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3-2016 MÄRZ MAGAZIN FüR GLOBALE ENTWICKLUNG UND öKUMENISCHE ZUSAMMENARBEIT 5,50 € | 7,80 sFr www.welt-sichten.org AGENDA 2030: Schluss mit der Politik der Widersprüche! ÄTHIOPIEN: Hunger, doch keine Katastrophe SÜDAFRIKA: Traumatherapie nach eigenem Rezept FLUCHT UND MIGRATION Dahin, wo es besser ist

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3-2016 März

Magazin für globale entwicklung und ökuMenische zusaMMenarbeit

5,50 € | 7,80 sFr www.welt-sichten.org

AGENDA 2030: Schluss mit der Politik der Widersprüche!ÄTHIOPIEN: Hunger, doch keine Katastrophe

SÜDAFRIKA: Traumatherapie nach eigenem Rezept

flucht und migrationDahin, wo es besser ist

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zeozweiDas Magazin für KliMa. Kultur. Köpfe.

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So SIEHT WIDERSTAND AUS

Wie grün ist grün? Die Grünen regieren in sehr vielen Bundesländern. Was es wirklich bringt – der Check.

30 Jahre Tschernobyl: Wendland-Ikone Marianne Fritzen und die anderen Köpfe des Anti-Atom-Widerstands ziehen Bilanz. Wie geht es weiter?

Die hysterische NatioN.- Wovor hat die Gesellschaft Angst? zeozwei-Gespräch mit Juli Zeh- Harald Welzer über Flüchtlinge, Nationalismus und Scharfmacher

zeozwei erscheint viermal im Jahr. Ein Jahresabo kostet 20 Euro, eine einzelne Ausgabe am Kiosk 5,50 Euro.

www.zeozwei.de | [email protected] | T (0 30) 2 59 02-200taz Verlags- und Vertriebs-GmbH, Rudi-Dutschke-Str. 23, 10969 Berlin

Weitere Themen:

DIE HYSTERISCHE NATIONWovor haben die Deutschen Angst? zeozwei-Gespräch mit Juli Zeh

Harald Welzer über Flüchtlinge, Nationalismus und Scharfmacher

WIE GRÜN IST GRÜN?Die Grünen regieren in neun Bundesländern. Doch was bringt das für die grünen Themen? Der zeozwei-Check

Mit Elke Heidenreich, Erhard Eppler, Wolfgang Niedecken, Monika Griefahn, Rainer Baake, Michael Sailer, Claudia Kemfert, Gerd Rosenkranz, Manfred Kriener, Anne Lund, Harald Zindler u. v. a.

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erscheint am 8. März

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Wie geht es weiter?

DIESMAL IN DER NEUEN ZEOZWEI:

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editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

jedes Jahr verlassen Millionen Menschen ihre Heimat. Die meisten hoffen auf ein besseres Leben – sicherer, freier und ein bisschen wohlhabender. Das ist schon immer so gewesen, nur war es in Deutschland lange wenig spürbar. Seit dem vergangenen Herbst ist das anders. Dabei kommen die meisten Flüchtlinge überhaupt nicht nach Europa, schreibt „welt-sichten“-Chefredakteur Bernd Ludermann: Viele verbreitete Mythen über Flucht und Migration erweisen sich bei genauerem Hinsehen als falsch.

Flüchtlinge belasten die Nachbarländer der Kriegsschauplätze oft wesentlich stärker. Wie Tansania damit umgeht, berichtet Prosper Kigwize: Der ostafrikanische Staat hat Hun- derttausende Menschen aus Burundi eingebürgert. Auch die Regierung von Dschibuti

nimmt viele Flüchtlinge auf, seit Neuestem vor allem aus dem Bürgerkriegsland Jemen, schreibt „welt-sichten“- Redakteurin Gesine Kauffmann. Die meisten möchten nach dem Krieg zurückkehren.

Andere träumen von einem dauerhaften Aufenthalt in einem anderen Land, dürfen aber nicht bleiben – so wie Misael Contreras, der in die USA geflohen war und dann nach El Salvador ausgewiesen wurde. Er hat Cecibel Romero erzählt, warum er in seiner Heimat in Angst lebt. In Gambia hat Louise Hunt Familien getroffen, die

hoffen, dass ihre Angehörigen in Italien arbeiten und Geld zurücksenden können. Doch die Chancen auf einen legalen Job stehen schlecht. Dabei braucht Europa Arbeitsmigran-ten, sagt der Völkerrechtler François Crépeau. Im Gespräch erklärt er, warum es die beste Migrationspolitik wäre, legale Wege für die Arbeitssuche zu öffnen.

Einer tödlichen Gefahr sind derzeit Millionen Äthiopier ausgesetzt: Das Land wird von der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren heimgesucht. Die Aussichten sind düster, aber nicht katastrophal, schreibt Philipp Hedemann: Die Regierung hat gut vorgesorgt. Wie der Staat in Algerien gegen radikale islamische Strömungen vorgeht, beleuchtet Anouar Boukhars. Und Birgit Morgenrath hat sich angeschaut, wie südafrikanische Psychologen eigene Wege des Umgangs mit Traumatisierten suchen.

Eine anregende Lektüre wünscht

Hanna Pütz

Volontärin

Wir fragen für Sie!

Sie fragen sich, wie in Nepal der Wiederaufbau nach dem Erdbeben vorankommt? Sie wollen wissen, ob der Klimawan-del den Krieg in Syrien verursacht hat oder was die Weltbank damit meint, dass die Armut sinkt? Ab Mai lassen wir in

solche Fragen unserer Leserinnen und Leser von Fachleuten in kurzen Interviews beantworten. Beteiligen Sie sich schon jetzt und schreiben Sie uns, was Sie wissen wollen (E-Mail: [email protected])!

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12In Berlin-Kreuzberg wohnen Menschen aus 120 Nationen. Das Zu-sammenleben und die Suche nach gemeinsamen Werten gelingen nur, wenn alle Seiten ihre Absolutheitsansprüche aufgeben. 20

Flucht und Migration 12 Fakten gegen die Panikmache Europa nimmt mehr Schutzsuchende auf als andere Regionen? Falsch. Es ist Zeit,

mit ein paar Irrtümern aufzuräumen Bernd Ludermann

18 Auf vermintem Gelände Ein junger Salvadorianer ist vor der Gewalt in die USA geflohen – bleiben

durfte er nicht Cecibel Romero

20 Wunderbare Parallelgesellschaften Die Integration der Flüchtlinge in Deutschland braucht Offenheit und Mut Hadija Haruna-Oelker

22 „In Europa ist das Führungsversagen katastrophal“ Gespräch mit dem UN-Sonderbeauftragten für die Menschenrechte von Migranten,

François Crépeau, über Grenzzäune und Arbeitsmigration

26 „Menschen nicht wie Müll abladen“ Der Menschenrechtler Hadi Marifat erklärt, warum Ausweisungen nach

Afghanistan nicht zu verantworten sind

27 Träume vom gelobten Land Wer aus Gambia nach Europa geht, muss der Familie seinen Erfolg beweisen Louise Hunt

31 Raum in kleiner Hütte Dschibuti nimmt viele Flüchtlinge aus dem Jemen auf Gesine Kauffmann

Die griechische Insel Lesbos gilt als Eintrittspforte nach Europa. Wie

dieses Paar kamen im vergangenen Jahr eine halbe Million Menschen

auf diesem Weg in die Europäische Union. Die meisten sind vor den

Kriegen in Syrien, Afghanistan und dem Irak geflohen – und treffen in

Europa auf große Hilfsbereitschaft, aber auch auf Ablehnung.

NIcoLAS EcoNoMou/INVISIoN/LAIF

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Ein Teil der Auflage enthält Beilagen der Christlichen Initiative Romero,

des informationszentrums 3. Welt (iz3w), des „Philosophie Magazins“, der

Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe sowie eine Bestellkarte von .

Kommentieren Sie die Artikel im Internet:

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39In Algerien ist der Salafismus im Aufwind. Zwar nehmen nur wenige seiner Prediger politisch Stellung. Aber der strenge Glaube ist Ausdruck einer moralischen Revolte gegen den Staat.

32 Geflüchteten mit Bildung helfen Die Palästinenserin Sylvia Haddad bringt syrische Kinder im Libanon

bis zum Abitur Erhard Brunn

34 Neue Heimat Tansania Das Land hat Hunderttausende Burunder eingebürgert Prosper Kigwize

35 Bücher zum Thema

welt-blicke

36 Äthiopien: Hoffnung trotz Hunger Auf die schwerste Dürre seit Jahrzehnten ist das Land gut vorbereitet Philipp Hedemann

39 Algerien: Der Staat wünscht andere Prediger Die Regierung will radikale Strömungen des Islam zurückdrängen Anouar Boukhars

43 Südafrika: Das Schweigen brechen Westliche Konzepte passen oft nicht – Psychologen entwickeln

eigene Therapien für Gewaltopfer Birgit Morgenrath

46 „In meiner Muttersprache kann ich direkter sein“ Gespräch mit dem kenianisch-amerikanischen Autor Mukoma Wa Ngugi

über Heimat, Krimis und Rassismus

NIc

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ANN

ES/L

AIF

Journal 48 Medien: Jeden Tag eine gute Idee

49 Studie: Was passiert zwischen Baumwollfeld und Discounter?

50 Flüchtlinge: Berichte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz

53 Berlin: Das Entwicklungsministerium entdeckt die Religion

54 Schweiz: Armutsbekämpfung versus Friedens-förderung

55 Brüssel: Keine Einigung bei Konfliktrohstoffen

57 Kirche und Ökumene: Kirchengemeinden am Persischen Golf wachsen

59 Personalia

Standpunkte 6 Die Seite Sechs

7 Leitartikel: Von wegen sauber. Elektroautos verdienen keine Prämie

Gesine Kauffmann

8 Kommentar: Schluss mit der Politik der Wider-sprüche! Die Nachhaltigkeitsziele stärken die alte Forderung nach mehr Kohärenz

Claudia Schwegmann

10 Leserbriefe

11 Herausgeberkolumne: Barmherzigkeit als Antrieb. Beim Klimaschutz muss es stärker als bisher um Gerechtigkeit gehen

Pirmin Spiegel

Service

60 Filmkritik

60 Rezensionen

64 Impressum

65 Termine

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Standpunkte DIE SEITE SECHS

Reife LeistungDer Muslim kommt, das Schwein geht. In Finsterdeutschland wird gerade mal wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben: Immer mehr Kindertagestätten strei-chen Schweinefleisch von ihren Speiseplänen, von Flensburg bis Passau, von Stuttgart bis Dresden. Vor allem aus gesundheitlichen und geschmacklichen Gründen, beteuern die meisten Kita-Betrei-ber. Wer’s glaubt, ist ein Opfer der Lügenpresse: Der Islam steckt da-hinter und eine falsche Toleranz, wissen die selbst ernannten Ret-ter deutscher Werte und Kultur – und fordern, es der dänischen Stadt Randers nachzumachen: Der Stadtrat dort will sich diese Schweinerei nicht mehr gefallen lassen und hat angeordnet, dass alle öffentlichen Einrichtungen in ihren Kantinen Kotelett und Co servieren, auch wenn’s dem Muslim sauer aufstößt. Es gehe um die dänische Kultur, ein-schließlich der Esskultur. Das ist in zweierlei Hinsicht bemerkens-wert: Zum einen ist ein Land, das seine Kultur mithilfe von Schwei-nemett und Rostbratwürsten verteidigen muss, ohnehin dem Untergang geweiht, ganz ohne is-lamische Invasion. Zum anderen weiß jeder Dänemark-Besucher, dass unsere wackeren Nachbarn im Norden alles Mögliche haben, aber bestimmt keine Esskultur.

Andererseits stimmt es ja: Es kann nicht sein, dass Julian, Char-lotte und Paul in der Kita jetzt auch noch beim Essen Rücksicht nehmen müssen auf Mustafa, Ahmed und Fatima. Wir sind ein freies Land, wo jeder essen darf, was er will – und nicht nur das, was irgendein Prophet oder heili-ges Buch für bekömmlich halten. Das gilt dann aber auch für die Ernährungsratgeber müslimamp-fender Mittelschichteltern. Sollen die Kinder doch selbst entschei-den, auch wenn es morgens, mittags und abends auf Kuchen, Cola und Cornflakes hinausläuft. Und auch auf die Gefahr hin, dass das den Mamas und Papas von Julian, Charlotte und Paul gehörig auf den Magen schlägt.

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Wer ist’s?Sie ist stark, mutig und schön – ein Vorbild für viele Frauen, nicht nur in ihrer afrikani-schen Heimat. Schon als jun-ges Mädchen rebellierte sie ge-gen ihr Schicksal. Sie sollte mit einem alten Mann verheiratet werden, doch sie lief von zu Hause weg und kam zunächst bei Verwandten in der Haupt-stadt ihres Heimatlandes un-ter. Doch das war nicht weit genug entfernt. Um die Fami-lien ehre zu bewahren, musste sie das Land verlassen und wurde in den Norden geschickt – auf einen Weg, den inzwi-schen viele junge Afrikanerin-nen und Afrikaner freiwillig wählen. Sie musste viel durch-machen, bis sich ihr Schicksal wendete; zeitweise lebte sie auf der Straße, zeitweise in einem Heim. Doch sie war zäh – und sie hatte Glück. Plötzlich war sie jemand, sie machte Karrie-re, wurde berühmt und ein-flussreich. Diesen Einfluss

nutzt sie auch für ihr soziales Engagement, ihren Kampf ge-gen eine Menschenrechtsver-letzung, die sie selbst erlitten hat. Mit über 30 Jahren sprach sie das erste Mal öffentlich über dieses Verbrechen – das sei sehr belastend gewesen, aber sie habe es nie bereut. Es sei ihre „Mission“, diese Praxis auszurotten, betonte sie ein-mal in einem Interview. Dafür hat sie Bücher geschrieben, hat Filme gedreht und ist mehr-fach ausgezeichnet worden. Umso frustrierender müssen für sie die jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen gewesen sein, die belegen, dass der Kampf nicht so leicht zu ge-winnen ist. Sie wird ihn sicher mit vollem Einsatz fortführen. Wer ist’s?

Auflösung aus Heft 2-2016: gesucht war der Milzbrand, der durch den bacillus anthracis verur-sacht wird.

„Diese Gespräche werden in Vergessenheit geraten

durch Armeestiefel, durch die Demokratie der

Armeestiefel.“ der syrische Politologe Hasan Hasan im syrischen Staatsfernsehen zu den

Friedensgesprächen in genf.

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S ie sind Ladenhüter. Zu teuer, zu geringe Reich-weite, zu wenige Stromtankstellen, zu lange La-dezeiten für den Motor: Elektroautos sind bei

deutschen Autofahrern wenig beliebt. Rund 218.000 Fahrzeuge wurden im Januar neu zugelassen, Benzi-ner lagen knapp vor den Dieseln, weit abgeschlagen folgten Elektromodelle wie Tesla, BMWi3 und Co mit 0,2 Prozent. Insgesamt fahren auf deutschen Stra-ßen bislang rund 19.000 E-Autos – rund eine Million sollen es bis 2020 sein, auf diesem Ziel beharrt die Bundesregierung seit Jahren. Doch Beharren alleine nützt eben nichts. Deshalb soll es jetzt wieder einmal eine Prämie richten. 5000 Euro pro Auto soll sie nach dem Willen von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) betragen. Die Unterstützung reicht von den Grünen bis zur CSU, Finanzminister Wolf-gang Schäuble hält allerdings dagegen. Im März will die Regierung eine gemeinsame Lösung gefunden haben.

Wir erinnern uns: Schon 2009 sollte eine Um-weltprämie – als „Abwrackprämie“ zum „Wort des Jahres“ gekürt – dafür sorgen, dass alte Spritfresser gegen abgasärmere Modelle getauscht werden. Au-tomobilindustrie und Umwelt sollten davon glei-chermaßen profitieren. Doch die ökologische und die ökonomische Bilanz waren bestenfalls gemischt, langfristige Effekte suchten Wissenschaftler verge-bens. All das scheint vergessen – oder der Blick nach China ist zu verführerisch. Peking sieht in der Elekt-romobilität einen wichtigen Weg, um der Umwelt- und Gesundheitsbelastung durch Smog in den chi-nesischen Großstädten zu Leibe zu rücken. Chinas Führung hat deshalb mit Hilfe von Steuererleichte-rungen den Absatz von E-Autos angekurbelt. Im ver-gangenen Jahr wurden rund eine Viertel Million Elektroautos in der Volksrepublik verkauft, mehr als doppelt so viele wie 2014, und erstmals mehr als in den USA.

Doch das taugt nicht als Vorbild. Keine Frage: Im Verkehr müssen Emissionen eingespart werden – ebenso wie in vielen anderen Bereichen, wenn Deutschland seine Klimaziele erreichen will. Doch die Elektromobilität kann dazu beim derzeitigen Stand der Technik keinen Beitrag leisten: Die Ökobi-

lanz der E-Autos ist zu schlecht. Ihre Produktion setzt laut einer Studie des Fraunhofer-Institutes fast zwei Drittel mehr Kohlendioxid frei als die von Autos mit Verbrennungsmotor, besonders energieintensiv ist die Herstellung der Akkus und der aus Aluminium gefertigten Karosserien. Bis dieser Nachteil in der Gesamtbilanz ausgeglichen ist, muss man 20.000 Kilometer fahren – und auch das reicht nur, wenn man Strom aus Sonne und Wind tankt. Mit dem ge-genwärtigen Strommix müssen je nach Berechnung zwischen 60.000 und 100.000 Kilometer zurückge-legt werden, damit ein E-Auto eine bessere Klimabi-lanz aufweist als ein Benziner.

Eine Kaufprämie für Elektroautos ist verschwen-detes Geld. Sie ist ein Geschenk an die Autoindustrie und alle diejenigen, die sich ohnehin ein solches Fahrzeug für mehrere zehntausend Euro leisten kön-nen und die Prämie gerne mitnehmen, vielleicht für ihren Zweit- oder Drittwagen. Sie heizt den Individu-alverkehr an und setzt damit die falschen Anreize – denn es muss um einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gehen. Wenn schon eine staatliche För-derung, dann sollte sie der Elektrifizierung von Stadtbussen – und damit der Allgemeinheit – zu Gute kommen. Auf den festgelegten Bustouren lie-ßen sich Nutzung und Aufladen gut organisieren, den smoggeplagten Innenstädten würde die saube-rere Luft besonders guttun.

Die umstrittene Kaufprämie lenkt die Diskussi-on über eine umwelt- und gesundheitsfreundliche Verkehrspolitik auf ein Nebengleis. Denn dafür ist mehr nötig, als den Absatz von E-Autos anzukurbeln. Zum Beispiel der Mut, auf deutschen Autobahnen das längst fällige Tempolimit von 120 Stundenkilo-metern einzuführen. Es ist ein Armutszeugnis, dass eine solch einfache Maßnahme, die nachweislich Emissionen einspart und die Verkehrssicherheit er-höht, noch immer nicht durchgesetzt wird. Das hie-ße natürlich, den freien deutschen Bürgern ihre freie Fahrt zu nehmen – und da will sich kein Politiker die Finger verbrennen. Bei der Durchsetzung der gesetz-lich vorgesehenen Abgas- und Verbrauchswerte von Autos mit Diesel- und Benzinmotoren ist der politi-sche Wille ebenfalls nicht besonders ausgeprägt.

Auch in den Ausbau der Fahrradwege sollte mehr Geld investiert werden, um den Umstieg auf eine an-dere Form von Elektromobilität zu fördern: E-Bikes. Sie erfreuen sich nicht nur bei Freizeitradlern wach-sender Beliebtheit. Kurze bis mittlere Entfernungen lassen sich damit ohne weiteres zurücklegen, ohne allzu sehr ins Schwitzen zu geraten – auch auf dem Weg ins Büro.

LEITARTIKEL Standpunkte

Von wegen sauberElektroautos verdienen keine Prämie

Von Gesine Kauffmann

Gesine Kauffmann ist Redakteurin bei .

Eine umweltfreundliche Verkehrspolitik braucht den Mut, auf deutschen Autobahnen

das längst fällige Tempolimit einzuführen.

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Standpunkte KOMMENTAR

Billigfleischexporte nach Westafri-ka, Waffenexporte in Krisenregio-nen – oft konterkarieren wirt-schaftliche Interessen die Bemü-hungen der deutschen Entwick-lungszusammenarbeit. Um das zu ändern, müssen sich zivilgesell-schaftliche Entwicklungsorganisa-tionen jetzt in die Debatte über eine neue Nachhaltigkeitsstrate-gie für Deutschland einschalten.

Die im vergangenen Herbst ver-abschiedeten Ziele für nachhalti-ge Entwicklung (Sustainable De-velopment Goals, SDGs) bieten eine Chance, der Forderung nach Kohärenz neuen Auftrieb zu ge-ben. Entwicklungsförderndes Re-gierungshandeln ist selbst eines der Nachhaltigkeitsziele. Außer-dem betreffen die SDGs etliche entwicklungspolitisch relevante Politikbereiche wie die Handels- oder die Sicherheitspolitik. Und schließlich liegt die Umsetzung der SDGs in der Verantwortung der gesamten Bundesregierung und erfordert, dass sich die Res-sorts untereinander abstimmen.

Bis kommenden Juni wer-den in Deutschland wichtige Weichen zur Verwirklichung der 2030-Agenda gestellt. Gegen-wärtig erarbeitet die Bundesre-gierung unter Federführung des

Kanzleramtes einen nationalen Umsetzungsplan der Agenda; der Plan ist Teil der neuen nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, die im Herbst verabschiedet werden soll. Die Zivilgesellschaft sollte diese Chance nutzen und sich aktiv in diese Arbeit einbringen, um ihr Anliegen nach entwicklungspoli-tischer Kohärenz voranzutreiben.

Wichtig für ambitionierte Nachhaltigkeitsziele und für die Kontrolle, ob sie erreicht werden, ist die Definition von angemes-senen Indikatoren, denn nur was gemessen wird, wird auch erle-

digt. Es muss verhindert werden, dass die in harten Verhandlungen erreichten Kompromisse bei den Zielen durch die Indikatoren wie-der aufgeweicht werden. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um diese Diskussion von zivilgesellschaft-licher Seite mitzugestalten.

