Adorno_Essay Als Form

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    Der Essay als Form

    Bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das LichtGoethe, Pandora

    Da der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen ist;da es an berzeugender Tradition der Form gebricht; da manihrem nachdrcklichen Anspruch nur intermittierend gengtewurde oft genug festgestellt und gergt. Die Form des Essayshat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbstndigwerdenszurckgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon lngstdurchlaufen hat: den der Entwicklung aus einer primitivenundifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.1

    Aber weder das Unbehagen an diesem Zustand noch das an derGesinnung, die darauf reagiert, indem sie Kunst als Reservatvon Irrationalitt einhegt, Erkenntnis der organisierten Wissen-schaft gleichsetzt und was jener Antithese nicht sich fgt als un-rein ausscheiden mchte, hat am landesblichen Vorurteil etwasgendert. Noch heute reicht das Lob des crivain hin, den, demman es spendet, akademisch drauen zu halten. Trotz aller be-lasteten Einsicht, die Simmel und der junge Lukcs, Kassnerund Benjamin dem Essay, der Spekulation ber spezifische, kul-turell bereits vorgeformte Gegenstnde2 anvertraut haben, dul-

    det die Zunft als Philosophie nur, was sich mit der Wrde desAllgemeinen, Bleibenden, heutzutage womglich Ursprnglichebekleidet und mit dem besonderen geistigen Gebilde nur inso-

    1 Georg von Lukcs, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 29.2 Vgl. Lukcs, a. a. O., S. 23: Der Essay spricht immer von etwas bereitsGeformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem, esgehrt also zu seinem Wesen, da er nicht neue Dinge aus einem leeren

    Nichts heraushebt, sondern blo solche, die schon irgendwann lebendigwaren, aufs neue ordnet. Und weil er sie nur aufs neue ordnet, nicht aus dem

    Formlosen etwas Neues formt, ist er auch an sie gebunden, mu er immerdie Wahrheit ber sie aussprechen. Ausdruck fr ihr Wesen finden.

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    weit sich einlt, wie daran die allgemeinen Kategorien zuexemplifizieren sind; wie wenigstens das Besondere auf jenedurchsichtig wird. Die Hartnckigkeit, mit der dies Schema

    berllebt, wre so rtselhaft wie seine affektive Besetztheit,speisten es nicht Motive, die strker sind als die peinlicheErinnerung daran, was einer Kultur an Kultiviertheit mangelt,die historisch den homme de lettres kaum kennt. In Deutschlandreizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistesmahnt, die, seit dem Milingen einer seit Leibnizischen Tagennur lauen Aufklrung, bis heute, auch unter den Bedingungenformaler Freiheit, nicht recht sich entfaltete, sondern stets bereitwar, die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihreigentliches Anliegen zu verknden. Der Essay aber lt sichsein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas

    zu leisten oder knstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt nochseine Anstrengung die Mue des Kindlichen wider, der ohneSkrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben.Er reflektiert das Geliebte und Gehate, anstatt den Geist nachdem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schpfung aus dem

    Nichts vorzustellen. Glck und Spiel sind ihm wesentlich. Erfngt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worber erreden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo erselber am Ende sich fhlt und nicht dort, wo kein Rest mehr

    bliebe: so rangiert er unter den Allotria. Weder sind seineBegriffe von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sichzu einem Letzten. Seine Interpretationen sind nicht philologischerhrtet und besonnen, sondern prinzipiell berinterpretationen,nach dem automatisierten Verdikt jenes wachsamen Verstandes,der sich als Bttel an die Dummheit gegen den Geist verdingt.Die Anstrengung des Subjekts, zu durchdringen, was alsObjektivitt hinter der Fassade sich versteckt, wird als miggebrandmarkt: aus Angst vor Negativitt berhaupt. Alles seiviel einfacher. Dem, der deutet, anstatt hinzunehmen undeinzuordnen, wird der gelbe Fleck dessen angeheftet, derkraftlos, mit fehlgeleiteter Intelligenz spintisiere und hineinlege,

    wo es nichts auszulegen gibt. Tatsachenmensch oderLuftmensch, das ist die Alternative. Hat man aber einmal sichterrorisieren lassen vom Verbot, mehr zu meinen als an Ort undStelle gemeint war, so willfahrt man

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    bereits der falschen Intention, wie sie Menschen und Dinge vonsich selber hegen. Verstehen ist dann nichts als dasHerausschlen dessen, was der Autor jeweils habe sagen wollen,

    oder allenfalls der einzelmenschlichen psychologischenRegungen, die das Phnomen indiziert. Aber wie kaum sichausmachen lt, was einer sich da und dort gedacht, was ergefhlt hat, so wre durch derlei Einsichten nichts Wesentlicheszu gewinnen. Die Regungen der Autoren erlschen in demobjektiven Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Flle vonBedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phnomenverkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zuenthllen, eben jene Spontaneitt subjektiver Phantasie, die im

    Namen objektiver Disziplin geahndet wird. Nichts lt sichherausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wre.

    Kriterien dafr sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit demText und mit sich selber, und ihre Kraft, die Elemente desGegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen. Durchdiese hnelt der Essay einer sthetischen Selbstndigkeit, dieleicht als der Kunst blo entlehnt angeklagt wird, von der ergleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidetund durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des sthetischenScheins. Das hat Luccs verkannt, als er in dem Brief an LeoPopper, der die Seele und die Formen einleitet, den Essay eineKunstform nannte3. Nicht berlegen aber ist dem die

    positivistische Maxime, was ber Kunst geschrieben wrde,drfe selbst in nichts knstlerische Darstellung, also Autonomieder Form beanspruchen. Die positivistische Gesamttendenz, die

    jeden mglichen Gegenstand als einen von Forschung starr demSubjekt entgegensetzt, bleibt wie in allen anderen Momenten soauch in diesem bei der bloen Trennung von Form und Inhaltstehen: wie denn Oberhaupt von sthetischem unsthetisch, baraller hnlichkeit mit der Sache kaum sich reden liee, ohne daman der Banausie verfiele und a priori von jener Sache abglitte.Der Inhalt, einmal nach dem Urbild des Protokollsatzes fixiert,soll nach positivistischem Brauch gegen seine Darstellung

    indifferent, diese konventionell, nicht von der Sache gefordertsein, und jede Regung des Ausdrucks in der Darstellunggefhrdet fr den Instinkt des wissenschaftli-

    3

    Vgl. Lukcs, a. a. O., S. 5 und passim.

