Afghanistan: Staatsversagen als chronisches...

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Stella Adorf/Alexander Kruska Afghanistan: Staatsversagen als chronisches Problem 1. Einleitung Islamische Republik Afghanistan „Wir kämpfen bereits sechs Jahre in Afghanistan. Wenn wir unsere Methoden nicht ändern, werden wir noch 20-30 Jahre kämpfen.“ Michail Gorbatschow, am 13. November 1986 (zitiert nach: Berger/Kläy/Stahel 2002: 19) An dem voran stehenden Zitat und insbesondere seiner Datierung wird deutlich, welche politischen Verhältnisse dem Betrachter der jüngeren Geschichte Afghanistans begegnen: Militärische Interventionen und die Einmischung ausländischer politischer Mächte in die inneren Angelegenheiten des Landes sind nicht erst eine Erscheinung der Jahrzehnte nach Beendigung des Ost-West- Konfliktes. Vielmehr beherrschen Phänomene wie die Fragmentierung politischer Macht und Machtkämpfe sowie begleitende Verstrickungen externer Akteure die Geschicke Afghanistans seit frühesten Zeiten. Hauptstadt: Kabul Staatsform: Präsidiale Republik Staatsoberhaupt: Präsident Hamid Karzai Unabhängigkeit: 8. August 1919 Größe: 652.000 km 2 Einwohnerzahl: Ca. 30 Mio. Bevölkerung: Paschtunen (ca. 42 Prozent), Tadschiken (ca. 27 Prozent), Hazara und Usbeken (jeweils ca. 9 Prozent) u.a. Landessprachen: Dari, Paschtu u.a. BIP pro Kopf: 800 US-$ Quelle: Auswärtiges Amt 2007 Im Zentrum dieses Aufsatzes wird deshalb das Bemühen stehen, die inneren strukturellen und prozessualen Bedingungen sowie den äußeren Rahmen der Entwicklung und Problemstellungen staatlicher Gewalt in Afghanistan nachzuzeichnen. Diese Entwicklung interessiert hier vor allem im Hinblick auf die Erscheinung des Staatsversagens, welche für Afghanistan charakteristisch ist. Im Besonderen vertreten die Verfasser die Ansicht, dass der Zerfall des Staatswesens nicht in Form eines singulären, kollapsartigen Ereignisses auftritt und eine zeitliche Verortung des Phänomens infolgedessen nur ansatzweise hilfreich erscheint. Näherungsweise lässt sich der Zustand des failed state, schematischer Betrachtungsweise folgend, für die Zeit nach der Intervention der internationalen Gemeinschaft im Jahre 2001 attestieren. Die Ursachen des Staatszerfalls sind demnach in den

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Stella Adorf/Alexander Kruska

Afghanistan: Staatsversagen als chronisches Problem

1. Einleitung Islamische Republik Afghanistan „Wir kämpfen bereits sechs Jahre in Afghanistan. Wenn wir unsere Methoden nicht ändern, werden wir noch 20-30 Jahre kämpfen.“ Michail Gorbatschow, am 13. November 1986 (zitiert nach: Berger/Kläy/Stahel 2002: 19) An dem voran stehenden Zitat und insbesondere

seiner Datierung wird deutlich, welche politischen

Verhältnisse dem Betrachter der jüngeren

Geschichte Afghanistans begegnen: Militärische

Interventionen und die Einmischung ausländischer

politischer Mächte in die inneren Angelegenheiten

des Landes sind nicht erst eine Erscheinung der

Jahrzehnte nach Beendigung des Ost-West-

Konfliktes. Vielmehr beherrschen Phänomene wie

die Fragmentierung politischer Macht und

Machtkämpfe sowie begleitende Verstrickungen

externer Akteure die Geschicke Afghanistans seit frühesten Zeiten.

Hauptstadt: Kabul

Staatsform: Präsidiale Republik

Staatsoberhaupt: Präsident Hamid Karzai

Unabhängigkeit: 8. August 1919

Größe: 652.000 km2

Einwohnerzahl: Ca. 30 Mio.

Bevölkerung: Paschtunen (ca. 42

Prozent), Tadschiken (ca.

27 Prozent), Hazara und

Usbeken (jeweils ca. 9

Prozent) u.a.

Landessprachen: Dari, Paschtu u.a.

BIP pro Kopf: 800 US-$

Quelle: Auswärtiges Amt 2007

Im Zentrum dieses Aufsatzes wird deshalb das Bemühen stehen, die inneren strukturellen und

prozessualen Bedingungen sowie den äußeren Rahmen der Entwicklung und

Problemstellungen staatlicher Gewalt in Afghanistan nachzuzeichnen. Diese Entwicklung

interessiert hier vor allem im Hinblick auf die Erscheinung des Staatsversagens, welche für

Afghanistan charakteristisch ist. Im Besonderen vertreten die Verfasser die Ansicht, dass der

Zerfall des Staatswesens nicht in Form eines singulären, kollapsartigen Ereignisses auftritt

und eine zeitliche Verortung des Phänomens infolgedessen nur ansatzweise hilfreich

erscheint. Näherungsweise lässt sich der Zustand des failed state, schematischer

Betrachtungsweise folgend, für die Zeit nach der Intervention der internationalen

Gemeinschaft im Jahre 2001 attestieren. Die Ursachen des Staatszerfalls sind demnach in den

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landesspezifischen, historisch-politischen, ethnisch-kulturellen und sozioökonomischen

Tiefenstrukturen und Rahmenbedingungen zu suchen. Zu diesem Zweck sollen die

Einflussvariablen für das Staatsversagen systematisch abgehandelt und auf ihre Wirkung hin

analysiert werden. Anschließend werden die Ergebnisse mit den aktuellen Ansätzen der

internationalen Gemeinschaft zur staatlichen Neuordnung verglichen, die Tauglichkeit der

Maßnahmen geprüft und Verbesserungsvorschläge gemacht.

2. Prozessfaktoren – Analyse der historisch-politischen Entwicklungen

Prozessuale und konjunkturelle Faktoren, welche die Stabilität des afghanischen Staates

beeinträchtigen oder die Bildung einer solchen seit Anbeginn behindert haben, müssen

notwendigerweise aus der afghanischen Geschichte ableitbar sein. Die Geschichte des

modernen Afghanistans, einem als politischer Einheit vergleichsweise jungen Landes, wird zu

diesem Zwecke hier in drei Phasen eingeteilt: 1. eine Frühphase, in welcher die

Grundstrukturen politisch-staatlicher Herrschaft (in unserem modernen Verständnis) gelegt

wurden, 2. eine Phase der relativen Stabilität und Entwicklung in der Mitte des 20.

Jahrhunderts und letztlich 3. eine Phase des Um- und Zusammenbruchs, des Kriegs und

Bürgerkriegs, an deren Ende die Taliban-Herrschaft und der jüngste Afghanistan-Krieg

(2001) stehen. Anschließend werden die Erkenntnisse aus der geschichtlichen Darstellung in

einem gesonderten Punkt als historisch-politische Prozessfaktoren zusammengefasst.

2.1 Die Frühphase bis 1929/30

Nachdem die Provinzen des heutigen Afghanistans Anfang des 18. Jahrhunderts locker

eingebundene Randgebiete benachbarter Großreiche gewesen waren, gelang es dem

turkmenischen Heerführer Nader Qoli Khan ab 1736, ein neues persisches Reich zu errichten.

Er unterwarf in den folgenden Jahren die im äußersten Osten seines Herrschaftsgebiets

siedelnden Stämme der Paschtunen und stabilisierte das Reich, indem er die Besiegten in

seine Regierungsgewalt einband. Vor allem Abdali-Paschtunen (aus der westlichen der beiden

großen Stammeskonföderationen Abdali und Ghilzai) bildeten das unmittelbare Gefolge

Schah Naders und darüber hinaus Elitetruppen. Im Moment des gewaltsamen Todes des

Schahs im Jahre 1747 wussten die Abdali ihre integrierte Stellung im persischen

Machtapparat zu nutzen: Ein enger Vertrauter Schah Naders und Befehlshaber seiner

Leibwache, Ahmad Schah, der zugleich eine führende Stellung in besagtem Stammesbund

innehatte, begab sich mit einigen tausend Soldaten nach Kandahar und begründete dort eine

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eigene Herrschaft als Emir (Grevemeyer 1990: 24f.). Über die Geschehnisse um dieses die

afghanische Geschichte einläutenden Ereignisses gibt es unterschiedliche Versionen,

allerdings „haben die meisten doch eins gemein: Nämlich dass eine Loya jirga, also eine

große Stammesversammlung, Ahmad Schah zu ihrem Anführer erhob.“ (Schetter 2004: 47).

Abweichend zweifelt Conrad Schetter die Historizität dieser Versammlung mit Verweis auf

gewichtige Quellen an (Schetter 2004: 48). Es muss an dieser Stelle beachtet werden, dass ein

– vor allem für die afghanische Nationalhistoriographie – zentrales Ereignis in der

Begründung Afghanistans Fiktion sein könnte, auch wenn dies bisher nicht die fundamentale

Rolle geschmälert hat, welche jener ersten Loya jirga in der politischen Tradition des Landes

zugeschrieben wird.

