Afrikanische Musik I

5
Afrikanische Musik I file:///Users/...ts/Studium/VO Musik der Welt im Überblick II/12 - Afrikanische Musik/Afrikanische Musik I.html[24.06.10 17:42:19] Stilregionen afrikanischer Musik (nach Lomax) AFRIKANISCHE MUSIK I Schwarzafrika umfasst den afrikanischen Kontinent südlich der Sahara und die vorgelagerten Inseln im Indischen und Atlantischen Ozean. Die Musikkulturen des nordafrikanischen Raumes (Weißafrika) sind der orientalischen Welt zuzurechnen. Ihr Einfluss setzt sich allerdings weit nach Schwarzafrika hinein fort, insbesondere im Subsaharagürtel und entlang der ostafrikanischen Küste. Die Musik Schwarzafrikas stellt keine stilistische Einheit dar. Ähnlich der Sprachenvielfalt ist auch eine große Mannigfaltigkeit der musikalischen Ausdrucksformen festzustellen. Alan Lomax, der über Gesangstile gearbeitet hat, postuliert 12 unterschiedliche Stilregionen: Western Sudan, Moslem Sudan, Eastern Sudan, Ethiopia, Upper Nile, Guinea Coast, Equatorial Bantu, Northeast Bantu, Central Bantu, African Hunters, South African Bantu und Madagascar. Zusätzlich wird Afroamerika in die schwarzafrikanische Stilwelt einbezogen. Einige dieser Gruppen nehmen eine Sonderstellung ein, etwa die unter "African Hunters" zusammengefassten Khoisan-Völker (Buschmänner) Südwestafrikas und die Pygmäen Zentralafrikas. Äthiopien ist ebenfalls eine musikalische Welt für sich und erweist sich insbesondere in der alten Tradition der koptisch- christlichen Kirchenmusik als Teil eines afroasiatischen Kulturgebietes. Madagaskar wird in Abhandlungen über afrikanische Musik zumeist ausgeklammert. Obwohl die Insel in vielen kulturellen Aspekten nach Südostasien verweist, spiegelt die madagassische Musik die geographische Nähe zum afrikanischen Kontinent deutlich wider, vor allem in ihren rhythmischen Grundlagen. Die historisch bedingten Verflechtungen und innerafrikanischen Einflüsse sind noch wenig erforscht. Im Zentrum des Interesses standen bis in die Gegenwart hinein Kulturparallelen mit Gebieten außerhalb Schwarzafrikas. Die Forschung schloss dabei auf der Basis von Vergleichen von Musikinstrumenten, Tonsystemen und musikalischen Ausdrucksmitteln auf prähistorische Kulturkontakte. Die Tendenz dieser Arbeiten, den "schwarzen Erdteil" als Empfänger von Kultur, nicht als Inventor zu beschreiben, fand in Afrika viele Kritiker. Die Erforschung der Geschichte afrikanischer Musik, ihres Wandels durch Innovation, Adaptation, Modifikation, Entlehnung und Verlust von musikalischen Ausdrucksmerkmalen bedient sich heute zunehmend der historischen Arbeitsweise. Die Quellenlage ist je nach Epoche, Region und Musikgenre sehr unterschiedlich. Dem Mangel an internen Quellen (sieht man von den Oralquellen ab) steht eine noch weitgehend unerschlossene Fülle an externen Quellen aus der Kolonialzeit gegenüber. Die Auswertung der an ethnographischen Belegen oft reichen Reiseberichte erfordert eine verfeinerte Quellenkritik, handelt es sich doch um Dokumente, die sehr unterschiedliche Interessen, Geisteshaltungen und Niveaus der Auseinandersetzung mit dem Fremden reflektieren. Musik im Leben der afrikanischen Gesellschaft Der große Stellenwert der Musik in der afrikanischen Gesellschaft wird immer wieder betont. Es gibt kaum bedeutende Ereignisse, die ohne Musik ablaufen. Die starke Interaktion zwischen Musikern und Zuhörern, welche Afrikaner bei Musikdarbietungen in Europa oft vermissen, ist dabei ein herausragendes Charakteristikum.

