„Euthanasie“: Lebensgeschichte Minna H. · Quelle: Privatbesitz Minna H. wird 1894 in der Nähe...

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Quelle: Privatbesitz Minna H. wird 1894 in der Nähe von Stade auf einem kleinen Bauernhof geboren. Sie half auf dem elter- lichen Hof. Mit 16 Jahren hatte sie eine Knieverletzung, die mangels finanzieller Mittel nicht ausgeheilt und operiert werden konnte. Letztendlich musste das Bein ampu- tiert werden. Sie ging in den 20er Jahren von der Region Beckdorf nach Hamburg, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte, der verwitwet „Euthanasie“: Lebensgeschichte Minna H. Die Arbeiterfamilie lebte in Hamburg- Barmbek in einem genossenschaftlichen Wohnblock. Zum Wohnblock gehörten Geschäfte, Gemeinschaftsräume, ein Wasch- und Badehaus. Nach der Machtübertragung auf Hitler änderte sich die Lebenssituation der Bewoh- ner grundlegend. Es gab Provokationen durch die Nationalsozialisten, die als Partei- mitglieder und SA-Angehörige nun in die Wohnungen zogen. Sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter wurden abgeholt und verschwanden. Quelle: Privatbesitz Quelle: Privatbesitz Helmut H. fragte Anfang 1944 schriftlich in Hadamar an, wie es seiner Mutter gehe. Auch dieser Brief blieb unbeantwortet. Am 30. Mai erhielt die Familie nach mehr- fachen Anfragen aus der Anstalt Hadamar die Nachricht, dass Minna H. seit dem 6. März tot sei. Das Bemühen Otto H.'s, seine geschiedene Ehefrau in Hamburg bestatten zu können, war erfolglos. trieb auch nach dem Tod der Opfer „Pflege- kosten“ von den Angehörigen ein. Durch diese Praxis bereicherte sich der NS-Staat in Millionenhöhe. Die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten der T4-Zentrale in Berlin Helmut H. berichtete später: „Erst im August 1944 war der Behörde und dem Amtsvormund bekannt, dass meine Mutter seit Anfang März tot war. So lange wurden meinem Vater die Pflegekosten von seinem Lohn abgezogen.“ Quelle: Privatbesitz war und drei schulpflichtige Kinder hatte. Minna und Otto H. bekamen zwei eigene Kinder, 1922 Helmut, und 1927 kam Ursula zur Welt. Minna H. arbeitete bis zu ihrer Heirat mit Otto H. als Hausangestellte und später als Fabrikarbeiterin. Otto H. arbeitete bei der Deutschen Reichs- bahn. Es waren die Jahre der Weltwirt- schaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut in allen gesellschaftlichen Schichten. Minna H. versuchte, das Haushaltsgeld durch Heimarbeit als Näherin aufzubessern. Minna H. verwaltete die Schlüssel einer emi- grierten jüdischen Familie, die sie gebeten hatte, ihre Habseligkeiten an Nachfragende weiterzugeben. Ihre Hilfsbereitschaft fiel auf, sie wurde wahrscheinlich denunziert und von der SA mehrfach verhört. Bei diesen Verhören wurden die Opfer auch misshan- delt. Zu belegen ist dies für Minna H. nicht, doch sie wurde nach den Verhören psy- chisch krank und wurde zunächst ins Krankenhaus Hamburg-Eppendorf eingelie- fert und nach einiger Zeit wieder entlassen. Als dann Bomben auf Hamburg fielen, wei- gerte sich Minna H., in den Luftschutzkeller zu gehen und wurde als „krank“ wieder in die Nervenklinik eingewiesen und von dort in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn verlegt. Nach der Verlegung wurde der Familie auf Anfrage mitgeteilt, dass sie ihr weiteres Leben in einer Anstalt verbringen müsse. Dem Ehemann Otto H. legte die Behörde nahe, sich scheiden zu lassen. In jedem Fall müsse er aber für die Unter- bringung in der Heil- und Pflegeanstalt zuzahlen. Der Ehemann ließ sich scheiden und das Gericht bestellte 1943 einen Amtsvormund. Dadurch war Minna H. den NS-Handlangern schutzlos ausgeliefert. Die Tochter Ursula H. musste sich um die Familie kümmern, und der Sohn Helmut H. wurde mit 19 Jahren als Soldat eingezogen. Die Kinder erhielten auf ihre Anfrage in der Heil- und Pflegeanstalt keine Antwort. Inzwischen waren die Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn verlegt, und in den Räumen der Anstalt war ein Kriegs- lazarett eingerichtet worden. Erst nachdem der geschiedene Ehemann nachdrücklich um eine Auskunft mit dem Argument, er müsse ja auch zahlen, in Langenhorn nachfragte, erfuhr die Familie, dass Minna H. nach Hadamar verlegt worden war. Quelle: Privatbesitz © Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V., Detmold

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Quelle: Privatbesitz

Minna H. wird 1894 inder Nähe von Stadeauf einem kleinenBauernhof geboren.Sie half auf dem elter-lichen Hof. Mit 16Jahren hatte sie eineKnieverletzung, diemangels finanzieller

Mittel nicht ausgeheilt und operiert werdenkonnte. Letztendlich musste das Bein ampu-tiert werden.

