminschen Technik des Flanierens liest sich, was Nietzsche notierte: „Nicht Brille in der Straße aufsetzen! Keine Bücher kaufen! Nicht in die Menge gehen!“ Anschließend dann

Page 10: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

10

die Beschreibung eines der Spaziergänge; „Abends durch Garten V<alentino> bis Schloß, dann wieder hinein bis Ende piazza Vitt<orio Emanuele I> und ins Cafè Livorno.“

68 Dann wieder: „keine Briefe

schreiben! keine Bücher lesen! ins Café etwas mitnehmen zum Lesen! Notizbuch“

69. Nietzsche beschreibt hier die Technik des Flanierens! Nur

der Bezug auf die eigene Körperlichkeit, ohne Bücher und in Distanz zur Menge, eröffnet einen Zugang zum Unterbewusstsein. Dazu muss der Flaneur allein bleiben, in „aristokratischer Absonderung von der Menge“, während „die Menge an »Gleichheit« und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit« glaubt“

70 und die Auflösung der

Gegensätze in einer falschen Einheit betreibt. Dem Flaneur geht es dagegen um die Verschärfung der Gegensätze; daher: „nicht Brille auf Straße“, „nicht in die Menge gehn!“ Turin steht im Zeichen der leibphänomenologischen Wende Nietzsches. Es bekommt die Physiologie der Kunst ihre Konkretion in der Entdeckung der Stadt als Landschaft.

Mit der Décadence, Physiologie der Kunst und Entdeckung der Architektur als Leitkunst der Moderne richtet sich in den Turiner Monaten Nietzsches Denken mehr und mehr auf Frankreich aus. Was zu großen Zweifeln an seiner Existenz in Italien führte. Im November 1888 heißt es dazu: „Moral: Nicht Italien, alter Freund! […] Am besten freilich Paris“; die französische Kultur schien ihm als eine „Art Recept“, denn für „unsre Leiber und Seelen, lieber Freund, ist eine kleine Vergiftung mit Parisin einfach eine »Erlösung« – wir werden wir, wir hören auf, horndeutsch zu sein“

71. Ecce homo sei schon „antideutsch

bis zur Vernichtung“ und nehme durchweg die „Partei der französischen

Cultur“72

. In Paris spreche man davon, dass er, Nietzsche, „ein geborner Pariser“ sei, denn „noch nie habe ein Ausländer so französisch gedacht wie ich im »Fall«“

73. In Ecce homo heißt es dazu:

„Als Artist hat man keine Heimat in Europa außer in Paris; die délicatesse in allen fünf Kunstsinnen […] die Finger für nuances, die psychologische Morbidität, findet sich nur in Paris“.

74 Wo er vor allem in

Frankreich suche, wurde ihm Turin zum Ort der umwertenden Wiederaneignung seiner Schriften und seiner selbst zum „décadent“, zum Franzosen. So waren die Monate in Turin weniger Endpunkt einer Entwicklung als Wendepunkt; wie Nietzsche Ende Dezember 1888 bekannte, sei es „an der höchsten Zeit, daß ich noch einmal als Franzose zur Welt komme.“

75

Berlin, 9. Januar 2014 Jörg H. Gleiter

Erschienen in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014,

ISSN1598-9364, S. 259-284.

Bibliographie

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt/M. 1983

Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1, Frankfurt/M. 1991

Page 11: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

11

Bourget, Paul: Essais de psychologie contemporaine (1883), Paris 1993

Colli, Giorgio: Distanz und Pathos, Hamburg 1993

Gleiter, Jörg H.: Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur, Würzburg 2009 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999 (im Folgenden zitiert als KSA mit Band)

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1986 (im Folgenden zitiert als KSB mit Band)

Pfotenhauer, Helmut: Die Kunst als Physiologie, Stuttgart 1985

Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1897

Zusammenfassung

Anfang April 1888, seinem letzten, geistig überaus produktiven Jahr, kam Friedrich Nietzsche nach Turin und berichtete, dass Turin eine “capitale Entdeckung“

76 sei, Turin sei der erste Ort, „in dem ich möglich

bin!“77

Am Ende des Jahres verkündete er: “Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, in den Straßen zu gehn! – früher hätte ich’s für unmöglich gehalten.”