Transcript of Afrikanische Musik I

Page 1: Afrikanische Musik I

Afrikanische Musik I

file:///Users/...ts/Studium/VO Musik der Welt im Uberblick II/12 - Afrikanische Musik/Afrikanische Musik I.html[24.06.10 17:42:19]

Stilregionen afrikanischer Musik(nach Lomax)

AFRIKANISCHE MUSIK I

Schwarzafrika umfasst den afrikanischen Kontinent südlich der Sahara und die vorgelagerten Inseln imIndischen und Atlantischen Ozean. Die Musikkulturen des nordafrikanischen Raumes (Weißafrika) sindder orientalischen Welt zuzurechnen. Ihr Einfluss setzt sich allerdings weit nach Schwarzafrika hineinfort, insbesondere im Subsaharagürtel und entlang der ostafrikanischen Küste.

Die Musik Schwarzafrikas stellt keine stilistischeEinheit dar. Ähnlich der Sprachenvielfalt ist aucheine große Mannigfaltigkeit der musikalischenAusdrucksformen festzustellen. Alan Lomax, derüber Gesangstile gearbeitet hat, postuliert 12unterschiedliche Stilregionen: Western Sudan,Moslem Sudan, Eastern Sudan, Ethiopia, UpperNile, Guinea Coast, Equatorial Bantu, NortheastBantu, Central Bantu, African Hunters, SouthAfrican Bantu und Madagascar. Zusätzlich wirdAfroamerika in die schwarzafrikanische Stilwelteinbezogen.

Einige dieser Gruppen nehmen eine Sonderstellungein, etwa die unter "African Hunters"zusammengefassten Khoisan-Völker(Buschmänner) Südwestafrikas und die PygmäenZentralafrikas. Äthiopien ist ebenfalls einemusikalische Welt für sich und erweist sichinsbesondere in der alten Tradition der koptisch-christlichen Kirchenmusik als Teil einesafroasiatischen Kulturgebietes. Madagaskar wird inAbhandlungen über afrikanische Musik zumeistausgeklammert. Obwohl die Insel in vielenkulturellen Aspekten nach Südostasien verweist,spiegelt die madagassische Musik diegeographische Nähe zum afrikanischen Kontinent deutlich wider, vor allem in ihren rhythmischenGrundlagen.

Die historisch bedingten Verflechtungen und innerafrikanischen Einflüsse sind noch wenig erforscht. ImZentrum des Interesses standen bis in die Gegenwart hinein Kulturparallelen mit Gebieten außerhalbSchwarzafrikas. Die Forschung schloss dabei auf der Basis von Vergleichen von Musikinstrumenten,Tonsystemen und musikalischen Ausdrucksmitteln auf prähistorische Kulturkontakte. Die Tendenz dieserArbeiten, den "schwarzen Erdteil" als Empfänger von Kultur, nicht als Inventor zu beschreiben, fand inAfrika viele Kritiker.

Die Erforschung der Geschichte afrikanischer Musik, ihres Wandels durch Innovation, Adaptation,Modifikation, Entlehnung und Verlust von musikalischen Ausdrucksmerkmalen bedient sich heutezunehmend der historischen Arbeitsweise. Die Quellenlage ist je nach Epoche, Region und Musikgenresehr unterschiedlich. Dem Mangel an internen Quellen (sieht man von den Oralquellen ab) steht einenoch weitgehend unerschlossene Fülle an externen Quellen aus der Kolonialzeit gegenüber. DieAuswertung der an ethnographischen Belegen oft reichen Reiseberichte erfordert eine verfeinerteQuellenkritik, handelt es sich doch um Dokumente, die sehr unterschiedliche Interessen,Geisteshaltungen und Niveaus der Auseinandersetzung mit dem Fremden reflektieren.