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    chen Purismus eine Objektivitt, die nach Abzug des Subjektsheraussprnge, und damit die Gediegenheit der Sache, die um so

    besser sich bewhre, je weniger sie sich auf die Untersttzungdurch die Form verlt, obwohl doch diese ihre Norm selber

    genau daran hat, die Sache rein und ohne Zutat zu geben. In derAllergie gegen die Formen als bloe Akzidenzien nhert sichder szientifische Geist dem stur dogmatischen. Das unver-antwortlich geschluderte Wort whnt, die Verantwortlichkeit inder Sache zu belegen, und die Reflexion ber Geistiges wirdzum Privileg des Geistlosen.All diese Ausgeburten der Rancune sind nicht nur die Unwahr-heit. Verschmht es der Essay, kulturelle Gebilde zuvor abzu-leiten aus einem ihnen Zugrundeliegenden, so embrouilliert ersich allzu beflissen mit dem Kulturbetrieb von Prominenz, Er-folg und Prestige marktmiger Erzeugnisse. Die Romanbio-

    graphien und was an verwandter Prmissen-Schriftstellerei andiese sich anhngt, sind keine bloe Ausartung sondern die

    permanente Versuchung einer Form, deren Verdacht gegen diefalsche Tiefe durch nichts gefeit ist vor dem Umschlag inversierte Oberflchlichkeit. Schon in Sainte-Beuve, von dem dieGattung des jngeren Essays wohl sich herleitet, zeichnet dassich ab und hat mit Produkten wie den Schattenrissen vonHerbert Eulenberg, dem deutschen Urbild einer Flut kulturellerSchundliteratur, bis zu den Filmen ber Rembrandt, Toulouse-Lautrec und die Heilige Schrift die Neutralisierung geistigerGebilde zu Gtern weiterbefrdert, die ohnehin das, was imOstbereich schmhlich das Erbe heit, in der jngerenGeistesgeschichte unwiderstehlich ergreift. Am sinnflligstenvielleicht ist der Proze bei Stefan Zweig, dem in seiner Jugendeinige differenzierte Essays gelangen und der schlielich inseinem Balzacbuch herunterkam auf die Psychologie desschpferischen Menschen. Solches Schrifttum kritisiert nicht dieabstrakten Grundbegriffe, begriffslosen Daten, eingeschliffenenClichs, sondern setzt allesamt implizit, aber destoeinverstandener voraus. Der Abhub verstehender Psychologiewird fusioniert mit gngigen Kategorien aus der

    Weltanschauung des Bildungsphilisters, wie der Persnlichkeitund dem Irrationalen. Dergleichen Essays verwechseln sichselber mit jenem Feuilleton, mit dem die Feinde

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    der Form diese verwechseln. Losgerissen von der Disziplin aka-demischer Unfreiheit, wird geistige Freiheit selber unfrei, will-fahrt dem gesellschaftlich prformierten Bedrfnis der Kunden-schaft. Das Unverantwortliche, an sich Moment jeglicher Wahr-

    heit, die sich nicht in der Verantwortung gegenber dem Be-stehenden verbraucht, verantwortet sich dann vor den Bedrf-nissen des etablierten Bewutseins; die schlechten Essays sindnicht weniger konformistisch als die schlechten Dissertationen.Verantwortung aber respektiert nicht nur Autoritten und Gre-mien sondern auch die Sache.Daran jedoch, da der schlechte Essay von Personen erzhlt,anstatt die Sache aufzuschlieen, ist die Form nicht unschuldig.Die Trennung von Wissenschaft und Kunst ist irreversibel.Blo die Naivett des Literaturfabrikanten nimmt von ihr keine

    Notiz, der sich wenigstens fr ein Organisationsgenie hlt und

    gute Kunstwerke zu schlechten verschrottet. Mit derVergegenstndlichung der Welt im Verlauf fortschreitenderEntmythologisierung haben Wissenschaft und Kunst sichgeschieden; ein Bewutsein, dem Anschauung und Begriff, Bildund Zeichen eins wren, ist, wenn anders es je existierte, mitkeinem Zauberschlag wiederherstellbar, und seine Restitutionfiele zurck ins Chaotische. Nur als Vollendung desvermittelnden Prozesses wre solches Bewutsein zu denken,als Utopie, wie sie die idealistischen Philosophen seit Kant mitdem Namen der intellektuellen Anschauung bedachten, dieversagte, wann immer aktuelle Erkenntnis auf sie sich berief.Wo Philosophie durch Anleihe bei der Dichtung dasvergegenstndlichende Denken und seine Geschichte, nachgewohnter Terminologie die Antithese von Subjekt und Objekt,meint abschaffen zu knnen und gar hofft, es spreche in eineraus Parmenides und Jungnickel montierten Poesie Sein selber,nhert sie eben damit sich dem ausgelaugten Kulturgeschwtz.Sie weigert sich mit als Urtmlichkeit zurechtgestutzterBauernschlue, die Verpflichtung des begrifflichen Denkens zuhonorieren, die sie doch unterschrieben hat, sobald sie Begriffein Satz und Urteil verwandte, whrend ihr sthetisches Element

    eines aus zweiter Hand, verdnnte Bildungsreminiszenz anHlderlin oder den Expressionismus bleibt oder womglich anden Jugendstil, weil kein Denken so schrankenlos und blind

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    der Sprache sich anvertrauen kann, wie die Idee urtmlichenSagens es vorgaukelt. Der Gewalttat, die dabei Bild und Begriffwechselseitig aneinander verben, entspringt der Jargon derEigentlichkeit, in dem Worte vor Ergriffenheit tremolieren,

    whrend sie verschweigen, worber sie ergriffen sind. Die ambi-tise Transzendenz der Sprache ber den Sinn hinaus mndet ineine Sinnleere, welche vom Positivismus spielend dingfestgemacht werden kann, dem man sich berlegen meint und demman doch eben durch jene Sinnleere in die Hnde arbeitet, die erkritisiert und die man mit seinen Spielmarken teilt. UntermBann solcher Entwicklungen nhert Sprache, wo sie in Wissen-schaften berhaupt noch sich zu regen wagt, dem Kunstgewerbesich an, und der Forscher bewhrt, negativ, am ehesten stheti-sche Treue, der gegen Sprache berhaupt sich strubt und,anstatt das Wort zur bloen Umschreibung seiner Zahlen zu

    erniedrigen, die Tabelle vorzieht, welche die Verdinglichung desBewutseins ohne Rckhalt einbekennt und damit fr sie etwaswie Form findet ohne apologetische Anleihe bei der Kunst.Wohl war diese in die vorherrschende Tendenz der Aufklrungvon je so verflochten, da sie seit der Antike in ihrer Technikwissenschaftliche Funde verwertete. Aber die Quantitt schlgtum in die Qualitt. Wird Technik im Kunstwerk verabsolutiert;wird Konstruktion total und tilgt sie ihr Motivierendes undEntgegengesetztes, den Ausdruck; prtendiert also Kunst, un-mittelbar Wissenschaft, richtig nach deren Ma zu sein, so sank-tioniert sie die vorknstlerische Stoffhuberei, sinnfremd wie nurdas Seyn aus philosophischen Seminaren, und verbrdert sichmit der Verdinglichung, gegen die wie immer auch stumm undselber dinghaft Einspruch zu erheben bis zum heutigen Tag dieFunktion des Funktionslosen, der Kunst, war.Aber wie Kunst und Wissenschaft in Geschichte sich schieden,so ist ihr Gegensatz auch nicht zu hypostasieren. Der Abscheuvor der anachronistischen Vermischung heiligt nicht eine nachSparten organisierte Kultur. In all ihrer Notwendigkeit

    beglaubigen jene Sparten institutionell doch auch den Verzichtauf die ganze Wahrheit. Die Ideale des Reinlichen und

    Suberlichen, die dem Betrieb einer veritabeln, aufEwigkeitswerte geeichten Philosophie, einer hieb- undstichfesten, lckenlos durchorganisierten