In den folgenden 25 Jahren seiner Herrschaft eroberte Ahmad Schah ein Gebiet, das weit über

die Grenzen des heutigen Afghanistans hinausging und in der Folge zusammen mit seiner

Person durch einheimische Historiker verklärt wurde. Unter ihm sei fortan die Nation geboren

worden; ein Bild, welches ungeachtet der Tatsache tradiert wird, dass er rein auf Grundlage

der Stämme und ihrer Kämpfer regierte, also Klientelpolitik betrieb. Sein Reich „entsprach

einem lockeren Herrschaftsverbund von Fürstentümern und paschtunischen wie nicht-

paschtunischen Stämmen, die er nur indirekt beherrschte.“ (Schetter 2004: 49). Hinzu kam

also, dass Ahmad Schah die Herrschaftspraxis seiner vormaligen Herren übernahm, indem er

die lokale Ordnung und Verwaltung den regionalen Potentaten überließ (oder überlassen

musste) und bei Hofe lediglich ein Minimum an Beamten unterhielt. Herrschaft fand

hauptsächlich in Form der Organisation des Heeres statt, welches zudem ausschließlich aus

Truppen der Stämme bestand (Grevemeyer 1990: 25). Obwohl Steuern angesetzt worden

waren, flossen diese aufgrund der Regierungsweise nur spärlich. Die erfolgreichen

Eroberungszüge der protostaatlichen Zentralgewalt erlaubten permanente Privilegien- und

Ämtervergabe an Stammesoberhäupter, was dem Emir deren Loyalität sicherte und seine

Macht zugleich in Schranken hielt. Diese Herrschaftsweise erwies sich in den folgenden

Jahrhunderten als prägend für die politische Tradition der Stämme, steht sie auch ganz auf der

Grundlage paschtunischer Wertvorstellungen.

Nach dem Tod Ahmad Schahs Nachfolgers im Jahre 1793 begann das paschtunische

Großreich schnell zu verfallen. Zuvor noch war die Hauptstadt von Kandahar nach Kabul

(und damit in tadschikisches Siedlungsgebiet) verlegt worden, um den Königshof dem

Einfluss des eigenen Klans zu entziehen – symptomatisch für die begrenzte Machtposition der

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Staatsgewalt. Mit der Herrschaft Zaman Schahs (1793-1801) brach eine Periode der

afghanischen Geschichte an, welche als Gegenstück zur (verklärten) Hochzeit des Durrani-

Reiches seit 1747 beschrieben wird (Schetter 2004: 51): Zahlreiche Herrscher wechselten sich

ab und verschiedene Sippen aus dem Durrani-Stammesverband beherrschten Landesteile

quasi-autonom.

Als für unsere Zwecke bedeutsam stellt sich die Entwicklung Afghanistans erneut ab den

1830er Jahren dar, da das Land erstmals in den Fokus der Weltpolitik rückte. In der

Begriffswelt der ab dem 19. Jahrhundert sowohl von Norden (Russland) als auch von

Südosten (Britisch-Indien) agierenden Kolonialmächte mit ihrem Anspruch effektiver

militärischer Kontrolle erschien das uneinige und fragmentierte Afghanistan dieser Zeit als

„herrenlos“; es war einer „der letzten weißen Flecken auf der Landkarte“ (Schetter 2004: 55).

Beide Weltmächte hatten Interessen in jener Region: Russland strebte nach Ausdehnung

seines kontinentalen Besitzes und dem Zugang zu einem eisfreien Meer, während

Großbritannien seinen mit Abstand wertvollsten Besitz, Indien, vor fremdem Zugriff zu

schützen suchte. Für die Rivalität der beiden Mächte prägte Rudyard Kipling 1901 den

Begriff des „Great Game“.

Im Jahre 1826 hatte der Durrani Dost Muhammad Kabul erobert und sich so zum Herrscher

gemacht. Seine Regentschaft war von Anfang an sowohl von Thronwirren als auch vom

Kampf gegen das Reich der Sikh begleitet, welches im Süden des älteren Reichsgebiets

entstanden war und sich bis 1835 Peschawar einverleiben konnte. Bedroht durch einen

exilierten Verwandten mit legitimen Thronansprüchen einerseits und den Herrscher des Sikh-

Staates andererseits, bot Dost Muhammad den Briten Kooperation an, welche diese – um dem

Zarenreich zuvorzukommen – gerne annahmen. Als es 1838 im Westen des afghanischen

Reiches zu einer Art Stellvertreterkrieg Persiens (Russlands) gegen Afghanistan (Britisch-

Indien) kam und Kabul in Verhandlungen mit russischen Gesandten einwilligte, sah sich die

britische Seite brüskiert und nutzte den Vorfall aus: Rasch unterstützte die britische

Kolonialregierung den besagten Exilregenten in seinen Thronansprüchen und marschierte mit

ihm 1838/39 im Nachbarreich ein, in der Hoffnung, mit Letzterem einen treuen Vasallen zu

haben und damit einen sicheren Pufferstaat gegen das Zarenreich errichten zu können. Die

britische Invasion glückte, das Land wurde sukzessive erobert und der neue Emir – ohne das

Wohlwollen der Stämme – inthronisiert. Der neue Herrscher jedoch bedurfte der ständigen

Hilfestellung der Ausländer, was deren Mission in eine Besatzung verwandelte und sie – auch

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aus finanziellen Gründen – bis 1842 wiederum scheitern ließ (Grevemeyer 1990: 30f.). Auf

ihrem Rückzug erlitten die britischen Kolonialtruppen die verheerendste Niederlage ihrer

Geschichte seit 1781. Absurde Folge dieses ersten Anglo-afghanischen Krieges war, dass

Neu-Delhi Dost Muhammad erneut die Herrschaft übergab und ein Freundschaftsvertrag die

britisch-afghanischen Beziehungen für die nächsten Jahrzehnte regelte. Im Inneren erlebte das

Land nun neuerliche Thronwirren, welche erst 1878 ganz beigelegt werden konnten, während

Emir Scher 'Ali die erste Herrschaftskonsolidierung und Modernisierungspolitik seines Vaters

fortführte. Im Kontext neuerlicher russischer Avancen auf Kabul und einem offensiven

Politikwechsel in Britisch-Indien erklärte Großbritannien 1878/79 Afghanistan erneut den

Krieg (Zweiter Anglo-afghanischer Krieg), um es endgültig seiner Kontrolle zu unterwerfen.

In zahlreichen verlustreichen Gefechten konnten die Briten schleppend im Lande vordringen,

doch bald zeichnete sich wiederum ab, dass der partikulare (und deshalb oft wirksame)

Widerstand der Stämme ohne ein effektives Ordnungskonzept nicht zu brechen war (Schetter

2004: 67). Der noch unter Emir Yaqub 1879 geschlossene Vertrag von Gandomak sollte auch

unter dem neuen, durch Großbritannien anerkannten Emir Abdurrahman fortan das Verhältnis

der Länder klären.

„Der eiserne Emir“ Abdurrahman setzte seine Herrschaft ab 1880 mit größter Gewalt durch

und wird noch heute teilweise als eine Art zweiter Begründer des modernen Afghanistans

angesehen. Der wesentliche Politikwechsel der Großmächte nach dem zweiten Anglo-

afghanischen Krieg brachte die de facto-Anerkennung Afghanistans als Pufferzone zwischen

den Kolonialgebieten der Europäer und dämmte somit deren Ausgreifen ein, was eine

Leistung der Partikularkräfte im Land gewesen war. Zwischen den Jahren 1887 und 1895

wurden erstmals Außengrenzen des Landes geographisch und vertraglich festgelegt. Diesem

äußeren Abschluss des Landes folgte eine Stärkung der Zentralgewalt, da die Briten – jetzt

nicht mehr an direkter Kontrolle interessiert – Abdurrahman finanziell und militärisch

unterstützten. Diese Hilfe machte Kabul wiederum unabhängiger von seiner vormalig

einzigen Machtbasis, der Gefolgschaft der Stämme, welche stets teuer hatte erkauft werden

müssen: Somit konnte der „eiserne Emir“ den Grundkonflikt des Landes zwischen den

segmentären Kräften und der Staatsgewalt rücksichtslos zugunsten der Zentrale entscheiden

(Grevemeyer 1990: 39). Hauptinstrumente seiner Machtpolitik waren die Einsetzung einer

ständigen Jirga in Kabul (um die Stammesoberen dort zu binden), verheerende Feldzüge –

mit einem nunmehr stehenden Heer – gegen abweichende Gruppen sowie

Zwangsumsiedlungen. Erstmals institutionalisierte man auch die Verwaltung, indem

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Regierungsbehörden geschaffen wurden. Des Weiteren entmachtete der Emir die (ihm

verhasste) unabhängige Geistlichkeit und vereinnahmte die Religion fortan für den Staat, was

eine unheilvolle Prägung für das Staatsbild der Afghanen bewirken sollte, da sich der Staat

nun als Glaubenshüter zu beweisen hatte (Schetter 2004: 72). Über die Konsolidierung der

Staatsgewalt (sowie des Steuersystems) hinaus stagnierte die Entwicklung des Landes

vollends, das gänzlich isoliert und faktisch ein britisches Protektorat blieb.

Unter Abdurrahmans Sohn Emir Habibullah I. (1901-1919) dauerten diese Verhältnisse an –

auch begründete sich die Neutralität im Ersten Weltkrieg in der Fortführung der Politik des

Vaters. Kurz nach Ende des Weltkrieges starb Habibullah I. bei einem Attentat und infolge

kurzer Thronstreitigkeiten trat Amanullah, wiederum der legitime Thronfolger, die Herrschaft

an. Zur Festigung seiner Macht ergriff der neue Emir die Flucht nach vorn und erklärte den

Jihad gegen Britisch-Indien, um symbolträchtig die völlige Freiheit des Landes zu erkämpfen.

Der Krieg (Dritter Anglo-afghanischer Krieg) dauerte aufgrund britischer Kriegsmüdigkeit

nicht lange an und endete bereits 1919 mit der Unabhängigkeit Afghanistans (unter

Anerkennung seiner Grenzen).