Im Gegensatz zu den lang-wierigen Verhandlungen über die Nachhaltigkeitsziele stand die Definition der Indikatoren bis-her kaum im entwicklungspoliti-schen Rampenlicht. Auf interna-tionaler Ebene ist die Suche be-reits weitgehend abgeschlossen. Eine kleine internationale Exper-tengruppe, die Inter-Agency and Expert Group on the SDG Indica-tors, hat nur vier Monate nach der Verabschiedung der 2030-Agenda einen Vorschlag von 229 Indika-toren an die UN-Kommission für Statistik übermittelt, von denen 80 noch weiter diskutiert werden sollen.

In Deutschland hingegen ste-hen wichtige Entscheidungen zu den Indikatoren auf nationaler Ebene noch an. Bislang haben alle Ministerien Indikatoren für die anstehende Nachhaltigkeitsstra-tegie vorgeschlagen. Die Zivilge-sellschaft soll sich in einer öffent-lichen Konsultation einbringen können, allerdings ohne die Vor-schläge der Ministerien zu ken-nen, da diese nicht öffentlich sind. Sowohl die offiziellen Vorschläge als auch die Ergebnisse der Kon-sultation sollen im Sommer in eine Endfassung fließen, die dann im Oktober verabschiedet wird. Ob die Beteiligung der Öffentlich-keit großen Einfluss auf das End-ergebnis haben wird, darf bezwei-felt werden. Unter der Hand sig-nalisieren Vertreter von Ministe-

rien und Bundestagsabgeordnete, dass nach der Veröffentlichung des ersten Entwurfs für die Nach-haltigkeitsstrategie im Mai we-sentliche Änderungen schwierig sein werden.

Bisher haben nichtstaatliche Organisationen verschiedene Po-sitionspapiere zur 2030-Agenda und zur deutschen Umsetzung veröffentlicht. Das ist sinnvoll, reicht jedoch nicht. Das Kernstück der nationalen Nachhaltigkeits-strategie sind die Indikatoren. Der Rechenschaftsbericht, den die Bundesregierung alle zwei Jah-re zur Nachhaltigkeitsstrategie veröffentlicht, heißt nicht ohne Grund „Indikatorenbericht“. Die Ministerien senden dem Kanz-leramt gegenwärtig nicht irgend-welche Positionspapiere, sondern Vorschläge für maßgebliche Indi-katoren. Sie sind das Herzstück ei-ner ambitionierten 2030-Agenda. Und sie sind entscheidend dafür, die Regierung an ihren Zielen zu messen. Die Fachleute in den zi-vilgesellschaftlichen Organisatio-nen müssen sich deshalb in diese Debatte einbringen.

Gute Vorschläge für Indika-toren für die nächste deutsche Nachhaltigkeitsstrategie sind des-halb dringend nötig, weil der von der internationalen Experten-gruppe vorgelegte Katalog völlig unzureichend ist. Knapp 30 der 229 Indikatoren beziehen sich auf Unterziele, die für Deutschland gar nicht relevant sind, beispiels-weise der Indikator zur Anzahl der Bankautomaten pro 100.000 Erwachsene. Andere Indikatoren wiederum sind nicht sinnvoll auf nationaler Ebene, weil sie sich nur auf die internationale Ebene be-ziehen wie zum Beispiel der Indi-

Schluss mit der Politik der Widersprüche!Die Nachhaltigkeitsziele stärken die alte Forderung nach mehr Kohärenz

Von Claudia Schwegmann

Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten eigene Indikatoren für

die Nachhaltigkeitsziele vorschlagen.

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KOMMENTAR Standpunkte

kator zur Anzahl der Länder mit Aktionsplänen zu nachhaltigem Konsum.

Besonders problematisch ist, dass mehr als die Hälfte der Indi-katoren die vereinbarten Unter-ziele nur teilweise abdeckt. So hat zum Beispiel Unterziel 16.4 zu il-legalen Finanzströmen, zum Waf-fenhandel, zur Rückgabe gestoh-lener Vermögenswerte und zum organisiertem Verbrechen nur Indikatoren zu zwei dieser vier Punkte. Zahlreiche Indikatoren spiegeln zudem nicht die beson-dere Verantwortung von Indus-triestaaten wie Deutschland für die Erreichung der entsprechen-den Ziele wider. Genau da, wo entwicklungspolitische Kohärenz anfängt, hören diese Indikatoren auf. Ein gutes Beispiel dafür ist das Unterziel 3.3 zur Bekämpfung tropischer Krankheiten. Die dazu vorgeschlagenen Indikatoren der internationalen Expertengrup-pe messen Gesundheitsdaten

wie die Anzahl der Malariafälle auf 1000 Einwohner. Die Verant-wortung von Industriestaaten, ärmeren Ländern Zugang zu er-schwinglichen Medikamenten zu ermöglichen, findet hingegen kei-ne Erwähnung.

Zivilgesellschaftliche Orga-nisationen sollten deshalb eige-ne, anspruchsvollere Indikatoren vorschlagen. Drei Punkte sollten sie dabei beachten: Ersten soll-ten die Indikatoren so konkret wie möglich sein und Schwellen-werte enthalten, wann ein Wert als gut und wann als schlecht zu bezeichnen ist. Zweitens sollte die Zivilgesellschaft dem Ansin-nen der Bundesregierung entge-gentreten, die Zahl der Indikato-ren für Deutschland möglichst klein zu halten. Die 2030-Agen-da ist hoch komplex, die 17 Nach-haltigkeitsziele haben 169 Unter-ziele. Themen, die nicht in Indi-katoren abgebildet werden, ris-kieren unter den Tisch zu fal-

len. Drittens sollte die Zivilgesell-schaft darauf drängen, dass auch von ihr erhobene Daten zur Kon-trolle der 2030-Agenda berück-sichtigt werden. Entwicklungspo-litische Organisationen sammeln über ihre Projekte seit Jahren Da-ten, um Fortschritte in bestimm-ten Politikfeldern zu messen. Im Sinne der vielbeschworenen Mul-tistakeholder Partnerschaft und der Effizienz ist es sinnvoll, auch solche Daten für die Kontrolle der 2030-Agenda heranzuziehen.

Über Indikatoren zu streiten, ist nicht besonders sexy. Aber an-gesichts der mageren Fortschritte in den vergangenen Jahren, ent-wicklungspolitisch kohärentes Regierungshandeln voranzubrin-gen, und angesichts der großen Chance, die die Nachhaltigkeits-ziele genau dafür bieten, muss sich die entwicklungspolitische Zivilgesellschaft jetzt in die Dis-kussion einmischen. In wenigen Monaten ist es zu spät.

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Claudia Schwegmann ist Vorstandsmitglied der open

Knowledge Foundation deutschland und leitet das Projekt 2030-Watch.de zum Monitoring der 2030-Agenda in

deutschland.

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Standpunkte LESERBRIEFE

LESERBRIEfE

Die Mörder sind MuslimeZum Kommentar „Neuer terror, alte dummheiten“, welt-sichten 12/2015-1/2016Man muss den Scharfsinn von Frau Kaldor bewundern. Es ist in der Tat schon ein Unterschied, ob ich von Akademikern aus der Mit-telschicht umgebracht werde oder von ungebildeten, arbeitslosen Amateuren aus den Problemzo-nen der großen Städte. Wie die meisten Artikel zum Thema ver-meidet auch dieser den scharfen Blick auf eine unübersehbare Tat-sache: Die Mörder sind Muslime. Willkürlich angefangen bei Lo-ckerbie über 9/11 über unzählige Anschläge auf Moscheen von Sun-niten/Schiiten, wobei die eigenen Glaubensbrüder zerfetzt werden, bis zum aktuellen Verbrechen: Die Mörder sind Muslime. Es ist daher suboptimal, auf Entschei-dungen von Hollande, Assad oder Putin zu warten. Die Vorbereitun-gen zu allen Attentaten beginnen in unserer Nachbarschaft. Daher ermöglichen erst Schweigen und Wegschauen Untaten wie diese. Zu viele Mitbürger wollten Multi-kulti, jetzt wird manch einer zu

Besinnung kommen. Gleichge-sinnte töten sich nicht.

Es ist nicht zu erwarten, dass Ihre Postille meine Meinung ver-öffentlicht, die Schere höre ich schon klappern. Gespannt darf man sein, was „welt-sichten“ schreibt, wenn demnächst Deut-sche in großer Zahl von Moslems ermordet werden.

Georg Lohmann, welt-sichten.org

Diplomatische floskelnZum Interview „die Wiedervereinigung ist weiter weg denn je“, welt-sichten 12/2015-1/2016Dieses Interview ist grotesk. Stel-lenweise weiß man nicht, ob hier ein Vertreter einer deutschen Mis-sionsgesellschaft oder ein Spre-cher von Kim Jong Un interviewt wird. Es verschlägt einem die Sprache, wenn Lutz Drescher sagt, man dürfe Nordkorea nicht auf die Frage der Menschenrechte re-duzieren. Oder wenn er sagt, man müsse vorsichtig sein mit Aussa-gen zur Verfolgung von Christen in dem Land, darüber wisse man zu wenig. Ich habe keine Zweifel an der Wichtigkeit der Arbeit von

Herrn Drescher. Ich habe auch vol-les Verständnis dafür, dass er ext-rem zurückhaltend sein muss mit öffentlichen Äußerungen, um sei-ne nordkoreanischen Partner und die Zukunft seiner Arbeit nicht zu gefährden. Aber wenn man ein Interview voller diplomatischer Floskeln und ohne Bezug zur Re-alität vorliegen hat, dann sollte eine kritische Zeitschrift auf den Abdruck verzichten.

Albrecht Benzing, Zimmern

Keine Alternative zur „grünen Revolution“Zum Artikel „Mit Knoblauch gegen Heuschrecken, welt-sichten 12/2015-1/2016Gegen Bio-Anbau ist nichts einzu-wenden, auch nicht in Indien. Aber der Bio-Anbau ist überall auf der Welt eine Nische, die nur dann signifikant höhere Preise für den Produzenten sichert, wenn er eine Nische bleibt und nicht alle auf den Zug aufsprin-gen. Als Vermarktungsstrategie eine feine Sache, aber ob sich da-mit die vielfältigen Probleme der indischen Landwirtschaft lösen lassen, darf bezweifelt werden.

Nur eine Intensivierung der Pro-duktion kann Ressourcenscho-nung und steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln unter einen Hut bringen. Genau das hat die

„Grüne Revolution“ bewirkt: die Versorgung einer rasant wachsen-den Bevölkerung ohne Ausdeh-nung des Anbaus in ökologisch fragile Gebiete. Dieser Spagat funktioniert nur durch steigende Hektarerträge, und das ist sicher nicht die Kernkompetenz des Bio-Anbaus.

Ohne die „grüne Revolution“ wäre das Wachstum der Bevölke-rung gar nicht möglich gewesen, die sich in Indien seit den 1950er Jahren etwa vervierfacht hat. Es gab keine Alternative zur schnel-len Modernisierung der Land-wirtschaft, nachdem die Nah-rungsmittelversorgung in den 1960er Jahren – als der sozusagen „vorrevolutionäre Bio-Anbau“ noch Standard war – extrem an-gespannt war und viele Men-schen in Indien verhungerten. Das sollte nicht vergessen werden.

Martin Benninger, welt-sichten.org

die Redaktion freut sich über Leser-briefe, behält sich aber vor, sie zu kürzen.

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11HERAUSGEBERKOLUMNE Standpunkte

„Mit einem kleinen Hammer kann man große Dinge erreichen.“ Mit diesen Worten besiegelte der fran-zösische Außenminister Laurent Fabius am 12. Dezember 2015 überraschend eilig das Klimaab-kommen von Paris. Bis zuletzt hatten 195 Staaten um den Ver-tragstext gerungen. Fabius, so schien es, wollte jede weitere Ver-zögerung vermeiden. Nun müs-sen die Unterzeichnerstaaten alle weiteren Schritte im Kampf gegen den Klimawandel einleiten bezie-hungsweise weiter auf den Weg bringen.

Denn die Ziele für die Vermin-derung von Treibhausgasemissio-nen (INDCs), die die Regierungen 2015 für ihre Länder jeweils festge-legt haben, reichen in der Summe bei weitem nicht aus, um die in Paris gesteckten Ziele zu errei-chen. Gerade wenn die Weltge-meinschaft eine Obergrenze von deutlich unter zwei Grad für die Erderwärmung anstrebt, müssen alle bisherigen Maßnahmen zum Klimaschutz sofort intensiviert werden. Vor allem um der Armen und Verletzlichsten willen, deren Lebensgrundlagen bereits jetzt von den Auswirkungen des Klima-wandels bedroht sind.

Dass die Weltgemeinschaft nach jahrelangem und oftmals er-folglosem Ringen gemeinsam zu einem vielversprechenden Ergeb-

nis gefunden hat, ist ein großer Erfolg. Es kann als Ausdruck der Einsicht gewertet werden, dass die Sorge um die Erde als „unser ge-meinsames Haus“, wie sie Papst Franziskus in seiner Enzyklika

„Laudato Si‘“ bezeichnet, eine Auf-gabe ist, die nur gemeinsam be-wältigt werden kann.

Der Geist von „Laudato Si‘“ war in Paris präsent: in den Reden der Staats- und Regierungschefs, in-klusive hoher Vertreter des Vati-kans, aber auch in den Botschaf-ten vieler kirchlicher und nicht-kirchlicher Organisationen. Die Vorschusslorbeeren der Öffent-lichkeit müssen den Regierungen – insbesondere den Industrielän-dern als Hauptverursachern des Klimawandels – Antrieb sein, nun tatsächlich ein Mehr an Gerechtig-keit in die Klimafrage zu bringen.

„Das Recht ströme wie Wasser; die Gerechtigkeit wie ein nie ver-siegender Bach“ ist das Motto der diesjährigen Fastenaktion von Misereor. Die Klage des Propheten Amos (5,24) gegen Unrecht und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit entspringen einer Haltung, der das eigene wie das fremde Leiden nicht gleichgültig ist: der Barm-herzigkeit. Dies ist die Grundhal-tung Gottes gegenüber allen Men-schen, besonders gegenüber den Armen, den Benachteiligten, den Verletzlichen und gegenüber al-len, deren Leben bedroht ist und die um ihre Rechte gebracht wer-den. Auch für die Umsetzung der Ergebnisse von Paris ist die Hal-tung der Barmherzigkeit eine ent-scheidende Triebfeder. Im Kon-text der Klimafrage bedeutet sie, dass uns die Menschen in den ver-

letzlichen Regionen nicht gleich-gültig sind. Es geht dabei um nicht weniger als den Horizont einer weltweiten Solidarität.

Mit der Anerkennung klima-bedingter Verluste und Schäden (loss and damage) im Pariser Ab-kommen ist ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung getan. Auch das ambitionierte Tempera-turziel ist Ausdruck des Bestre-bens, weitere Risiken und Schä-den als Folge des Klimawandels möglichst klein zu halten. Damit all dies keine bloßen Lippenbe-kenntnisse sind, müssen die In-dustriestaaten deutlich vorange-hen – auch wenn sich in Paris alle Staaten zu mehr Klimaschutz ver-pflichtet haben.

Ein Schlüssel hierzu liegt im Energiesektor, auch in Deutsch-land. Übereinstimmend mit den Beschlüssen der G7 auf dem Gip-fel in Elmau forderte Bundeskanz-lerin Angela Merkel in Paris eine

„weitgehende Dekarbonisierung“ und die „grundlegende Transfor-mation aller Sektoren unseres Wirtschaftens“. Klimagerechtig-keit steht auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Abbau von Kohle und ihrer Verstromung in Deutschland und Europa. Auch die Konsumgewohnheiten wach-sender Mittelschichten und glo-balisierte Produktionsweisen – die sogenannten Schwellenländer eingeschlossen – stehen einem Mehr an Gerechtigkeit in der Kli-mafrage entgegen.

Deutlich wird: Es geht um tief-greifende Veränderungen in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Daher muss auch die Umsetzung der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) im Rahmen der Agenda 2030 konsequent mit den Pariser Beschlüssen zum Kli-maschutz zusammen gedacht werden. Dies zu erkennen und umzusteuern, anders zu leben so-wie gerechte und nachhaltige Re-geln für unser Zusammenleben zu finden – dazu ist die Haltung der Barmherzigkeit ein Antrieb.

Barmherzigkeit als AntriebBeim Klimaschutz muss es stärker als bisher um Gerechtigkeit gehen

die Beschlüsse der Klimakonferenz von Paris weisen in die richtige Richtung. Für die umsetzung müssen sich die Lebens- und Konsumgewohnheiten vor allem in den reichen Ländern tiefgreifend ändern. Voraussetzung ist eine Haltung, der das eigene wie das fremde Leiden nicht gleichgültig ist.

Von Pirmin Spiegel

Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer des

katholischen Hilfswerks Misereor.

Es geht beim Klimaschutz um nicht weniger als den Horizont einer

weltweiten Solidarität.

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schwerpunkt flucht und migration12

3-2016 |

Neue Heimat: Die familien von Ahmad und Ali Ghazni aus Afghanistan in der Aufnahmestelle für flüchtlinge in Halberstadt in Sachsen-Anhalt.MAttHIAS BEIN/dPA/PIctuRE ALLIANcE

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flucht und migration schwerpunkt 13

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S chlichte Rezepte haben Konjunktur: Populisten in Europa verlangen, die Landesgrenzen dicht zu machen. Manche Regierungen sprechen

vornehmer von der Sicherung der Außengrenzen. Er-gänzend oder als Alternative heißt es, man müsse den Migrationsdruck verringern. Dazu solle man in armen Ländern Entwicklung fördern, besonders in Afrika mit seiner jungen und stark wachsenden Be-völkerung, sagt etwa der deutsche Entwicklungsmi-nister Gerd Müller. In der Debatte treten Annahmen über Migration zutage, die näherer Überprüfung nicht standhalten.

Kommen die meisten flüchtlinge nach Europa?Keineswegs. Richtig ist, dass mehr Menschen infolge von Kriegen von ihrem Wohnort vertrieben worden sind als je zuvor: Laut dem Flücht-lingskommissar der Vereinten Natio-nen hat die Zahl 2015 die Grenze von 60 Millionen überschritten. Schät-zungsweise 38 Millionen leben aber weiter im eigenen Staat – also in Län-dern wie Syrien, dem Südsudan und Zentralafrika, von denen die meisten arm sind, von Kämpfen zerrissen oder beides. Ins Ausland geflüchtet waren Mitte 2015 etwa 20 Millionen Menschen, manche bereits vor langer Zeit – so die Palästinenser, die im Zuge der Gründung Israels geflohen sind und mit ihren Nach-kommen nun fünf Millionen zählen. Die meisten Flüchtlinge haben in Nachbarländern der Kriegs-schauplätze Aufnahme gefunden. Die sind dadurch wesentlich mehr belastet als die Staaten Europas, zu-mal im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl und ihrem Wohlstand (siehe Grafik Seite 24). Und ein Teil dieser Flüchtlinge zieht, da die Lebensverhältnisse im Gastland desolat sind, nach Europa weiter.

Rund eine Million Menschen sind 2015 über das Mittelmeer nach Europa gekommen, die meisten von der türkei aus. Nun warnen viele, der Alte Kontinent stehe im Brennpunkt eines Ansturms von Flüchtlingen und Armutsmigranten. das ist einer von vielen verbreiteten Irrtümern über Migration.

Von Bernd Ludermann

Fakten gegen die Panikmache

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schwerpunkt flucht und migration14

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Suchen immer mehr Menschen ihr Glück in Aus-wanderung? Nein. Zwar hat die Zahl der Migranten – definiert als Menschen, die mindestens ein Jahr außerhalb ihres Geburtslandes leben – laut Schätzungen der Verein-ten Nationen zugenommen: Von etwa 92 Millionen 1960 auf 172 Millionen 2000 und 244 Millionen 2015. Flüchtlinge sind davon heute grob ein Zehntel. Es ge-hören auch im Ausland Studierende dazu oder Fach-kräfte, die Konzerne ins Ausland schicken. Aber nicht nur die Zahl der Migranten wächst, sondern auch die Bevölkerung. Der Anteil der Migranten an der Weltbe-völkerung liegt heute ungefähr so hoch wie 1960: bei 3,3 Prozent. Bis 1990 ist er leicht gesunken, dann wie-der gestiegen. Ein Teil des Anstiegs hat nicht mit der Bewegung von Menschen über Grenzen zu tun, sondern mit der Schaffung neuer Grenzen: Die Aufteilung der UdSSR machte Sowjetbürger, die zum Bei-spiel in Kasachstan oder Litauen geboren waren und in Russland blieben, und umgekehrt Russen, die in den neuen Staaten blieben, zu Migranten. In geringerem Ausmaß geschah das Gleiche bei der Teilung Jugoslawiens und zuletzt des Sudan. Der Anteil der Weltbevölkerung, der sich ins Ausland aufmacht, ist überschaubar und wächst kaum.

Aber im Norden leben doch mehr Migranten als früher? Das stimmt. Denn die Muster der weltweiten Wande-rungsbewegungen haben sich verändert. Fünf große Trends hat das von Hein de Haas geleitete Projekt über Bestimmungsfaktoren der Migration an der Universität Oxford aufgezeigt: Erstens ist Westeuro-

pa, von wo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch viele nach Amerika oder Australien ausgewan-dert waren, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Einwan-derungsregion geworden. Im Zuge der Dekolonisie-rung kamen Menschen aus den früheren Kolonien in Nordafrika, Südasien und Indonesien in die „Mut-terländer“ Frankreich, Großbritannien beziehungs-weise Niederlande. Deutschland holte im Zuge des Wirtschaftswunders „Gastarbeiter“ aus Südeuropa und der Türkei. Auf den Fall des Eisernen Vorhangs folgte ab den 1990er Jahren eine starke Wanderung von Ost- nach Westeuropa.