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    Wissenschaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemeinsind, tragen die Spur repressiver Ordnung. Dem Geist wird eineZustndigkeitsbescheinigung abverlangt, damit er nicht mit den

    kulturell besttigten Grenzlinien die offizielle Kultur selberberschreite. Vorausgesetzt wird dabei, da alle Erkenntnis

    potentiell in Wissenschaft sich umsetzen lasse. Die Erkenntnis-theorien, welche das vorwissenschaftliche vom wissenschaft-lichen Bewutsein unterschieden, haben denn auch durchwegden Unterschied lediglich graduell aufgefat. Da es aber beider bloen Versicherung jener Umsetzbarkeit blieb, ohne da jeim Ernst lebendiges Bewutsein in wissenschaftlichesverwandelt worden wre, verweist auf das Prekre desbergangs selber, eine qualitative Differenz. Die einfachsteBesinnung aufs Bewutseinsleben knnte darber belehren, wie

    wenig Erkenntnisse, die keineswegs unverbindliche Ahnungensind, allesamt vom szientifischen Netz sich einfangen lassen.Das Werk Marcel Prousts, dem es so wenig wie Bergson amwissenschaflich-positivistischen Element mangelt, ist eineinziger Versuch, notwendige und zwingende Erkenntnisse berMenschen und soziale Zusammenhnge auszusprechen, dienicht ohne weiteres von der Wissenschaft eingeholt werdenknnen, whrend doch ihr Anspruch auf Objektivitt wedergemindert noch der vagen Plausibilitt ausgeliefert wrde. DasMa solcher Objektivitt ist nicht die Verifizierung behaupteterThesen durch ihre wiederholende Prfung, sondern die inHoffnung und Desil lus ion zusammengehalteneeinzelmenschliche Erfahrung. Sie verleiht ihren Beobachtungenerinnernd durch Besttigung oder Widerlegung Relief. Aber ihreindividuell zusammengeschlossene Einheit, in der doch dasGanze erscheint, wre nicht aufzuteilen und wieder zu ordnenunter die getrennten Personen und Apparaturen etwa vonPsychologie und Soziologie. Proust hat, unter dem Druck desszientifischen Geistes und seiner auch dem Knstler latentallgegenwrtigen Desiderate, getrachtet, in einer selbst denWissenschaften nachgebildeten Technik, einer Art von Ver-

    suchsanordnung, sei's zu retten, sei's wiederherzustellen, was inden Tagen des brgerlichen Individualismus, da das individuelleBewutsein noch sich selbst vertraute und nicht vorweg unterorganisatorischer Zensur sich ngstigte, als Erkennt-

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    nisse eines erfahrenen Mannes vom Typ jenes ausgestorbenenhomme de lettres galt, den Proust als hchster Fall des Dilettan-ten nochmals beschwrt. Keinem jedoch wre es beigekommen,die Mitteilungen eines Erfahrenen, weil sie nur die seinen sind

    und nicht ohne weiteres wissenschaftlich sich generalisieren las-sen, als unbetrchtlich, zufllig und irrational abzutun. Was abervon seinen Funden durch die wissenschaftlichen Maschenschlpft, entgeht ganz gewi der Wissenschaft selber. AlsGeisteswissenschaft versagt sie, was sie dem Geist verspricht:dessen Gebilde von innen aufzuschlieen. Der jungeSchriftsteller, der auf Hochschulen lernen will, was einKunstwerk, was Sprachgestalt, was sthetische Qualitt, ja auchsthetische Technik sei, wird meist blo desultorisch etwasdavon vernehmen, allenfalls Ausknfte erhalten, die von der

    jeweils zirkulierenden Philosophie fertig bezogen und dem

    Gehalt der in Rede stehenden Gebilde mehr oder minderwillkrlich aufgeklatscht sind. Wendet er sich aber an die

    philosophische sthetik, so werden ihm Stze einesAbstraktionsniveaus aufgedrngt, die weder mit den Gebilden,die er verstehen will, vermittelt sind, noch in Wahrheit eins mitdem Gehalt, nach dem er tastet. Fr all das aber ist nicht dieArbeitsteilung des kosmos noetikos nach Kunst undWissenschaft allein verantwortlich; nicht sind deren Demar-kationslinien durch guten Willen und bergreifende Planung zu

    beseitigen. Sondern der unwiderruflich nach dem Muster vonNaturbeherrschung und materieller Produktion gemodelte Geistbegibt sich der Erinnerung an jenes berwundene Stadium, dieein zuknftiges verspricht, der Transzendenz gegenber denverhrteten Produktionsverhltnissen, und das lhmt sein spe-zialistisches Verfahren gerade seinen spezifischen Gegenstndengegenber.Im Verhltnis zur wissenschaftlichen Prozedur und ihrer philo-sophischen Grundlegung als Methode zieht der Essay, der Ideenach, die volle Konsequenz aus der Kritik am System. Selbst dieempiristischen Lehren, welche der unabschliebaren, nichtantezipierbaren Erfahrung den Vorrang vor der festen begriff-

    lichen Ordnung zumessen, bleiben insofern systematisch, als siemehr oder minder konstant vorgestellte Bedingungen von Er-kenntnis errtern und diese in mglichst bruchlosemZusammen-

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    17 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    hang entwickeln. Empirismus nicht weniger als Rationalismuswar seit Bacon - selbst einem Essayisten - Methode. DerZweifel an deren unbedingtem Recht ward in der Verfahrens-

    weise des Denkens selber fast nur vom Essay realisiert. Er trgtdem Bewutsein der Nichtidentitt Rechnung, ohne es auch nurauszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltungvon aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Par-tiellen gegenber der Totale, m Stckhaften. Vielleicht hat dergroe Sieur de Montaigne etwas hnliches empfunden, als erseinen Schriften die wunderbar schne und treffendeBezeichnung Essais gab. Denn eine hochmtige Courtoisie istdie einfache Bescheidenheit dieses Wortes. Der Essayist winktden eigenen, stolzen Hoffnungen, die manchmal dem Letztennahe gekommen zu sein whnen, ab - es sind ja nur Erklrungen

    der Gedichte anderer, die er bieten kann und bestenfalls die dereigenen Begriffe. Aber ironisch fgt er sich in diese Kleinheitein, in die ewige Kleinheit der tiefsten Gedankenarbeit demLeben gegenber und mit ironischer Bescheidenheitunterstreicht er sie noch.4 Der Essay pariert nicht der Spielregelorganisierter Wissenschaft und Theorie, es sei, nach dem Satzdes Spinoza, die Ordnung der Dinge die gleiche wie die derIdeen. Weil die lckenlose Ordnung der Begriffe nicht eins istmit dem Selenden, zielt er nicht auf geschlossenen, deduktivenoder induktiven Aufbau. Er revoltiert zumal gegen die seitPlaton eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere seider Philosophie unwrdig; gegen jenes alte Unrecht amVergnglichen, wodurch es im Begriff nochmals verdammtwird. Er schreckt zurck vor dem Gewaltsamen des Dogmas:dem Resultat der Abstraktion, dem gegenber dem darunter

    befaten individuellen zeitlich invarianten Begriff, gebhreontologische Dignitt. Der Trug, der ordo idearum wre derordo rerum, grndet in der Unterstellung eines Vermittelten alsunmittelbar. So wenig ein blo Faktisches ohne den Begriffgedacht werden kann, weil es denken immer schon es begreifenheit, so wenig ist noch der reinste Begriff zu denken ohne allen

    Bezug auf Faktizitt. Selbst die vermeintlich von Raum und Zeit befreiten Gebilde der Phantasie verweisen, wie immer auchabgeleitet, auf individuelles Dasein. Darum lt

    4 Lukcs, a. a. O., S. 21.

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    sich der Essay von dem depravierten Tiefsinn nicht einschch-tern, Wahrheit und Geschichte stnden unvereinbar einandergegenber. Hat Wahrheit in der Tat einen Zeltkern, so wird dervolle geschichtliche Gehalt zu ihrem integralen Moment; das