Der neue König Amanullah (wie er sich in ausdrücklicher Abgrenzung zum religiösen Emir-

Titel ab 1926 bezeichnete) begann sogleich ein umfassendes Reform- und

Modernisierungsprogramm: 1923 wurde eine Verfassung nach kemalistischem Vorbild

erlassen, welche Bürgerrechte, den Schutz religiöser Minderheiten, die Schulpflicht und eine

Nationalversammlung vorsah. Obwohl er die Macht der traditionellen Eliten zu beschneiden

suchte, musste er bald eine Loya jirga einberufen, um seine Reformpolitik bewilligen zu

lassen und sie damit zu retten. Bis 1925 konnten kleinere Aufstände zwar niedergeschlagen

werden, jedoch entglitt Amanullah bereits 1929 die Herrschaft endgültig, da er nach einer

Europareise umfassende gesellschaftliche Reformen (unter anderem die Stellung der Frau

betreffend) durchzuführen plante. Seine als „Verwestlichung“ bezeichneten Vorhaben

erweckten gewaltsamen Widerstand vor allem unter den Paschtunen, was den Abfall der

wichtigsten Familien von seiner Herrschaft und wenig später das Exil des Königs in Rom zur

Folge hatte. Die folgende Regentschaft eines Usurpators, Emir Habibullah II., scheiterte

schnell am generellen Widerwillen der Bevölkerung gegen die Staatsgewalt. Da Habibullah

II. kein Paschtune war, konnten geeinte paschtunische Stammestruppen die Zentren rasch

erobern und (wieder) einen neuen Herrscher aus den eigenen Reihen etablieren: Nader Schah,

adligen Heerführer aus einer Nebenlinie der Durrani.

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2.2 Die Phase der relativen Stabilität und Entwicklung (1930-1973)

Die Unruhen der Jahre 1928 bis 1930 hatten erneut unter Beweis gestellt, dass politische

Herrschaft in Afghanistan einzig auf der Grundlage der Beteiligung oder zumindest mit der

Zustimmung der nach wie vor mächtigen traditionellen Eliten errichtet werden konnte

(Schetter 2004: 79). Die Politik Nader Schahs vollzog infolgedessen einen deutlichen Wandel

gegenüber der Modernisierungsphase unter König Amanullah: Gestützt auf die

paschtunischen Stämme und seine Sippe innerhalb der Durrani, ließ er seine Herrschaft durch

eine Loya jirga legitimieren und kam so von Anfang an traditionellen Rechtsvorstellungen

nach. Der neue König erhob den höchsten Stammesrat sogleich zum obersten Staatsorgan,

verrechtlichte also die faktischen Verhältnisse. Der Ausbau staatlicher Strukturen wurde unter

seiner Regierung zwar fortgesetzt, erhielt jedoch einen moderateren bzw. konservativen

Tenor, indem sich die Nationalversammlung in eine königliche Beraterkammer wandelte und

dem (sunnitischen) Islam nach der Verfassung aus dem Jahr 1931 wieder die Rolle einer

Staatsreligion zukam. Die Scharia erlangte allgemeine, landesweite Geltung und ein

Gremium Religionsgelehrter befand über die Gültigkeit der Gesetzgebung. Lokale und

religiöse Autoritäten wurden in ihrer Machtstellung nicht mehr behindert und der Aufbau

eines staatlichen Schulwesens sowie erste Infrastrukturbaumaßnahmen wurden in Angriff

genommen (Schlagintweit 2006: 34). 1933 fiel Nader Schah einem Attentat zum Opfer,

obwohl seine teilweise repressive, insgesamt doch gemäßigte Reformpolitik eine Phase der

verhältnismäßigen Stabilität einleitete. Die lange Herrschaft des Thronfolgers, seines Sohnes

Zaher Schah (1933-1973) begann mit der Regierung von Verwandten im Amt des

Premierministers: „Während Haschem Kahn die autoritäre Politik Nader Schahs weiterführte,

leitete Schah Mahmud [ab 1946] zaghafte Schritte einer Demokratisierung ein.“ (Schetter

2004: 80f.). Im Jahre 1953 folgte Schah Mahmud, der Vetter des Königs, Mohammad Daud

Kahn ins Amt des Regierungschefs, der eine für jene Jahrzehnte typische autoritäre

Entwicklungspolitik betrieb und „in eine Reihe mit Nasser, Nehru oder Sokarno gestellt

werden“ kann (Schetter 2004: 81). Ab 1963 nahm Zaher Schah die Regierungsgeschäfte

selbst in die Hand. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes indes machte seit den 1930er

Jahren nur langsam Fortschritte:

„Die Berichte in den [staatlichen] Jahrbüchern erwähnen Aufforstungsmaßnahmen, die Anlage von Gärten, Zuchtexperimente mit im In- und Ausland erworbenen Bäumen, Pflanzen und Tieren, […] die Einführung landwirtschaftlicher Kleinmaschinen, die Anwerbung ausländischer Experten, […] Versuchsfarmen, […] Versuchsfeldern und Tierzuchtstationen,

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[…] und die Etablierung neuer Behörden (Forstbehörde, Landvermessungsämter)“ (Grevemeyer 1990: 93f.).

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Allein diese Maßnahmen zeigen, auf welch grundlegender Ebene die Entwicklung des Landes

während der 1930er und 1940er Jahre angegangen werden musste. Zumeist waren diese

Projekte noch privat finanziert, unter anderem mit Hilfe der 1933 neu errichteten

Nationalbank, und kamen während des Zweiten Weltkriegs wieder zum Erliegen.

Ausländische Wirtschaftshilfe floss in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorerst spärlich.

Lediglich die Großmächte der Zwischenkriegszeit engagierten sich, begrenzt auf den

sozioökonomischen Bereich. Während des Zweiten Weltkrieges fand eine Annäherung

Afghanistans an die Vereinigten Staaten von Amerika statt, die jedoch bald nach dem Krieg

durch eine umso größere Intensivierung der sowjetisch-afghanischen Beziehungen überdeckt

wurden. So „trat die UdSSR zunehmend als Freund und Helfer auf.“ (Berger/Kläy/Stahel

2002: 4f.). Das afghanische Militär geriet im Rahmen der folgenden Aufbauhilfe aus Moskau

zunehmend unter starken sowjetischen Einfluss. Im Allgemeinen gelang Kabul im Kontext

des Kalten Krieges jedoch „das Kunststück, bei strikter Neutralität Entwicklungshilfe aus der

Sowjetunion und aus den USA zu beziehen“ (Schetter 2004: 85f.).

In der Region verschärfte sich in den Jahren nach 1947 der politische Konflikt mit dem

(nunmehr) jungen Nachbarland Pakistan um die Zugehörigkeit der Siedlungsgebiete der

Paschtunen, welche bis heute ungefähr zur Hälfte auf ehemals britischem Kolonialgebiet

liegen: 1893 wurde jenes „Paschtunistan“ durch den Durand-Vertrag, geschlossen durch

Abdurrahman, von der afghanischen Südostgrenze durchschnitten. Die Modernisierung des

Staates, welche sich vordergründig in einer Modernisierung und Liberalisierung des

Rechtswesens und

-systems äußerte, nahm mit den späten 1940er Jahren ihren Anfang. Dies bewirkte auch einen

Wandel in der Herrschaftslegitimation, welche nun nicht mehr allein von Macht und

göttlichem Willen, sondern durchaus auch vom öffentlichen Interesse hergeleitet werden

sollte: „In Wirklichkeit allerdings war die Berufung auf den Willen des Volkes nur solange

ein taugliches Instrument staatlicher Politik, als das ‚Volk’ sich nicht auf seinen eigenen

Willen berief.“ (Grevemeyer 1990: 159). So bezeichnend dies allein für die Problemlage des

afghanischen Staats bereits ist, muss dem doch angefügt werden, dass, sobald „sich

regierungskritische Kräfte zu Wort meldeten, […] an die Stelle allgemeiner

Verfassungsprinzipien der autoritäre Wille des Hofes“ trat (Grevemeyer 1990: 159f.).

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Dessen ungeachtet begann mit dem (erzwungenen) Rücktritt Mohammad Daud Khans im

Jahre 1963 das so genannte „Goldene Zeitalter“ Afghanistans. Großprojekte zur

wirtschaftlichen und ländlichen Entwicklung, vom Ausland kofinanziert, gaben Anlass zur

Hoffnung. Auf Betreiben König Zaher Schahs war es zur Ausarbeitung einer dritten

Verfassung gekommen, welche 1964 durch eine Loya jirga angenommen wurde. Mit dem

Königtum im Zentrum, wurde nun ein parlamentarisches System mit zwei Kammern

eingesetzt, zu welchen 1965 und 1969 landesweite Wahlen stattfanden. Nach diesen Wahlen

waren die Abgeordnetenränge – entsprechend der afghanischen Sozialstruktur – mit lokalen

Größen und Stammesführern besetzt, was dauerhaften Klientelismus der politischen Elite in

Bezug auf „ihre“ Stämme zur Folge hatte.

Als Fehler erwies sich in diesem Kontext, dass der König ein Parteiengesetz, welches der

Verfassung angegliedert war, nicht ratifizierte, wodurch alle neueren politischen

Gruppierungen faktisch in die Illegalität und damit in die Opposition gezwungen wurden.

Daraus entwickelte sich ein grundlegender Konflikt zwischen der traditionellen Machtelite

(wenigen einflussreichen Familien) und der neuen städtischen Bildungselite (z.B.

Hochschulabsolventen), die seit den 1960er Jahren entstand. Die Frustration, nicht am

politischen Prozess teilhaben zu können, schuf (modernisierungstheoretisch betrachtet) ein

Milieu systemfeindlicher Kräfte: Islamisten auf der rechten und kommunistische

Gruppierungen auf der linken Seite des Spektrums. Zwischen diesen zumeist auf Kabul

beschränkten politisierten Kreisen kam es 1965 zu ersten gewaltsamen Zusammenstößen,

auch mit und gegen die Polizeikräfte (Schetter 2004: 89). So ging das „Goldene Zeitalter“ mit

nicht wenigen dunklen Vorzeichen zu Ende: Das „dilettantische Krisenmanagement im

Umgang mit einer jahrelangen Dürre (1969-1971) [schädigte] nachhaltig das Ansehen der

Staatsführung.“ (Schlagintweit 2006: 36).