Zweitens wandelte sich Lateinamerika von einer Einwanderungs- zu einer Abwanderungsregion. Ein

Grund ist, dass der Subkontinent bis in die 1990er Jahre ökonomisch wieder gegenüber dem Norden zu-rückgefallen ist. Drittens blieben Nordamerika und Australien klassi-sche Zuwanderungsregionen, doch die Migranten kommen nun aus Lateinamerika sowie aus Süd- und Südostasien. Viertens traten Länder wie die Philippinen, Marokko oder Indien als neue Quellen von Mig-ranten auf. Und fünftens sind die reichen Ölstaaten am Persischen

Golf seit den 1990er Jahren zu einem der größten Anziehungspunkte für Migranten geworden, vor al-lem aus Asien.

So kommen Migranten heute aus mehr Ländern des Südens als früher und gehen in weniger Aufnah-meländer, vorzugsweise reiche. Dort ist der Anteil von Migranten an der Bevölkerung höher als in ar-men und er steigt. Im Schnitt liegt der Anteil jetzt bei 13 Prozent mit großen Unterschieden von Land zu Land (siehe Grafik). Nach Europa kommen aus mehr Herkunftsregionen jeweils kleinere Gruppen.

Kommen vor allem die Armen zu uns? Nein. Außer im Fall der früheren Kolonialmächte stammt die Mehrheit der Zugewanderten in Europa aus anderen Ländern dieses Kontinents. Und die Mehrheit der überregionalen Mig-ranten weltweit kommt aus Ländern mit mittlerem Einkom-men. Wie viele sich wo neu auf den Weg gemacht haben, hat das Wittgenstein Center in Wien aus Daten über den Bestand an Migranten in jedem Land errechnet. Danach ist seit 1990 die Abwanderung aus Afrika viel langsamer gewachsen als aus Südasien. In den fünf Jahren von 2005 bis 2010 haben Afrika rund 3,3 Millionen Migranten verlassen; aus Lateinamerika, wo halb so viele Menschen leben, waren es 5,4 Millionen und 8,5 Millionen aus Südasien, das anderthalb Mal so viele Ein-wohner hat wie Afrika. Die größten überregionalen Migrati-onsströme gehen heute von Südasien in die Golfstaaten und von Mittelamerika in die USA. Grob die Hälfte der Afrikaner, die ins Ausland gehen, bleibt auf dem Kontinent – viel mehr als bei Lateinamerika und Südasien.

Zudem kommen Migranten aus dem Süden in aller Regel nicht aus armen Schichten ihres Heimatlandes. Wer hungert

oder im Elend lebt, hat kaum Chancen, nach Europa zu ge-langen. In den Norden gehen die, die dazu die nötigen Mit-tel haben: Geld und eine ge-wisse Bildung. Wichtig ist auch ein Netzwerk von Landsleuten oder Verwand-ten im Zielland, das beim Start hilft. Viele Migranten gehen in Länder und Städte, wo bereits Landsleute sind.

Werden das Bevölkerungswachstum und Umweltkrisen mehr Süd-Nord-Wanderung bringen? Nicht unbedingt. Experten rechnen damit, dass in Zukunft mehr Menschen infolge von Umweltkrisen ihre Lebensgrund-lage verlieren. Ein großer Teil der Opfer dürfte jedoch im eige-nen Land oder in Nachbarländern bleiben. Bei Naturkatastro-phen ist das bisher die Regel – schon weil den Betroffenen die Mittel für den Weg in reiche Länder fehlen. Auch schleichende

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flucht und migration schwerpunkt 15

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Kann man Migration mit Grenzzäunen aufhalten? Das können demokratische und wirtschaftlich offene Staaten nur sehr begrenzt. Zum einen wacht die Justiz über Schutzrechte von Flüchtlingen oder das Recht auf Familiennachzug. Zum anderen behindern Grenzkontrollen den Außenhandel, weshalb mächti-ge Lobby-Gruppen aus der Wirtschaft dagegen arbei-ten. Das Ergebnis ist eine widersprüchliche Politik. Das von Hein de Haas geleitete Projekt hat statistisch untersucht, wie viele Änderungen von Zuwande-rungsregeln in europäischen und anderen Ziellän-dern liberal oder restriktiv waren. Ergebnis: Die Re-geln für Einreise, Aufenthalt und Integration sind ständig gelockert worden – besonders für Studieren-de und qualifizierte Migranten. Gleichzeitig wurden die Grenzkontrollen verschärft, um unerwünschte Gäste auszufiltern. Seit den 1990er Jahren wurden zu-dem die Regeln für Ausweisungen schärfer.

Grenzkontrollen in Demokratien können Zuwan-derung erschweren, aber nicht verhindern. Migran-ten finden dann andere Wege – notfalls mit Schleu-sern. Und der gegenwärtige Ansturm von Flüchtlin-gen lenkt davon ab, dass irreguläre Migranten meist legal einreisen: Laut einer Untersuchung der Interna-tionalen Organisation für Migration von Mitte 2015 waren neun von zehn afrikanischen Migranten in Spanien mit Visum eingereist und dann abgetaucht

– genauso wie Mitte der 1990er Jahre die große Mehr-heit der „irregulären“ Mexikaner in den USA. Da sind Grenzkontrollen nutzlos. Sie können sogar kontra-produktiv sein: Wer befürchten muss, nach einer Ausreise nicht zurück zu dürfen, bleibt im Gastland und holt seine Familie nach, statt sie im Heimatland zu besuchen. Dieser Effekt hatten zum Beispiel der Anwerbestopp für türkische Gastarbeiter in Deutsch-land und die Befestigung der US-Grenze zu Mexiko. Grenzbarrieren sind oft, wie der Politologe Peter And-reas in den 1990er Jahren für die USA feststellte, in-nenpolitisches Theater: Sie besänftigen fremden-

feindliche Strömungen und nähren Schleuser, ohne die Zahl der Migranten erheblich zu verringern.

Soll man die Schleuser bekämpfen? Das ist Unfug – selbst wenn man davon absieht, dass die meisten Migranten legal einreisen. Schleuser zu bekämpfen, macht informelle Einreisen schwieriger und teurer und damit das Schleusen lukrativer. Das wird aber Migranten nicht aufhalten, die längst so-gar Lebensgefahr in Kauf nehmen, um ihre Chance im Norden zu suchen. Es ändert nichts an den Grün-den der Arbeitsmigration – etwa der Nachfrage nach billiger Schwarzarbeit im Norden. Und erst recht än-dert es nichts an Fluchtursachen. Wer sollte unter dem Bombardement in Aleppo ausharren, weil in der Ägäis Schleuser bekämpft werden?

Schrecken Einschränkungen der Sozialleistungen und des Asylrechts Migranten ab? Das ist unwahrscheinlich. Ob Flüchtlinge zurückge-hen, hängt davon ab, ob der Krieg in ihrer Heimat en-det; so ist die Mehrheit der Bosnier, die nach Westeu-ropa geflohen waren, nach dem Frieden von Dayton 1995 zurückgekehrt. Aber Frieden ist in Syrien, dem Irak und Afghanistan nicht in Sicht, Flüchtlinge von dort können nicht zurück. Ihnen Hilfen zu kürzen und den Zugang zu Asyl zu erschweren, führt vor al-lem dazu, dass EU-Staaten um die schärfsten Regeln wetteifern und sich Flüchtlinge gegenseitig zuschie-ben. Auch gegen Migration hilft Knauserigkeit wenig. Migranten suchen sich ihre Ziele nach Jobchancen und den Netzwerken aus, auf die sie zurückgreifen können. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege da-für, dass Sozialleistungen ein Kriterium sind, erklärt de Haas. Sonst würden nicht so viele in die USA und nach Großbritannien gehen, wo die Sozialsicherung schlecht ist.

Katastrophen infolge des Klimawandels dürften in erster Linie Wanderung im Land oder der Region auslösen, etwa von Bang-ladesch nach Indien. Das Bevölkerungswachstum wiederum bestimmt, wie viele junge Menschen aus einem Gebiet abwan-dern können, aber es sagt allein nichts darüber, wo sie das tun. Entscheidend dafür sind politische Stabilität und wirtschaftli-che und soziale Entwicklung. „Aus den Golfstaaten, wo die Be-völkerung stark wächst, wandert niemand ab, wohl aber aus Osteuropa, wo sie schrumpft“, sagt Hein de Haas, der nun Pro-fessor in Amsterdam ist.

Lässt sich Abwanderung mit Entwicklung bremsen? Nur langfristig. Kurz- und mittelfristig kann man auf Fluchtur-sachen einwirken, indem man Kriege beendet und Geflohene unterstützt. Aber die Arbeitsmigration nimmt zunächst zu, wenn sich sehr arme Länder entwickeln: Auf dem Land werden Arbeitskräfte freigesetzt, die Verstädterung wird beschleunigt, die Gesellschaft mobiler. Menschen verlieren alte Lebens-grundlagen, haben aber neue Chancen, bessere zu finden. Mit

der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, dem Bil-dungsniveau und den Einkommen verbessern sich die Mög-lichkeiten, ins Ausland zu gehen oder einen Familienangehöri-gen zur Arbeit in den Norden zu schicken. Wenn später der Wohlstand weiter zunimmt, sinkt die Abwanderung wieder und wandelt sich in Zuwanderung. Diesen sogenannten Migra-tionsübergang haben Südeuropa und dann Osteuropa nach der Aufnahme in die Europäische Union durchlaufen und in-zwischen auch die Türkei: Dort wandern nun mehr Menschen zu als ab, erklärt de Haas – Flüchtlinge nicht mitgerechnet.

Wenn Subsahara-Afrika sich schneller entwickelt, dürfte also die Abwanderung zunächst wachsen. Man muss aber des-halb keinen Ansturm auf Europa fürchten. Die Zuwanderung aus anderen Regionen dürfte sinken. „Vermutlich wird sich nicht die Zahl, sondern die Herkunft der Migranten in Westeu-ropa ändern: vielleicht weniger Türken und Osteuropäer und mehr Afrikaner“, sagt de Haas. Zudem dürften neue Länder zum Ziel von Migranten werden – etwa China, wenn es poli-tisch und wirtschaftlich stabil bleibt. Schon heute gehen Mig-ranten aus Asien und selbst Afrika dorthin.

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schwerpunkt flucht und migration16

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0 5 10 15 20 25 30 35 Prozent 40

Teil der Migranten, der aus einer anderen Großregion stammt. Zugrunde liegen die sechs Großregionen Europa, Afrika, Nordamerika, Lateinamerika und Karibik, Asien, Ozeanien.

Anteil an der Bevölkerung

Teil der Migranten, der nicht aus Europa stammt.Teil der Migranten, der nicht aus Nordamerika stammt.Teil der Migranten, der nicht aus Asien stammt.

©

Wie viele Einwohner sind Migranten?

Länder mit niedrigem 2000Pro-Kopf-Einkommen 2015

Länder mit mittlerem 2000Pro-Kopf-Einkommen 2015

Länder mit hohem 2000Pro-Kopf-Einkommen 2015

Deutschland 20002015

Schweiz 20002015

Österreich 20002015

Frankreich 20002015

Großbritannien 20002015

USA 20002015

Saudi-Arabien 2000 2015

1,8 %1,4 %

1,1 % 1,2 %

9,2 % 12,5 %

11,0 % 14,9 %

21,9 % 29,4 %

12,4 % 17,5 %

10,6 % 12,1 %

8,0 % 13,2 %

12,3 % 14,5 %

24,6 % 32,3 %

Quelle: UN Population Division (www.unpopulation.org), Stand 2015

Bernd Ludermann ist chefredakteur von .

Gefährdet zu viel Zuwanderung den sozialen Zu-sammenhalt und die Demokratie? Die Frage ist offen. Die Antwort wird sich unter an-derem daran ablesen lassen, ob der Aufschwung von Populismus und Fremden-feindschaft anhält. Eine intelligen-te Verteidigung der These liefert der niederländische Soziologe und Journalist Paul Scheffer. Er betont, dass Migration einen doppelten Verlust bedeutet: Zuwanderer las-sen ihre gewohnte Lebenswelt zu-rück und verändern unwiderruf-lich die der Eingesessenen. Man müsse nun neue staatsbürgerliche Gemeinschaften unter Einschluss der Zuwanderer aufbauen und die damit verbundenen Konflikte und kulturellen Spannungen austragen. Doch kann das nur gelin-

gen, wenn man die Zuwanderung bremst und Gren-zen schließt? Dagegen spricht: Der Verlust an Ge-meinsinn und demokratischer Mitbestimmung in Europa, den Scheffer beklagt, geht nicht in erster

Linie auf Zuwanderung zurück. Größeren Einfluss haben Fehlent-wicklungen wie wachsende sozia-le Ungleichheit, die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhält-nisse und die Privatisierung und Verödung öffentlicher Räume. Sie begünstigen auch irreguläre Zu-wanderung und erschweren es, Migranten zu integrieren. Wer aber gegen diese Fehlentwicklun-gen angehen will, muss sich mit einflussreichen Teilen der eige-

nen Bevölkerung anlegen. Zäune zu bauen, er-scheint erst einmal leichter.

ZUM WEITERLESEN

Mathias czaika und Hein de HaasThe Globalization of Migration: Has the World Become More Migratory?International Migration Review vol. 28 no. 2 (2014), http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/imre.12095/epdf

Paul SchefferDie Eingewandertentoleranz in einer grenzenlosen Weltcarl Hanser Verlag, München 2016 (Neuausgabe), 536 S., 22,90 Euro

UN-Daten zum Bestand an Migranten weltweit: www.unmigration.org

Daten des Wittgenstein Center über Wanderungsbewegungen:http://www.global-migration.info/

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3-2016 |

M isael Contreras blickt ständig um sich: nach links, nach rechts, über

die Schulter. Er sitzt am Tisch ei-nes kleinen Cafés in einer lauten Shopping Mall, Menschen mit vollen Plastiktüten gehen vorü-ber. Contreras ist in ständiger Alarmbereitschaft. Auch wenn er im Stadtbus unterwegs ist. „Du weißt nie, wann und von woher etwas kommt“, sagt er. Seit vier Monaten lebt er wieder in El Sal-vador, seitdem steht er unter Hochspannung. Vorher war er acht Jahre lang in den USA – ille-gal. Und doch war er dort viel ru-higer.

Mit knapp 18 Jahren schickte ihn seine Familie in den Norden. Die Risiken auf dem Weg – Über-fälle, Entführungen, Tod – spiel-ten keine Rolle angesichts der Gefahr, die ihm zu Hause drohte: dem Zwang, sich einer Mara an-zuschließen, einer jener gefährli-chen Jugendbanden, die in Zent-ralamerika ganze Stadtteile kont-rollieren und jeden jungen Mann mit dem Tod bedrohen, der nicht mitmachen will. Im Vergleich dazu kam ihm der lange Weg in den Norden fast schon wie eine Abenteuerreise vor. 6500 US-Dollar hat seine Familie dem „Co-yoten“ bezahlt, dem Schlepper, der ihn über die Grenze brachte. Einen Monat war Misael unter-wegs.

Heute kassieren die „Coyoten“ 12.000 Dollar für solche Dienste, ihre Arbeit tun sie seit Jahrzehn-ten. Die Massenauswanderung von Salvadorianern in die USA be-gann in den 1980er Jahren, eine Folge des bis 1992 dauernden zwölfjährigen Bürgerkriegs. Mehr als zwei Millionen Salvadorianer – rund ein Drittel der Bevölke-rung – leben heute nach Schät-zungen der Regierung in den Ver-einigten Staaten. Der Krieg ist längst vorbei, doch die Gewalt hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Heute sterben in El Salvador so viele Menschen ei-nes gewaltsamen Tods wie zu Zei-ten des Bürgerkriegs: Damals wurden im Durchschnitt 6600 Menschen pro Jahr getötet, so vie-le wie im vergangenen Jahr. Das treibt viele Salvadorianer in die Flucht. In Guatemala hat sich die Zahl der Asylanträge zwischen 2013 und 2014 nahezu verdop-pelt, in Mexiko verdreifacht und in den USA sogar vervierfacht.

Ilopango, ein Vorort der Hauptstadt San Salvador, gilt als besonders gefährlich. Dort wohnt Misael bei seinen Großeltern. Ver-antwortlich für die Gewalt sind vor allem die Jugendbanden. Die größte, die mehrere zehntausend Mitglieder zählende „Mara Salvat-rucha“, haben Kinder von Flücht-lingen in den 1980er Jahren in Los Angeles gegründet. Nach dem

Ende des Krieges wurden die kri-minellen Jugendlichen nach El Salvador abgeschoben und er-richteten dort ihre Herrschaft aus Angst und Erpressung. Mit ande-ren Banden liefern sie sich blutige Gefechte um Einflussgebiete, sie handeln mit Drogen und erpres-sen Schutzgeld.

Aus diesem Hexenkessel ist Misael geflohen. Er wollte eigent-lich bleiben und den Hauptschul-abschluss nachholen. Aber an den Schulen versuchten die Maras, neue Mitglieder anzuwerben, erst freundlich und dann mit Gewalt. Er wurde überfallen, es kam zu ei-ner Schlägerei. „Aber ich hatte Glück“, erzählt er. „Ein Straßenkö-ter in der Nähe hat sich so aufge-regt, dass er einen der Angreifer gebissen hat. Da haben sie aufge-hört.“ Fortan aber war es für ihn noch gefährlicher in Ilopango. Der Stadtpark, die Bushaltestel-len, alle öffentlichen Orte wurden schon damals und werden noch immer von Maras kontrolliert. Er sah keine andere Möglichkeit mehr, als seiner Mutter zu folgen. Die war schon drei Jahre zuvor il-legal in die USA ausgewandert.

An einem frühen Morgen des Jahres 2008 stieg Misa-el an einer Tankstelle im

US-Bundesstaat Maryland aus dem Bus. Seine Mutter wartete dort auf ihn. „Ich war im Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, er-zählt er. „Ich war entspannt. Ich wusste, dass ich hier irgendetwas arbeiten konnte und niemand mich daran hindern würde.“ In seinem ersten Job arbeitete er als Gärtner. Er verdiente 9,50 US-Dol-lar in der Stunde. Später schuftete

Auf vermintem GeländeEin junger Salvadorianer ist in die USA geflohen – nun ist er wieder zurück

El Salvador gilt als gefährlichstes Land in Amerika: die gewalt der Jugendbanden ist außer Kontrolle geraten. Misael contreras hat versucht, ihr zu entkommen.

Text und Foto: Cecibel Romero

18 Schwerpunkt FLUCHT UND MIGRATION

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er auf dem Bau und bekam zwi-schen 600 und 700 Dollar in der Woche. Viel Geld, denn in El Salva-dor verdienen Arbeiter den Min-destlohn von gerade mal 242 Dol-lar im Monat. Doch dann kam die Banken- und Immobilienkrise und er wurde entlassen. Später lieferte er für einen Großhändler Lebensmittel aus, stürzte dabei aber schwer und verlor am Tag darauf seine Arbeit. Immerhin hat ihm ein Anwalt eine Abfin-dung erstritten.

Contreras tat sich dann mit einem salvadorianischen Freund zusammen, der als selbstständi-ger Mechaniker Autos reparierte. „Ich hatte keine Ahnung“, sagt er und lacht. „Ich konnte nicht ein-mal einen Reifen wechseln.“ Er lernte durch Zuschauen und Nachmachen und bald florierte das Geschäft. Misael kaufte sich ein Motorrad, obwohl er keinen Führerschein hat. Weil er immer wieder von der Polizei angehalten wurde, sammelte er ein paar Strafzettel. Zuletzt erwischte man ihn, als er den Wagen eines Kun-den Probe fuhr. Er kam als Wie-

derholungstäter vor Gericht und wurde zu zehn Tagen Arrest ver-urteilt. Damit hatten die Behör-den seine Adresse. Und am frü-hen Morgen des 13. März 2015 wurde er von Beamten der Ein-wanderungsbehörde geweckt.

d ie Gefahr war ihm eigent-lich bekannt. „Seit 2015 kann jeder Illegale, der mit

dem Gesetz in Konflikt gekom-men ist, verhaftet werden – selbst dann, wenn es sich um eine Baga-telle handelt“, weiß Misael. Sieben Monate war er im Gefängnis, weil er kein Geld für die Kaution hatte. Sein Anwalt kämpfte vergeblich gegen eine drohende Abschie-bung. Das Gericht argumentierte, er habe schließlich in den USA keine Familie zu ernähren.

Contreras beantragte Asyl mit dem Argument, er wohne in El Salvador in einer von Banden kontrollierten Gegend, als junger Mann sei dort sein Leben in Ge-fahr. Das Flüchtlingskommissari-at der Vereinten Nationen sieht das genauso: In den Ländern El Salvador, Guatemala und Hondu-

ras herrsche auf Grund der weit verbreiteten Gewalt eine Flücht-lingskrise. Doch der Asylantrag wurde abgelehnt. Contreras wur-de abgeschoben - als einer von gut drei Millionen Menschen aus Zentralamerika, die in der bishe-rigen Regierungszeit von Präsi-dent Barack Obama deportiert wurden. Lateinamerikaner in den USA nennen Obama deshalb den „Deportador en Jefe“, den „Chefab-schieber“.

Als Misael Contreras am 27. Oktober vergangenen Jahres in El Salvador landete, holte ihn sein Großvater vom Flughafen ab. Ilo-pango am Rande von San Salva-dor hat sich stark verändert. „Es ist nicht mehr so, wie es war, als ich gegangen bin“, sagt er. „Das ist heute richtig vermintes Gelände.“ An jeder Ecke stehen schwer be-waffnete private Wachmänner, viele Straßen sind mit hohen To-ren für den Durchgangsverkehr gesperrt. Seit er zurück ist, schläft Misael jede Nacht nur für wenige unruhige Stunden. 2008, als er ging, gab es in El Salvador 55 Mor-de pro 100.000 Einwohner. 2015 waren es 104 – der weltweit höchs-te Wert aller Länder außerhalb von Kriegsgebieten.

Contreras traut sich kaum auf die Straße. Chancen auf einen Job hat er nicht. „Wenn der Arbeitge-ber meine Adresse sieht, heißt es gleich: Ach so, du bist von dort, wo die Mara Salvatrucha herrscht“, erzählt er. Zehn Jahre lang darf er nicht mehr in die USA einreisen. Das kümmert ihn nicht. Er will wieder weg, sobald er das Geld für einen „Coyoten“ aufgetrieben hat. Es hat ja schon einmal geklappt.