    Aposteriori wird konkret zum Apriori, wie Fichte und seineNachfolger nur generell es forderten. Die Beziehung auf Erfah-ung - und ihr verleiht der Essay soviel Substanz wie die her-kmmliche Theorie den bloen Kategorien - ist die auf dieganze Geschichte; die blo individuelle Erfahrung, mit welcherdas Bewutsein als mit dem ihr nchsten anhebt, ist selber ver-mittelt durch die bergreifende der historischen Menschheit; dastattdessen diese mittelbar und das je Eigene das Unmittelbaresei, bloe Selbsttuschung der individualistischen Gesellschaftund Ideologie. Die Geringschtzung des geschichtlichProduzierten als eines Gegenstandes der Theorie wird daher

    vom Essay revidiert. Die Unterscheidung einer ersten von einerbloen Kulturphilosophie, welche jene voraussetze und auf ihrweiterbaue, mit der das Tabu ber den Essay theoretisch sichrationalisiert, ist nicht zu retten. Eine Verfahrensweise desGeistes verliert ihre Autoritt, welche die Scheidung von Zeit-lichem und Zeitlosem als Kanon ehrt. Hhere Abstraktionsni-veaus investieren den Gedanken weder mit hherer Weihe nochmit metaphysischem Gehalt; eher verflchtigt sich dieser mitdem Fortgang der Abstraktion, und etwas davon mchte derEssay wiedergutmachen. Der gelufige Einwand gegen ihn, ersei stckhaft und zufllig, postuliert selber die Gegebenheit vonTotalitt, damit aber Identitt von Subjekt und Objekt, undgebrdet sich, als wre man des Ganzen mchtig. Der Essayaber will nicht das Ewige im Vergnglichen aufsuchen und ab-destillieren, sondern eher das Vergngliche verewigen. SeineSchwche zeugt von der Nichtidentitt selber, die er auszudrk-ken hat; vom berschu der Intention ber die Sache und damit

    jener Utopie, welche in der Gliederung der Welt nach Ewigemund Vergnglichem abgewehrt ist. Im emphatischen Essayentledigt sich der Gedanke der traditionellen Idee von derWahrheit.

    Damit suspendiert er zugleich den traditionellen Begriff vonMethode. Der Gedanke hat seine Tiefe danach, wie tief er in

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    die Sache dringt, nicht danach, wie tief er sie auf ein andereszurckfhrt. Das wendet der Essay polemisch, indem er

    behandelt, was nach den Spielregeln fr abgeleitet gilt, ohne

    dessen endgltige Ableitung selber zu verfolgen. In Freiheitdenkt er zusammen, was sich zusammenfindet in dem freigewhlten Gegenstand. Nicht kapriziert er sich auf ein jenseitsder Vermittlungen - und das sind die geschichtlichen, in denendie ganze Gesellschaft sedimentiert ist - sondern sucht dieWahrheitsgehalte als selber geschichtliche. Er fragt nach keinerUrgegebenheit, zum Tort der vergesellschafteten Gesellschaft,die, eben weil sie nichts duldet, was von ihr nicht geprgt ward,am letzten dulden kann, was an ihre eigene Allgegenwarterinnert, und notwendig als ideologisches Komplement jene

    Natur herbeizitiert, von der ihre Praxis nichts brig lt. Der

    Essay kndigt wortlos die Illusion, der Gedanke vermchte ausdem, was thesei, Kultur ist, ausbrechen in das, was physei, von

    Natur sei. Gebannt vom Fixierten, eingestandenermaenAbgeleiteten, von Gebilden, ehrt er die Natur, indem er

    besttigt, da sie den Menschen nicht mehr ist. SeinAlexandrinismus antwortet darauf, da noch Flieder und

    Nachtigall, wo das universale Netz ihnen zu berleben etwagestattet, durch ihre bloe Existenz glauben machen, das Lebenlebte noch. Er verlt die Heerstrae zu den Ursprngen, die

    blo zu dem Abgeleitetesten, dem Sein fhrt, der verdoppelndenIdeologie dessen, was ohnehin ist, ohne da doch die Idee vonUnmittelbarkeit ganz verschwnde, die der Sinn vonVermittlung selbst postuliert. Alle Stufen des Vermittelten sinddem Essay unmittelbar, ehe er zu reflektieren sich anschickt.Wie er Urgegebenheiten verweigert, so verweigert er die De-finition seiner Begriffe. Deren volle Kritik ist von der Philoso-

    phie unter den divergentesten Aspekten erreicht worden; beiKant, bei Hegel, bei Nietzsche. Aber die Wissenschaft hatsolche Kritik niemals sich zugeeignet. Whrend die mit Kantanhebende Bewegung, als eine gegen die scholastischenResiduen im modernen Denken, anstelle der Verbaldefinitionen

    das Begreifen der Begriffe aus dem Proze rckt, in dem siegezeitigt werden, verharren die Einzelwissenschaften, um derungestrten Sicherheit ihres Operierens willen, bei dervorkritischen Ver-

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    pflichtung zu definieren; darin stimmen die Neopositivisten,denen die wissenschaftliche Methode Philosophie heit, mit derScholastik berein. Der Essay dafr nimmt den antisystemati-schen Impuls ins eigene Verfahren auf und fhrt Begriffe um-

    standslos, unmittelbar so ein, wie er sie empfngt. Przisiertwerden sie erst durch ihr Verhltnis zueinander. Dabei jedochhat er eine Sttze an den Begriffen selber. Denn es ist bloerAberglaube der aufbereitenden Wissenschaft, die Begriffe wrenan sich unbestimmt, wrden bestimmt erst durch ihre Definition.Der Vorstellung des Begriffs als einer tabula rasa bedarf dieWissenschaft, um ihren Herrschaftsanspruch zu festigen; als dender Macht, welche einzig den Tisch besetzt. In Wahrheit sindalle Begriffe implizit schon konkretisiert durch die Sprache, inder sie stehen. Mit solchen Bedeutungen hebt der Essay an undtreibt sie, selbst wesentlich Sprache, weiter; er mchte dieser in

    ihrem Verhltnis zu den Begriffen helfen, sie reflektierend sonehmen, wie sie bewutlos in der Sprache schon genannt sind.Das ahnt das Verfahren der Bedeutungsanalyse in der Phno-menologie, nur da es die Beziehung der Begriffe auf dieSprache zum Fetisch macht. Dazu steht der Essay ebensoskeptisch wie zu ihrer Definition. Er zieht ohne Apologie denEinwand auf sich, man wisse nicht ber allem Zweifel, was manunter den Begriffen sich vorzustellen habe. Denn erdurchschaut, da das Verlangen nach strikten Definitionenlngst dazu herhlt, durch festsetzende Manipulationen derBegriffsbedeutungen das Irritierende und Gefhrliche derSachen wegzuschaffen, die in den Begriffen leben. Dabei jedochkommt er weder ohne allgemeine Begriffe aus, - auch dieSprache, die den Begriff nicht fetischisiert, kann seiner nichtentraten - noch geht er mit ihnen nach Belieben um. DieDarstellung nimmt er darum schwerer als die Methode undSache sondernden, der Darstellung ihres vergegenstndlichtenInhalts gegenber gleichgltigen Verfahrensweisen. Das Wiedes Ausdrucks soll an Przision erretten, was der Verzicht aufsUmreien opfert, ohne doch die gemeinte Sache an die Willkreinmal dekretierter Begriffsbedeutungen zu verraten. Darin war

    Benjamin der unerreichte Meister. Solche Przision kann jedochnicht atomistisch bleiben. Weniger nicht, sondern mehr als dasdefinitorische Verfahren urgiert der

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    Bewegung. Jene ist ein Kraftfeld, so wie unterm Blick desEssays jedes geistige Gebilde in ein Kraftfeld sich verwandelnmu.