2.3 Die Phase des Um- und Zusammenbruchs bis zur Neuordnung (1973-2001)

Am 17. Juli 1973 putschte der ehemalige Premierminister Mohammad Daud Khan mit Hilfe

des gemäßigten Flügels der afghanischen Kommunisten und des durch die Sowjetunion

vereinnahmten Militärs gegen die Monarchie seines eigenen Klans, stürzte diese und

errichtete die Republik, wobei Daud selbst die Mehrzahl der Kabinettsposten einnahm. Ein

harter Politikwechsel hin zu grundlegenden Sozialreformen war die Folge und wurde

vorläufig durch eine Loya jirga sanktioniert. In den folgenden Jahren zeigte sich jedoch die

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Basis und die Richtung der neuen Machthaber: Einzig auf das Militär gestützt, setzten sie „der

traditionellen und islamistischen Elite […] mit Verhaftungs- und Verfolgungswellen zu.“

(Schetter 2004: 93). Der Versuch, über eine Landreform und eine neue Bildungspolitik den

(sozialistischen) Fortschritt in die Dörfer zu bringen, trug dem Regime erbitterten Widerstand

seitens der Landbevölkerung ein. Im Jahre 1974 wurde der führende Kopf der islamistischen

Gruppierungen in Afghanistan, Mohammad Niyazi, zusammen mit mehreren Hundert

Gefolgsleuten inhaftiert: „Dies bildete für die Islamisten den Beginn des Afghanistankriegs.“

(Schetter 2004: 93). Fortan formierte sich im pakistanischen Grenzgebiet der Widerstand,

welcher unter zahllosen (teils politischen) Flüchtlingen großen Zulauf fand. Der faktische

Alleinherrscher Daud entfremdete sich durch seine repressive Regierung alsbald von seiner

gemäßigt kommunistischen Anhängerschaft und hatte sich auch alle anderen Gruppen im

Lande zum Feind gemacht. Außenpolitisch schwenkte er in diesem Kontext bald auf einen

pro-westlichen Kurs ein und entfernte sich von der Sowjetunion (Schlagintweit 2006: 36).

1978 beendete ein Putsch der eigenen Partei, die so genannte „April-Revolution“, seine

Herrschaft und auch sein Leben abrupt.

Radikale kommunistische Modernisierer unter Mohammad Taraki übernahmen die Macht im

Land, das nun zu einer „Demokratischen Republik“ wurde. Drastische Maßnahmen, das Land

neu zu verteilen – um den afghanischen „Feudalismus“ zu brechen – und die Bevölkerung zu

alphabetisieren, wurden in Angriff genommen und zugleich alle potenziellen Gegner mit

massiver Repression überzogen, so dass sich die Gefängnisse schnell füllten und

Zehntausende den Tod fanden. Da sich die Bevölkerung teils gewaltsamer Unterdrückung und

Feindseligkeit und teils aggressiver Umerziehungsmaßnahmen seitens der Regierenden

gegenübersah, verlor die Obrigkeit rasch jegliche Unterstützung. Ab 1978/79 brachen

allerorts bewaffnete Aufstände aus; ganze Einheiten des Militärs wechselten die Seiten und

Kabul verlor schnell die Kontrolle über große Teile des Landes. Die Sowjetunion beschäftigte

unterdessen die komplizierte Frage, ob sie das junge Mitglied „ihres Lagers“ (das auch

Vertragspartner war) nicht unterstützen müsste. Nach längeren und überaus komplexen

Meinungs- (Moskau) und Führungsstreitigkeiten (Kabul) fasste die sowjetische Regierung

schließlich Ende 1979 den Entschluss zur Invasion (Schetter 2004: 98ff.).

Die Ereignisse der kommenden Jahrzehnte werden im Folgenden lediglich anhand ihrer

politischen Bedeutung abgebildet, da sich zwar zwischen 1980 und 2001 mehrere komplexe

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Umbrüche in der politischen Struktur Afghanistans ergeben, diese jedoch in den Augen der

Autoren vielmehr nur Folgen, nicht Ursachen des Versagens staatlicher Gewalt darstellen.

Der groß angelegte Einmarsch sowjetischer Streitkräfte ab Weihnachten 1979 traf auf breiten

Widerstand aus der afghanischen Bevölkerung. Dieser Widerstand erfolgte bereits vor

Bildung der mujaheddin („Kämpfer des Heiligen Kriegs“) stets in kleinen Gruppen und in

lokalem Maßstab im Gebirge, weshalb die großräumige sowjetische Taktik oft ins Leere lief

(Schetter 2004: 102). Obwohl die wichtigsten Zentren des Landes schnell erobert wurden,

brachen die Aufstände und Überfälle im Hinterland der Front nicht ab. Zeitweise gerieten

Dschalalabad und Herat unter die Kontrolle des Widerstandes. Während das ganze Land eher

schlecht als recht besetzt wurde, formierten sich im pakistanisch-afghanischen Grenzland die

mujaheddin: „Dort errichteten moslemische Widerstandsgruppen unterschiedlicher

Ausrichtung ihre Versorgungsbasen, unterstützt und teilweise finanziert durch den

pakistanischen Geheimdienst“ (Chiari 2006b: 55).

Ende 1980 wandelte sich der „Freiheitskrieg“ infolge der zunehmenden Unterstützung des

Widerstandes durch Pakistan und vor allem – jedoch nur finanziell – der USA zu einem

Stellvertreterkrieg der Blöcke. Zeitgleich reagierten die sowjetischen Streitkräfte auf die

Anforderungen der lokalen Situation und gingen zu einer defensiven

Guerillabekämpfungstaktik über. Die Folgen dieser Auseinandersetzung waren verheerend:

Der Großteil des Landes wurden entvölkert und völlig verwüstet; ca. 1,6 Millionen Afghanen

kamen ums Leben und allein jeder zweite Paschtune befand sich Mitte der 1980er Jahre auf

der Flucht, zumeist nach Pakistan (Schetter 2004: 104). Wie weiter unten noch erläutert wird,

hatte die Fluchterfahrung eine Entwurzelung der größtenteils traditionell geprägten

Paschtunen zur Folge, was sie unter anderem in die Arme der bewaffneten, islamistischen

Widerstandsgruppen trieb. Die islamistische Ausrichtung der Kämpfer sollte sich gerade

angesichts einer landesfremden, traditionsfeindlichen Besatzungsmacht nur noch vertiefen

und intensivieren, obwohl die nun so genannten mujaheddin meist keine weiteren

gemeinsamen Ziele verbanden, sie mitunter auch gegeneinander kämpften. Die Politik der

Widerstandskämpfer war von Anfang an vergleichbar mit der wiederkehrenden Tradition der

lokalen politischen Verbände (Stämme etc.), indem sie „sowohl mit afghanischen

Kommunisten in Kabul [verhandelten] als auch mit sowjetischen Truppenführern, wenn sie

sich hiervon Vorteile versprachen.“ (Chiari 2006b: 55). Die politische Fragmentierung des

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Landes näherte sich ihrem Höhepunkt, während die kommunistische Regierungsgewalt

Kabuls – zusammen mit der Schlagkraft ihres Heeres – rapide verfiel.

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Seit 1985 strebte Moskau, unter Michail Gorbatschow, in Anbetracht der wenig Erfolg

versprechenden Lage des Afghanistankrieges nach einer raschen Lösung des Konflikts, was

der sowjetischen Armee alsbald zu gelingen schien. Mit verstärkten Waffenlieferungen

seitens der USA wendete sich ab 1987 das Blatt und die Invasoren gerieten endgültig in die

Defensive: 1988/89 wurde der Abzug beschlossen und durchgeführt. Während die

Zentralregierung ihre bloße Existenz in diesen Jahren notdürftig behaupten konnte,

beherrschten lokale Milizen und Widerstandsführer (warlords) viele Teile des Landes quasi-

autonom: Unabhängige parastaatliche Strukturen bildeten sich in der Breite des Landes

(Schetter 2004: 114ff.) und rivalisierten miteinander um Ressourcen und Macht. Als die

Kabuler Zentralregierung den Milizen keinen Nutzen mehr einbringen konnte, wurde sie 1992

kurzerhand durch verschiedene Partikulargruppen gestürzt. Der Verlust der letzten

Einheitsklammer des afghanischen Staates bedingte die völlige Desintegration des Landes

und die faktische Herrschaft der warlords in Kleinstaaten, wobei der Süden eher „herrenlos“

verblieb.

Während sich einige mujaheddin-Gruppierungen an der Errichtung einer neuen

Einheitsregierung versuchten, drangen ab Spätsommer 1994 die ersten Taliban („Studenten“)

von der pakistanischen Grenze in den Süden Afghanistans ein. Diese radikal-islamischen

Milizen waren seit Beginn der 1990er Jahre gezielt durch Pakistan, Saudi-Arabien und

amerikanische Ölkonzerne im Hinblick auf eigene Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen

aufgebaut worden (Stahel/Geller 2006: 74ff.) und rekrutierten ihre Kämpfer vor allem im

Umfeld pakistanischer Koranschulen. 1996 nahmen die Taliban Kabul ein und konnten den

Großteil des Landes unter ihre Kontrolle bringen, auch, indem sie sich teilweise mit den

lokalen Potentaten arrangierten. Die in Gegenwart der neuen Kraft massiv bedrohten

mujaheddin gruppierten sich zur späteren „Nordallianz“ und kontrollierten bis zum Ende des

Jahrzehnts weiterhin den äußersten Norden. Im südlichen, weitaus größeren Teil des Landes

errichteten die „Koranschüler“ unterdessen ein Regime, welches bald sprichwörtlich für die

Herrschaftsweise islamischer Fundamentalisten stehen sollte. Im Unterschied zur Praxis der

Linksdiktatur setzten sich die Taliban nicht in einen direkten Gegensatz zu den regionalen und

traditionellen Eliten, sondern griffen größtenteils auf diese zurück, um die eigene Stellung im

Land zu sichern. So rekrutierten die neuen Herren zum einen Teile ihrer „Intelligenz“ aus den

Reihen der mujaheddin oder sogar der kommunistischen Partei (Schetter 2004: 131) und

nährten zum anderen die Hoffnungen der traditionellen Stammeseliten, wieder in

Schlüsselpositionen des Staates aufzurücken. Die verbleibenden mujaheddin wurden

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außerdem oft in die Organisationsstruktur der fundamentalistischen Milizen eingebunden. Da

diese Maßnahmen einen Rückgang der Kriminalität, eine neuerliche (rudimentäre) überlokale

Machtorganisation und einen augenscheinlichen Gewinn an öffentlicher Sicherheit zur Folge

hatten (Schetter 2004: 131), schien die Herrschaft der Taliban eine seit Jahrzehnten erwartete

Verbesserung der Zustände zu versprechen.