Misael Contreras lebt in einem Vorort von San Salvador, der als besonders gefährlich gilt. Die US-Regierung hat ihn dorthin zurück-geschickt.

Cecibel Romero ist freie Journalistin in San Salvador.

Sie schreibt unter anderem für die „tageszeitung“ und betreibt mit

einem Kollegen das Journalismus-Büro Latinomedia.

19FLUCHT UND MIGRATION Schwerpunkt

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schwerpunkt flucht und migration20

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deutschland Anfang 2016 ist in drei Lager ge-teilt: die Optimisten, die Hasserfüllten und die Skeptiker. Wochenlang war über die ersten

beiden Gruppen geschrieben, über ein helles und ein dunkles Deutschland sinniert worden. Inzwischen ist klar, dass es dazwischen noch eine Gruppe gibt: jene, die nie zu einer Pegida-Demonstration gehen würden, sich aber sorgen, dass Angela Merkel sich verhoben hat. Wir schaffen das! Schaffen wir das wirklich?

Nach dem Sommer der Hilfsbereitschaft befin-det sich das Land im Gefühlskater. Die Jubelrufe an den Bahnhöfen sind verhallt. Dort warten inzwi-schen mehr und mehr Bundespolizisten auf die Ge-flüchteten. Der Stimmungsumschwung hat auch mit der paternalistischen Haltung zu tun, die in der Helferstimmung lag. Wer viel erwartet und ent-täuscht wird, verbittert irgendwann. Wie die Migrati-onsströme steuern und die Außengrenzen schützen – das sind die Fragen, die jetzt bewegen. Kein Wun-der. Wo von „Strömen“ geredet wird, ist ein Denken in Begriffen wie „Eindämmen“ nicht weit. Und die Flüchtlingslager brennen wieder, in steigender Zahl. Erinnerungen an die 1990er Jahre werden wach.

Inzwischen hat auch das Thema „unsere Werte“ wieder Hochkonjunktur. Ich frage mich, von wel-chen Werten genau, von welchem „uns“ gesprochen wird. Die Sorge um „unsere Werte“ ist für mich Aus-druck eines Hilferufs in einer komplexer werdenden Welt – ob es nun darum geht, sich mit der Fremdheit der Geflüchteten oder mit vermeintlichen Parallel-gesellschaften auseinanderzusetzen oder seit der Silvesternacht von Köln patriarchalische Frauenbil-der abzuwehren. Persönlich ist mein wichtigster Wert die Freiheit. Im Extremfall verstoßen Extremis-ten dagegen – im Alltag mein Gegenüber durch ras-sistisches Verhalten oder Denken, etwa durch die pauschale Be- oder Verurteilung bestimmter Grup-pen. Auch die Fähigkeit zu differenzieren ist ein wichtiger Wert. Er ist die Grundlage des Rechtsstaats.

Viel wird derzeit über Integration geredet. Über die Idee der CSU zum Beispiel, die Flüchtlinge auf die „deutsche Leitkultur“ verpflichten will. Früher bezog sich diese Debatte hauptsächlich auf Zuwanderer und ihre Nachkommen, etwa aus der Türkei oder Ita-lien, auf die sogenannten Gastarbeiter. Jetzt geht es um die Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan oder um die Eritreer der nächsten Generation. Der Tenor ist gleich geblieben. Wer will und Deutsch lernt, wer sich anstrengt und anpasst, soll eine faire Chance in Deutschland bekommen. Oder besser ge-sagt: kann dafür kämpfen, eine solche Chance zu be-kommen. Denn genau das bedeutet es für viele Ein-wandererkinder.

Viele von ihnen leben eine „hybride Kultur“, wie es in der Sozialwissenschaft heißt: Sie fühlen sich

Wunderbare Parallel- gesellschaftendie Flüchtlinge werden deutschland verändern. das ist anstrengend und erfordert Mut und offenheit. Beides ist das beste Rezept gegen die um sich greifende Angst.

Von Hadija Haruna-Oelker

Integration bedeutet, Absolutheitsansprüche aufzugeben, für alle gesellschaftlichen Gruppen.

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flucht und migration schwerpunkt 21

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mehreren kulturellen Räumen zugehörig. Und sie zählen zu einer Generation, die sich selbstbestimm-te Namen gibt. Sie sind die Schwarzen, die Neuen Deutschen, die People of Colour Generation, und sie fordern Verständnis dafür, dass noch nie alle Deut-schen weiß waren und dass „unsere Werte“ neu über-dacht werden müssen. Auch mein Werteverständnis wurde geprägt von der Erziehung einer christlich-deutschen Mutter und eines muslimisch-ghanai-schen Vaters. Mein Wertekanon ist vielfältig. Das ist ein Gewinn. Ihn anderen zu vermitteln, kostet aller-dings nicht selten Kraft.

Nicht ohne Grund haben sich deshalb die Kinder meiner Generation zusammengetan. Sie schreiben, performen oder bloggen über unser gesellschaftli-ches Verständnis, um unseren Wertevorstellungen in „unserer“ Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Es geht um die Kopftuch-Frage, um das vermeintliche Integrationsdefizit, die Nationalhymne bei der WM nicht mitzusingen, um rassistische Wörter in Kin-derbüchern, diskriminierende Polizeikontrollen oder die Frage nach den Grenzen von Satire. Diese Kinder „mit Migrationshintergrund“, die nicht län-ger so genannt werden wollen, verhandeln jetzt mit. Sie sind Deutschlands Kinder und Zukunft: aufge-wachsen mit oder ohne deutschen Pass, als binatio-nale und „Optionskinder“, die sich mit spätestens 23 Jahren für oder gegen die deutsche Staatsbürger-schaft entscheiden müssen, als Langzeitgeduldete oder irgendwann als die Nachkommen der jetzt neu dazukommenden Geflüchteten. Kein Wunder, dass diejenigen, die die Political Correctness hassen oder

für die der Verlust deutscher Werte kein Ende zu neh-men scheint, sich in die Enge gedrängt fühlen.

Es ist Zeit, anzuerkennen, dass „wir“ noch um eini-ges heterogener in Deutschland sind, als vielen bewusst ist. Wir sind religiös und atheistisch. Wir

sind arm und reich, ohne Schulabschluss oder mit Hochschulbildung. Wir sind deutsch – mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Wir sind Ausländer. Wir entsprechen körperlich oder geistig der gesellschaftli-chen Norm oder nicht. Wir leben heterosexuell und gleichgeschlechtlich, leben zweigeschlechtlich oder transsexuell. All das sind wir. Wir sind nicht einheit-lich, wir leben verschiedene Leben in unterschiedli-chen Milieus – in vielen Parallelgesellschaften.

Für mich ist deshalb die Grundlage der Integrati-on die Pluralität. Integration ist nicht nur ein Vor-gang, bei dem die Neuen zu den Alteingesessenen hinzukommen. Integration bedeutet, Absolutheits-ansprüche aufzugeben, für alle gesellschaftlichen Gruppen. Drehen wir die Perspektive um: Was muss eine Gesellschaft leisten, um integrieren zu können? Sie muss verstehen, dass sich dazu alle Seiten an-strengen müssen. Dass es Engagement und Bereit-schaft braucht, Menschen offen zu begegnen, ihre Geschichten zu akzeptieren und dabei die eigene nicht zu vergessen.

Eine solche Gesellschaft versteht diesen Vorgang nicht als Einbahnstraße. Sie ist offen und erklärt, sie gibt allen Seiten Zeit, zu verstehen. Sie verordnet nicht und fordert auch keine Assimilation, also die einseitige Anpassung der Minderheiten an die Mehr-heit. Sie ist bereit, sich mit ihnen zu verändern, und wagt es, den Bedürfnissen aller Rechnung zu tragen – in allen Lebensbereichen: in den Schulen, auf dem Arbeitsmarkt, in der Politik. Dazu muss eine integrie-rende Gesellschaft bereit sein, sich von Idealvorstel-lungen zu verabschieden und „die Widersprüche der Wirklichkeit auszuhalten und mit dem eigenen Un-vermögen konfrontiert zu bleiben“, wie Bundespräsi-dent Gustav Heinemann das Grundproblem „der Deutschen“ einst beschrieb. Das auszuhandeln, geht nicht ohne Konflikte und Frustrationen. Doch haben wir jahrelange Erfahrung mit Zuwanderung ge-macht.

So braucht unsere Gesellschaft auch den Glau-ben an ihre eigene Kraft und den Mut, Fehler zu ma-chen. Es braucht mehr Empathie und muss nicht immer gleich alles glatt laufen. Oder wie die Journa-listin Dunja Hayali es in ihrer Dankesrede bei der Verleihung der Goldenen Kamera in der Kategorie „Beste Information“ Anfang Februar ausdrückte: „Wahrheit braucht einfach Zeit.“ Wie sinnvoll wäre es, endlich an gemeinsamen Werten zu arbeiten und sich dabei zu fragen, in welcher Welt wir gemeinsam in Deutschland leben wollen. Beginnen wir mit dem Verbindenden – ohne Angst, denn die „fressen be-kanntlich Seele auf“. Denn sollten die erstarkenden Ressentiments gegen muslimisches Leben weiter wachsen, dann wird uns das nachhaltig schaden. Dann hätten wir aus unserer Geschichte so gar nichts gelernt.

Hier in Berlin-Kreuzberg wohnen Menschen aus 120 Nationen. Die Gesellschaft ist vielfältiger, als viele Deutsche wahrhaben wollen.gEtty IMAgES

Hadija Haruna-Oelker, Jahrgang 1980, lebt und arbeitet als

Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Ihre Schwer-

punkte sind Jugend und Soziales, Migration und Rassismusforschung.

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Dass reiche Länder ihre Grenzen abschotten, ist sinnlos und un-menschlich, sagt der Völkerrechtler françois Crépeau. Als UN-Sonder-berichterstatter für die Menschen-rechte von Migranten hat er sich besonders mit Grenzpolitik in Eu-ropa und mit der Ausbeutung von Arbeitsmigranten weltweit be-fasst.

Europa will den Zustrom von Flüchtlingen und Migranten verrin-gern. Ist die Schließung der natio-nalen oder europäischen grenzen eine option?

Das hat in den vergangenen 50 Jahren noch nie funktioniert. Die meisten Grenzen auf der Welt sind durchlässig – eine Ausnahme ist Nordkorea. Man kann Grenzen schließen, indem man alle zehn Meter einen Soldaten mit Schieß-befehl hinstellt. Aber so funktio-nieren Demokratien nicht. Und hier wird territoriale Souveränität falsch verstanden, als bedeute sie, niemanden auf das eigene Terri-torium zu lassen, den man dort nicht haben will. Aber sie bedeu-tet, dass man wissen sollte, wer über die Grenze kommt. Mit der Verbotspolitik drängen wir viele Migranten in die Hände von Schleuserringen. Die helfen ihnen

über die Grenze, ohne dass Behör-den davon erfahren. Der Versuch, Grenzkontrollen zu verschärfen, hat dafür gesorgt, dass Staaten die Kontrolle über ihre Grenzen ver-lieren. Wir schießen uns ins eige-ne Knie.

geht es nur darum, zu wissen wer kommt – nicht auch auszuwählen, wer kommen darf?

Die Idee, auszuwählen, wer kommen darf, ist erst zwei Jahr-hunderte alt. Hier kann man zwi-schen Flüchtlingen und anderen Migranten unterscheiden. Flücht-

linge müssen ihr Land verlassen und können nicht legal zurückge-schickt werden – im Unterschied zu Überlebensmigranten, die ihre Familie in der Heimat nicht er-nähren können. Beide werden aber weiter kommen, ob wir wol-len oder nicht; außer wenn wir auf sie schießen. Und dann wür-den wir in den meisten europäi-schen Ländern große Probleme mit den Gerichten bekommen. Deshalb wollen wir, dass das au-ßerhalb unserer Grenzen passiert.

Wollen Sie sagen, wir bitten zum Beispiel die türkei oder Marokko, auf Flüchtlinge zu schießen?

Wir wollen, dass sie Flüchtlin-ge mit allen Mitteln stoppen, so lange es diskret geschieht. Genau das passiert bereits. In Marokko wurden Tausende Menschen fest-genommen, und Hunderte wur-den in der Wüste nahe der algeri-schen Grenze abgeladen. Viele sind verdurstet. Europa hat das zurückhaltend kritisiert, aber zy-nisch gesagt wird es als gute Ab-schreckung angesehen. An vielen Grenzen weltweit wird Gewalt an-gewendet. Wir sind bereit, dabei Verluste hinzunehmen. Wenn es für Asylsuchende eine Fähre zwi-schen der Türkei und Lesbos gäbe, würde dort niemand sterben. Wenn wir den Hunderttausenden syrischen Flüchtlingen der ver-gangenen drei Jahren ein Visum für 200 Euro angeboten hätten, hätten die meisten bezahlt und den europäischen Staaten damit Millionen Euro eingebracht. Und die Flüchtlinge hätten Schutz be-kommen. Stattdessen nehmen wir es hin, dass Schleuser sie her-bringen und Menschen ihr Leben verlieren.

Ist es eine Lösung, Flüchtlingslager außerhalb von Europa zu schaffen, etwa in Nordafrika?

Wenn Flüchtlinge dort wirk-lich beschützt werden, ist das eine gute Sache. Wenn sie aber eher wie ein Gefangenenlager sind, das die Abschiebung zurück nach Hause oder in ein anderes Land vorbereitet, sind sie Teil des Prob-lems, nicht der Lösung. Weder Flüchtlinge noch Migranten wer-den sich einsperren lassen. Wer seine Familie vor Gewalt oder Ar-mut schützen will, der überwin-det die meisten Hindernisse.

die Motive von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten scheinen sich zu vermischen. Müssen wir die unter-scheidung zwischen beiden grup-pen überdenken?

Nein. Die Genfer Flüchtlings-konvention von 1951 und das Pro-tokoll von 1967 bieten einen gu-ten Schutzmechanismus insbe-sondere für Flüchtlinge, trotz aller Mängel. Würden wir die Konventi-on neu aushandeln, dann würden die Staaten sich auf ein niedrige-res Schutzniveau einigen. Aller-dings: Die Menschenrechte schüt-zen alle, auch Flüchtlinge – und oft besser als die Flüchtlingskon-vention. Laut der sollen Flüchtlin-ge zum Beispiel wie Staatsange-hörige Zugang zu Grundschulen haben, aber das gilt nicht für wei-terführende Schulen. Dagegen hat unter der UN-Kinderrechts-konvention jedes Kind das Recht auf Bildung; in manchen Ländern gilt das bis zum 16. oder 18. Le-bensjahr.

die genfer Konvention definiert Flüchtlinge als Personen, die we-gen ihrer Rasse, Religion, Natio-

„In Europa ist das führungsversagen katastrophal“Wer Flüchtlinge und Arbeitsmigranten an den Grenzen stoppen will, muss auf sie schießen lassen

Gespräch mit François Crépeau

„An vielen Grenzen weltweit wird Gewalt angewendet. Wir sind bereit,

dabei Verluste hinzunehmen.“

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flucht und migration schwerpunkt 23

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nalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen gruppe verfolgt werden. Fallen darunter alle Zivilisten, die vor Krieg fliehen?

Im Krieg gehört jeder für ir-gendwen zur falschen Gruppe, deshalb fliehen die Menschen. Das ist die weite Auslegung, die Kanada und sehr häufig auch die

USA vertreten haben. In Europa wurde das eher eingeschränkt ge-deutet. In Deutschland und Frankreich galten Zivilisten in ei-nem Bürgerkrieg nicht als Ver-folgte. Das hat sich nach Prozes-sen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geändert. Es ist nun allgemein anerkannt, dass die breite Auslegung dem Schutz-zweck der Konvention besser ent-spricht.

Europäische Politiker argumentie-ren, dass Flüchtlinge aus Syrien in Jordanien oder der türkei sicher sind und deshalb, wenn sie nach Europa kommen, Wirtschaftsmig-ranten sind.

Was heißt „sicher” in einem Land, in dem du die Sprache nicht sprichst, keinen Zugang zum Ar-beitsmarkt hast und deine Kinder nicht zur Schule gehen können? Wie können sie sich und ihren Kindern eine Zukunft sichern?

das gilt auch für viele Menschen außerhalb von Kriegen. Macht es Syrer, die aus der türkei zu uns kommen, zu Flüchtlingen?

Sie sind immer noch syrische Flüchtlinge – ob in der Türkei oder in Deutschland. Man kann sie nur in die Türkei zurückschicken, wenn die sie wieder aufnimmt, was sel-ten passiert. Und die Türkei hat 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenom-men, ohne die internationale Ge-meinschaft um Unterstützung zu bitten. Sie hat hier mit wenig Mit-teln viel mehr getan als die meis-ten europäischen Länder. Außer-dem wären die Kosten, um Hun-derttausende Migranten zurück-zusenden, kaum bezahlbar und es wäre ein logistischer Albtraum. Praktisch ist das keine Option.

Wie würden menschlichere und sinnvollere Regeln aussehen?

Für Flüchtlinge brauchen wir Umsiedlungen: Gemeinsam mit dem UN-Flüchtlingskommissa-riat UNHCR wird festgestellt, wo Menschen nicht bleiben können. In Syrien wurden zum Beispiel sieben oder acht Millionen Men-schen im eigenen Land oder in die Nachbarländer vertrieben. Insgesamt fast vier Millionen Sy-rer sind in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien. Das wissen wir schon seit fast fünf Jahren. Aber Europa, Nordamerika, Australi-en und Neuseeland haben wenig unternommen. Also dachten die Syrer irgendwann: Wenn uns nie-mand hilft, finden wir eben un-seren eigenen Weg. Stattdessen könnte Europa anbieten, über sechs Jahre jährlich eine halbe Million syrische Flüchtlinge aus den Transitländern aufzuneh-men. Das hört sich viel an, ist es aber nicht, wenn man die Zahl durch 28 europäische Länder mit 500 Millionen Einwohnern teilt. Für Deutschland wären das 80.000 Flüchtlinge pro Jahr, für die Schweiz 7000. Das könnten diese Länder leicht bewältigen. Für die Bootsflüchtlinge aus Viet-nam haben wir es in den 1980er Jahren so gemacht. Wenn das Programm vorher angekündigt wird, werden viele Flüchtlin-ge nicht länger 25.000 Euro an Schleuser zahlen und ihr Leben sowie das ihrer Kinder aufs Spiel setzen. Europa könnte ihnen Visa ausstellen und Sicherheitschecks über mehrere Monate in der Tür-kei, Jordanien oder im Libanon durchführen statt wie jetzt an einem überfüllten Strand in Grie-chenland.

„Europa sollte über sechs Jahre jährlich eine halbe Million syrische Flüchtlinge aus den Transitländern aufnehmen. Das wäre leicht zu bewältigen.“

françois Crépeau ist Professor für Völkerrecht an

der McGill-Universität in Montreal (Kanada) und seit 2011 Sonder-

berichterstatter der Vereinten Nationen zu den Menschenrechten

von Migranten.

uN

-PH

oto

90 %

aus Syrien

Türkei1.889.780

99 %

aus Syrien

Libanon1.846.150

39 %

aus Syrien

Deutschland1.091.894

94 %

aus Syrien

Jordanien1.000.630

43 %

aus Südsudan

Äthiopien821.700

69 %aus Somalia

Kenia642.85042 %

aus Südsudan

Uganda642.210

78 %

aus Sudan

Tschad457.130

42 %aus Eritrea

Sudan295.410

97 %

aus Afghanistan

Iran982.120

99 %

aus Afghanistan

Pakistan1.485.180

Wo leben die meisten Flüchtlingeund woher kommen sie?

Quellen: UNHCR/Bundesregierung ©

Die Zahlen beruhen auf den jeweils jüngsten Schätzungen des UNHCR.Die Zahlen für Deutschland sind die Einreisen 2015 bis Januar 2016.

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schwerpunkt flucht und migration24

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Aber die Europäische union (Eu) scheint unfähig, sich darauf zu ei-nigen. Sind nationale Maßnahmen die einzige verbleibende Möglich-keit?

Das ist in der Tat ein Problem. Mit solchen Maßnahmen kann man den Zustrom eine Weile ver-ringern, aber es werden weiter Menschen kommen. Wenn das Le-ben im Herkunftsland derart schlecht ist, scheint alles, was auf dem Weg nach Europa oder in die USA passieren kann, besser. Die Flüchtlingskrise in Europa ist kei-

ne der Kapazität, sondern der po-litischen Führung. Deutschland und Schweden haben einen Weg gewiesen, doch leider ist ihnen niemand gefolgt. Jetzt sind beide überfordert und die anderen Län-der leisten ihren Anteil nicht. Das Führungsversagen in Europa ist absolut katastrophal. Politiker ohne langfristige Vision sorgen sich nur um die nächsten Wahlen, und nationalistische und populis-tische Bewegungen treiben eine Anti-Einwanderungspolitik vor-

an. Die ist in der Tat eine Form der Abschreckung: Es werden weniger Migranten in ein Land kommen, das ihre Rechte verletzt – sie wer-den sich andere Länder aussu-chen. Ich will keine Untergangs-stimmung verbreiten, aber da es keinen gemeinsamen Willen in Europa gibt, wird man künftig mehr nationalistische Wahlsiege, mehr Schleuserringe und mehr Tote im Mittelmeer erleben.

Macht es den umgang mit Flücht-lingen schwieriger, dass gleichzei-tig Arbeitsmigranten nach Europa kommen?

Europa braucht Migranten. Im April 2015 haben die Volks-wagen- und die Siemens-Stif-tung gefunden, dass Deutschland schnellstens Hunderttausende Migranten braucht, um den Fach-kräftemangel zu beheben. Das hat Angela Merkels Entscheidung beeinflusst.

In Südeuropa herrscht aber hohe Arbeitslosigkeit.

Auf dem formalen Arbeits-markt. Daneben haben wir im globalen Norden Untergrund-Ar-beitsmärkte akzeptiert, besonders in Wirtschaftszweigen mit niedri-gen Gewinnraten: Landwirtschaft, Bauwesen, Gastgewerbe und Pflege. Auf den Tomatenfeldern

in Süditalien zum Beispiel sind alle Arbeiter Migranten. Sie kom-men, weil Tausende Arbeitgeber Schwarzarbeiter suchen, die sie ausbeuten können. Die Toma-tenpflücker bekommen 20 Euro für einen Zehn-Stunden-Tag und haben keine Sozialversicherung. Aber von diesen 20 Euro können sie zwei oder drei an ihre Famili-en zu Hause schicken. Dafür ak-zeptieren sie die Bedingungen. Solange der Preis für Tomaten zu niedrig ist, um den Pflückern menschenwürdige Löhne zu zah-len, müssen wir akzeptieren, dass es dort illegale Migranten gibt.