    Der Essay fordert das Ideal der clara et distincta perceptio undder zweifelsfreien Gewiheit sanft heraus. Insgesamt wre er zuinterpretieren als Einspruch gegen die vier Regeln, dieDescartes' Discours de la mthode am Anfang der neuerenabendlndischen Wissenschaft und ihrer Theorie aufrichtet. Diezweite jener Regeln, die Zerlegung des Objekts in so vieleTeile ... als nur mglich und als erforderlich sein wrde, um siein der besten Weise aufzulsen5, entwirft jeneElementaranalyse, in deren Zeichen die traditionelle Theorie die

    begrifflichen Ordnungsschemata und die Struktur des Seinseinander gleichsetzt. Der Gegenstand des Essays aber, die

    Artefakte, versagen sich der Elementaranalyse und sind einzigaus ihrer spezifischen Idee zu konstruieren; nicht umsonst hatdarin Kant Kunstwerke und Organismen analog behandelt,obwohl er sie zugleich so unbestechlich wider allenromantischen Obskurantismus unterschied. Ebensowenig ist dieGanzheit als Erstes zu hypostasieren wie das Produkt derAnalyse, die Elemente. Beidem gegenber orientiert sich derEssay an der Idee jener Wechselwirkung, welche streng dieFrage nach Elementen so wenig duldet wie die nach demElementaren. Weder sind die Momente rein aus dem Ganzen zuentwickeln noch umgekehrt. Es ist Monade, und doch keine;seine Momente, als solche begrifflicher Art, weisen ber denspezifischen Gegenstand hinaus, in dem sie sich versammeln.Aber der Essay verfolgt sie nicht dorthin, wo sie sich jenseitsdes spezifischen Gegenstandes legitimierten: sonst geriete er inschlechte Unendlichkeit. Sondern er rckt dem hic et nunc desGegenstandes so nah, bis er in die Momente sich dissoziiert, indenen er sein Leben hat, anstatt blo Gegenstand zu sein.Die dritte Cartesianische Regel, der Ordnung nach meine Ge-danken zu leiten, also bei den einfachsten und am leichtesten zuerkennenden Gegenstnden zu beginnen, um nach und nach

    sozusagen gradweise bis zur Erkenntnis derzusammengesetztesten aufzusteigen, widerspricht schroff derEssayform insofern, als diese vom Komplexesten ausgeht, nichtvom Einfachsten, alle

    5

    Descartes, Philosophische Werke, ed. Buchenau, Leipzig 1922, Bd. I, S. 15.

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    23 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    mal vorweg Gewohnten. Sie lt sich nicht beirren im Verhaltendessen, der Philosophie zu studieren beginnt und dem dabei ihreIdee irgend schon vor Augen steht. Er wird kaum zuerst diesimpelsten Schriftsteller lesen, deren common sense meist

    dahinpltschert, wo zu verweilen wre, sondern eher nach denangeblich schwierigen greifen, die dann ihr Licht rckwrts aufsEinfache werfen und es erhellen als eine Stellung desGedankens zur Objektivitt. Die Naivett des Studenten, demdas Schwierige und Formidable gerade gut genug dnkt, istweiser als die erwachsene Pedanterie, die mit drohendem Fingerden Gedanken ermahnt, er solle das Einfache kapieren, ehe er an

    jenes Komplexe sich wage, das doch allein ihn reizt. SolcheVertagung der Erkenntnis verhindert sie blo. Dem convenu derVerstndlichkeit, der Vorstellung von der Wahrheit als einemWirkungszusammenhang gegenber, ntigt der Essay dazu, die

    Sache mit dem ersten Schritt so vielschichtig zu denken, wie sieist, Korrektiv jener versteckten Primitivitt, die der gngigenratio allemal sich gesellt. Wenn die Wissenschaft dasSchwierige und Komplexe einer antagonistischen undmonadologisch aufgespaltenen Realitt nach ihrer Sitteflschend auf vereinfachende Modelle bringt und diese dannnachtrglich, durch vorgebliches Material, differenziert, soschttelt der Essay die Illusion einer einfachen, im Grundeselber logischen Welt ab, die zur Verteidigung des bloSeienden so gut sich schickt. Seine Differenziertheit ist keinZusatz sondern sein Medium. Gern rechnet das etablierteDenken sie der bloen Psychologie der Erkennenden zu undmeint dadurch ihr Verpflichtendes abzufertigen. Diewissenschaftlichen Brusttne gegen bergescheitheit gelten inWahrheit nicht der vorwitzig unzuverlssigen Methode, sonderndem Befremdenden an der Sache, das sie erscheinen lt.Unverndert kehrt die vierte Cartesianische Regel, man solleberall so vollzhlige Aufzhlungen und so allgemeine ber-sichten anstellen, da man sicher wre, nichts auszulassen,das eigentlich systematische Prinzip, wieder noch in Kants Pole-mik gegen das rhapsodistische Denken des Aristoteles. Sie

    entspricht dem Vorwurf gegen den Essay, er sei, nach der Rededer Schulmeister, nicht erschpfend, whrend jeder Gegenstand,und gewi der geistige, unendlich viele Aspekte in sich schliet,

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    24 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    ber deren Auswahl nichts anderes entscheidet als die Intentiondes Erkennenden. Nur dann wre die allgemeine bersichtmglich, wenn vorweg feststnde, da der zu behandelnde Ge-genstand in den Begriffen seiner Behandlung aufgeht; da nichts

    brig bleibt, was von diesen her nicht zu antezipieren wre. DieRegel von der Vollstndigkeit der einzelnen Glieder aber pr-tendiert, im Gefolge jener ersten Annahme, da der Gegenstandin lckenlosem Deduktionszusammenhang sich darstellen lasse:eine identittsphilosophische Supposition. Wie in der Forderungvon Definition hat die Cartesianische Regel, als denkpraktischeAnweisung, das nationalistische Theorem berlebt, auf dem sie

    beruhte; umfassende bersicht und Kontinuitt der Darstellungwird auch der empirisch offenen Wissenschaft zugemutet.Dadurch verwandelt sich, was bei Descartes als intellektuellesGewissen ber die Notwendigkeit der Erkenntnis wachen will,

    in Willkr, die eines frame of reference, einer Axiomatik, diezur Befriedigung des methodischen Bedrfnisses und um derPlausibilitt des Ganzen an den Anfang gestellt werden soll,ohne da sie selbst ihre Gltigkeit oder Evidenz mehr dartunknnte, oder, in der deutschen Version, eines Entwurfs-, dermit dem Pathos, aufs Sein selber zu gehen, seine subjektivenBedingungen blo unterschlgt. Die Forderung der Kontinuittder Gedankenfhrung prjudiziert tendenziell schon dieStimmigkeit im Gegenstand, dessen eigene Harmonie.Kontinuierliche Darstellung widersprche einer antagonistischenSache, solange sie nicht die Kontinuitt zugleich alsDiskontinuitt bestimmte. Unbewut und theoriefern meldet imEssay als Form das Bedrfnis sich an, die theoretisch berholtenAnsprche der Vollstndigkeit und Kontinuitt auch in derkonkreten Verfahrungsweise des Geistes zu annullieren. Strubter sich sthetisch gegen die engherzige Methode, die nur janichts auslassen will, so gehorcht er einem erkenntniskritischenMotiv. Die romantische Konzeption des Fragments als einesnicht vollstndigen sondern durch Selbstreflexion ins Un-endliche weiterschreitenden Gebildes verficht dies antiideali-stische Motiv inmitten des Idealismus. Auch in der Art des Vor-

    trags darf der Essay nicht so tun, als htte er den Gegenstandabgeleitet, und von diesem bliebe nichts mehr zu sagen. Seiner