Die Unterstützung, welche den Fundamentalisten seitens der Bevölkerung entgegengebracht

wurde, lässt sich, außer durch die Erwartungen der traditionellen Stammeseliten, ferner

anhand der Sittengesetzgebung der neuen Herren erahnen: Faktisch orientierten sich die

Sittengesetze, welche die Islamisten beim Aufbau ihres „Gottesstaates“ in Anlehnung an die

Scharia erließen, deutlich an den traditionellen Rechtsvorstellungen der

Bevölkerungsmehrheit der Paschtunen. So entsprach die Art und Weise der nahezu

vollständigen Entrechtung der Frau, um ein Beispiel zu nennen, eher einer strengen

Interpretation des paschtunwali denn einer der Scharia (Schetter 2004: 132). Darüber hinaus

lässt eine besondere Härte der Taliban gegenüber nicht-paschtunischen Bevölkerungsgruppen

eine – zumindest teilweise – nähere Verbundenheit der beiden Gruppen annehmen (Schetter

2004: 133). Hinzugefügt werden muss dem jedoch, dass die althergebrachte Kluft zwischen

Stadt und Land unter der fundamentalistischen Herrschaft bei der Sanktion unerwünschten

Verhaltens eine weitere Vertiefung insofern erfuhr, als dass die Sittenwächter besonders

Städter meist pauschal verdächtigten. Hier kulminierten Aversionen gegen jede Form der

„Verwestlichung“ und Misstrauen gegenüber urbaner Kultur und Mentalität in größerem

Terror (Schetter 2004: 133). Das weitgehende Fehlen von Erscheinungen moderner

„Staatlichkeit“ unter dem Regime der Taliban mag bei näherer Betrachtung nicht verwundern:

So war ihr Anliegen seit Beginn der militärischen Operationen in Afghanistan erstens die

Übernahme der Kontrolle des Landes, um zweitens einen Staat „nach dem Vorbild der

islamischen Frühzeit“ (Schetter 2004: 131) zu errichten. Obgleich die ideologische Deckung

hierbei strittig sein mag, suchten die Fundamentalisten dieses Ziel vordergründig durch

Bündnisse mit und Unterordnung der lokalen Milizen zu erreichen.

Über parastaatliche Strukturen auf lokaler Ebene und mit abwechselnder Intensität, welche

auf der Grundlage eigentlich partikularer Gewaltakteure locker an eine Zentrale angebunden

waren, kam das Regime der „Koranschüler“ demnach zu keiner Zeit hinaus. Dieses Fehlen

staatlicher Strukturen allerdings war einer der maßgeblichen Umstände, unter denen sich der

internationale islamistische Terrorismus in Form des Netzwerks Al-Qaida in Afghanistan

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festsetzen konnte. Auch war der Aufbau der Taliban-Milizen selbst bereits unter starker

finanzieller Unterstützung islamistischer Sympathisantenkreise vonstatten gegangen. Seit

1986 – damals noch unter den Vorzeichen des mujaheddin-Widerstandes – war der Araber

Osama bin Laden im Land tätig. Er geriet auch bekanntermaßen in den Fokus der

amerikanischen Kriegsanstrengungen im War on Terror ab dem Jahre 2001.

2.4 Zusammenfassung der historisch-politischen Prozessfaktoren

In der Gesamtschau auf die neuere afghanische Geschichte lassen sich einige Variablen

festhalten, die prägend für die politische Tradition und den Staatsbegriff der Bevölkerung und

damit auch teilweise ursächlich für das Versagen des afghanischen Staates gewesen sein

müssen. Die politische Fragmentierung der Macht in verschiedene traditionelle Eliten bildet

die grundlegende Last, unter welcher der Aufbau staatlicher Herrschaft seit Anbeginn der

eigentlichen afghanischen Geschichte zu leiden hatte. Zentralisierte Staatsgewalt an der Spitze

kann demzufolge stets nur mit der Zustimmung und Trägerschaft dieser lokalen Eliten und

Machthaber geschehen, was durch die häufige (ex post) Einberufung einer Loya jirga belegt

wird.

Die Konsolidierung zentralstaatlicher Souveränität gelang letztlich nur mit Hilfe der fremden

Kolonialmächte, welche den afghanischen Staat durch ihre Unterstützung von der

ursprünglichen Machtgrundlage der Stämme unabhängiger machen wollten. Durch diesen

Einschnitt in der Phase des Kolonialismus wurde die „Tradition“ gebrochen, nach der sich

Machtwechsel häufig und gewaltsam vollziehen, was der Durrani-Dynastie die dauerhafte

Etablierung ermöglichte. In jener jüngeren Phase des relativ stabilen Königtums (1880-1973)

haben staatliche Reformmaßnahmen mehrmals negativ prägenden Einfluss auf die Mentalität

erlangt, wenn etwa Staatstätigkeit als unrechtmäßiger Eingriff verstanden wurde (Steuern,

Wehrpflicht). Andere Maßnahmen sind teilweise fehlerhaft oder unvollständig umgesetzt

worden, beispielsweise bei der Frage der Einbindung neu entstandener Gruppierungen in den

politischen Prozess.

Bei allem Bemühen jedoch zeigt sich wiederholt der negative Einfluss der „vormodernen“

Sozialstruktur der Gesellschaft beispielsweise darin, dass auch im sich modernisierenden

Gemeinwesen Stammesführer das politische System zum Betreiben partikularistischer

Klientelpolitik gebrauchen. Der wiederholte breite Widerstand der Bevölkerung gegen

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Reformanstrengungen der Regierung muss in diesem kulturellen und sozialen Kontext

gesehen werden. Bemerkenswert dabei ist, dass jener Gegendruck ausblieb, wenn

Modernisierung im Einklang mit kulturellen Werten vermittelt wurde.

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3. Strukturfaktoren –

Analyse der landestypischen, sozioökonomischen und kulturellen Gegebenheiten

Die Probleme staatlichen Versagens in Afghanistan sind nicht nur in bestimmten historisch-

politisch bedingten Prozessen zu suchen, sondern auch in strukturellen Gegebenheiten, die

seit Siedlungsbeginn bis heute starken Einfluss auf die gesellschaftliche, politische Mentalität

nehmen.

3.1 Landesspezifische Faktoren und Infrastruktur

Als am stärksten prägender Faktor ist zu nennen, dass der sich weitläufig durch das Land

ziehende Hindukusch große Gebiete Afghanistans unzugänglich macht. Besonders in den

harten Wintermonaten sind einige Bergvölker nahezu isoliert. Diese „Gebirgigkeit des Landes

war für die herrschaftliche Durchdringung stets ein wesentliches Hindernis“ (Schetter 2004:

20). Durch die klimatischen und geographischen Gegebenheiten war damit dauerhafte

Ansiedlung hauptsächlich in den rar gestreuten Oasen möglich, die sich zu den Großstädten

Herat, Kandahar, Kabul und weiteren entwickelten (Schetter 2004: 19). Diese strukturell

vorgegebene Problematik des Herrschaftszugriffes wird durch die mangelhaft ausgebaute

Infrastruktur verstärkt: Lediglich 24 Kilometer Schienennetz konnten verlegt werden. Das

Straßennetz, das sich in desolatem Zustand befindet, umfasst nur 50 Meter Straße pro

Quadratkilometer des Territoriums. Diese Daten in Verbindung mit den Klimaverhältnissen

und dem gänzlich fehlenden Zugang zu Elektrizität und Wasserversorgung machen den

Zugriff auf das Staatsterritorium im westlichen Sinne geradezu unmöglich. Die Errichtung

eines modernen politischen Systems ist unter diesen Voraussetzungen erschwert: So kann

beispielsweise die Vorbereitung von Wahlen und Parteibildung bzw. Parteiwerbung nach dem

Konzept der „afghanische[n] Eigenverantwortung“ (Wilke 2004: 13) ohne ein bestehendes

weit reichendes Telekommunikationsnetz kaum stattfinden. Logistischer Zugang zum

Staatsvolk ist kaum möglich, wenn ganze Bevölkerungsgruppen monatelang ohne Verkehrs-

und Medienanbindung verbleiben müssen. Die Erschwernis demokratische Elemente wie

Wahlen zu erfüllen wird zum entscheidenden Faktor, wenn es um die Errichtung einer echten

Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft geht, die für eine Demokratie notwendig sind.

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3.2 Sozioökonomische Faktoren

Die durch das Klima erschwerte Landwirtschaft, die sich auf den Anbau von Feldfrüchten und

Viehzucht beschränkt, prägte ein bestimmtes Wirtschaftssystem und daraus resultierende

soziale Strukturen. Letztere sind eng mit dem Stammeswesen verbunden, sollen im Folgenden

aber besonders auf ihre wirtschaftlichen Ursachen zurückgeführt werden, um dann die

Auswirkungen auf den Staatsaufbau zu analysieren. Die geschilderten Klimaverhältnisse und

die Tatsache, dass drei Viertel des Staatsgebietes landwirtschaftlich nicht nutzbar sind,

brachte vor allem bei der Stammesgruppe der Paschtunen eine nomadische Lebensweise im

Hochland und den Steppen hervor.1 Um trotz der schwankenden Niederschläge ganzjährlich

Erträge erhalten zu können, müssen die Nomaden eine „jährliche Wanderung aus

Zentralafghanistan zum Indus“ (Schetter 2004: 83) über Pakistan zur Weidung des Viehs

durchführen. Dies erzeugte eine siedlungsbedingte „Aufweichung“ der ostafghanischen

Grenzen zu Pakistan, weshalb das eigentliche Siedlungsgebiet der Paschtunen bis heute weit

in das Nachbarland hineinreicht (so genannte „Paschtunistan-Frage“ bei Schetter 2004: 81ff.)

und starke Grenzstreitigkeiten bewirkte.