Musik im Leben der afrikanischen Gesellschaft

Der große Stellenwert der Musik in der afrikanischen Gesellschaft wird immer wieder betont. Es gibtkaum bedeutende Ereignisse, die ohne Musik ablaufen. Die starke Interaktion zwischen Musikern undZuhörern, welche Afrikaner bei Musikdarbietungen in Europa oft vermissen, ist dabei ein herausragendesCharakteristikum.

Page 2: Afrikanische Musik I

Afrikanische Musik I

file:///Users/...ts/Studium/VO Musik der Welt im Uberblick II/12 - Afrikanische Musik/Afrikanische Musik I.html[24.06.10 17:42:19]

Die Bedeutung der Musik reflektiert auch das große Spektrum von Funktionen, die der Musik in derGesellschaft zukommt. Liedtexte behandeln wichtige soziale Belange, prangern unsoziales Verhalten wieStolz, Habsucht und Untreue an, zeigen auf, dass die Wahrung von Werten wie Respekt, Großzügigkeit,Kooperation und Solidarität das harmonische Zusammenleben fördert. Der Musiker wirkt tief auf sozialeProzesse ein, er erfüllt vielfach eine verhaltensregulierende Funktion. Musiker können im Dienste vonHerrschern stehen, und in ihren Preisliedern zur Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnungbeitragen. Umgekehrt können Musiker als Vertreter unterprivilegierter Schichten in kritischen LiedernMissstände anprangern. In vielen Orten gibt es für Musik- und Tanzveranstaltungen bestimmte Plätze imZentrum des Dorfes, was den sozialen Stellenwert der Musik unterstreicht.

Daneben findet sich aber auch das Musizieren ohne Zuhörerschaft, zum Zeitvertreib und zur Rekreationdes Gemütes. Dafür eignen sich besonders Instrumente mit zartem Klang, wie zum BeispielLamellophone (in der Literatur häufig "Sanza" genannt), welche vielfach bei einsamen Wanderungen imGehen gespielt werden.

Vom freien, ungebundenen Musizeren, mit oder ohne Zuhörerschaft, ist das Musizieren zu besonderenAnlässen und besonderen Zeiten zu unterscheiden. Der Jahreszyklus gibt den Rahmen für eine Zahlvon Ereignissen, die von Musik begleitet sind. Besonders wenn die Feldarbeit ruht, werden Festivitätenbegangen. Musik, Tanz und musikbegleitete Spiele von Kindern und Jugendlichen in Vollmondnächtensind weit verbreitet. Der Lebenszyklus bestimmt jene Stationen im Leben des Einzelnen, die inÜbergangsriten (rites de passage) den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt festlich begehen. Geburt,Initiation/Beschneidung und Tod sind hier in ganz Afrika von universaler Bedeutung, während die Heiratvorwiegend in islamisch und christlich beeinflussten Kulturen bzw. Gesellschaftsschichten gefeiert wird.Viele Musikgattungen sind nach ihrem kontextuellen Bezug voneinander unterschieden.

Das Spektrum der Ausführenden reicht von jedermann über den begabten Laien bis zum professionellenMusiker. Bootsleute singen, um im Rhythmus zu rudern, Frauen singen bei der Aussaat, um sich dieArbeit zu erleichtern, Händler preisen singend ihre Waren an, um den Umsatz zu steigern. Inresponsorialen Gesängen kann das ganze Volk den Chorpart bilden. Das den Gesang begleitendeHändeklatschen ist ebenfalls eine musikalische Tätigkeit, die oft bereits kleine Kinder beherrschen.Diverse Musikinstrumente gelten als einfach, während andere Spezialisten vorbehalten sind. Im SüdenMadagaskars etwa kann der überwiegende Teil der Bevölkerung eine Rassel bedienen, das Spiel desAkkordeons oder der Kastenzither beherrschen hingegen nur wenige.