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    25 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    Form ist deren eigene Relativierung immanent: er mu so sichfgen, als ob er immer und stets abbrechen knnte. Er denkt inBrcken, so wie die Realitt brchig ist, und findet seine Einheit

    durch die Brche hindurch, nicht indem er sie glttet. Einstim-migkeit der logischen Ordnung tuscht ber das antagonistischeWesen dessen, dem sie aufgestlpt ward. Diskontinuitt ist demEssay wesentlich, seine Sache stets ein stillgestellter Konflikt.Whrend er die Begriffe aufeinander abstimmt vermge ihrerFunktion im Krfteparallelogramm der Sachen, scheut er zurckvor dem Obergriff, dem sie gemeinsam unterzuordnen wren;was dieser zu leisten blo vortuscht, wei seine Methode alsunlsbar und sucht es gleichwohl zu leisten. Das Wort Versuch,in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mitdem Bewutsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorlufigkeit sich

    vermhlt, erteilt, wie meist geschichtlich berdauerndeTerminologien, einen Bescheid ber die Form, der um soschwerer wiegt, als er nicht programmatisch sondern alsCharakteristik der tastenden Intention erfolgt. Der Essay mu aneinem ausgewhlten oder getroffenen partiellen Zug dieTotalitt aufleuchten lassen, ohne da diese als gegenwrtig

    behauptet wrde. Er korrigiert das Zufllige und Vereinzelteseiner Einsichten, indem sie, sei es in seinem eigenen Fortgang,sei es im mosaikhaften Verhltnis zu anderen Essays, sich ver-vielfachen, besttigen, einschrnken; nicht durch Abstraktionauf die aus ihnen abgezogenen Merkmaleinheiten. Sounterscheidet sich also ein Essay von einer Abhandlung.Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfat, wer alsoseinen Gegenstand hin und her wlzt, befragt, betastet, prft,durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgehtund in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwertet,was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenenBedingungen sehen lt.6 Das Unbehagen an dieser Prozedur;das Gefhl, es knne nach Belieben so weiter gehen, hat seineWahrheit und seine Unwahrheit. Seine Wahrheit, weil der Essayin der Tat nicht schliet und das Unvermgen dazu als Parodie

    seines eigenen Apriori hervorkehrt; als Schuld wird ihm danndas aufgebrdet, was eigentlich jene Formen verschulden,welche die Spur

    6

    Max Bense, ber den Essay und seine Prosa, in: Merkur 1 (1947), S. 418.

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    26 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    der Beliebigkeit verwischen. Unwahr aber ist jenes Unbehagen,weil die Konstellation des Essays doch nicht derart beliebig ist,wie es einem philosophischen Subjektivismus dnkt, der denZwang der Sache in den der begrifflichen Ordnung verlegt. Ihn

    determiniert die Einheit seines Gegenstandes samt der vonTheorie und Erfahrung, die in den Gegenstand eingewandertsind. Seine Offenheit ist keine vage von Gefhl und Stimmung,sondern wird konturiert durch seinen Gehalt. Er strubt sich ge-gen die Idee des Hauptwerks, welche selber die von Schpfungund Totalitt widerspiegelt. Seine Form kommt dem kritischenGedanken nach, da der Mensch kein Schpfer, da nichtsMenschliches Schpfung sei. Weder tritt der Essay selbst, stets

    bezogen auf schon Geschaffenes, als solche auf, noch begehrt erein Allumfassendes, dessen Totalitt der der Schpfung gliche.Seine Totalitt, die Einheit einer in sich auskonstruierten Form,

    ist die des nicht Totalen, eine, die auch als Form nicht die Theseder Identitt von Gedanken und Sache behauptet, die sie in-haltlich verwirft. Die Befreiung vom Identittszwang schenktdem Essay zuweilen, was dem offiziellen Denken entgleitet, dasMoment des Unauslschlichen, der untilgbaren Farbe. GewisseFremdwrter bei Simmel - Cachet, Attitude - verraten dieseIntention, ohne da sie selber theoretisch behandelt wrde.Er ist offener und geschlossener zugleich, als dem traditionellenDenken gefllt. Offener insofern, als er Systematik durch seineAnlage negiert und sich selbst um so besser gengt, je strengerer es damit hlt; systematische Residuen in Essays, etwa dieInfiltration literarischer Studien mit fertig bezogenen,verbreiteten Philosophemen, durch die sie sich respektabelmachen wollen, taugen nicht mehr als psychologischeTrivialitten. Geschlossener aber ist der Essay, weil er an derForm der Darstellung emphatisch arbeitet. Das Bewutsein der

    Nichtidentitt von Darstellung und Sache ntigt jene zurunbeschrnkten Anstrengung. Das allein ist das Kunsthnlichedes Essays; sonst ist er vermge der in ihm vorkommendenBegriffe, die ja selber von drauen nicht nur ihre Bedeutungsondern auch ihren theoretischen Bezug mitbringen, notwendig

    der Theorie verwandt. Freilich verhlt er zu ihr sich sovorsichtig wie zum Begriff. Weder leitet er sich bndig aus ihrab - der Kardinalfehler aller

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    27 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    spteren essayistischen Arbeiten von Lukcs - noch ist er Ab-schlagszahlung auf kommende Synthesen. Unheil droht der gei-stigen Erfahrung, je angestrengter sie zu Theorie sich verfestigt

    und gebrdet, als habe sie den Stein der Weisen in Hnden.Gleichwohl strebt geistige Erfahrung selbst dem eigenen Sinnnach solcher Objektivierung zu. Diese Antinomie wird vomEssay gespiegelt. Wie er Begriffe und Erfahrungen von drauenabsorbiert, so auch Theorien. Nur ist sein Verhltnis zu ihnennicht das des Standpunkts. Ist die Standpunktlosigkeit desEssays nicht lnger naiv und der Prominenz ihrer Gegenstndehrig; nutzt er vielmehr die Beziehung auf seine Gegenstndeals Mittel wider den Bann des Anfangs, so verwirklicht er

    parodisch gleichsam die sonst nur ohnmchtige Polemik desDenkens gegen bloe Standpunktphilosophie. Er zehrt die Theo-

    rien auf, die ihm nah sind; seine Tendenz ist stets die zurLiquidation der Meinung, auch der, mit der er selbst anhebt. Erist, was er von Beginn war, die kritische Form par excellence;und zwar, als immanente Kritik geistiger Gebilde, alsKonfrontation dessen, was sie sind, mit ihrem Begriff,Ideologiekritik. Der Essay ist die Form der kritischenKategorie unseres Geistes. Denn wer kritisiert, der mu mit

    Notwendigkeit experimentieren, er mu Bedingungen schaffen,unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird, noch andersals bei einem Autor, und vor allem mu jetzt die Hinflligkeitdes Gegenstandes erprobt, versucht werden, und eben dies ist jader Sinn der geringen Variation, die ein Gegenstand durchseinen Kritiker erfhrt.7 Wird dem Essay, weil er keinenauerhalb seiner selbst liegenden Standpunkt einbekennt,Standpunktlosigkeit und Relativismus vorgeworfen, so ist dabeieben jene Vorstellung von der Wahrheit als einem Fertigen,einer Hierarchie von Begriffen im Spiel, die Hegel zerstrte, derStandpunkte nicht mochte: darin berhrt sich der Essay mitseinem Extrem, der Philosophie des absoluten Wissens. Ermchte den Gedanken von seiner Willkr heilen, indem er siereflektierend ins eigene Verfahren hineinnimmt, anstatt sie als

    Unmittelbarkeit zu maskieren. Jene Philosophie freilich bliebbehaftet mit der Inkonsequenz,

    7

    Bense, a. a. O., S. 420.