Im größeren wirtschaftlichen Handlungsrahmen in den Oasenstädten entstand schon früh eine

hohe urbane Handelskultur, die sich aktuell durch einen Industrialisierungsboom verstärkt,

wodurch allerdings eine gravierende Kluft zwischen Stadt und Land bis heute die Gesellschaft

prägt (Schetter 2004: 143). Traditionell ist der Landbesitz auf Großgrundbesitzer verteilt, die

zugleich Stammesführer sind und damit als faktische Herrscher über ein Gebiet und seine

Bevölkerung angesehen werden können, da 67 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft

tätig sind. Das war nicht immer so: Ein großer Fehler im frühen Staatsaufbau Afghanistans

war das Einsetzen von Mittelsmännern. Unter Habibullah I. erfolgte eine „Desintegration der

zentralstaatlichen Herrschaft“ (Grevemeyer 1990: 57), da seine Regierung „Angehörige[...]

der ländlichen Oberschicht als Mittelsmänner“ (Grevemeyer 1990: 58), meist Stammesführer,

gegen die starken Provinzgouverneure eingesetzt hatte. Durch die mangelnde dauerhafte

Anbindung dieser Führungspersönlichkeiten an den Staat konnten sie politische und

wirtschaftliche Macht akkumulieren, „eine der wesentlichsten Veränderungen innerhalb der

‚traditionalen’ Gesellschaft Afghanistans“ (Grevemeyer 1990: 59), denn der Staat konnte

selbstverschuldet nur „durch die Vermittlung der dörflichen oder tribalen Oberschicht auf die

Bauernschaft Einfluß nehmen“ (Grevemeyer 1990: 59). Dies hatte langfristig mehrere

1 Insgesamt bis zu einem Drittel der Bevölkerung sind Nomaden (Grevemeyer 1990: 55).

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Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft: „Staat“ bezog sich

auf das Politische, begrenzt auf Kabul, „Gesellschaft“ und „Wirtschaft“ bezogen sich auf den

ländlichen Bereich. Wichtige wohlfahrtsstaatliche Elemente wie Steuereintreibung, aber auch

die Truppenaushebung, waren damit Sache lokaler Patrone. Diese Zuordnung erklärt, dass

heute noch der Aufbau einer staatlich gelenkten Friedenswirtschaft und die Überwindung der

Milizen durch eine afghanische Armee als schier unüberwindbare Aufgaben erscheinen.

Auch der bürokratische Aufbau war von wirtschaftlichen Interessen überlagert worden:

Regionale Bürokraten, meist in Person der Stammesführer, „richteten ihre Loyalität nicht

abstrakt auf die Bürokratie, sondern begriffen ihr Amt in ganz traditioneller Manier als

persönliches ‚Lehen‘“ (Grevemeyer 1990: 79), ähnlich der Pfründenpolitik im europäischen

Mittelalter und früherer Neuzeit. Die enge Verknüpfung von Wirtschaft und Gesellschaft trat

im Speziellen 1979 durch die gescheiterte sozialistische Landreform zu Tage, die unter

Ignorieren der traditionellen Lebensweisen die „sozialen Sicherungssysteme [...]“

(Grevemeyer 1990: 127) gefährdete, da die ländliche Gesellschaft entgegen dem

marxistischen Modell nicht nur feudal, sondern auch (interessens-) ausgeglichen war. Diese

Faktoren wirken bei den aktuellen Demilitarisierungsversuchen hemmend, da mit dem

Bürgerkrieg die altbewährte Kriegskultur erfolgreicher kleiner Gruppen im Kampf

(Grevemeyer 1990: 129) neue wirtschaftliche Trägerschichten hervorgebracht hat in Form

von bewaffneten, stammesunabhängigen Milizführern.

Resultat der Geschehnisse von 1979 war auch ein neuer Wirtschaftszweig: der Drogenanbau.

Diese Schattenwirtschaft nahm besonders nach dem Sturz der Taliban 2001 sprunghaft zu, so

dass Afghanistan im Jahre 2006 ganze 92 Prozent der gesamten Weltproduktion an Opium

stellte. Jene enge Verflechtung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Stamm zeigte sich

nach 2001, da die „Sicherheit der einzelnen Stämme [davon abhing], inwieweit sich deren

Führer als fähig erwiesen, ökonomisches Kapital in politisches umzuwandeln“ (Lanik 2006:

151). Damit kam es zu einer Fortführung der traditionellen Verbindung von wirtschaftlicher

und militärischer Stärke (durch lokale Milizen). Die so genannten warlords stiegen auf,

setzten sich zum Teil in den Städten fest und kontrollierten einzelne Landesteile (Lanik 2006:

150).

Zusammenfassend ist folglich zu sagen, dass vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts eine

Mediatisierung der ländlichen Bevölkerung erfolgte. Staat und Wirtschaft wurden strikt

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getrennt, ebenso Stadt und Land. Stammesführer erhielten politische und wirtschaftliche

Schlüsselpositionen. Die mehrheitlich nomadisch lebenden Paschtunen ohne Landbesitz

wurden grenzüberschreitend wirtschaftlich tätig, akzeptierten mangels Feudalherren keine

Zentralgewalt, die ihnen ihrerseits keinen Schutz oder Wohlfahrt bot, und haben bis heute

keinen Anreiz, sich einem Souverän unterzuordnen. Verarmungstendenzen durch den Krieg

der 1990er Jahre verstärkten die Abhängigkeit der Bauern besonders im Mohnanbau; hinzu

kommt die Abhängigkeit von ausländischer Entwicklungshilfe. Diese kurz- und langfristigen

Strukturursachen erschweren den Aufbau einer stabilen, vom Zentralstaat mitkontrollierten

Wirtschaft und die Trennung von Wirtschaft und lokaler politischer und militärischer Gewalt.

3.3 Ethnisch-kulturelle Faktoren

Im Folgenden sollen hauptsächlich die Paschtunen und ihre Stammestraditionen behandelt

werden, da sie das eigentliche „staatstragende“ Volk waren und sind, welches zur

Legitimierung jeder Herrschaft zumindest in Sachen Vertrauensbekundung maßgeblich

gewesen ist. Hinzu kommen die nichtwirtschaftlichen Aspekte des gesellschaftlichen Aufbaus

und die aktuellen politischen Leitideen, zu denen auch der „Neofundamentalismus“ (Wilke

2004: 11) der Taliban gehört.

Durch vier wesentliche Stammesgruppierungen verschiedenster Sprachfamilien ist

Afghanistan seit jeher Vielvölkerstaat. Die sunnitischen Paschtunen machen 42 Prozent der

Bevölkerung aus. Aus dem nördlichen Tadschikistan stammende sunnitische Tadschiken

stellen 27 Prozent. Sunnitische Usbeken und schiitische Hazara machen jeweils 9 Prozent aus.

Die Paschtunen berufen sich auf einen Stammesvater (Schetter 2006b: 139), einen

Stammeskodex, paschtunwali, und die lose Klammer gesellschaftlicher Organisation, der

Ratsversammlung jirga. Der Ehrenkodex paschtunwali definiert eine stark egalitäre

Gesellschaft, die Hierarchien verbietet und politischen Konsens fordert. In einem negativen,

feindseligen Weltbild (Schetter 2004: 25f.), bei dem jedes männliche Stammesmitglied seine

Ehre und seinen Besitz durch andere Männer gefährdet sieht, ist die Wahrung der Ehre

(Nang/Namus; hierzu: Orywal 2006: 113) über den Schutz des materiellen Besitzes, auch über

die Schamhaftigkeit der weiblichen Familienmitglieder, wesentlicher Bestandteil der Kultur.

Die Verteidigung dieser Ehre ist ermöglicht über Tura (Orywal 2006: 114), das Schwert, also

über die physische Gewalt der Blutrache. Jener „interkulturelle [...] Konsens gewalttätiger

Ideale“ (Orywal 2006: 116) im muslimischen Raum erschwert Konzepte der internationalen

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Gemeinschaft zur Entwaffnung des Einzelnen, Durchsetzung der Menschenrechte und

demokratischer Prinzipien, die dem geltenden Ehrenkodex entgegenstehen.

Angesichts der Tradition des paschtunwali erscheint es als besonders schwerwiegend, dass

ein Großteil der Paschtunen, bis zu 85 Prozent, infolge einer großen Fluchtbewegung nach

Pakistan nach dem Ende der Herrschaft Zaher Schahs 1973 von Herkunft und Stammeskultur

entwurzelt wurden. Die folgenden Generationen verbrachten ihre Jugend nur in

Flüchtlingslagern, was bei ihrer Mehrzahl eine traumatische Prägung und Identitätskrise zur

Folge gehabt haben dürfte. Sowohl unter den in Afghanistan verbliebenen Paschtunen als

auch unter den Geflohenen hatte die Entwurzelung eine Anfälligkeit für radikal-islamistisches

Gedankengut zur Folge. Religiöse Führer brachten neue Inhalte und füllten die Lücke der

fehlenden Stammesführer (Schetter 2004: 105). Besonders erfolgreich war die

„Netzwerkideologie“ (Wilke 2004: 12) der neofundamentalistischen Taliban, die eine fiktive

muslimische Glaubensgemeinschaft predigen und alte Feindbilder fördern. Der über den

Islam hinausgehende Frauenhass und gewalttätige Parolen sind Ausdruck „psychisch und

physisch kriegsversehrter Koranautodidakten“ (Wilke 2004: 12), die von der neuerlichen

Demütigung durch die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland gefördert wurden.