Berufsmusiker, die sich ausschließlich der Musik widmen, von deren Ausübung sie kontinuierlich lebenkönnen, finden sich in Afrika nur selten. Meistens üben Musikspezialisten ihre musikalische Tätigkeitsaisonweise oder auf Abruf vorübergehend aus, und gehen zusätzlich noch einer anderen Tätigkeit nach.

Einzelne Musikgattungen oder Musikinstrumente können weiblichen oder männlichen Ausführendenvorbehalten sein. Wiegenlieder und Totenklagen sind charakteristische Genres der Frauen (wenngleiches vereinzelt auch Totenklagen durch Männer gibt). Preis- und Epengesang wiederum sind primärMännerdomäne. Chordophone und Aerophone werden in Madagaskar fast nur von Männern gespielt, dasXylophon hingegen nur von Frauen. Bestimmte Sakraltrommeln sind für Frauen tabu, andereSakraltrommeln hingegen werden durchwegs von Frauen gespielt. Besonders in islamisch beeinflußtenKulturen ist die Trennung in einen männlichen und weiblichen Lebensbereich deutlich. Ebenso gibt esvielfach auch eine Zuordnung zu bestimmten Altersgruppen. Diverse Lautenformen sind in weiten TeilenAfrikas typische Altersgruppeninstrumente. Schon im Kindesalter werden erste Versuche auf dem oftselbstgebauten Instrument gemacht. Einmal erwachsen geworden, wird das Spiel des Instrumentszumeist wieder aufgegeben.

Musiker stammen häufig aus den unteren sozialen Schichten. Dennoch kann ihnen ihre TätigkeitAnsehen einbringen, insbesondere wenn sie sich einer prestigeträchtigen Musikform verschrieben haben.Neben Formen und Musikinstrumenten, die sich an Vorbildern der westlichen Welt orientieren, sind diesvor allem jene, die an den Höfen von Königen angesiedelt sind. Heute sind die traditionellen Herrscherweitgehend entmachtet und ohne politische Befugnisse, geniesen aber dennoch große Wertschätzung inder Bevölkerung. Davon künden das Preistrommeln und der Preisgesang. Die Griots Westafrikas habendaneben die Funktion der Tradierung von Geschichte aus der Perspektive des Herrschergeschlechts, dieletztlich die Funktion der Legitimation der Herrschaft erfüllt. Die Musik an den Höfen ist strengenBestimmungen unterworfen. Musiker begleiten die Würdenträger zu offiziellen Auftritten. Nur zubesonderen Anlässen werden bestimmte Instrumente hervorgeholt und bestimmte Musikformenaufgeführt. Zu den königlichen Insignien gehören Elfenbeinhörner, Glocken und insbesondere Trommeln.Das Funktionieren des politischen Systems wird oft mit der Existenz und Bewahrung von heiligenTrommeln in Zusammenhang gebracht. Um sie wird ein spezieller Kult gebildet.

Page 3: Afrikanische Musik I

Afrikanische Musik I

file:///Users/...ts/Studium/VO Musik der Welt im Uberblick II/12 - Afrikanische Musik/Afrikanische Musik I.html[24.06.10 17:42:19]

Eine besondere Form des Musikspezialisten ist der Schamane. Musik spielt in Tranceritualen, die inganz Afrika verbreitet sind, eine entscheidende Rolle. Orisa und vodu (voodoo) sind die bekanntestenBeispiele. Nach Artur Simon sind therapeutische, religiöse, soziale Riten und Riten zur An- oderAbwendung von Hexerei zu unterscheiden. Häufig arbeitet der Schamane mit Musikern eng zusammen,ist aber selbst ebenfalls ein mit der Musik Vertrauter.

Strukturen afrikanischer Musik

Form:Einige strukturelle Merkmale und grundsätzliche Verfahren sind in Schwarzafrika sehr weit verbreitet.Afrikanische Musik lässt sich zumeist der Perioden- oder Deklamationsform zuordnen.