Wie könnte man Arbeitsmigration besser regeln?

Indem man den illegalen Ar-beitsmarkt beseitigt und jedem erlaubt zu kommen, um Arbeit zu suchen. Wer eine Stelle findet, wird offiziell angestellt und erhält eine Arbeitserlaubnis. Wer nichts findet, wird woanders hingehen. Migranten gehen nirgends hin, wo es keine Arbeitsplätze gibt. Ich spreche hier nicht von ungeprüf-ten utopischen Modellen: In den 1950er und 1960er Jahren ist Eu-ropa genauso verfahren. Damals kamen Millionen von Nordafrika-nern und Türken, alle mit Papie-ren. Sie suchten einen Job, und wenn sie einen gefunden hatten,

„Migranten kommen nach Europa, weil Tausende Arbeitgeber Schwarzarbeiter

suchen, die sie ausbeuten können.“

Quelle: UNHCR/UN/Bundesregierung/Schweizerische Eidgenossenschaft/Republik ÖsterreichDie Zahlen beruhen auf UNHCR-Schätzungen von Mitte 2015. Die Zahlen für Deutschland, Österreich und die Schweiz sind von Dezember 2015.

Welche Aufnahmeländer tragen die größte Last?

©

Flüchtlinge pro 1000 Einwohner

0 50 100 150 200

SchweizÖsterreich

RuandaKenia

IranDeutschland

KamerunDR Kongo

MaltaSchwedenDschibuti

MauretanienSüdsudan

TürkeiTschadNauru

JordanienLibanon

4,9 Asylanträge10,6 Asylanträge11,712,312,55,9 Asylanträge / 13,3 Einreisen13,313,714,614,716,919,4

22,323,7

3150,6

89,6208,9

Flüchtlinge pro 1 US-Dollar Prokopf-Einkommen (Kau�raftparitäten)

0 100 200 300 400 500BurundiRuandaLibanon

NigerSudanTürkei

KamerunAfghanistan

SüdsudanKenia

TschadDR Kongo

UgandaPakistan

Äthiopien

69,779,780,887,187,5

94,1101,5

117,4134,8

186,3193,1

207,6215,5

322,5469,4

Page 25: AGENDA 2030: Schluss mit der Politik der Widersprüche! … · fi- MÄR Magazin für globale entwicklung und ökuMenische zusaMMenarbeit 5,50 € | 7,80 sFr AGENDA 2030: Schluss mit

flucht und migration schwerpunkt 25

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änderten sie ihr Visum in eine Ar-beitserlaubnis. Das ist ein viel effi-zienteres System als das, was wir jetzt haben.

Wird dadurch die Zuwanderung nicht noch steigen?

Nur am Anfang, langfristig je-doch nicht. Man kann intelligente Visa für Menschen auf Arbeitssu-che entwickeln. Man lässt sie zum Beispiel über fünf Jahre für drei Monate pro Jahr nach Europa. Wenn sie keinen Job finden, zie-hen sie entweder weiter oder ge-hen zurück nach Hause – sonst können sie nicht legal wieder-kommen. Ähnlich war es jahr-zehntelang zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten: Wenn es Arbeitsplätze in den USA gab, ka-men Mexikaner; in einer Rezessi-on gingen sie nach Hause zurück. Nur wenn man an der Grenze Bar-rieren baut, bleiben Menschen auch während einer Krise aus Angst, später nicht wieder zurück-kehren zu können.

Müsste man auch Arbeitgeber, die Menschen schwarz beschäftigen, strenger kontrollieren und bestra-fen?

Ja. Leider will kein Politiker Schaden in den Wirtschaftssekto-ren anrichten, die auf Migranten angewiesen sind. Die Richtlinie über Arbeitgebersanktionen wird in keinem EU-Land angewendet. Wenn sich Migranten beschwe-ren, ruft der Arbeitgeber die Mig-rationsbehörde an, und sie wer-den ausgewiesen. Deshalb sollte die Arbeitsaufsicht nichts mit der Einwanderungskontrolle zu tun haben. Statt die Ausbeutung ille-galer Migranten zu akzeptieren, müssen wir ernsthaft darüber re-den, wie wir Wirtschaftszweige mit niedrigen Gewinnmargen stützen können, damit sie auch ohne Ausbeutung wettbewerbsfä-hig werden. Wir subventionieren die Luftfahrt oder die Pharmako-logie, aber nicht Branchen, in de-nen Menschen ausgebeutet wer-den. Der Grund ist: Migranten be-

schweren sich nicht. Sie haben Angst, in die Heimat zurückge-schickt zu werden.

Ist das grundproblem, dass Mig-ranten im gastland keine politi-schen Rechte haben?

Auf lange Sicht ist es das größ-te Problem, dass Migranten keine Stimme auf der politischen Büh-ne haben. Die meisten benachtei-ligten Gruppen haben ihre Rechte dank ihrer politischen Stimme er-kämpft. Frauen haben ihr Stimm-recht durchgesetzt und es dann genutzt, damit diskriminierende Gesetze geändert wurden. Auf lange Sicht müssen wir die Ver-knüpfung zwischen Staatsbürger-schaft und Wahlrecht überdenken und Stimmrechte mit dem Auf-enthaltsort verknüpfen. In Europa wollte man Migranten ein Stimm-recht auf kommunaler Ebene ge-ben. Das liegt derzeit auf Eis. Aber es ist der Weg der Zukunft.

das gespräch führte Bernd Ludermann.

Ausschreibung 2016

Else Kröner Fresenius Preis für Medizinische Entwicklungszusammen arbeitBewerbungsfrist 10. April 2016

Der Else Kröner Fresenius Preis für Medizinische Entwicklungszusammenarbeit würdigt Projekte, die direkt und nachhaltig der Verbesserung der medizinischen Versorgung in Entwicklungsländern dienen. Der Preis ist mit 100.000 Euro dotiert.

Weitere Informationen: www.ekfs.de

Else Kröner-Fresenius-Stiftung | Postfach 1852 | 61352 Bad Homburg

EKFS_AZ_195x119_Ausschreibung_RZ.indd 1 10.02.16 16:25

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Quelle: UNHCR/UN/Bundesregierung/Schweizerische Eidgenossenschaft/Republik ÖsterreichDie Zahlen beruhen auf UNHCR-Schätzungen von Mitte 2015. Die Zahlen für Deutschland, Österreich und die Schweiz sind von Dezember 2015.

Welche Aufnahmeländer tragen die größte Last?

©

Flüchtlinge pro 1000 Einwohner

0 50 100 150 200

SchweizÖsterreich

RuandaKenia

IranDeutschland

KamerunDR Kongo

MaltaSchwedenDschibuti

MauretanienSüdsudan

TürkeiTschadNauru

JordanienLibanon

4,9 Asylanträge10,6 Asylanträge11,712,312,55,9 Asylanträge / 13,3 Einreisen13,313,714,614,716,919,4

22,323,7

3150,6

89,6208,9

Flüchtlinge pro 1 US-Dollar Prokopf-Einkommen (Kau�raftparitäten)

0 100 200 300 400 500BurundiRuandaLibanon

NigerSudanTürkei

KamerunAfghanistan

SüdsudanKenia

TschadDR Kongo

UgandaPakistan

Äthiopien

69,779,780,887,187,5

94,1101,5

117,4134,8

186,3193,1

207,6215,5

322,5469,4

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Die Bundesregierung will flücht-linge aus Afghanistan zurückschi-cken. Der Menschenrechtler Hadi Marifat erklärt, warum das verant-wortungslos ist – und warum gera-de jetzt so viele Menschen sein Land verlassen.

der deutsche Innenminister tho-mas de Maizière hält manche ge-genden Afghanistans für sicher genug, um Flüchtlinge dorthin ab-zuschieben. Sehen Sie das auch so?

Als der deutsche Minister vor einigen Tagen nach Kabul kam, trug er dort einen Schutzhelm. Und während er beim Mittages-sen saß, gab es in der Stadt einen Selbstmordanschlag mit mehre-ren Toten. De Maizière sollte es also eigentlich besser wissen.

der Anschlag richtete sich gegen eine Polizeistation in der Haupt-stadt. gibt es nicht Regionen, die wesentlich sicherer sind?

Im Zentrum des Landes gibt es einzelne Orte, die man als si-cher bezeichnen könnte. Die Tali-ban sind auch nicht in jedem klei-nen Dorf präsent. Aber kein Mensch kann sich die ganze Zeit an einem Ort aufhalten. Leute müssen zum Arzt, in größere Städte zum Einkaufen. Und un-terwegs ist es gefährlich. Im Vor-jahr wurden allein auf der Straße zwischen Kabul und Kandahar über 50 Menschen entführt, viele kamen nie zurück. Ein anderer Punkt ist, dass Afghanistan ent-lang ethnischer Gruppen geteilt ist. Man kann einen Paschtunen nicht einfach nach Zentralafgha-nistan schicken, wo hauptsäch-lich Hasaren leben, oder anders-rum einen Hasaren in den Süden des Landes. Das Problem sind nicht nur die Taliban, sondern dass der Rechtsstaat viel zu

schwach ist, um Minderheiten zu schützen.

Ist es moralisch zu verantworten, Menschen nach Afghanistan abzu-schieben?

Nein. Man zerstört die Hoff-nung der Menschen, die auf ihrer Reise oft sehr viel riskiert haben. Das ist auch psychologisch belas-tend. Ich kenne einige Afghanen, die abgeschoben wurden und sich dann umgebracht haben. Oder sie wurden von den Taliban aufge-griffen. Man kann die Leute nicht einfach wie Müll abladen.

Blutet denn das Land nicht noch weiter aus, wenn immer mehr jun-ge Menschen fliehen?

Es wäre gut für das Land, wenn sie blieben. Viele haben studiert. Aber es gibt keine Jobs und keine Perspektiven. Ich bin 34 Jahre alt, meine Generation ist im Krieg geboren und aufgewachsen – und jetzt ist der Krieg immer noch da. Aber es gehen ja nicht nur die Jungen, sondern auch ältere und ärmere Menschen verlassen das Land.

Während früherer Kriege sind deut-lich weniger Afghanen nach Europa geflohen. Warum sind es jetzt so viele?

Als die internationale Koali-tion in Afghanistan eingriff, hat-ten viele die Hoffnung, dass es besser wird. Aber nach 15 Jahren ist fast nichts besser. 2015 sind noch mehr Zivilisten getötet oder verletzt worden als in den Jahren zuvor. Die Enttäuschung und der Frust sind einfach riesig, daran haben auch die ersten demokra-tischen Wahlen wenig geändert. Auch der Rückzug der interna-tionalen Truppen ist ein Grund. Zehntausende Afghanen haben

dadurch ihre Jobs verloren. Viele, die früher für die internationalen Truppen gearbeitet haben, wissen nicht wohin und werden teilweise sogar bedroht.

Hat die deutsche Flüchtlingspoli-tik einen Einfluss auf die Entschei-dung der Flüchtlinge?

Ich glaube nicht, dass diese Po-litik der offenen Tür so eine starke Rolle spielt. Wichtiger ist, dass die Flucht heute nicht mehr so teuer ist wie noch vor einigen Jahren. Vor allem für die Strecke von der Türkei nach Deutschland oder Skandinavien müssen Flüchtlinge manchmal nur noch einige Hun-dert Euro ausgeben. Durch die vielen Kriegsflüchtlinge ist die In-frastruktur besser geworden.

Haben die Leute ein idealisiertes Bild vom Westen?

Europa wird schon als Ideal wahrgenommen und von den westlichen Medien auch so darge-stellt. Aber es stimmt ja auch: Hier können die Menschen normal le-ben, was in Afghanistan derzeit nicht möglich ist.

die deutsche Regierung hat vor einigen Monaten eine Kampagne gestartet, um die Menschen vor der Flucht zu warnen – warum funktioniert das nicht?

Die australische Regierung macht das schon viel länger und auch sehr viel drastischer. Ge-bracht hat es wenig, die Menschen fliehen trotzdem, weil sie verzwei-felt sind. Viele Afghanen hängen jetzt in Indonesien fest und hof-fen darauf, irgendwie nach Aust-ralien zu kommen. Die Deutschen haben einfach ein paar Plakate mit einem Link zu einer Facebook-Seite aufgehängt, dabei nutzen viele Afghanen gar kein Facebook.

Was müsste der Westen denn tun, um die Situation zu verbessern?

Das wichtigste ist die Sicher-heit. Die afghanischen Truppen müssen besser ausgerüstet wer-den. Und sie brauchen mehr Unterstützung: Ein Großteil der ausländischen Truppen im Land kümmert sich mehr um die eige-ne Sicherheit, statt die afghani-schen Truppen zu unterstützen. Auch der Einbruch bei der Ent-wicklungshilfe ist ein Problem. Wir brauchen mehr Geld, das aber an bestimmte Konditionen gebunden ist, etwa den Kampf gegen die Korruption. Und es müssen Jobs her, zum Beispiel im Bergbau.

trotz allem sind Sie immer noch in Afghanistan. Warum?

Ich war selbst Flüchtling, mei-ne Familie ging nach Pakistan, als ich noch ein Kind war. Nach dem Fall der Taliban bin ich 2003 zu-rück, meine Familie kam später nach. Ich hatte das Gefühl, etwas beitragen und verändern zu kön-nen. Seitdem arbeite ich als Men-schenrechtler und Aktivist. Aber natürlich habe ich ständig Zweifel. Wenn ich morgens zur Arbeit fah-re, verabschiede ich mich immer von meiner Mutter, ohne zu wis-sen, ob ich abends zurückkom-men. Aber wenn es mich erwischt, dann war es wenigstens nicht um-sonst.

das gespräch führte Sebastian Drescher.

Hadi Marifat ist Mitbegründer der Afghanistan Human Rights and

Democracy Organization (AHRDO), die sich mit künstlerischen und

kulturellen Mitteln für die Demokra-tisierung in Afghanistan einsetzt.

SEBAStIAN dREScHER

3-2016 |

26 Schwerpunkt FLUCHT UND MIGRATION

„Menschen nicht wie Müll abladen“Menschenrechtler lehnt Rückführungen nach Afghanistan ab

Gespräch mit Hadi Marifat

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flucht und migration schwerpunkt 27

| 3-2016

Junge Männer fischen am Gambia-fluss. Ihre familie können sie damit nicht ernähren. Viele machen sich deshalb auf den Weg in den Norden.

träume vom gelobten Land

E rleichtert betrachtet Nene Sanneh ein Foto ihres Sohnes. Es ist kurz nach seiner Rettung aus dem Mittelmeer entstanden, im Juli 2015. Einen Mo-

nat zuvor hatte seine Familie das letzte Mal von La-min Ceesay gehört – aus Libyen, wo er an Bord eines Schlepperboots gehen und die gefährliche Überfahrt nach Italien wagen wollte. „Ich bin so froh zu sehen, dass es ihm gut geht“, sagt Nene Sanneh. „Wir haben uns solche Sorgen um ihn gemacht. Ich konnte weder essen noch schlafen.“

Lamin Ceesay wurde von der nichtstaatlichen Or-ganisation Migrant Offshore Aid Station (MOAS) aus einem überfüllten Fischerboot gerettet, das ohne

Treibstoff vor der libyschen Küste trieb. Der einzige persönliche Gegenstand, den der 26-Jährige bei sich hatte, war ein Zigarettenpapier mit einem muslimi-schen Gebet und den Telefonnummern von Ver-wandten und einem Freund. Er gehört zu den 8500 Gambiern, die es im vergangenen Jahr von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien geschafft ha-ben.

Warum hat er sein Leben riskiert, um nach Euro-pa zu gelangen? „ Es ist vor allem die Armut. In Gam-bia funktioniert gar nichts“, erklärt Ceesay in einem Video-Interview mit MOAS, als er sicher an Bord des Rettungsschiffs ist. „Dort vergeudet man seine Zeit mit Nichtstun.“ Seine Freunde hätten ihm gesagt, in Europa könne er Arbeit finden.

Gambia ist das kleinste Land Afrikas: ein schma-ler Streifen entlang des Flusses, der ihm seinen Na-men gegeben hat, mit einer Bevölkerung von zwei Millionen Menschen. Dennoch gehört die westafrika-nische Republik laut der Internationalen Organisati-on für Migration (IOM) zu den sechs Nationen, aus

Wer aus gambia nach Europa geht, steht unter starkem Erfolgsdruck. Viele Familien bringen große opfer, damit ihre Söhne im Norden ihr glück machen und geld zurücksenden. Text und Fotos: Louise Hunt

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schwerpunkt flucht und migration28

3-2016 |

denen sich in den vergangenen Jahren die meisten Menschen auf den Weg in den Norden gemacht ha-ben.

Das Land ist zwar politisch relativ stabil, doch es zählt zu den ärmsten Staaten der Welt. Beim Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Natio-nen lag es 2014 auf Platz 175 von 188. Seine Wirtschaft schrumpfte 2014 um 0,7 Prozent: Die Ebola-Angst bremste den Tourismus, fehlende Niederschläge schadeten der Landwirtschaft. Die Inflation und die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, das erschwert vielen Gambiern das Leben, die oft gering qualifiziert sind und schlecht bezahlte Jobs haben.

Lamin Ceesays Familie lebt in einem Dorf am Rand des riesigen Ballungsraums von Brikama an der Atlantikküste. Im Zentrum drängen sich

Marktstände und Händler, an den mit Schlaglöchern übersäten Straßen reihen sich Eisenwaren- und Rei-fenhandlungen, unzählige Frauen verkaufen am Straßenrand Früchte. In den vergangenen zehn Jah-ren ist die Stadt explosionsartig gewachsen; viele Menschen aus armen ländlichen Regionen sind zu-gezogen, um Arbeit zu finden. Aber auch hier sind Unruhe und Unzufriedenheit spürbar.

Buba Jallow, ein Freund aus Kindertagen, ver-steht, warum Lamin Ceesay gegangen ist. „Die Fami-lie glaubt, man ist ein gemachter Mann, wenn man in der Stadt lebt. Aber es gibt einfach keine guten Jobs. Deshalb machen sich die Leute auf den Weg. Sie spü-ren den Druck, ihre Familien zu ernähren“, sagt Buba, der am Strand Ausritte für Touristen organisiert.

„Lamin wollte gehen, um es besser zu haben“, sagt sein älterer Bruder Pa. In der Dreizimmerwohnung der Familie leben elf Menschen. Die Wände aus Rigips bröckeln, der Betonboden ist bis auf ein paar Stücke abgetretenes Linoleum nackt. Ein ramponierter höl-zerner Kleiderschrank ist im Wohnbereich das einzi-ge Möbelstück.

Pa ist der Haupternährer und arbeitet seit zwan-zig Jahren als Schneider. „Aber ich verdiene immer noch nicht genug Geld, um unser Haus instand zu setzen.“ Sein Vater Mamoud baut Cashewnüsse und Mais für den Eigenbedarf der Familie an. Die Preise für Nahrungsmittel schnellten in die Höhe, klagt Pa. Ein Sack Reis koste mehr als 1000 Dalasi (23 Euro). „Die meisten Leute verdienen aber nur 1500 bis 2000 Dalasi im Monat. Hier muss man immer kämpfen.“ Familien mit Verwandten in Europa sind nach allge-meiner Auffassung wohlhabender. „Wenn Sie hier bessere Häuser sehen, wissen Sie, dass die Leute ein Familienmitglied in Europa haben“, sagt Pa. „Manche Häuser haben zwei Stockwerke und Sonnenkollekto-ren auf dem Dach.“

Gambier sind von jeher ausgewandert, um ihr Glück zu suchen. Sie haben sich überall in Westafrika und in Schweden, Großbritannien und den USA nie-dergelassen. Überweisungen aus dem Ausland tru-gen 2014 laut Weltbank ein Fünftel zum Bruttoin-landsprodukt bei. Aber die Zeiten, in denen legale Auswanderer beträchtliche Summen nach Hause schickten, neigen sich dem Ende zu. Die Migranten,

die in den vergangenen Monaten Europa erreicht ha-ben, dürften weit weniger verdienen. Dennoch: Wenn ein Euro 40 Dalasi wert ist und schon die kleinste Überweisung den Wohlstand einer Familie merklich steigert, spricht immer noch genug dafür, sich auf den Weg zu machen.

Lamin Ceesay hatte einen Job, als er Gambia ver-ließ. Er hatte erst als Gärtner für ein großes Hotel nahe der Hauptstadt Banjul gearbeitet, dann als Steinmetz im benachbarten Senegal. Doch dann soll-

40 km

SENEGALDakar

MALI

GAMBIAGAMBIA

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k Banjul

BrikamaGeorge-

town

Gambia

Fläche: 11.295 km2

Einwohner gesamt: 1,97 Mio.

Einwohner in Banjul: 504.000

Lebenserwartung: 64,6 Jahre

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 427 US-$

Quelle: CIA World Factbook, 2015 / Auswärtiges Amt, 2014

AFRIKA

©

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flucht und migration schwerpunkt 29

| 3-2016

te er Vater werden – und auswandern schien ihm der einzige Weg, aus der Armut auszubrechen. Wie er ent-fernt sich die jüngere Generation zunehmend von der traditionellen Lebensweise, auf dem Land zu blei-ben und auf der Familienfarm mitzuarbeiten. Allzu oft aber findet die Jugend aufgrund ihrer geringen Qualifikation auch in den städtischen Ballungszent-ren an der Küste nur schlecht bezahlte oder gar keine Arbeit.