Konzepte wie das der Coalition against Terror sind allein deshalb zum Scheitern verurteilt,

weil die Taliban Teil einer Gesellschaft sind und sich die Frage einer Eliminierung einer

ganzen „politische[n] Bewegung“ (Wilke 2004: 12) stellt. Festzuhalten ist sicherlich, dass das

weit zurückreichende feindselige Weltbild und der Stammeskodex als solcher eine mangelnde

Bereitschaft verursachen, Souveränitätsrechte abzugeben und demokratische, westliche Werte

anzunehmen. Durch die Identitätskrise fehlt bei den Paschtunen ein Element, das staatliche

Gewalt legitimieren würde, fast gänzlich, was sich in der aktuellen Regierung widerspiegelt,

da nur Präsident Karzai die Paschtunen in der Regierung repräsentiert.

3.4 Religiöse Faktoren

Der Islam ist das „umfassende [...] Glaubens-, Denk- und Rechtssystem“ (Rzehak 2006: 126)

in Afghanistan. Weil „die islamische Gemeinschaft ohnehin wenig Unterschiede zwischen

Rassen, Sprachen und Nationalitäten macht“ (Rzehak 2006: 128), hatte der Islam seit der erst

im 10. Jahrhundert überall durchgreifenden Islamisierung staatsrechtlich eine legitimierende

Funktion inne und die meisten Herrscher beriefen sich, wie auch Präsident Hamid Karzai, seit

jeher auf ihn. Tatsächlich stellt die islamische Religion das einzige einigende Band der

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Stämme dar, weshalb verwestlichende und säkularisierende Modernisierungspolitik wie in

den späten 1970er Jahren schnell auf zumeist paschtunischen Widerstand traf (Schetter 2004:

96ff.). Staatliche Strukturen, die sich auf das Prinzip einer islamischen Gesellschaftsordnung

(z.B. Einbettung der Scharia in ein „säkulares Rechtssystem“, vgl. Schetter 2004: 88)

stützten, waren allzeit erfolgreicher. Der politische Islam, „eine vergleichsweise junge

Erscheinung“ (Rzehak 2006: 136), und derjenige in radikaler Ausprägung füllten nach Abzug

der Sowjetunion aus Afghanistan 1989 die Lücke, die verschwindende politische

Stammestraditionen in den Strukturen des Gemeinwesens hinterließen. Der traditionelle Islam

wurde vom fundamentalistischen verdrängt, bei dem eine „alte [...] religiöse [...] Elite“

(Grevemeyer 1990: 131) erstmals als politische Führung auftrat. Im Bürgerkrieg konnten

diese Positionen auch „islamische Internationalisten“ (Grevemeyer 1990: 132) erringen, eng

verbunden mit den mujaheddin und dann den Taliban. Folglich ist der traditionelle Islam in

Afghanistan ursprünglich ein Herrschaft legitimierendes, stabilisierendes Element, das durch

soziale Entfremdung, Armut und Aussichtslosigkeit zu seinem radikalen,

internationalistischen Pendant wurde, das nationalstaatlichen Bestrebungen klar entgegensteht

(Grevemeyer 1990: 132).

4. Aktuelle Lage – Staatliche Neuordnung durch die internationale Gemeinschaft:

Probleme und Lösungsmöglichkeiten

4.1 Kriegshandlungen 2001 und Ausgangslage

Bereits vor Beginn der Kriegshandlungen Ende 2001 herrschte grundlegende Uneinigkeit der

internationalen Akteure hinsichtlich der Neuordnung Afghanistans und der Vorgehensweise:

Die Vereinten Nationen bevorzugten eine friedliche Neuordnung ohne die extreme Variante

eines Protektorates nach dem Vorbild des Kosovo (CMI-Artikel 2002: 5). Für die USA hatte

der Anti-Terror-Kampf oberste Priorität, weniger das eigentliche nation-building. Gleichzeitig

lag Afghanistan, wie schon seit jeher, im Interessengebiet seiner Anrainer Iran, China,

Pakistan und Russland. Anlass an sich für ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft

waren die Anschläge auf die USA am 11. September 2001 gewesen, hinter denen die US-

Administration den Araber Osama bin Laden, dessen Aufenthaltsort in Afghanistan

angenommen wurde, und das Terrornetzwerk Al-Qaida vermutete. Dieser aktiven Aufnahme

von Kriegshandlungen gingen einige UN-Resolutionen, unter anderen Nr. 1333 vom 19.

Dezember 2000 gegen die Politik der Taliban (Stahel/Geller 2006: 76), voraus, deren

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Wirkung durch die Stillhaltetaktik der Clinton-Administration untergraben worden war. US-

Präsident George W. Bush entschied sich für eine Kriegsführung, die hauptsächlich von

„Geheimdienste[n], Spezialeinheiten und […] Luftwaffe“ (Stahel/Geller 2006: 79) sowie der

afghanischen Nordallianz ab dem 7. Oktober 2001 in der Operation Enduring Freedom

getragen und am 22. Dezember 2001 mit der Vertreibung der Taliban aus allen Hauptstädten

erfolgreich durchgeführt wurde. Die Strategie der Kriegshandlungen gibt schon Aufschluss

über die spätere Aufbauplanung: Alliierte Flächenbombardements ermöglichten den

alleinigen Truppen-Vormarsch der afghanischen Nordallianz Richtung Süden und Kabul, also

wurde hier die Hauptkriegsführung den afghanischen Widerständlern selbst überlassen

(Stahel/Geller 2006: 79).

Für die Situation nach der eigentlichen Befreiung von den Taliban Ende 2001 kann man von

folgenden Rahmenbedingungen (Schetter 2006a: 82) für den Staatsaufbau sprechen:

Millionen von Flüchtlingen fanden sich in menschenunwürdigen Lagern ein; eine weit

reichende Verminung gefährdete Zivilisten und Soldaten; die Infrastruktur war komplett

zerstört und die Verfügbarkeit von Gewalt ging größtenteils wieder in die Hände von

Islamisten und privaten Gewaltakteuren über, die Dank des Drogenanbaus Arbeit zuverlässig

bezahlen konnten. Folglich wurde Afghanistan erst nach dem Befreiungskrieg 2001 zum

echten failed state, geprägt von völliger Fragmentierung und Anarchie.

4.2 Ansätze der staatlichen Neuordnung durch die internationale Gemeinschaft

Einigen konnten sich die internationalen Akteure letztlich darauf, zuerst eine Regierung

aufzubauen, das so genannte state-building, und dann den Demokratieaufbau, das nation-

building, dem neu gebildeten Staat zu überlassen. „The strategy of the international

community is [therefore] closer to the minimalist extreme than the maximalist” (CMI-Artikel

2002: 5f.).

Im Dezember 2001 machte die Petersberger Konferenz bei Bonn unter Beteiligung der

wichtigsten Exilgruppen, unter anderem die Romgruppe um den Exilkönig, den Paschtunen

Hamid Karzai zum Präsidenten einer Übergangsregierung. Die UN setzten ebenfalls 2001 in

Kabul die internationale Sicherheitstruppe International Security Assistance Force (ISAF)

ein, die bis heute aber hauptsächlich auf die Hauptstadt beschränkt ist, ebenso wie die meisten

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westlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs).2 Im Juni 2002 konnte eine große

Ratsversammlung, die Emergency Loya jirga, die Übergangsregierung Karzai bestätigen,

während sich eine verfassunggebende Loya jirga erst im Januar 2004 auf eine Islamische

Republik Afghanistan auf der Basis demokratischer Prinzipien einigen konnte (Schetter

2006a: 85). Unter hoher Wahlbeteiligung ging Hamid Karzai aus den Präsidentschaftswahlen

im Oktober 2004 erneut als Sieger hervor und bildete eine Regierung, die sich bis heute wie

folgt zusammensetzt: Karzai als demokratisch gewählter Präsident, der allerdings einer

Stammesgefolgschaft entbehrt, die tadschikischen Panjiri, die als ehemals wichtigster Teil der

Nordallianz immer noch unter dem Einfluss der mächtigsten warlords stehen und die

Schlüsselministerien besetzen, sowie die technokratischen Beiruti Boys, Exilafghanen mit

amerikanischem Hintergrund und ohne jedwede Basis im Land (Schetter 2006a: 85f.).

Ein wichtiger und auch durchaus richtiger Schritt erfolgte im Herbst 2002 auf deutsche

Initiative hin, als ein Wiederaufbauprogramm mit kleinen, lokal agierenden militärischen und

zivilen Einheiten (Provincial Reconstruction Teams, PRTs) zur Unterstützung der Selbsthilfe

der afghanischen Regierung über Kabul hinaus ins Leben gerufen wurde. Neben der

Sicherheitssektorreform durch Ausbildung von militärischen und polizeilichen

Sicherheitskräften und der Demilitarisierung der Milizen gehören auch

Infrastrukturmaßnahmen und Vermittlung der NGO-Hilfe zu ihrem Aufgabenspektrum

(Wilke 2003: 1). Man einigte sich generell auf eine internationale Arbeitsteilung im Sinne von

„Führungsnationen“ (Wilke 2004: 13) mit Zuständigkeit für den Aufbau bestimmter Sektoren.

Zukunftsweisend und eine Neuerung in der state-building-Strategie der internationalen

Gemeinschaft war das Musa-Qala-Protokoll Ende 2006, „durch indirekte, über

Stammesführer vermittelte Abmachungen mit lokalen Taliban eine Stabilisierung kleinerer

geographischer Einheiten in Süd-Afghanistan zu erreichen“ (Ruttig 2007: 1).