78 Aus dem Spaziergänger der Oberengadiner

Bergwelt wurde jener “philosophische Flaneur” der modernen Metropole, als den er sich selbst schon gut zwanzig Jahre zuvor vorgestellt hatte. Damals, Anfang 1869, hatte er zusammen mit Erwin Rohde einen längeren Aufenthalt in Paris geplant. Wie ein “paar

philosophische Flaneurs“79

hatten sie „mit ernstem Auge und lächelnder Lippe, mitten durch den Pariser Strom hindurch schreiten“ wollen. Nietzsches Berufung nach Basel ließ die Pläne scheitern. Umso mehr war Turin, eine aufsteigene Industriestadt, die mit ihren Boulevards, dem rechtwinkligen Straßenraster, den fast endlosen Arkaden und dem Klassizismus der Gebäude viel Ähnlichkeit mit Paris aufweist, eine “capitale Entdeckung”.

Von der Nietzscheforschung bisher übersehen wandelte sich Nietzsche im Jahr 1888 zum Städter. Während Nietzsche bisher als “Einsiedler von Sils-Maria” (Thomas Mann) wie Platon in der freien Natur seine philosophischen Einfälle empfing, scheint es, dass er sich in Turin ganz auf die Seite von Sokrates schlug. Nietzsches Spaziergänge in Turin, die unter den fast endlosen Arkaden Turins machte, scheinen ein direktes Echo aus Die Geburt der Tragödie, wo er beschreibt, wie für Sokrates die „kritischen Wanderung[en] durch Athen“

80, durch die Polis,

in der Stoa, in den Straßen und auf dem Marktplatz zu Orten seiner philosophischen Erweckertätigkeit wurden. In Die Geburt der Tragödie hatte Nietzsche sich selbst in eine „althellenische Existenz“ zu-rückversetzt, „im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, auf-wärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abge-schnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor.“

In Turin vollzog sich erstens Nietzsches Ablösung von der Musik als “Sonderkunst” des 19. Jahrhunderts und Hinwendung zur Architektur als “Leitkunst” der Moderne. Mit der Entdeckung der Stadt trat die Idee

Page 12: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

12

der Physiologie der Ästhetik ins Zentrum seiner Kunsttheorie, was zu dem führte, was man zweitens Nietzsches leibphänomenologische Wende bezeichnen kann. Gleichzeitig wurde mit der Absage des Projektes des Willens zur Macht die Décadence zum neuen Zentralbegriff seiner Philosophie, mit der Nietzsche drittens endgültig die Ablösung vom deutschen Idealismus wagnerscher Prägung und Hinwendung zur französischen Moderne vollzog. Ohne das Verständnis für Nietzsches Entdeckung der Stadt bleibe vieles in den Schriften des letzten Jahrs im Dunkeln. 1 Für eine ausführliche Diskussion von Nietzsches Architekturphilosophie siehe: Jörg H.

Gleiter, Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur, Würzburg 2009. 2 Nietzsches Werke und Briefe werden zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke.

Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999 (im Folgenden zitiert als KSA mit Band) und Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1986 (im Folgenden zitiert als KSB mit Band). 3 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 292.

4 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 294.

5 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 358.

6 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 298.

7 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 293.

8 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 285.

9 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 310.