Obwohl die meisten Kinder die Sekundarschule abschließen, liegt die Alphabetisierungsrate nur bei 42 Prozent. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen war laut dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP 2014 ar-beitslos. Selbst die, die ein Studium abgeschlossen haben, müssen feststellen, dass es nur wenige siche-re, ordentlich bezahlte Stellen gibt. Mamadou etwa muss sich glücklich schätzen, dass er nach dreijähri-ger Suche eine Arbeit als Wachmann in einer Wohn-anlage gefunden hat. Allerdings ist das trostlose Her-umsitzen vor deren Eingang weit von der Karriere in der EDV-Branche entfernt, die er sich nach seinem IT-Diplom vorgestellt hatte. „Ich habe mich auf so viele Stellen beworben. Aber einen guten Job be-kommt man hier nur, wenn man jemanden kennt, der einem hilft“, sagt der 30-Jährige resigniert.

Seine beiden älteren Brüder haben sich auf den sogenannten „back way“ gemacht: Sie sind im ver-gangenen Jahr nach Italien gegangen. Um die Reise zu bezahlen, hat die Familie ihr gesamtes Vieh ver-kauft. „Sie suchen in Europa nach grüneren Weiden,

damit sie unsere Familie versorgen können“, sagt Ma-madou. „Es ist ein Risiko, aber so, wie wir leben, haben wir sowieso keine Wahl.“ Das Gefühl der Verzweiflung und der Wertlosigkeit ist unter jungen Männern weit verbreitet. Der Bürgerkrieg in Libyen hat die Grenzen durchlässiger gemacht, und es ist eine regelrechte Schleuserindustrie entstanden. Das hat die Zahl der Migranten stark in die Höhe getrieben. Sich auf den „back way“ zu begeben ist zu einer Art nationaler Ob-session geworden: Es scheint, je mehr Menschen weggehen, desto mehr fühlen sich verpflichtet, sich ihnen anzuschließen.

d ie sozialen Medien spielen eine wichtige Rolle. Sie verbreiten einen Erfolgsmythos unter de-nen, die sich bereits in Europa befinden. Aus

Stolz oder weil sie ihre Familien nicht enttäuschen wollen, möchten sie einen positiven Eindruck von ihrem neuen Leben vermitteln. Auf Facebook etwa posten gerade erst angekommene Flüchtlinge Sel-fies, auf denen sie zumeist geliehene oder getausch-te neue Kleider und Schmuck tragen. In Wirklichkeit leben sie noch in Aufnahmelagern oder Wohnhei-men. Andere schicken das geringe Taschengeld nach Hause, das sie während der Bearbeitung ihres Asyl-antrags wöchentlich erhalten, um den Eindruck zu erwecken, dass sie schon Geld verdienen.

In seinem Video-Interview spricht Lamin über den hohen Erwartungsdruck seitens seiner Familie. „Sie stellen sich vor, dass ich ihnen Geld schicke. Auf den Gedanken, dass es schwierig sein könnte, Arbeit zu finden, kommen sie gar nicht.“ Dabei wollen die meisten Familien nicht, dass ihre Kinder ihr Leben riskieren – seine Absicht, das Mittelmeer zu überque-ren, offenbarte Lamin erst, als er in Libyen angekom-men war. Er wusste, dass seine Eltern versuchen wür-den, ihn davon abzubringen.

Am Ende steuerte Familie Ceesay 45.000 Dalasi (1012 Euro) zu Lamins Überfahrt bei. „Wir halbierten sämtliche Ausgaben, auch die für Lebensmittel, da-mit wir einen Beitrag leisten konnten“, sagt Pa. „Es war ein großes Opfer. Aber alle haben das Gefühl, wenn man sein Land aufgibt und das Familienmit-glied es bis nach Europa schaffen kann, dann ist es das Opfer wert.“

Während diese Familien sorgenvoll auf die Nach-richt ihrer Söhne warten, dass ihnen ein Aufenthalts-titel zum Arbeiten in Europa gewährt wird, wird ihr eigenes Leben durch den Einkommensverlust oft noch schwieriger. Mit seinem ältesten Sohn Demba habe die Familie den Haupternährer verloren, sagt Bakary Manneh, der auf dem blanken Betonboden einer Zwei-Zimmer-Baracke sitzt. Der hatte seinen El-tern erzählt, er ziehe ins Nachbardorf. Im vergange-nen Mai wurde er von MOAS aus dem Mittelmeer gerettet.

„Als Demba noch hier war, arbeitete er auf dem Bau. Aber das Geld reichte vorne und hinten nicht, und ich werde langsam zu alt, um auf dem Feld zu arbeiten“, sagt Bakary, der sich und seine Familie mit der Herstellung und dem Verkauf von Kochtöpfen gerade eben über die Runden bringt. „Er kannte ande-

Links: In Gedanken sind sie oft bei Lamin Ceesay: Bruder Pa, Mutter

Nene Sanneh, Bruder Bambu und der freund Buba Jallow (von links

nach rechts).

Unten: Bakary Manneh in Greater Brikama bringt seine familie mit

dem Verkauf von Kochtöpfen über die Runden. Sohn Demba sucht in

Europa sein Glück.

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schwerpunkt flucht und migration30

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re Familien hier, die ein besseres Leben führen, weil ihre Söhne aus Europa Geld schicken. Deshalb dachte er, er müsste das auch tun.“ Bakary hebt seinen sor-genvollen Blick von dem kleinen Häufchen Dreck, das er mit den Händen auf dem Boden zusammenge-wischt hat. „Wenn ein Junge wie Demba den back way nimmt und eine ganze Generation junger Männer dasselbe tut, hat das sehr schlimme Folgen für uns.“

Lamin und Demba warten in Gemeinschaftsun-terkünften in Italien auf ihre Asylbescheide. Da man sie wahrscheinlich als Wirtschaftsflüchtlinge einstu-fen wird, haben sie nur wenige Chancen, in Europa zu bleiben – vor allem, wenn die Strategie der Europäi-schen Union (EU) nach Plan verläuft, abgelehnte Asylbewerber beschleunigt abzuschieben. Auf dem EU-Afrika-Gipfel in Valletta im vergangenen Novem-ber wurde ein Aktionsplan gegen illegale Migration aus Afrika verabschiedet, in dem die EU die Her-kunftsländer auffordert, ihre Grenzen effektiver zu schützen und Flüchtlinge zurückzunehmen. Auf die Frage, was passiert, wenn Lamin abgeschoben wird, verstummen alle. Schließlich antwortet Pa. „Wenn das passiert, ist es wohl unser Schicksal.“

Allerdings könnten junge Menschen in Gambia bald von verbesserten Ausbildungs- und Arbeitsmög-lichkeiten profitieren: Die EU-Kommission richtete eilends einen „Treuhand-Fonds für Nothilfe in Afrika“ mit 1,8 Milliarden Euro ein. Von anderen Gebern er-

hofft sie sich Zuschüsse in gleicher Höhe. Mit dem Geld sollen Maßnahmen finanziert werden, um die Zuwanderung aus Afrika einzudämmen. Dazu gehö-ren Berufsausbildungsprogramme ebenso wie Mik-rokredite für Sozialunternehmen und Projekte zur Grundversorgung. Im Senegal wurden im Januar An-träge für verschiedene Programme der Ernährungs-sicherung bewilligt.

Doch diese Politik ist umstritten. Mehr Entwick-lungshilfe ist zwar willkommen, doch Migrationsex-perten halten es für fraglich, ob sie an die Kontrolle der Migration gebunden werden sollte. Sie bezwei-feln, dass es mit dieser „Sofortstrategie“ tatsächlich gelingen wird, Anforderungen zu bewältigen, die un-ter anderem mit ungerechten Wirtschafts- und Han-delssystemen zu tun haben, und Wanderungsbewe-gungen zu verringern. Sara Tesorieri, Oxfam-Expertin für EU-Migrationspolitik, glaubt, dass sie sogar den gegenteiligen Effekt haben könnte. „Die Anzeichen sprechen dafür, dass Entwicklungsförderung in den ärmsten Ländern kurzfristig die Mobilität erhöht – und zwar hinaus wie hinein.“ Das sei an sich kein Pro-blem. Doch wenn Europa hoffe, die Migration zu ver-langsamen, indem es die Lebensumstände vor Ort verbessert, „dann ist das die falsche Voraussetzung“.

die Namen der gambier wurden zu ihrem Schutz geändert.Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

Louise Huntist freie Journalistin mit den Schwer-

punkten Soziales, Nachhaltigkeit und Entwicklungszusammenarbeit in

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E ingeklemmt zwischen Erit-rea, Äthiopien und Somalia liegt Dschibuti an der Meer-

enge Bab al-Mandab. Die Heimat von knapp einer Million Men-schen ist kaum größer als Meck-lenburg-Vorpommern und eines der ärmsten Länder der Erde: Beim Index für menschliche Ent-wicklung rangierte es im Jahr 2014 auf Platz 168; 20 Punkte vor dem Schlusslicht Niger. Dschibuti besitzt wenig natürliche Ressour-cen und wird immer wieder von Dürren heimgesucht. Doch es gilt als politisch stabil. Das nutzen die ehemalige Kolonialmacht Frank-reich, Deutschland und die USA für ihre Militärbasen in der Regi-on.

Dschibuti ist außerdem Durchgangs- und Endstation für Flüchtlinge: Rund 22.300 leb-ten laut dem Flüchtlingshilfs-werk UNHCR Ende Januar im Land. Die große Mehrzahl von ih-nen stammt aus Somalia. Sie sind zum Teil bereits mehr als zwei Jahrzehnte in Dschibuti und le-ben in den Lagern Ali Addeh und Holl Holl. Seit April 2015 schul-tert das kleine Land eine zusätzli-che Last: Immer mehr Jemeniten fliehen vor dem Bürgerkrieg in ih-rem Land über das Rote Meer und landen in der Hafenstadt Obock.

Rund 6.650 Kinder, Frauen und Männer hat der UNHCR bis Ende Januar gezählt – und rech-net mit weiteren 500 bis 700 Flüchtlingen im Monat, solange die Kämpfe andauern. Dschibuti ist eines der wenigen Länder in der Region, das sie aufnimmt. Und eine Lösung in dem Konflikt zwischen der Regierung von Prä-sident Abed Rabbo Mansur Hadi und schiitischen Huthi-Rebellen, an dem auch eine ausländische Militärkoalition unter Führung von Saudi-Arabien beteiligt ist, ist derzeit nicht in Sicht. Etwa die

Hälfte der jemenitischen Flücht-linge lebt in einem eigens für sie errichteten Lager, dem Camp Markazi, vier Kilometer von Obock entfernt. Seine Aufnahme-kapazität ist laut UNHCR inzwi-schen erreicht.

Auch Seif Zeid Abdullah ist hier untergekommen. Der 27-Jäh-rige hat die 30 Kilometer lange Überfahrt im vergangenen Okto-ber gewagt. Bei einem Luftangriff wurde sein linkes Bein zerschmet-tert. Seif Zeid Abdullah wusste, er würde eine langwierige Behand-lung und Rehabilitation brau-chen. Schon vor dem Krieg war die gesundheitliche Versorgung in seiner Heimat schlecht. Und da immer mehr staatliche Kranken-häuser zerstört und private Klini-ken unerschwinglich sind, ent-schloss er sich zur Flucht, wie er UNHCR-Mitarbeitern erzählte.

„Ich habe viele Kinder, Frau-en und Männer getroffen, deren Kriegswunden nicht behandelt werden konnten. Ich bin froh, dass einige von ihnen es ebenfalls bis hierher geschafft haben“, sagt

Seif Zeid Abdullah. Nicht nur Kranke sind froh, den Bombardie-rungen, dem Hunger und dem Elend im Jemen entronnen zu sein. Für Nasr Mohsen Mohamed wurde, wie für viele andere, ein besonders grausamer Angriff zum Aufbruchsignal: Im vergan-genen September bombardierte Saudi-Arabien in der Stadt Mokka eine Hochzeitsfeier, mindestens 130 Zivilisten starben. „Das war weniger als drei Kilometer ent-fernt von dem Ort, an dem wir lebten“, sagt der 47-Jährige. „Das gab endgültig den Ausschlag, nach Dschibuti zu fliehen.“

d ie Regierung von Dschibuti zeige sich sehr offen ge-genüber den Neuankömm-

lingen aus dem Bürgerkriegsland Jemen, erklärt UNHCR-Sprecherin Amira Abd El-Khalek. Sie würden ohne weitere Nachweise als Flüchtlinge registriert, erhielten im Lager Markazi ein Zelt, De-cken, Kochgeschirr und Lebens-mittel. Sie werden dort auch me-dizinisch versorgt, schwierigere Fälle werden an die Klinik in Obock überwiesen. Die jüngeren Kinder besuchen eine nahegele-gene Grundschule außerhalb des Lagers, die älteren werden im Camp unterrichtet, zum Teil von

Eltern, die als ehrenamtliche Leh-rer fungieren.

Einige Jemeniten sind in Obock oder Dschibuti-Stadt in Gastfamilien untergekommen. „Bislang sind die Beziehungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen sehr gut, die Gastfa-milien sind großzügig“, berichtet Amira Abd El-Khalek. Spannun-gen könnten jedoch jederzeit aus-brechen, denn in Dschibuti sind vor allem Land und Wasser knapp. Die begrenzten Ressourcen müss-ten für immer mehr Menschen reichen, sagt Abd El-Khalek. Be-rufliche Perspektiven gebe es nicht für die Flüchtlinge, doch der UNHCR kümmere sich. Viele Je-meniten seien erfahrene Fischer. Zwar hätten sie bislang noch nicht die nötige Erlaubnis, in den Gewässern von Dschibuti zu fi-schen, aber darüber werde derzeit mit den Behörden verhandelt.

Außerdem gäben sie ihr Wis-sen an Einheimische weiter und verstärkten so die Kontakte zu ih-nen. Eine Gruppe von Flüchtlin-gen habe zudem kürzlich ein Res-taurant eröffnet. „Es läuft gut“, sagt Abd El-Khalek. Trotzdem wollten die meisten von ihnen zurückkehren, sobald der Bürger-krieg im Jemen beendet ist. Sie werden Geduld brauchen – die vorerst jüngsten Friedensver-handlungen waren im vergange-nen Dezember nach wenigen Ta-gen ohne Ergebnis beendet wor-den. Ein neuer Termin steht noch nicht fest. Gesine Kauffmann

dschibuti ist nicht gerade mit Wohlstand gesegnet. trotzdem nimmt das Land am Horn von Afrika seit Jahren stetig Flüchtlinge auf – seit neuestem aus dem Jemen.

Auf Krücken, aber am Leben: Seif Zeid Abdullah hofft in Dschibuti auf eine bessere medizinische Versorgung.

ouALId KHELIFI/uNHcR

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31FLUCHT UND MIGRATION Schwerpunkt

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Es ist fast zwanzig Jahre her. Doch Sylvia Haddad kann sich noch genau an ihre ers-

te Aufgabe als Generalsekretärin des Gemeinsamen Christlichen Komitees für Soziale Dienste im Libanon (JCC) erinnern: Sie sollte ein Familienzentrum im palästi-nensischen Flüchtlingslager Schatila in Beirut schließen. „Ich saß am Schreibtisch und plötz-lich stand eine Delegation von Männern vor der Tür“, erzählt sie bei einem Gespräch im vergange-nen November. Ihr Anführer hat-te eine Petition mit 150 Unter-schriften in der Hand und redete auf sie ein: Was ihr das Recht gebe, die Einrichtung zu schlie-ßen, die ihren Kindern, Müttern

und Schwestern so lange Zeit ge-holfen habe? Haddad ließ sich überzeugen und schaffte es, das Projekt zu retten.

Sylvia Haddad ist selbst 1948 mit ihren Eltern aus Palästina in den Libanon geflohen, nachdem Israel seine Unabhängigkeit er-klärt hatte. Doch die Welt der Flüchtlingslager lernte sie erst durch ihre jetzige Arbeit kennen. Sie studierte Erziehungswissen-schaften in Beirut, lebte mit ih-rem Mann, einem libanesischen Arzt, und ihren drei Töchtern eine Zeit lang in den USA, bis sie nach dem Ende des Bürgerkriegs im Libanon 1990 nach Beirut zu-rückkehrte. Dort lehrte sie zu-nächst an der Amerikanischen Universität, bis ihr sieben Jahre später der JCC ein Angebot mach-te. Es sei ihr nicht leicht gefallen, ihre Arbeit an der Uni aufzuge-ben, sagt Haddad. Aber: „In dem Moment fühlte ich mich gerufen. Ich konnte nicht ablehnen.“

Haddad leitet die Flüchtlings-arbeit beim JCC Libanon, mit Pro-jekten in vielen Teilen des Lan-des. Die meisten von ihnen dre-hen sich um Schul- oder Berufs-bildung. „Wir glauben an Hilfe zur Selbsthilfe. Wir möchten den Palästinensern helfen, ihre eige-nen Fähigkeiten zu entfalten, da-mit sie ihre Familie ernähren können und ihre palästinensi-sche Identität, die Kultur und das Wissen über die eigenen Wurzeln

erhalten können.“ Die gut ausge-statteten Schulen der ersten Jah-re seien allerdings längst ge-schlossen worden. „Sie waren von europäischen Kirchen finanziert, als man noch glaubte, der Kon-flikt sei in wenigen Jahren been-det und die Palästinenser könn-ten nach Hause zurückkehren“, sagt sie.

Der JCC will vor allem den jungen Flüchtlingen eine Pers-pektive für die Zukunft eröffnen. Und die kommen zunehmend aus Syrien – manche aus palästi-nensischen Familien, die 1948 aus Palästina nach Syrien geflo-hen waren. Oder aus einer noch älteren Flüchtlingsgruppe: den Christen, die es 1915 noch schaff-ten, vor dem Völkermord aus dem Gebiet des Osmanischen Reiches in den Norden Syriens zu fliehen beziehungsweise dorthin deportiert wurden.

„Und jetzt wollen sie weiter nach Deutschland“, sagt eine wohl etwas irritierte Sylvia Had-dad. Denn von den Worten „Wir schaffen das“ der Bundeskanzle-rin fühlten sich teils Menschen angesprochen, die Angela Merkel sicher nicht gemeint habe. „Wir sehen hier Leute, die sich seit langem gut etabliert haben, etwa Handwerker, alles verkaufen und sich auf den gefährlichen Weg über das Meer nach Deutschland aufmachen.“ Es gehe von Ohr zu Ohr, dass man in Deutschland gut leben könne, ohne zu arbei-ten, weil man sich erst eingewöh-nen muss. „Und die vielen Mafia-Gruppen, die es plötzlich gab, re-den den Leuten zu, ins neue Eden aufzubrechen, das Deutschland heißt“, sagt Haddad.

Geflüchteten mit Bildung helfenEine christliche Hilfsorganisation im Libanon bringt syrische Kinder zum Abitur

Für die Palästinenserin Sylvia Haddad ist die Arbeit mit Flüchtlingen eine Berufung. denn sie ist selbst fern der Heimat aufgewachsen.

Von Erhard Brunn

Schwerpunkt FLUCHT UND MIGRATION32

Hilfe mit TraditionDas Gemeinsame Christliche Kommittee für Soziale Dienste im Libanon (JCC) ist eine der ältesten nichtstaatlichen Organisatio-nen im Libanon, die mit palästinensischen Flüchtlingen arbeiten. Es ist Teil der Abteilung für Service für die palästinensischen Flüchtlinge (DPSR) im Ökumenischen Rat der Kirchen, die seit 1950 besteht. Außer im Libanon ist das DPSR mit Projekten im Westjordanland, in Gaza, im Norden Israels (Galiläa) und in Jorda-nien vertreten. Koordiniert wird die Arbeit in Jerusalem. Das JCC hat für die Flüchtlinge zunächst Nothilfe geleistet und dann im-mer mehr Schul- und Berufsbildung. Angeboten wird heute eine breite Palette – Frauen lernen schneidern, das Friseurhandwerk, Sekretariatsarbeiten und besuchen Computerkurse. Männer wer-den unter anderem als Elektriker ausgebildet, in der Landwirt-schaft oder in der Wartung von Computern. (eb)

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Zugleich beobachtet Sylvia Haddad, dass mehr und mehr Menschen nach Syri-

en zurückkehren. Und sie ermu-tigt sie, vor allem die gut Ausge-bildeten. „Geht, ihr habt ein Hei-matland, das ihr wieder aufbauen könnt, anders als wir Palästinen-ser“, sagt sie ihnen. Der JCC hilft, mit Bildung die Basis zu schaffen. Das ist nicht einfach, denn das li-banesische und das syrische Schulsystem unterscheiden sich grundlegend. In Syrien wird auf Arabisch unterrichtet, im Liba-non auf Französisch oder Eng-lisch. Doch es sind nicht nur die Schülerinnen und Schüler aus Sy-rien geflohen, sondern auch die Lehrer. Die syrischen Lehrpläne sind deshalb bekannt, Schulbü-cher wurden kopiert. Der JCC un-terrichtet Hunderte syrischer Mädchen und Jungen. Das ist auch belastend – für alle. „Wenn wir früher schon volle Klassen-räume hatten und jetzt noch syri-sche Flüchtlingskinder dazu tun müssen – das ist hart“, sagt Sylvia Haddad.