4.3 Problemlagen des Staatsaufbaus: Kritik und aktuelle Lage

Aufgrund der tabula-rasa-Situation Afghanistans nach der Intervention hatten die

internationalen Akteure ein großes Spektrum an Möglichkeiten zur Wahl, von denen sehr

viele intensiv genutzt wurden, und in Form der PRTs auch echte Innovationen darstellten.

Doch die von Human Rights Watch als „Klima der Angst“ bezeichnete Situation in weiten

Teilen Afghanistans bestätigt keine nennenswerten Erfolge des Staatsaufbaus. 2 Zur ausführlichen Darstellung der UNAMA siehe den Beitrag von Mujic/Schmalz in diesem Band, inbesondere Kapitel 4.2.1.

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Welche Probleme ergaben sich also in der Vorgehensweise, welche Fehler wurden begangen

und wie lässt sich die aktuelle Lage und Qualität des Staates definieren? Bereits die

Vorberatungen des Staatsaufbaus erfolgten unter Beteiligung von Exilgruppen, welche weder

kohärente politische Gruppierungen bildeten noch praktisches Interesse an einem

unabhängigen, effizienten afghanischen Staat hatten. Im Allgemeinen ist dieses Ziel bei den

wenigsten Afghanen und in der Regierung zu erkennen (CMI-Artikel 2002: 6). Unter anderem

sind die Ursachen hierfür in den tragenden Gruppierungen der Karzai-Regierung zu suchen,

die entweder über wenig politische Basis in der Mehrheit der Bevölkerung verfügen oder als

völlige Fremde empfunden werden. Besonders diese mangelnde Unterstützung Karzais wird

verstärkt durch eine schwache Legislative: Die Wahlen ohne „Parteienbasis“ (Maass 2006: 2)

entzogen den Parlamentshäusern Wolesi Jirga und Meshrano Jirga die Möglichkeit der

Fraktionsbildung. Als dem state-building im westlichen Sinne zuwiderlaufend, aber im Sinne

der afghanischen Tradition stehend, ist der „Regierungsstil des Präsidenten [als der; d.V.]

eines supreme khan“ (Maass 2006: 2) zu bewerten. Diese Position führte zu Konflikten

innerhalb der Regierung: Häufige Seitenwechsel durch die Parteilosigkeit und „Händel“

(Maass 2006: 3) erzeugten Probleme in der Koordinierung, Transparenz und langfristigen

Politikausrichtung; Karzai musste konservativ-islamistischen Gruppierungen immer wieder

Zugeständnisse machen. Hervorgerufen durch die Entkopplung von der Bevölkerung sah sich

Karzai zudem gezwungen, zur Machterhaltung lokale Potentaten unlegitimiert in die

Staatsgewalt einzubinden, was die Konsolidierung der demokratisch legitimen Regierung

wiederum untergrub: Diese Konzessionen an die faktischen Machthaber stellen implizit ein

Eingeständnis des Scheiterns dar (Wimmer/Schetter 2002: 11f.). Überhaupt hat die frühzeitige

Einrichtung demokratischer Wahlen mit ethnischem Proporz angesichts einer schwach

ausgeprägten Zivilgesellschaft hohe Frustration in der Bevölkerung erzeugt. Ein mangelndes

Demokratieverständnis schürte Existenzängste bei den unterlegenen Gruppierungen. Die

Oktroyierung eines zentralistischen Systems stand im Widerspruch zur landestypischen

Tradition staatlicher Herrschaft (Schetter 2004: 144 und Wimmer/Schetter 2002: 18).

Zu jenen innerafghanischen Staatsbildungsproblemen gesellen sich Fehlentscheidungen der

internationalen Gemeinschaft beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen. Besonders die

kurzfristige Finanzierung von unsicheren sozialen Projekten hat die Entstehung von

Parallelstrukturen und eine neue Form von „Klientelismus“ (Wimmer/Schetter 2002: 14)

begünstigt. Solche zivilgesellschaftlichen Fehlentwicklungen haben langfristig „[n]eue

Abhängigkeiten und fehlende Nachhaltigkeit“ (Wimmer/Schetter 2002: 14) zur Folge. Das

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minimalistische Überlassen der conflict ownership und des nation-building bei den Afghanen

„with the goal of a democratic, secular state with a functioning economy and civil society is

unrealistic in places such as Afghanistan“ (CMI-Artikel 2002: 5). Die afghanische Regierung

vermochte es bisher nicht, die Kriegstraumata aufzuarbeiten und einen effizienten Justizsektor

zu schaffen, da sowohl die zwingende Übereinstimmung mit der Scharia als auch die

mangelnde Beweisführung der Kriegsverbrechen Hindernisse darstellen. Das Konzept der

PRTs, der „light footprint approach“ (Wilke 2003: 5), also eine Art Hilfe zur Selbsthilfe,

konnte den lokalen Gewaltmarkt nicht in ein staatliches Gewaltmonopol überführen oder den

grenzüberschreitenden Terrorismus eindämmen. Der „Geburtsfehler“ (Wilke 2003: 6) der

PRTs wie auch der ISAF liegt in der doppelten Zuständigkeit sowohl in Fragen des zivilen

Wiederaufbaus als auch im Antiterrorkampf im Rahmen der Operation Enduring Freedom,

wodurch die internationale Gemeinschaft einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung erlitten

hat. Das auf allgemeine frontenübergreifende Kooperation abzielende Musa-Qala-Protokoll

hat durch sein Scheitern einerseits die Stammesführer düpiert und Zweifel an der

Glaubwürdigkeit der Kabuler Regierung sowie der Alliierten erregt. Dieser Vertrauensverlust

droht andererseits die Khane als Vertrauenspersonen der Bevölkerung zurück in die Arme der

Taliban zu treiben (Ruttig 2007: 3).

Aus diesen Problemlagen resultiert eine momentane Situation, die für den Süden durch

wechselnde Loyalitäten der warlords und steten Terror sowie durch Kriegsökonomie

weiterhin von Anarchie und Gewalt geprägt ist (Chiari 2006a: 93f.), im Norden nach

anfänglicher Stabilisierung durch den russischen Truppenabzug Juni 2005 destabilisierte

Grenzregionen (Chiari 2006a: 95) und durch aufblühende urbane Zentren einen schwelenden

„Konflikt zwischen Stadt und Land“ (Schetter 2004: 143) aufweist. Laut Wilke verfügt damit

Afghanistan immer noch über die Qualität eines failed state: Die Gewaltkompetenz fehlt, weil

Entmilitarisierung und die „simultane Doppelstrategie von Friedenskonsolidierung und

Terrorismusbekämpfung“ (Wilke 2004: 14) gescheitert sind, bedingt durch die Vier-

Säulenstrategie der internationalen Gemeinschaft,3 das Prinzip der „lead nations“ (Wilke

2004: 13) sowie die horizontale und vertikale Zersplitterung der Herrschaftsgewalt.

„Extraktionskompetenz“ (Wilke 2004: 17) und Wohlfahrtsmaßnahmen setzen sich nicht

gegen die verfestigte Kriegsökonomie durch, die mit der politischen Gewalt verbunden bleibt.

Die „Inkongruenz von Staat und Gesellschaft“ (Wilke 2004: 18) verhindert die Ausbildung

einer Rechtskompetenz, auch weil drei Rechtssysteme nebeneinander existieren und die 3 United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), International Security Assistance Force (ISAF), Provincial Reconstruction Teams (PRTs) und Operation Enduring Freedom (OEF), vgl. Wilke 2004: 15.

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Scharia-Frage nicht gelöst ist. Afghanistan verfügt auch nicht über eine Außenkompetenz und

bleibt abhängig von internationalen Akteuren, da diese den Fehler begingen, die

Nachbarstaaten nicht einzubeziehen (Wilke 2004: 20).

4.4 Lösungsansätze und Schlussfolgerungen

Offensichtlich sind weder das nation-building noch das fundamental wichtige state-building

bisher erfolgreich verlaufen. Die nation-building-Ziele durch die Einrichtung langfristig

konzipierter Treuhandfonds statt kurzfristiger Missfinanzierungen sowie die Ausbildung einer

staatsloyalen Beamtenschicht (Wimmer/Schetter 2002: 16) müssen folglich ihre Bedeutung

behalten, aber einer echten Reform des Sicherheitssektors erst folgen (Wilke 2004: 23). Da

die Kabuler Regierung noch zu schwach ist, sind die „Förderung lokaler Institutionen“ (Wilke

2004: 25) und starke zivile PRTs unter großer afghanischer Beteiligung und mit Übernahme

staatlicher Aufgaben als oberstes Ziel zu nennen. Entgegen Wilkes Meinung (Wilke 2004: 24)

ist allerdings ein Zentralstaat abzulehnen. Die Einbettung in die föderale und die regionale

Tradition zusammen mit den Nachbarstaaten entspräche vielmehr der politischen Kultur

effektiver afghanischer Herrschaftsgewalt. Der langfristig angelegte Transformationsprozess

nach dem eigentlichen state-building muss sich daher an der tatsächlichen politischen

Tradition des Landes orientieren. Die althergebrachte Form der staatlichen Legitimation muss

der Demokratisierung vorangehen, damit letztere durch ihre „Neuheit“ in der afghanischen

Geschichte nicht die Legitimität der Regierung von Beginn an untergräbt.

Die Analyse der Prozess- und Strukturfaktoren hat in diesem Sinne gezeigt, dass der

Staatszerfall in Afghanistan einerseits nicht als singuläres, kollapsartiges Ereignis betrachtet

werden kann und dass andererseits seine Ursachen und Folgen mit Sensibilität für die

besonderen Tiefenstrukturen des Landes angegangen werden müssen. Abschließend

betrachtet bietet die These des chronischen Problems des staatlichen Versagens damit sowohl

ein realistischeres Bild der Lage und somit auch eine bessere Grundlage zur Erarbeitung von

Lösungsstrategien.

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