Die Periodenform ist gekennzeichnet durch das Aneinanderreihen von Formeln, die in ihrenWiederholungen vielfach variiert werden. Der überwiegende Teil afrikanischer Musik ist solche Pattern-Musik. Eine besondere, charakteristisch afrikanische Technik ist hier das Ruf-Antwort- Verfahren (calland response), mit einem zumeist freieren Rufteil und einem formelhaften Antwortteil.

Die Deklamationsform ist stärker an die Struktur des Textes gebunden. In diese Kategorie gehörtauch das Sprechtrommeln in einigen westafrikanischen Musikkulturen. Dabei werden die tonalen undLängenfaktoren der Sprache, die in den betreffenden Regionen jeweils eine Tonhöhensprache ist,ziemlich getreu wiedergegeben. Davon zu unterscheiden ist das Signale-Trommeln, bei welchem durchCodes präzise Botschaften übermittelt werden, z.B. die Einberufung einer Versammlung. Auch diverseBlasinstrumente, etwa Muschel- oder Zebuhörner, können hiefür herangezogen werden.

Während die Deklamationsform überwiegend einem freien Metrum folgt, ist die Periodenform durch einstrenges Zeitmaß gekennzeichnet.

Hörbeispiel: Yoruba-Sprechtrommeln, demonstriert an Wort- und Satzbeispielen, aufg. von GerhardKubik, Nigeria 1960. Quelle: Musik in Afrika, Berlin 1983, Bsp.8.

Timing:Bei "mikroskopischer" Betrachtung des zeitlichen Ablaufes, etwa eines Xylophonstückes, entdeckt maneine äquidistante Folge kleinster Zeiteinheiten, die die Basis für jede rhythmische Gestalt bilden. DiesesOrientierungsraster wird nach Gerhard Kubik Elementarpulsation genannt. In einigenInstrumentaltraditionen läuft die Elementarpulsation mit großer Geschwindigkeit ab. Metronomzahlen von600 M.M. und darüber sind keine Seltenheit.

Die nächste Orientierungsebene über der Elementarpulsation ist der Beat. Ein Beat liegt auf jedemzweiten, dritten oder vierten Elementarpuls und bildet somit ebenfalls ein gleichmäßiges Raster. Mitunterliegen betonte Stellen neben dem Beat (off-Beat). Eine weitere Referenz des Musikers ist dieFormzahl. Sie gibt die Anzahl der Elementarpulse an, die ein Pattern umfasst. Wir finden insbesonderedie Formzahlen 6, 8, 9, 12, 16 und 18 sowie Vielfache davon. Die Zahl 12 ist die wichtigste Formzahlder afrikanischen Musik. Die Bedeutung der 12, teilbar durch 2, 3, 4 und 6, liegt darin, dass sie für einepolymetrische Gestaltung prädestiniert ist.

Das Spiel mit dem Metrum ist ein herausragendes Charakteristikum afrikanischer Musikgestaltung.Verschiedene Metren können nacheinander in einem Stück auftreten, wir sprechen hier vonHeterometrik. Häufiger aber ist die Polymetrik, das gleichzeitige Ablaufen mehrerer Metren. Dieelementarste polymetrische Form, ein 2 gegen 3, zeigt das folgende Beispiel:

Eine einfache Bimetrik dieser Art ist in der afrikanischen Musik selten. Meist laufen mehr als zweiGrundmetren simultan ab.

Forscher, die afrikanische Musik vor Ort erlernt haben, bezeugen übereinstimmend die Verbundenheitauditiver mit motionalen (Bewegungs-) Aspekten im afrikanischen Musikverständnis. Die Tanzforschunghat dies besonders hervorgehoben, indem sie die Polymetrik der Musik mit der Polyzentrik des Tanzesin Beziehung gesetzt hat.