Sie ging in den 20er Jahren von der RegionBeckdorf nach Hamburg, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte, der verwitwet

„Euthanasie“:Lebensgeschichte Minna H.

Die Arbeiterfamilie lebte in Hamburg-Barmbek in einem genossenschaftlichenWohnblock. Zum Wohnblock gehörtenGeschäfte, Gemeinschaftsräume, ein Wasch-und Badehaus.

Nach der Machtübertragung auf Hitleränderte sich die Lebenssituation der Bewoh-ner grundlegend. Es gab Provokationendurch die Nationalsozialisten, die als Partei-mitglieder und SA-Angehörige nun in dieWohnungen zogen. Sozialdemokratische undkommunistische Arbeiter wurden abgeholtund verschwanden.

Quelle: Privatbesitz

Quelle: Privatbesitz

Helmut H. fragte Anfang 1944 schriftlich inHadamar an, wie es seiner Mutter gehe.Auch dieser Brief blieb unbeantwortet.Am 30. Mai erhielt die Familie nach mehr-fachen Anfragen aus der Anstalt Hadamardie Nachricht, dass Minna H. seit dem 6. März tot sei. Das Bemühen Otto H.'s,seine geschiedene Ehefrau in Hamburgbestatten zu können, war erfolglos.

trieb auch nach dem Tod der Opfer „Pflege-kosten“ von den Angehörigen ein. Durchdiese Praxis bereicherte sich der NS-Staat inMillionenhöhe.

Die Zentralverrechnungsstelle Heil- undPflegeanstalten der T4-Zentrale in Berlin

Helmut H. berichtete später: „Erst imAugust 1944 war der Behörde und demAmtsvormund bekannt, dass meine Mutterseit Anfang März tot war. So lange wurdenmeinem Vater die Pflegekosten von seinemLohn abgezogen.“

Quelle: Privatbesitz

war und drei schulpflichtige Kinder hatte.Minna und Otto H. bekamen zwei eigeneKinder, 1922 Helmut, und 1927 kam Ursulazur Welt. Minna H. arbeitete bis zu ihrerHeirat mit Otto H. als Hausangestellte undspäter als Fabrikarbeiterin.

Otto H. arbeitete bei der Deutschen Reichs-bahn. Es waren die Jahre der Weltwirt-schaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit undArmut in allen gesellschaftlichen Schichten.Minna H. versuchte, das Haushaltsgelddurch Heimarbeit als Näherin aufzubessern.

Minna H. verwaltete die Schlüssel einer emi-grierten jüdischen Familie, die sie gebetenhatte, ihre Habseligkeiten an Nachfragendeweiterzugeben. Ihre Hilfsbereitschaft fiel auf,sie wurde wahrscheinlich denunziert undvon der SA mehrfach verhört. Bei diesenVerhören wurden die Opfer auch misshan-delt. Zu belegen ist dies für Minna H. nicht,doch sie wurde nach den Verhören psy-chisch krank und wurde zunächst insKrankenhaus Hamburg-Eppendorf eingelie-fert und nach einiger Zeit wieder entlassen. Als dann Bomben auf Hamburg fielen, wei-gerte sich Minna H., in den Luftschutzkellerzu gehen und wurde als „krank“ wieder indie Nervenklinik eingewiesen und von dortin die Heil- und Pflegeanstalt Langenhornverlegt. Nach der Verlegung wurde derFamilie auf Anfrage mitgeteilt, dass sie ihrweiteres Leben in einer Anstalt verbringenmüsse. Dem Ehemann Otto H. legte dieBehörde nahe, sich scheiden zu lassen. In jedem Fall müsse er aber für die Unter-bringung in der Heil- und Pflegeanstaltzuzahlen. Der Ehemann ließ sich scheidenund das Gericht bestellte 1943 einen

Amtsvormund. Dadurch war Minna H. denNS-Handlangern schutzlos ausgeliefert.

Die Tochter Ursula H. musste sich um dieFamilie kümmern, und der Sohn Helmut H.wurde mit 19 Jahren als Soldat eingezogen.Die Kinder erhielten auf ihre Anfrage in derHeil- und Pflegeanstalt keine Antwort.

Inzwischen waren die Patienten der Heil-und Pflegeanstalt Langenhorn verlegt, undin den Räumen der Anstalt war ein Kriegs-lazarett eingerichtet worden. Erst nachdemder geschiedene Ehemann nachdrücklich umeine Auskunft mit dem Argument, er müsseja auch zahlen, in Langenhorn nachfragte,erfuhr die Familie, dass Minna H. nachHadamar verlegt worden war.

Quelle: Privatbesitz

© Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V., Detmold