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    28 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    da sie zugleich den abstrakten Oberbegriff, das bloe Resul-tat, im Namen des in sich diskontinuierlichen Prozesses kriti-sierte und doch, nach idealistischer Sitte, von dialektischer Me-thode redete. Darum ist der Essay dialektischer als die Dialektik

    dort, wo sie selbst sich vortrgt. Er nimmt die Hegelsche Logikbeim Wort: weder darf unmittelbar die Wahrheit der Totalittgegen die Einzelurteile ausgespielt noch die Wahrheit zumEinzelurteile verendlicht werden, sondern der Anspruch derSingularitt auf Wahrheit wird buchstblich genommen bis zurEvidenz ihrer Unwahrheit. Das Gewagte, Vorgreifende, nichtganz Eingelste jedes essayistischen Details zieht als Negationandere herbei; die Unwahrheit, in die wissend der Essay sichverstrickt, ist das Element seiner Wahrheit. Unwahres liegt ge-wi auch in seiner bloen Form, der Beziehung auf kulturellVorgeformtes, Abgeleitetes, als wre es an sich. Je energischer

    er aber den Begriff eines Ersten suspendiert und sich weigert,Kultur aus Natur herauszuspinnen, um so grndlicher erkennt erdas naturwchsige Wesen von Kultur selber. Bis zum heutigenTag perpetuiert sich in ihr der blinde Naturzusammenhang, derMythos, und darauf gerade reflektiert der Essay: das Verhltnisvon Natur und Kultur ist sein eigentliches Thema. Nichtumsonst versenkt er, anstatt sie zu reduzieren, sich inKulturphnomene als in zweite Natur, zweite Unmittelbarkeit,um durch Beharrlichkeit deren Illusion aufzuheben. Er tuschtsich so wenig wie die Ursprungsphilosophie ber die Differenzzwischen Kultur und darunter Liegendem. Aber ihm ist Kulturkein zu destruierendes Epiphnomen ber dem Sein, sonderndas darunter Liegende selbst ist thesei, die falsche Gesellschaft.Darum gilt ihm der Ursprung nicht fr mehr als der berbau.Seine Freiheit in der Wahl der Gegenstnde, seine Souvernittgegenber allen priorities von Faktum oder Theorie verdankt erdem, da ihm gewissermaen alle Objekte gleich nah zumZentrum sind: zu dem Prinzip, das alle verhext. Er glorifiziertnicht die Befassung mit Ursprnglichem als ursprnglicher denndie mit Vermitteltern, weil ihm die Ursprnglichkeit selberGegenstand der Reflexion, ein Negatives ist. Das entspricht

    einer Situation, in der Ursprnglichkeit, als Standpunkt desGeistes inmitten der vergesellschafteten Welt, zur Lge ward.Sie erstreckt sich von

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    29 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    der Erhebung historischer Begriffe aus historischen Sprachen zuUrworten bis zum akademischen Unterricht in creativewriting und zu der gewerbsmig betriebenen Primitivitt, zu

    Blockflten und finger painting, in denen die pdagogische Notsich als metaphysische Tugend gerlert. Der Gedanke ist nichtverschont von Baudelaires Rebellion der Dichtung gegen Naturals gesellschaftliches Reservat. Auch die Paradiese desGedankens sind einzig noch die knstlichen, und in ihnen ergehtsich der Essay. Weil, nach Hegels Diktum, nichts zwischenHimmel und Erde ist, was nicht vermittelt wre, hlt derGedanke der Idee von Unmittelbarkeit Treue nur durchsVermittelte hindurch, whrend er dessen Beute wird, sobald erunvermittelt das Unvermittelte ergreift. Listig macht der Essaysich fest in die Texte, als wren sie schlechterdings da und

    htten Autoritt. So bekommt er, ohne den Trug des Ersten,einen wie immer auch dubiosen Boden unter die Fe,vergleichbar der einstigen theologischen Exegese von Schriften.Die Tendenz jedoch ist die entgegengesetzte, die kritische:durch Konfrontation der Texte mit ihrem eigenen emphatischenBegriff, mit der Wahrheit, die ein jeder meint, auch wenn er sienicht meinen will, den Anspruch von Kultur zu erschttern undsie zum Eingedenken ihrer Unwahrheit zu bewegen, eben jenesideologischen Scheins, in dem Kultur als naturverfallen sichoffenbart. Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrerselbst inne als erste.Bewegt sieh die Wahrheit des Essays durch seine Unwahrheit,so ist sie nicht im bloen Gegensatz zu seinem Unehrlichen undVerfemten aufzusuchen sondern in diesem selber, seiner Mobili-tt, seinem Mangel an jenem Soliden, dessen Forderung dieWissenschaft von Eigentumsverhltnissen auf den Geist trans-ferierte. Die den Geist glauben gegen Unsoliditt verteidigen zumssen, sind seine Feinde: Geist selber, einmal emanzipiert, istmobil. Sobald er mehr will als blo die administrative Wie-derholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwasUnentdecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wre nur noch

    Tautologie. Historisch ist denn auch der Essay der Rhetorikverwandt, welcher die wissenschaftliche Gesinnung seitDescartes und Bacon den Garaus machen wollte, bis sie folge-recht im wissenschaftlichen Zeitalter zur Wissenschaft sui gene-

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    30 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    ris, der von den Kommunikationen, herabsank. Wohl warRhetorik stets schon der Gedanke in seiner Anpassung an diekommunikative Sprache. Er zielte auf die unmittelbare: dieErsatzbefriedigung der Hrer. Der Essay nun bewahrt gerade in

    der Autonomie der Darstellung, durch die er vonwissenschaftlicher Mitteilung sich unterscheidet, Spuren desKommunikativen, deren jene entrt. Die Befriedigungen, welcheRhetorik dem Hrer bereiten will, werden im Essay sublimiertzur Idee des Glcks einer Freiheit dem Gegenstand gegenber,welche diesem mehr von dem seinen gibt, als wenn erunbarmherzig der Ordnung der Ideen eingegliedert wrde. Dasszientifische Bewutsein, gerichtet gegen jeglicheanthropomorphistische Vorstellung, war von je mit demRealittsprinzip verbndet und glcksfeindlich gleich diesem.Whrend Glck der Zweck aller Naturbeherrschung sein soll,

    stellt es dieser zugleich immer als Regression in bloe Natursich dar. Das zeigt sich bis in die hchsten Philosophien, bis inKant und Hegel hinein. Die Vernunft, an deren absoluter Ideesie ihr Pathos haben, wird zugleich von ihnen als naseweis undrespektlos angeschwrzt, sobald sie Geltendes relativiert. Gegendiesen Hang errettet der Essay ein Moment der Sophistik.Sprbar ist die Glcksfeindschaft des offiziell kritischenGedankens zumal in Kants transzendentaler Dialektik, welchedie Grenze zwischen Verstand und Spekulation verewigenmchte und, nach der charakteristischen Metapher, dasAusschweifen in intelligible Welten verhindern. Whrend dieVernunft, die sich selbst kritisiert, bei Kant mit beiden Fenfest auf dem Boden stehen, sich selbst begrnden soll, dichtetsie sich dem innersten Prinzip nach ab gegen jegliches Neue undgegen die auch von der Existentialontologie beschimpfte