Page 4: Afrikanische Musik I

Afrikanische Musik I

file:///Users/...ts/Studium/VO Musik der Welt im Uberblick II/12 - Afrikanische Musik/Afrikanische Musik I.html[24.06.10 17:42:19]

Amadinda-Holmxylophon, Uganda

In Fällen, in denen nur ein einzelnes Metrum benützt wird, finden wir oft die gleichzeitige Verwendungverschiedenartiger Rhythmen, die aber stets auf einem einzelnen Grundschlag basieren. Wir sprechendann von Polyrhythmik. Eine besondere Form polyrhythmischer Gestaltung ist die Kreuzrhythmik.Dabei handelt es sich um ein Überkreuzen der einzelnen Parts eines Ensembles, sodass dieEinsatzpunkte und Hauptakzente der verwendeten Formeln an unterschiedlichen Stellen liegen.

Eine besondere Rolle in der rhythmischen Strukturierung in bestimmten Regionen, insbesondere imBereich der Niger-Kongo-Sprachen, spielen die Time-line-Formeln. Es sind dies prägnante rhythmischeGestalten, die auf heraustönenden Instrumenten (z.B. Eisenglocken) gespielt werden. Eine derverbreitetsten Time-line-Formeln ist die sogenannte omele-Formel:

Die Entdeckung der inhärenten Patterns durch Gerhard Kubikführt in das innerste Wesen schwarzafrikanischer Musik. Eshandelt sich hier um ein Phänomen der Wahrnehmung, das vonMusikern Zentral- und Ostafrikas bewusst genützt wird.Komplexe Patterns, die durch hohe Dichte (d.h. großeSpielgeschwindigkeit) und sprunghafte Intervalle gekennzeichnetsind und in unablässigen Wiederholungen vorgetragen werden,erhalten in der Wahrnehmung den Eindruck thematischerMehrdeutigkeit nach Art eines Vexierbildes. Die Wahrnehmungkann auf die hohe, mittlere oder tiefe Lage in der Musikausgerichtet werden. Man registriert dort jeweilsunterschiedliche melodisch-rhythmische Gestalten, wobei derRest des Klanggewebes in den Hintergrund tritt. Diese Gestaltenhaben vielfach ausgeprägte, individuelle metrische Qualitäten,die mit dem Metrum anderer inhärenter Gestalten desselben Stückes in einem Konflikt stehen. Wennwährend des Hörens die Aufmerksamkeit auf eine andere Gestalt wechselt, ändert sich schlagartig dermetrische Eindruck des Ganzen; er "kippt um", weil das Bezugsmetrum wechselt. Neben reinrhythmischen Gestalten können auch Melodien in das Klanggewebe als inhärente Patternshineinkomponiert sein. Im Schrifttum von Gerhard Kubik bezieht sich der Begriff der inhärenten Patternsauf die amadinda-Xylophonmusik Ugandas. Dort wird das auf den beiden tiefsten Xylophonplattengespielte Pattern zwei Oktaven höher auf den beiden höchsten Platten verdoppelt.

Hörbeispiel: Die drei Parts eines Amadinda-Xylophonstückes einzeln vorgeführt, gefolgt vom Beginn desStückes. Aufg. von Gerhard Kubik, Uganda 1967. Quelle: Musik in Afrika, Berlin 1983, Bsp.22.

Tonsystem und Mehrstimmigkeit:Untersuchungen zu afrikanischen Tonsystemen haben eine lange Tradition. Ein besonderes Augenmerkwurde stets den äquidistanten fünf- oder siebenstufigen Skalen gewidmet, bei denen die Oktave in fünfoder sieben gleiche Intervalle geteilt ist. Ähnliche Skalen finden sich auch in Südostasien, was zuSpekulationen über Kulturkontakte in prähistorischer Zeit geführt hat.