10 Briefe 1887–89, KSB 8, S. 529.

11 Die Geburt der Tragödie, KSA 1, Abs. 13, S. 89.

12 Die Geburt der Tragödie, KSA 1, Abs. 25, S. 115.

13 Giorgio Colli, Nachwort, KSA 6, S. 450.

14 Giorgio Colli, Distanz und Pathos, Hamburg 1993, S. 11.

15 Götzen-Dämmerung, KSA 6, Streifzüge eines Unzeitgemässen, Aph. 10, S. 118.

16 Nachlass 1885–87, KSA 12, 7[7], S. 285.

17 Nachlass 1885–87, KSA 12, 7[7], S. 285.

18 Nachlass 1885–87, KSA 12, 7[7], S. 285.

19

Nietzsche contra Wagner, KSA 6, Wo ich Einwände mache, S. 418. 20

Nachlass 1887–89, KSA 13, 17[9], S. 529. 21

Nachlass 1887–89, KSA 13, 17[9], S. 530. 22

Der Fall Wagner, KSA 6, Abs. 7, S. 27f. 23

Der Fall Wagner, KSA 6, Abs. 8, S. 30. 24

Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, Aus der Seele der Künstler und Schriftstel-ler, Aph. 219, S. 179. 25

Nachlass 1887–89, KSA 13, 17[9], S. 530. 26

Nachlass 1887–89, KSA 13, 17[9], S. 530. 27

Nachlass 1887–89, KSA 13, 14[155], S. 339. 28

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 285. 29

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 302. 30

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 301. 31

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 294. 32

Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1897, S. 21. 33

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 451. 34

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 453. 35

Ecce homo, KSA 6, Warum ich so weise bin, Aph. 2, S. 266. 36

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 309. 37

Der Fall Wagner, KSA 6, Abs. 1, S. 14. 38

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 565. 39

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 566. 40

Ecce homo, KSA 6, Also sprach Zarathustra, Abs. 1, S. 336. 41

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 515. 42

Paul Bourget, Essais de psychologie contemporaine (1883), Paris 1993, S. 14. 43

Helmut Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, Stuttgart 1985, S. 105. 44

Der Fall Wagner, KSA 6, Abs. 7, S. 27. 45

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 458. 46

Nachlass 1887–89, KSA 13, 14[94], S. 272. 47

Nachlass 1887–89, KSA 13, 15[100], S. 466. 48

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 401. 49

Götzen-Dämmerung, KSA 6, Streifzüge eines Unzeitgemässen, Aph. 41, S. 143. 50

Nachlass 1887–89, KSA 13, 15[20], S. 418.

Page 13: Aber Turin!”Nietzsches Entdeckung der Stadt...1 “ 4 in: The Journal of Korean Nietzsche-Society, Vol. 25, Spring 2014, ISSN 1598-9364, pp 259-284 Jörg H. Gleiter Aber Turin!”Nietzsches

13

51

Nachlass 1887–89, KSA 13, 14[139], S. 323. 52

Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 4. Buch, Aph. 280, S. 524 f. 53

Briefe 1864–69, KSB 2, S. 322. 54

Der Fall Wagner, KSA 6, Nachschrift, S. 45. 55

Briefe 1864–69, KSB 2, S. 360. 56

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 286. 57

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 285. 58

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 451. 59

Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, IV. Buch, Aph. 280, S. 524. 60

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 541. 61

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 141. 62

Morgenröthe, KSA 3, 3. Buch, Aph. 169, S. 151 f. 63

Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Ders, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1, Frankfurt/M. 1991, S. 237. 64

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt/M. 1983, S. 57. 65

Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1, Frankfurt/M. 1991, S. 93. 66

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 647. 67

Briefe 1880–84, KSB 6, S. 60. 68

Nachlass 1887–89, KSA 13, 21[2], S. 579. 69

Nachlass 1887–89, KSA 13, 21[4], S. 580. 70

Nachlass 1887–89, KSA 13, 11[127], S. 61. 71

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 479. 72

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 509. 73

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 531. 74

Ecce homo, KSA 6, Warum ich so klug bin, Abs. 5, S. 288. 75

Briefe 1887–89, KSB 8, S. 535. 76

Brief an Heinrich Köselitz vom 20. April 1888, KSB 8, S. 298. 77

Brief an Carl Fuchs vom 14. April 1888, KSB 8, S. 293. 78

Brief an Heinrich Köselitz, 16. Dezember, 1888, KSB 8, S. 529. 79

Brief an Erwin Rohde vom 16. Januar 1869, KSB 2, S. 358. 80

Die Geburt der Tragödie, KSA 1, Abs. 13, S. 89.