    Neugier, das Lustprinzip des Gedankens. Was Kant inhaltlichals den Zweck der Vernunft einsieht, die Herstellung derMenschheit, die Utopie, wird von der Form, derErkenntnistheorie her verwehrt, welche der Vernunft es nichtgestattet, ber den Bereich der Erfahrung hinauszugehen, der imMechanismus von bloem Material und unvernderlicher

    Kategorie zu dem zusammenschrumpft, was von je schon war.Gegenstand des Essays jedoch ist das Neue als Neues, nicht insAlte der bestehenden Formen Zurckbersetzbares. Indem erden

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    31 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    Gegenstand gleichsam gewaltlos reflektiert, klagt er stumm dar-ber, da die Wahrheit das Glck verriet und mit ihm auch sichselbst; und diese Klage reizt zur Wut auf den Essay. Das ber-

    redende der Kommunikation wird an ihm, analog dem Funk-tionswechsel mancher Zge in der autonomen Musik, seinem ur-sprnglichen Zweck entfremdet und zur reinen Bestimmung derDarstellung an sich, dem Bezwingenden ihrer Konstruktion, dienicht die Sache abbilden sondern aus ihren begrifflichenmembra disiecta wiederherstellen mchte. Die anstigenbergnge der Rhetorik aber, in denen Assoziation,Mehrdeutigkeit der Worte, Nachlassen der logischen Synthesises dem Hrer leicht machten und den Geschwchten dem Willendes Redners unterjochten, werden im Essay mit demWahrheitsgehalt verschmolzen. Seine bergnge desavouieren

    die bndige Ableitung zugunsten von Querverbindungen derElemente, fr welche die diskursive Logik keinen Raum hat. Er

    benutzt quivokationen nicht aus Schlamperei, nicht inUnkenntnis ihres szientifischen Verbots, sondern umheimzubringen, wozu die quivokationskritik, die bloeTrennung der Bedeutungen selten gelangt: da berall, wo einWort Verschiedenes deckt, das Verschiedene nicht ganzverschieden sei, sondern da die Einheit des Worts an eine wiesehr auch verborgene in der Sache mahnt, ohne da freilichdiese, nach dem Brauch gegenwrtiger restaurativer Philoso-

    phien, mit Sprachverwandtschaften verwechselt werden drfte.Auch darin streift der Essay die musikalische Logik, die strin-gente und doch begriffslose Kunst des bergangs, um derredenden Sprache etwas zuzueignen, was sie unter derHerrschaft der diskursiven Logik einbte, die sich doch nichtberspringen, blo in ihren eigenen Formen berlisten lt kraftdes eindringenden subjektiven Ausdrucks. Denn der Essay

    befindet sich nicht im einfachen Gegensatz zum diskursivenVerfahren. Er ist nicht unlogisch; gehorcht selber logischenKriterien insofern, als die Gesamtheit seiner Stze sich stimmigzusammenfgen mu. Keine bloen Widersprche drfen

    stehenbleiben, es sei denn, sie wrden als solche der Sachebegrndet. Nur entwickelt er die Gedanken anders als nach derdiskursiven Logik. Weder leitet er aus einem Prinzip ab nochfolgert er aus kohrenten Einzelbeobachtungen. Er koordiniertdie Elemente, anstatt sie zu sub-

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    32 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    ordinieren; und erst der Inbegriff seines Gehalts, nicht die Artvon dessen Darstellung ist den logischen Kriterien kommen-surabel. Ist der Essay, im Vergleich zu den Formen, in denen einfertiger Inhalt indifferent mitgeteilt wird, vermge der Spannung

    zwischen Darstellung und Dargestelltem, dynamischer als dastraditionelle Denken, so ist er zugleich, als konstruiertes Ne-

    beneinander, statischer. Darin allein beruht seine Affinitt zumBild, nur da jene Statik selber eine von gewissermaen still-gestellten Spannungsverhltnissen ist. Die leise Nachgiebigkeitder Gedankenfhrung des Essayisten zwingt ihn zu grererIntensitt als der des diskursiven Gedankens, weil der Essaynicht gleich diesem blind, automatisiert verfhrt, sondern in je-dem Augenblick auf sich selber reflektieren mu. Diese Refle-xion freilich erstreckt sich nicht nur auf sein Verhltnis zumetablierten Denken sondern ebenso auch auf das zu Rhetorik und

    Kommunikation. Sonst wird, was berwissenschaftlich sichdnkt, eitel vorwissenschaftlich.Die Aktualitt des Essays ist die des Anachronistischen. DieStunde ist ihm ungnstiger als je. Er wird zerrieben zwischeneiner organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaen, alleund alles zu kontrollieren, und die, was nicht auf den Consenszugeschnitten ist, mit dem scheinheiligen Lob des Intuitivenoder Anregenden aussperrt; und einer Philosophie, die mit demleeren und abstrakten Rest dessen vorlieb nimmt, was derWissenschaftsbetrieb noch nicht besetzte und was ihr ebendadurch Objekt von Betriebsamkeit zweiten Grades wird. DerEssay jedoch hat es mit dem Blinden an seinen Gegenstnden zutun. Er mchte mit Begriffen aufsprengen, was in Begriffe nichteingeht oder was durch die Widersprche, in welche diese sichverwickeln, verrt, das Netz ihrer Objektivitt sei blosubjektive Veranstaltung. Er mchte das Opake polarisieren, diedarin latenten Krfte entbinden. Er bemht sich um dieKonkretion des in Raum und Zeit bestimmten Gehalts;konstruiert das Zusammengewachsensein der Begriffe derart,wie sie als im Gegenstand selbst zusammengewachsenvorgestellt werden. Er entschlpft dem Diktat der Attribute,

    welche seit der Definition des Symposions den Ideenzugeschrieben werden, ewig seiend und weder werdend nochvergehend, weder wechselnd noch ab-

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    33 Noten zur Literatur I Der Essay als Form

    nehmend; ein um sich selbst fr sich selbst ewig eingestalti-ges Sein; und bleibt doch Idee, indem er vor der Last desSeienden nicht kapituliert, nicht dem sich beugt, was blo ist.

    Aber er mit es nicht an einem Ewigen, sondern eher an einementhusiastischen Fragment aus Nietzsches Sptzeit: Gesetzt,wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damitnicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt.Denn es steht Nichts fr sich, weder in uns selbst noch in denDingen: und wenn nur ein einziges Mal unsere Seele wie eineSaite vor Glck gezittert und getnt hat, so waren alleEwigkeiten ntig, um dies eine Geschehen zu bedingen - undalle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseresJasagens gutgeheien, erlst, gerechtfertigt und bejaht.8 Nurda der Essay noch solcher Rechtfertigung und Bejahung

    mitraut. Fr das Glck, das Nietzsche heilig war, wei erkeinen anderen Namen als den negativen. Selbst die hchstenManifestationen des Geistes, die es ausdrcken, sind immerauch verstrickt in die Schuld, es zu hintertreiben, solange sie

    bloer Geist bleiben. Darum ist das innerste Formgesetz desEssays die Ketzerei. An der Sache wird durch Versto gegen dieOrthodoxie des Gedankens sichtbar, was unsichtbar zu halteninsgeheim deren objektiven Zweck ausmacht.

    8

    Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 10, Leipzig 1906, S. 206 (Der Wille zurMacht II, 1032).