In einigen Gebieten Afrikas findet man keine Mehrstimmigkeit außer Oktavparallelen. Im übrigen aberfolgt die Mehrstimmigkeitsbildung einem "Überspringverfahren" (nach G. Kubik): der jeweilsübernächste Skalenton wird zur Bildung eines Zusammenklanges herangezogen. Im Falle heptatonischerSkalen ergeben sich daraus Terzklänge, im Falle pentatonischer Skalen charakteristische Quarten.

Populäre Musik

Die Entwicklung der populären Musik Afrikas ist eng verbunden mit der Geschichte der Musikkontaktezur westlichen Welt. In den meisten Gesellschaften Schwarzafrikas waren die christlichen Missionen unddas Militär Angelpunkte der Einführung westlicher Musik. Es gibt zahlreiche Beispiele der Übernahmeeuropäischer Formen; zum Teil war es eine erzwungene Übernahme. Und es gibt Beispiele derAusrottung autochthoner Formen, insbesondere im Kampf der christlichen Kirchen gegen das"Heidnische".

Dennoch dürften, aus heutiger Sicht, die längerfristigen Folgen vielfach falsch eingeschätzt worden sein.Die christliche Kirchenmusik, die Blasmusik und europäische Formen populärer Musik unterlagen schon

Page 5: Afrikanische Musik I

Afrikanische Musik I

file:///Users/...ts/Studium/VO Musik der Welt im Uberblick II/12 - Afrikanische Musik/Afrikanische Musik I.html[24.06.10 17:42:19]

früh einem Prozess der Afrikanisierung. Die Geschichte des highlife in Ghana ist ein Beispiel für diesenProzess stetiger Adaptation. Einflüsse von schwarzen und akkulturierten Musikformen aus Nordamerikaund der Karibik gewannen ab den 1920er Jahren verstärkt an Bedeutung. Walzer, Quadrille,Schottischer, Mazurka und Polka wichen nun Jazz, Rumba, Merengue, Chachacha, Son, Calypso, Reggaeund Zouk. Diese Formen wurden zunehmend als Ausdruck einer schwarzen Identität wahrgenommen.Europäische Metropolen wie Paris und London erhielten eine neue Bedeutung als Umschlagsplätze desMusiktransfers und als Produktionsstätten afrikanischer Popularmusik. Viele Formen, die imEinflussbereich afroamerikanischer und afrokaribischer Musik ihre Wurzeln haben, werden heute zu denherausragenden Erscheinungen der modernen afrikanischen Musik gezählt: highlife, juju, soucous,makossa, jive, kwela, simanje-manje.

Hörbeispiel: "All for you", von E.T. Mensah. Highlife aus Ghana. Quelle: CD E.T. Mensah: All for you.Classic Highlife Recordings from the 1950's. Retroafric RETRO1CD. [SV2247CD]

In einigen Ländern (z.B. Guinea, Tansania) erfolgte nach der Unabhängigkeit eine radikale Abkehr vomWesten, verbunden mit der bewussten Pflege afrikanischer Musik und der Einrichtung vonNationalensembles und Festivals. Traditionelle Musikformen wurden vermehrt zur Inspirationsquelle auchfür Musiker der Popszene ("roots revival"). Zentren des Musiklebens und der Produktion mit großerAusstrahlung entstanden. Afrikanische Musiker orientieren sich heute verstärkt an den neuestenEntwicklungen in Abidjan, Kinshasa, Brazzaville, Nairobi, Johannesburg und Dakar. AfroamerikanischeMusik, besonders aus der Karibik, bleibt weiterhin der dominierende Einfluss von außen. Innerhalb derschwarzafrikanischen Musikszene gewinnen Austausch und Zusammenarbeit von Künstlernunterschiedlicher Herkunft an Bedeutung.

Literatur

Kubik, Gerhard: Zum Verstehen afrikanischer Musik. Leipzig 1988. [A13683] Musik in Afrika, hg. von Artur Simon. Berlin 1983. [B7379/N.F.40]