Zu den Prüfungen machen sich viele ihrer Schüler auf die ge-fährliche Reise nach Damaskus. Sie bleiben dort drei Wochen in

Begleitung ihrer Lehrer, bis alle Examen abgeschlossen sind. Die jüngeren von ihnen sind zwi-schen 14 und 15, sie machen eine Art Realschulabschluss, die älte-ren legen mit 18, 19 Jahren das Ab-itur ab. Besonders heikel sei es, ihre Rückkehr zu organisieren. Dafür müssten die passenden Pa-piere besorgt werden, um zu be-weisen, dass die Jungen und Mäd-chen bereits im Libanon leben, berichtet Haddad. „Die Regierung hier will nicht noch mehr Flücht-linge.“

Haddad lobt die gute Organi-sation in Kooperation mit dem syrischen Erziehungsministeri-um. Sogar Blinde könnten eine spezielle Prüfung ablegen und würden sehr gut betreut. „Wenn unsere Schüler studieren wollen, möchten sie erst recht nach Syri-en“, ergänzt Haddad. Die libanesi-schen Universitäten seien teuer, die syrischen umsonst. 15 ihrer früheren Schüler studierten nun an der Universität in Damaskus. „Einer wollte sogar nach Aleppo. Wir fragten ihn: Was willst Du da? Da herrscht doch Krieg. Die Stadt liegt in Trümmern. Da gibt es nie-manden, der Dir helfen kann.“ Die Schüler antworteten dann: Helft

uns dorthin zu kommen, mit Es-sen und Schulmaterial, den Rest organisieren wir schon selbst. Sie wüssten sehr genau, wie wichtig formelle Berufsabschlüsse sind und dass man das Dokument in den Händen halten muss, um es eines Tages vorzeigen zu können. Haddad: „Und dafür sind viele von ihnen bereit, viel zu riskie-ren.“

Stört es die muslimische Mehrheit unter den Flüchtlingen nicht, dass die Hilfe von Christen kommt? Nein, sie nähmen in die-ser Lage sicher die Hilfe von je-dem an, meint Haddad. „Ich habe mein Leben lang unter Muslimen gelebt. Die Syrer sind sehr fleißige Leute. Ich beschäftige sie gerne in meinen Projekten.“ Missioniert werde ohnehin nicht mehr: „Wir beweisen unseren Glauben durch unsere Arbeit.“ Haddad macht sich ganz andere Sorgen: Die syri-schen Flüchtlinge seien Men-schen, die in ihrem Glauben ge-festigt sind. „Sie werden ihre eige-nen religiösen Strukturen in Deutschland aufbauen und das Land verändern.“ Der JCC hänge mit seiner Arbeit von der Unter-stützung des Nordens ab – und der sei bislang christlich geprägt. „Darauf konnten wir uns verlas-sen. Doch was passiert mit uns, wenn sich Deutschland verän-dert?“

Sylvia Haddad sieht sich im Guten wie im Schlechten einge-bunden in das dramatische Schicksal der Region seit 1945. Sie ist stolz auf ihre Herkunft: „Ich bin ein Mädchen aus Jerusalem“, sagt sie. Daran richtet sie sich in-nerlich auf, um sich weiter den Problemen zu stellen.

Lernen kann nicht früh genug beginnen: Sylvia Haddad mit Kindern aus einem JCC-Bildungs-projekt.

Jcc

Erhard Brunn ist Historiker und Berater in

interkultureller Kooperation.

33FLUCHT UND MIGRATION Schwerpunkt

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34 Schwerpunkt FLUCHT UND MIGRATION

Es war ein großer Augenblick für die Neubürger: Im ver-gangenen Jahr durften sie

zum ersten Mal bei der Wahl des Staatspräsidenten von Tansania abstimmen – des Landes, in dem viele von ihnen seit Jahrzehnten leben. Am 14. Oktober 2014, dem 15. Todestag von Staatsgründer Ju-lius Nyerere, hatten die ersten von rund 162.000 burundischen Flüchtlinge in einer feierlichen Zeremonie ihre Staatsbürger-schaftsurkunden erhalten.

Insgesamt will die tansanische Regierung 200.000 Burunder ein-bürgern, darunter die Kinder der-jenigen, die 1972 vor den blutigen ethnischen Unruhen in ihrer Hei-mat geflohen waren. Es ist die größte Gruppe von Flüchtlingen in der Geschichte des UN-Flücht-lingshilfswerkes, der nach Jahr-zehnten im Exil die Einbürgerung angeboten wurde. UNHCR-Reprä-sentantin Joyce Mend-Cole, lobte Tansania anlässlich der Zeremo-nie als Vorbild bei der Suche nach Lösungen für den Umgang mit Flüchtlingen und als Land, in der die Institution des Asyls bewahrt und respektiert wird.

Bereits 1982 hatte das ostafri-kanische Land rund 32.000 ruan-dische Flüchtlinge eingebürgert sowie 2014 rund 3000 Somalier, die 1991 aus ihrer Heimat geflohen waren. Derzeit beherbergt es au-ßerdem rund 70.000 Kongolesen und mehr als 150.000 neue Flücht-linge aus Burundi, die sich zwi-schen April und Dezember 2015 vor dem dortigen politischen Cha-os in Sicherheit gebracht haben.

Burundi ist ein kleines, dicht bevölkertes Land, das seit seiner Unabhängigkeit von Belgien 1962 immer wieder von Unruhen er-schüttert wird. 1972 wurden rund 200.000 Menschen während eth-nischer Auseinandersetzungen getötet, die als erster Genozid in der Region der Großen Seen gel-

ten. Rund 500.000 Kinder, Frauen und Männer flohen, die meisten in das Nachbarland Tansania. Dort wurden sie in Katumba, Mishamo und Ulynkulu angesiedelt, Sied-lungen, die noch heute bestehen.

Nimbona Shartiel ist einer der wenigen Burunder, die die Ge-schichte seines Landes noch ken-

nen. Der heute 58-Jährige floh 1972 vor den ethnischen Verfol-gungen gegen Hutu, damals war er ein Teenager. „Wir leben hier seit mehr als 42 Jahren, wir haben Kinder und Enkel. Wir können nicht zurück nach Burundi. Dort haben wir keine Familie mehr und auch kein Land“, sagt Shartiel, der einer Gemeinschaft in Katum-ba vorsteht. Die Mehrheit in den alten Flüchtlingssiedlungen sei in Tansania geboren, meint er. Sie nach Burundi zurückzuschicken, würde sie erneut zu Flüchtlingen machen.

Bereits 1978 hatte der UNHCR seine Unterstützung für die Bu-runder eingestellt, sie mussten selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Neben Subsistenzland-wirtschaft produzierten sie in Tansania Tabak und Kaffee für den Export. Mit ihren Geschäften trugen sie zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bei und zahlten Steuern. Nach langen Ver-handlungen mit der burundi-schen Regierung und dem UNH-CR kündigte Tansanias Regierung

2007 schließlich an, den Flücht-lingen die Einbürgerung anzubie-ten.

Ein schwieriger Prozess, wie Athuman Igwe weiß, der in der Re-gion Katavi für die Flüchtlings-siedlung Katumba zuständig ist. Viele Tansanier hätten Vorbehalte gegenüber den Neubürgern geäu-ßert – die Flüchtlinge arbeiteten zwar hart in der Landwirtschaft, doch mit ihrer Geschichte von Konflikt- und Gewalterfahrung seien sie vielen Einheimischen als Bedrohung erschienen. Die Tansa-nier hätten die fremden kulturel-

len Einflüsse und eine Zunahme der Kriminalität befürchtet.

Der frühere Commissioner von Katavi, Rajabu Rutengwe, hat den Einbürgerungsprozess eng begleitet. Er berichtet, man habe wegen der Ängste eine Schulung für die Flüchtlinge konzipiert, um sie für die Kultur und die Traditio-nen ihrer neuen Heimat zu sensi-bilisieren. Frei nach dem Motto „Gehst Du nach Rom, benimm Dich wie ein Römer“.

Aufgrund der Sicherheitsbe-denken in der Bevölkerung ent-schied die Regierung 2011, die ein-gebürgerten Burunder in 16 ver-schiedenen Provinzen anzusie-deln, damit sie sich dort integ-rieren und ein neues Leben be-ginnen konnten. Dagegen wehr-ten sich jedoch die Neubürger: Sie warfen der Regierung vor, sie von ihren Freunden und Verwandten zu trennen und zudem gegen die Verfassung zu verstoßen, laut der jeder Tansanier das Recht hat, sich seinen Wohnort auszusuchen. Damit kam die bereits begonnene Einbürgerung ins Stocken – viele Flüchtlinge stoppten ihre Investi-tionen in die Landwirtschaft und meldeten ihre Kinder nicht für weiterführende Schulen an, weil sie nicht wussten, ob sie in ihren Siedlungen bleiben durften oder nicht.

Erst 2014 gab die tansanische Regierung bekannt, dass die Neu-bürger in den Siedlungen bleiben dürfen – oder in einen anderen Teil des Landes ziehen können, wenn sie das möchten. Damit war der Weg für die Einbürgerung frei, die von vielen ehemaligen Flücht-lingen mit großer Dankbarkeit be-grüßt wurde. „Wir sind so glück-lich, dass wir nun Tansanier sind. Denn wir kennen keine andere Heimat mehr“, so war die überein-stimmende Reaktion in den Sied-lungen von Katumba, Mishamo und Ulyankulu.

Prosper Kigwize ist freier Journalist in Kigoma, tansania.

Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann.

die tansanische Regierung hat Hunderttausende Flüchtlinge aus Burundi eingebürgert. die Einhei- mischen waren zunächst wenig begeistert.

Gekommen, um zu bleiben: Die Burunderin francine Mukamana hat 2009 in einem flüchtlingscamp im Westen

von Tansania Zuflucht gefunden.PEtER MARLoW/MAgNuM PHotoS/AgENtuR FocuS

Neue Heimat Tansania

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flucht und migration schwerpunkt 35

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BüCHER ZUM THEMA

Die Anti-Mobilitäts-MaschineEuropa schottet sich ab mit Hilfe der Staaten, aus de-nen oder durch die Zuwanderer kommen. Der britische Ethnologe Ruben Andersson untersucht präzise und mit einem originellen Zugang, wer an diesem Unter-nehmen mitwirkt und daran verdient.

Andersson konzentriert sich darauf, wie seit 2006 unter Spaniens Führung der westliche Weg über das Mittelmeer geschlossen wurde. Dazu, so seine These, wurde eine „Illegalitäts-Industrie“ geschaffen. Die spanische und senegalesische Polizei und die euro-päische Grenzagentur Frontex wirken daran mit, aber auch Firmen, die zum Beispiel Überwachungs-technik verkaufen, Forschungseinrichtungen, Hilfs-organisationen und Journalisten – und natürlich Schleuser sowie Migranten. Sie alle kommen in dem Buch zu Wort. Das vermittelt ein anschauliches Bild, nicht zuletzt von der Absurdität des Unterfangens.

Besonders wertvoll sind die Einblicke in Denk- und Arbeitsweisen der Sicherheitskräfte. Spanien habe die Polizei des Senegal gekauft und dazu die Schleuser überbieten müssen, schildert Andersson. Um ihren Einsatz gegen die Migration nachzuwei-

sen, inszenierten afrikanische Polizisten ihn nun. Und da es auf der Westroute weniger Migranten gibt, werde die Definition ausgeweitet, um die Erfolgszah-len zu erhöhen. Im Ergebnis verlagere Europa seine Grenzen nach Süden und schaffe dort „Grenzräume“, in denen die Unterschiede zwischen legal und illegal verwischen und wachsende Zahlen von Menschen „Schattenexistenzen“ führen.

Das folgt laut Andersson keinem großen Plan. Sondern die Beteiligten – Firmen, Behörden, For-schungseinrichtungen – folgten eigenen Interessen und ihrer institutionellen Logik. Ihr Zusammenwir-ken lasse eine „Anti-Mobilitäts-Maschine“ entste-hen, die Migranten zum Sicherheitsrisiko stilisiere. Sie erzeuge Illegalität und lebe davon. Aber die Zu-wanderung nach Europa werde so nicht verringert, sondern nur auf neue Routen verlagert, argumen-tiert Andersson.

Das Buch ist streckenweise fesselnd, an anderen Stellen etwas langatmig; die analytischen Passagen sind nicht immer leicht verdaulich. Aber es ist wich-tig und macht überzeugend deutlich, was Europa in seiner Nachbarschaft anrichtet. Bernd Ludermann

Europa auf der AnklagebankDer Dokumentarfilmer Michael Richter präsentiert Skizzen, Porträts und Berichte zum Thema Asyl und Einwanderung. Und er fordert eine humane flücht-lingspolitik.

Am 15. April 2015 ertranken vor der Küste Libyens über 400, am 18. April 700 Flüchtlinge, deren alte Kutter sie nicht mehr sicher über das Meer brachten. Die italienische Küstenwache konnte nur wenige von ihnen retten. Eineinhalb Jahre zuvor war das Schiff eines heute in der Pfalz lebenden Syrers ge-sunken, der mit seiner Familie von Misurata nach Italien gelangen wollte. Auch hier hatte die italieni-sche Küstenwache erst eingegriffen, als das Schiff be-reits sank. 150 Menschen starben, darunter zwei sei-ner Söhne. Nun will der Arzt gegen die Küstenwache klagen, „die viele syrische Familien und meine Söh-ne auf dem Gewissen hat“.

Michael Richters Buch greift die Geschichte auf und klagt die Europäische Union (EU) an. Ihr fehlten einheitliche Standards in der Asylpolitik, und auch die 2011 festgelegten sozialen und medizinischen Standards würden beispielsweise in Bulgarien oder Italien nicht eingehalten. Stattdessen schielten vor allem westeuropäische Regierungen auf den sich ausbreitenden Rechtspopulismus und machten mit Angst und Ressentiments Politik. Ihre Abschottungs-politik werde von der EU-Agentur Frontex und ihren

Polizeikräften gnadenlos umgesetzt. Der Autor for-dert legale, sichere Wege, auf denen Flüchtlinge nach Europa reisen können – mit Hilfe von Seenotret-tungsprogrammen, humanitären Visa in großem Stil und von Resettlement-Programmen des Flücht-lingshilfswerkes UNHCR. Die EU müsse endgültig das Dublin-Prinzip aufgeben, demzufolge Flüchtlin-ge in dem Land ein Asylverfahren durchlaufen, wo sie die EU-Außengrenze überschreiten. Zum Aus-gleich sollten die Aufnahmeländer Transferzahlun-gen erhalten. Frontex müsse den klaren Auftrag be-kommen, Flüchtende zu versorgen und nicht abzu-schrecken.

Um die Lage in den Herkunftsländern der Flücht-linge langfristig zu verbessern, plädiert Richter da-für, Hilfsgelder von der Achtung der Menschenrech-te und demokratischer Standards abhängig zu ma-chen. EU-subventionierte Agrarexporte wie von Reis oder Milch prangert er als kontraproduktiv an, da sie die Binnenmärkte der Herkunftsländer schwächten und Bauern ihrer Lebensgrundlage beraubten. Die größte Aufgabe sieht er freilich in einem Einwande-rungsgesetz, das Menschen, die hier arbeiten und leben wollen, eine Perspektive bietet – nicht zuletzt, um in einer alternden Gesellschaft die Sozialsysteme zu stützen. Das Buch ist ein lesenswertes und enga-giertes Plädoyer für eine humane EU-Flüchtlingspo-litik. Klaus Jetz

Ruben AnderssonIllegality, Inc.clandestine Migration and the Busi-ness of Bordering Peopleuniversity of california Press oakland 2014, 338 Seiten, ca. 26 Euro

Michael RichterFluchtpunkt Europaunsere humanitäre Verantwortungedition Körber-Stiftung Hamburg 2015, 242 Seiten, 16 Euro

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Hoffnung trotz Hunger

Von Philipp Hedemann

Morgendämmerung. Als die Sonne auf einer Ebene außerhalb von Korem die beißende Kälte der Nacht durchbricht, bringt sie eine

biblische Hungersnot ans Licht. Jetzt, im 20. Jahr-hundert. ,Dieser Ort‘, sagen die Helfer hier, ,ist der Ort auf Erden, der der Hölle am nächsten kommt.‘ Tausende von ausgemergelten Gestalten kommen auf der Suche nach Hilfe hierher. Viele finden nur den Tod. Alle zwanzig Minuten stirbt ein Kind oder ein Erwachsener.“

Mit diesen Worten leitete BBC-Reporter Michael Buerk am 23. Oktober 1984 seinen Bericht über die Hungersnot in Äthiopien ein. Während der Journa-list mit getragener Stimme spricht, zeigt die Kamera ein sterbendes Baby.

Der kaum zu ertragende Film brachte den Tod in Äthiopien zunächst direkt in britische Wohnzimmer, rüttelte später Menschen auf der ganzen Welt wach und inspirierte Rockstar Bob Geldof 1985 zum Live-

Aid-Konzert. Eineinhalb Milliarden Menschen sahen und hörten die weltweit übertragenen Konzerte, rund zweihundert Millionen Mark an Spenden ka-men zusammen. Doch für viele kam die Hilfe zu spät, bis zu eine Million Menschen starben.

Heute, mehr als 31 Jahre später, hat es im Land am Horn von Afrika wiederum seit Monaten kaum ge-regnet. „Äthiopien wird gerade von der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren heimgesucht“, stellte der zustän-dige Ländermanager der Hilfsorganisation Save the Children im vergangenen Dezember fest. Zuvor wa-ren im Frühling die sogenannten „Belg“-Niederschlä-ge komplett ausgeblieben. Im Sommer führte laut Fachleuten das Wetterphänomen El Niño dazu, dass auch die normalerweise ertragreichere „Kiremt“-Re-genzeit in einigen Regionen im Osten des Landes fast ganz ausfiel. El Niño tritt alle sieben bis acht Jahre auf, wenn der Pazifische Ozean in großem Umfang Wär-me an die Atmosphäre abgibt.

Äthiopien wird von der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten heimgesucht. Aber das Land ist heute besser vorbereitet als während früherer Hungersnöte.

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äTHIOPIEN welt-blicke

Das Land ächzt unter der Dürre: In der Somali-Region Äthiopiens

stehen im Januar frauen an, um Wasser zu holen.

tIKSA NEgERI/REutERS

Die Ernten fielen im vergangenen Jahr in diesen Regionen um 50 bis 90 Prozent geringer aus als üb-lich. Als Folge der Dürre könnten nach Prognosen der Vereinten Nationen und der äthiopischen Regierung in diesem Jahr rund zwei Millionen Menschen zu we-nig zu essen und zu trinken haben. 800.000 Men-schen könnten gezwungen werden, vor der Dürre in andere Landesteile zu fliehen.

Bereits im vergangenen Jahr waren nach Schät-zungen rund 200.000 Kühe, Schafe, Ziegen und Ka-mele verendet, in diesem Jahr könnten 450.000 hin-zukommen. Viele Viehbesitzer versuchen ihre aus-gemergelten Tiere noch schnell zu verkaufen, bevor sie verhungern oder verdursten. Die Viehpreise san-ken deshalb nach Angaben des äthiopischen Land-wirtschaftsministeriums zwischen August 2014 und August 2015 um bis zu 80 Prozent. Gleichzeitig wur-den Lebensmittel viel teurer. So stieg beispielsweise der Preis für Linsen nach Angaben des Ethiopian Hu-manitarian Country Teams im gleichen Zeitraum um 73 Prozent an. Viele Bauern können sich und ihre Familien aus eigener Kraft nicht mehr ernähren.

Derzeit sind gut zehn Millionen Äthiopier von Lebensmittellieferungen abhängig, hinzu kommen acht Millionen Äthiopier, die regelmäßig staatliche Unterstützung erhalten, weil ihre Ernährungssitua-

tion chronisch unsicher ist. Damit ist fast ein Fünftel der Bevölkerung auf Hilfe angewiesen. Und die äthi-opische Regierung, die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Krise sich bis zum Einsetzen der Sommerregenzeit weiter verschärfen könnte. „Der Ausblick auf 2016 ist sehr düster“, sagte Amadou Allahoury, Äthiopien-Reprä-sentant der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsor-ganisation (FAO), im Januar.

Düster, aber nicht katastrophal. 2016 wird es höchstwahrscheinlich keine Bilder von verhunger-ten Frauen, Kindern und Männern geben, schon gar nicht in dem Ausmaß wie vor 31 Jahren. Denn die Dürre trifft Äthiopien nicht unvorbereitet. 2013 ver-abschiedete der Staat eine Strategie für das Katastro-phenmanagement, die unter anderem die Früh-warnsysteme gestärkt und die Verfügbarkeit von Le-bensmittelvorräten in allen Landesteilen verbessert hat. Koordiniert von einer staatlichen Kommission arbeiten derzeit mehr als 60 humanitäre Organisati-onen in Äthiopien, darunter zehn UN-Agenturen.

David Del Conte, stellvertretender Leiter des UN-Amtes für Humanitäre Hilfe (OCHA) in Äthiopien, sagt: „Es wird definitiv keine Hungersnot geben. Die Regierung, ihre UN-Partner und die NGOs sind in der Lage, das zu verhindern. Vorausgesetzt es sind genug finanzielle Mittel vorhanden.“ Doch die fehlen teil-weise noch: Äthiopien hat in diesem und im vergan-

genen Jahr rund 380 Millionen US-Dollar in die Be-kämpfung der Krise gesteckt. Internationale Geber hatten bis Mitte Februar rund 550 Millionen Dollar bereitgestellt. Doch nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind insgesamt fast 1,5 Milliarden Dollar notwendig.

Äthiopien hatte zunächst versucht, die Auswir-kungen der Dürre kleinzureden, korrigierte die Zahl der Betroffenen nur zögerlich nach

oben und bat die internationale Gemeinschaft erst im Oktober 2015 um Hilfe. Das Land wollte nicht wie-der mit Hunger in die Schlagzeilen kommen. In den vergangenen 20 Jahren hat sich Äthiopien von der Weltöffentlichkeit weitestgehend unbemerkt zum Afrikanischen Löwen gemausert und ist zur fünft-größten Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika aufge-stiegen. Zwischen 2004 und 2014 wuchs die Wirt-schaft nach offiziellen Angaben jedes Jahr durch-schnittlich um 10,9 Prozent. Das ist afrikanischer Rekord. Auch wenn manche Kritiker die offiziellen Wachstumsraten für geschönt halten: Der Auf-schwung ist kräftig und lang anhaltend. Und er hat dazu beigetragen, dass Wetterextreme wie die aktu-elle Dürre nicht mehr so schnell wie früher zu schwe-ren Hungersnöten führen.

2002 legte die Regierung ein neues Entwick-lungsprogramm auf und erklärte die Armutsbe-kämpfung zum obersten Ziel ihres Handelns. Äthio-pien erreichte bis 2015 sechs der acht Millennium-Entwicklungsziele, und auch bei den beiden verblei-benden Zielen (Gleichstellung der Geschlechter und Verbesserung der Gesundheitsvorsorge für Mütter) wurden große Fortschritte erzielt. Das renommierte britische Overseas Development Institute stellt in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr fest, Äthio-pien zähle bei der Armutsbekämpfung in den ver-gangenen Jahren weltweit zu den erfolgreichsten Staaten. Das gilt auch für die Bildungspolitik: Wäh-rend 1992 noch rund vier von fünf Kindern im Grundschulalter nicht zur Schule gingen, ist es heu-te nur noch ein Fünftel. Kein anderer Staat in Afrika kann einen so hohen Zuwachs bei den Einschulungs-raten aufweisen.

In der Hauptstadt Addis Abeba ist der Auf-schwung sichtbar: Überall schießen moderne Hochhäuser aus dem Boden, auf den Straßen rollen immer mehr Autos. Als Ende vergangenen Jahres die in nur drei Jahren aus dem Boden gestampfte 500 Millionen US-Dollar teure und zu 85 Prozent mit chinesischem Geld finanzierte Stadtbahn in Be-trieb genommen wurde, berichteten Medien aus aller Welt. Unter anderem mit Unterstützung Chi-nas und der Vereinten Nationen hat die Regierung

Äthiopien hat viel mehr Geld in die Landwirtschaft gesteckt als andere afrikanische Staaten

und etwa das Straßennetz stark ausgebaut.

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welt-blicke äthiopien

in der Nähe der Hauptstadt mehrere Industrieparks errichtet. Die Regierung will internationale Unter-nehmen anlocken, ausländische Direktinvestitio-nen fördern, Know-how importieren und dringend erforderliche Arbeitsplätze außerhalb der Land-wirtschaft schaffen.

Und der Aufschwung findet nicht nur in der Hauptstadt statt. Vor allem auf dem Land wurde stark in Infrastruktur investiert, denn

in Äthiopien leben mehr als drei Viertel der Bevölke-rung von der Landwirtschaft. In den vergangen zehn Jahren ist das Straßennetz auf das Doppelte ausge-baut worden. In guten Zeiten können die Bauern ihre Waren auf dem Markt anbieten. In schlechten Zeiten erreichen Staat und Hilfsorganisationen mit Hilfslieferungen auch abgelegene Regionen.

Der Staat hat in den vergangenen zehn Jahren nach Angaben des Overseas Development Institute jährlich mehr als 15 Prozent seines Haushaltes in die Landwirtschaft investiert. Zum Vergleich: In den an-deren afrikanischen Staaten waren es im Jahr 2013 im Durchschnitt nur knapp drei Prozent. In Äthiopien wurden unter anderem Tausende Landwirtschaftsex-perten ausgebildet, Felder terrassiert, um der Erosion Einhalt zu gebieten, Bewässerungskanäle gebaut und instand gesetzt und Wälder aufgeforstet.

Seit rund fünf Jahren versucht die äthiopische Regierung die Produktivität der Landwirtschaft zu-

dem durch die Verpachtung riesiger Flächen an meist ausländische Investoren zu steigern. Zwar ist die erwünschte Wirkung der umstrittenen Projekte bislang weitgehend ausgeblieben. Dennoch konnte die landwirtschaftliche Produktion nach Angaben des Finanzministeriums seit 2010 jährlich um durchschnittlich 6,6 Prozent gesteigert werden. Eine Weltbank-Studie aus dem vergangenen Jahr geht da-von aus, dass die Produktivitätssteigerungen zwi-schen 2005 und 2011 dazu beigetragen haben, die Armut um sieben Prozent zu senken. Und es ist noch viel Luft nach oben. Denn noch immer werden rund 90 Prozent der Ernten auf unbewässerten Flächen erzielt.

Zudem hat Äthiopien mit dem Productive Safety Net Programme 2005 das größte Sozialhilfe-Programm in Afrika aufgelegt. In Zeiten

schlechter Ernten versorgt das weitgehend von Ge-bern finanzierte Projekt Bedürftige mit Geld oder Le-bensmittellieferungen. Als Gegenleistung arbeiten die Nutznießer an Gemeinschaftsprojekten wie dem Bau von Straßen oder Bewässerungskanälen mit. Derzeit nehmen rund acht Millionen Menschen an dem Programm teil.

Die Regierung befindet sich jedoch mit ihren An-strengungen gegen Armut und Hunger im Wettlauf mit dem zwar sinkenden, aber immer noch hohen Bevölkerungswachstum. Zur Zeit der großen Hun-gersnot 1984/85 lebten 40 Millionen Menschen im Land am Horn von Afrika, heute sind es fast zweiein-halb Mal so viele: 97 Millionen. Menschenrechtler bemängeln zudem, dass die Erfolge bei der Bekämp-fung der Armut teilweise auf Kosten der Freiheit ge-hen. Nach dem Motto: So wenig Demokratie wie nö-tig, so viel Staatskapitalismus wie möglich, orientiert Äthiopien sich in den vergangenen Jahren immer stärker an China. Seit den Wahlen 2015 sitzt im 547 Abgeordnete zählenden Parlament kein einziger Op-positioneller mehr, die Regierungspartei „Revolutio-näre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“ ist mittlerweile seit fast 25 Jahren an der Macht.

Während dieser Zeit hat sie reichlich Erfahrung im Management von Naturkatastrophen gesam-melt. Bereits während der schweren Dürre am Horn von Afrika vor knapp fünf Jahren konnte die Regie-rung verhindern, dass es Tote zu beklagen gab. Wäh-rend im Bürgerkriegsstaat Somalia die Hungernden kaum versorgt werden konnten und Tausende Men-schen starben, verhungerte 2011 nach offiziellen An-gaben kein einziger Äthiopier. Lediglich Somalier, die die Flüchtlingslager im Nachbarland zu spät er-reichten, starben damals auf äthiopischem Boden.

In Zukunft wird die Fähigkeit der äthiopischen Regierung, auf solche Wetterextreme zu reagieren, wahrscheinlich häufiger auf die Probe gestellt. Denn Experten gehen davon aus, dass die Erderwärmung in Äthiopien öfter zu Dürren und Überflutungen führen wird. Zusammen mit seinen internationalen Partnern wappnet das Land sich schon jetzt für den Klimawandel, den es kaum verursacht, unter dem es aber besonders stark zu leiden hat.

Philipp Hedemann ist freier Journalist in Berlin. Von

2010 bis 2013 berichtete er als Afrika-Korrespondent für verschiedene

Zeitschriften und Zeitungen aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.

Sein Äthiopien-Buch „Der Mann, der den Tod auslacht“ ist 2013 im DuMont-

Verlag erschienen.

Äthiopien10,2 Mio.

10,3%

DRC.6,6 Mio. +2,4%

8,3%

Mosambik 801.755 +13%

3,2%

-17%

Sambia 800.000

5,3%

-15%

Angola 1,25 Mio.

6,4%

-50%

Simbabwe 1,5 Mio.

10.5%

-26%

Malawi 2,8 Mio.

15,6%

-43%

Namibia 370.316

17%

-27%

Lesotho 463.936

23,8%

-7,2%

Madagaskar 459.319

1,9%

-26%

Südafrika 14 Mio.

26%

-31%

Swasiland 200.100

13,9%

Hunger in Afrika

Quelle: SADC/WFP/CIA – The World Factbook 2015 ©

Auf Nahrungsmittelhilfe ange-wiesen (absolut und in Prozent) Veränderung der Getreideproduk-tion zwischen 2014 und 2015

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ALGERIEN welt-blicke

Hassprediger wie Abdelfatah Hama-dache – hier auf einer Kundgebung

gegen Israel 2010 – sind den Behörden ein Dorn im Auge.

ZoHRA BENSEMRA/REutERS

der Staat wünscht andere Prediger

dreiundzwanzig Jahre sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Algerien vergangen, der 200.000 Menschen das Leben gekostet hat

und als „Schwarzes Jahrzehnt“ in die Geschichte des Landes eingegangen ist. Heute ist der Islamismus er-neut Ursache von gesellschaftlichen und politischen Kontroversen. Zwar sind der politische Islam und ge-waltbereite militante Gruppen in Algerien noch ge-schwächt. Aber immer lauter greifen Salafisten isla-mische Traditionen und Lebensweisen im Land an, die nicht der strengen, wortgetreuen Auslegung des Korans entsprechen, wie sie Salafisten propagieren.

Dass sie sich im Aufwind befinden, hat eine Reihe von Gründen. Algerien leidet wie viele Länder des Na-hen Ostens und Nordafrikas unter wirtschaftlichen Problemen, politischer Lähmung und Veränderungen in der Altersstruktur der Gesellschaft. Der Zulauf für die Salafisten ist Ausdruck einer moralischen Rebelli-on gegen den Staat und seine Institutionen. Mit strik-ten Moralvorschriften und dem Versprechen, gegen soziale Missstände vorzugehen, bietet der friedfertige Salafismus unzufriedenen Jugendlichen eine Alterna-tive zu den vorherrschenden staatstreuen Strömun-gen des Islam, deren staatsnahe Institutionen im Nie-dergang sind. Und paradoxerweise hat auch der Staat den Salafismus gestärkt, indem er die Bewegung als ideologisches Gegengewicht zum politischen Islam und zu revolutionären Gruppen nutzte.

Der algerische Salafismus ist ganz am konservati-ven Rand des theologischen und politischen Spekt-rums angesiedelt, und er ist keineswegs homogen. Salafisten haben teilweise sehr unterschiedliche An-

In Algerien erstarken erneut intolerante Strömungen des Islam. So lange sie unpolitisch waren, hat das Regime sie als nützlich betrachtet. Nun will es die traditionellen geistlichen wieder stärken.

Von Anouar Boukhars

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sichten, beispielsweise zum Abfall vom Islam oder zum politischen Engagement. Die größte und promi-nenteste Gruppe sind die sogenannten quietistischen Salafisten. Sie halten sich aus der Politik heraus, leh-nen Gewalt ab und werben dafür, die Gesellschaft an ihrer streng konservativen Theologie auszurichten. Sie engagieren sich in Wohltätigkeitsorganisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft ebenso wie im in-formellen Markt- und Straßenhandel. Die politische, revolutionäre Variante des Salafismus bleibt in Algeri-en eine Minderheit.

d er Salafismus kam mit der Wende zum 20. Jahrhundert nach Algerien. Er war eine trans-national ausgerichtete Reformbewegung und

betonte die Vereinbarkeit des Islam mit der Moder-ne. Doch in einer Gesellschaft, die sich noch im Wür-gegriff des Kolonialismus befand, konnten sich mo-derne Ideen nicht entfalten. So machte die Idee, dass auch der Islam sich entwickelt, allmählich kompro-missloseren Strömungen Platz, darunter ultrakon-servativen, die jede Form von Modernität und Säku-larismus strikt ablehnten. Ihre ideologische Extrem-form ist der Wahhabismus, der seit Anfang der 1960er Jahre auch in Algerien von Saudi-Arabien unterstützt wird. Viele Algerier haben in Saudi-Ara-bien studiert, vor allem an der Islamischen Universi-tät Medina.

Nach dem Bürgerkrieg zwischen der Regierung und verschiedenen islamistischen Gruppen in den 1990er Jahren hatten die Algerier für gewaltbereite Ideologien wenig übrig. Die Salafisten begannen je-doch, das Satellitenfernsehen und das Internet zu nutzen, um ihr Image aufzupolieren, sich von Gewalt zu distanzieren und verlorenes Terrain zurückzuge-winnen. Es gelang ihnen, sich sowohl auf der politi-schen als auch auf der religiösen Bühne als glaub-würdige, apolitische Alternative zu den in Verruf ge-ratenen islamistischen Parteien und den staatlich

gestützten religiösen Institutionen darzustellen. Vie-len vom Bürgerkrieg traumatisierten Algeriern schien der Salafismus einen neuen Weg zu eröffnen.

Da sich die Salafisten aus der Politik heraushiel-ten und eine neutrale Haltung zum algerischen Re-gime einnahmen, durften sie eigene Schulen grün-den, Geschäftsnetzwerke aufbauen und ihre traditio-nellen weißen Gewänder und Vollbärte tragen. Vor allem bei der Jugend, die vom maroden Zustand der algerischen Gesellschaft frustriert ist, finden die ein-fach zugänglichen salafistischen Netzwerke Anklang. Auch das algerische Regime profitiert vom Aufstieg dieser Bewegung: Sie trägt dazu bei, labile Jugendli-che sowohl von Politik als auch von gewaltbereitem Extremismus fern zu halten.

Der Staat hat auch versucht, den Sufismus als Bollwerk gegen die radikalislamistischen Ideologien zu fördern, aber das hat kaum Früchte getragen. Sufis sind eine mystische Strömung im Islam, die oft unter anderem Heilige verehren. Eine im Jahr 2011 publi-zierte Meinungsumfrage der Universität von Algier und der amerikanischen Binghamton University er-gab, dass die Mehrheit in Algerien im Sufismus zwar eine friedliche und tolerante Lehre sieht. Aber sie fin-det, dass einige ihrer religiösen Praktiken nicht der akzeptierten islamischen Lehre entsprechen. Die meisten beurteilten zudem die Bemühungen der Re-gierung, den Sufismus zu stützen, als politisch moti-viert.

Während die Salafisten an Einfluss gewinnen, ver-lieren ihre islamistischen Rivalen an Boden. Anders als in Tunesien und Marokko, wo zur Hauptströmung gehörende islamistische Parteien zu einflussreichen intellektuellen und politischen Kräften herangewach-sen sind, scheinen die algerischen Islamisten in intel-lektuelle Lethargie verfallen. Sie haben den Kontakt zu ihren Wählern verloren und können sich auf die neue Lage nach den jüngsten Umbrüchen einstellen. Ihre Nähe zum Staatsapparat und ihre auf materielle

welt-blicke ALGERIEN

Links: Erziehungsministerin Nouria Benghabrit will die Lehrpläne an

einem toleranten Islam ausrichten.gEtty IMAgES

Mitte: Ein Jugendlicher am Strand von Annaba zeigt einen Koran.

Salafisten stehen heute für die moralische Revolte gegen den Staat.

NIcK HANNES/LAIF

Rechts: Sittsam und doch farbenfroh – auf einem Markt in Algier werden

Schleier angeboten.NIcK HANNES/LAIF

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ALGERIEN welt-blicke

Vorteile ausgerichtete Hierarchie schrecken die isla-mistische Basis davon ab, sich politisch zu engagieren. Umso besser können sich die von Moral und Gleich-heit redenden Salafisten als Gegengewicht etablieren.

Der Aufschwung der quietistischen Salafisten bringt einige Vorteile für das Regime. Zum einen kön-nen sie besser als der Staat den Dschihadisten in de-ren eigener Sprache Kontra geben. Zum anderen be-unruhigt ihre Weltsicht gleichermaßen Säkularisten wie Liberale und vertieft damit die ideologischen Gräben in der Gesellschaft. Dem Regime nützen sol-che Spaltungen, stellt es sich doch gern als ultimati-ver Schiedsrichter solcher Konflikte dar. Gleichzeitig sind sich die Regierenden aber unsicher, wie sie mit den politisch aktiven Salafisten umgehen sollen.

Einige Beobachter glauben, dass das algerische Regime am Ende dem marokkanischen Modell fol-gen wird: Hardliner-Salafisten werden politisch ein-gebunden, sofern sie öffentlich der Gewalt und Un-terwanderung des Staats abschwören. Die marokka-nische Monarchie hat radikale Salafisten in Netzwer-ke und Parteien geholt, die sich gut zum Königshaus stellen; damit wollte sie zeigen, dass es immer eine Chance auf Rehabilitierung gibt. Gleichzeitig wollte sie damit die konservative Wählerschaft spalten und die Welle von Wahlerfolgen der moderat islamisti-schen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung auf-halten.

Zwar missbilligt die Mehrheit der algerischen Salafisten Gewalt und hält sich aus der Politik heraus. Aber die Stimmen der wenigen politischen Salafisten

sind in Algerien die lautesten. Selbsternannte Auf-wiegler-Prediger treten in jüngster Zeit entschlosse-ner und selbstbewusster auf. Ihre ideologische Offen-sive für den „wahren“ islamischen Glauben und Le-benswandel führen sie in Moscheen, sozialen Medi-en und privaten Fernsehkanälen. Sie stellen die Autorität lokaler Imame infrage, verunglimpfen po-puläre religiöse Praktiken wie mystische Rituale und erlassen Rechtsgutachten – Fatwas –, die Kulturver-anstaltungen, Kunstausstelllungen, Bankkredite und anderes als unislamisch verurteilen.

Das Verhältnis des algerischen Staats zu diesen Hasspredigern ist zwiespältig und kompliziert. Ein Beispiel war im Juni 2014 die Beratung zwischen Ah-med Ouayahia, dem Stabschef des Staatspräsdenten, und Madani Mezrag, einem ehemaligen islamisti-schen Guerillakämpfer, über Fragen einer Verfas-sungsänderung. Mezrag wird als Persönlichkeit von nationaler Bedeutung behandelt. Er hat Zugang zu den Medien, er darf frei predigen und Veranstaltun-gen organisieren. Nachdem er allerdings im Oktober 2015 Präsident Bouteflika im privaten Fernsehsender El Watan kritisiert hatte, weil der seiner neu gegrün-deten Partei „Algerische Wiederversöhnungs- und Heilsfront“ die juristische Anerkennung vorenthielt, legten die Behörden den Sender mit der Begründung still, er sei „informell und illegal“ betrieben worden. Mezrag persönlich blieb aber unbehelligt.

Ein weiterer prominenter Aufwiegler ist Abdel-fatah Hamadache. Er ist mit scharfen Predigten ge-gen algerische Muslime hervorgetreten, die ihren Glauben nicht praktizieren. Im Oktober 2014 startete er eine Kampagne der „Säuberung“ gegen Bars und Orte angeblicher Ausschweifung und Prostitution in Algeriens Küstengebieten. Im Dezember 2014 rief er dazu auf, den Schriftstellers Kamel Daoud wegen Ver-unglimpfung des Islam zu ermorden. Seine Forde-rung, diplomatische Beziehungen zum Islamischen Staat aufzunehmen, hat Aufruhr sogar unter islamis-

Die Mehrheit der algerischen Salafisten hält sich aus der Politik heraus. Doch die Stimmen ihrer

wenigen politischen Vertreter sind die lautesten.

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welt-blicke ALGERIEN

tischen Hardlinern erzeugt, die ihn verdächtigen, mit den Sicherheitsorganen zusammenzuarbeiten.

Die Rückkehr radikaler Strömungen hat zu hefti-gen Debatten über die Krise der staatlich kontrollier-ten religiösen Institutionen geführt. Für viele Algeri-er haben diese ihre Funktion als Quelle von Inspirati-on und Orientierung verloren. Örtliche Imame, die einst die Weltsicht einfacher Algerier entscheidend prägten, werden zunehmend von selbsternannten Salafisten-Predigern übertönt, die einen Mangel an religiöser Bildung mit raffinierten Predigten und ge-schicktem Einsatz der sozialen Medien ausgleichen.

Die Regierung hat mehrfach versucht, traditio-nelle religiöse Institutionen zu wieder zu stärken, ra-dikale salafistische Ideen zurückzudrängen und an-gesichts der Unzahl von Online-Fatwas für Ordnung zu sorgen. Mohamed Aïssa, seit 2014 Minister für re-ligiöse Angelegenheiten, sieht es als vordringliche Aufgabe an, Imamen die weltoffene und harmoni-sche Seite des Islam zu vermitteln, die der algeri-schen Tradition entspricht. Diese ist vom „goldenen Zeitalter“ der islamischen Herrschaft in Andalusien geprägt, wo im Mittelalter muslimische Geistliche Garanten für Toleranz und Innovation waren. Nur durch Rückbesinnung auf dieses Erbe könnten algeri-sche Imame und Moscheen ein Bollwerk bilden ge-gen die Lehren der wahhabitisch beeinflussten, selbsternannten Kleriker.

Aïssa will auch den Religionsunterricht grundle-gend reformieren. Zusammen mit Bildungsminister in Nouria Benghabrit dringt er darauf, die Lehrpläne an toleranten und weltoffenen Lehren des Islam aus-zurichten. Zudem wird überlegt, einen Bachelor-Ab-schluss für Imame einzuführen, der auf einer gemä-ßigten Variante der islamischen Rechtsprechung und dem Einsatz moderner Kommunikationsmittel fußt.

das algerische Regime will zudem Gremien stärken, welche Moscheen und den religiösen Diskurs überwachen. Im März 2013 hat es den

Imamen erlaubt, einen eigenen Interessenverband zu gründen – unter anderem um sich gegen das ver-teidigen zu können, was sie „unalgerische“ Formen des Islam nennen. Nach Schätzungen der Regierung fehlen für die etwa 22.000 Moscheen des Landes mindestens 7000 Imame. Schlimmer noch: Den Be-hörden mangelt es an Informationen über die Aus-bildung und Finanzierung der salafistischen Imame, deren Predigten laut dem Religionsminister „irratio-nal“ sind und sich auf die Flut von Online-Fatwas und über Twitter verbreitete religiöse Entscheide be-ziehen.

Vor dem Hintergrund dieser „Fatwa-Anarchie“ hat die Regierung 2015 einen Nationalen Wissen-schaftsrats geschaffen, der mit der Herausgabe „offi-zieller“ Fatwas betraut ist. Seine Mitglieder werden von der ägyptischen Al-Azhar-Universität unter-stützt, die unter islamischen Rechtsgelehrten hohes Ansehen genießt. Der Rat hat bereits religiöse Erlasse herausgegeben. Sie erlauben zum Beispiel die Auf-nahme von Bankkrediten zum Kauf staatlich geför-derter Wohnungen, setzen Grenzen für die Organ-transplantation und verbieten anonyme Eizellen- und Spermaspenden.

Der Versuch, den toleranten Geist der Tradition wiederzubeleben, kann ein wichtiges Mittel in der geistigen Auseinandersetzung mit dem absoluten Wahrheitsanspruch von Ideologien sein. Und doch muss der Staat bei der Erneuerung der religiösen In-stitutionen vorsichtig sein. Eine bestimmte Rich-tung im Islam zu fördern birgt das Risiko, sie als Sprachrohr des Regimes in Verruf zu bringen. Und auch glaubwürdige Theologen können nicht die Ur-sachen der Militanz beseitigen, die hauptsächlich politischer Natur sind. In einem Klima wirtschaftli-cher Stagnation und politischer Lähmung, in dem es der Bevölkerung in Algerien an Perspektiven fehlt, wird es immer enttäuschte Jugendliche geben, die sich von radikalen Ideen und Gewalt angesprochen fühlen.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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Lebensstil

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HANNOVER 2. und 3. April 2016

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ESSEN 16. und 17. April 2016

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Anouar Boukhars lehrt Internationale Beziehungen am

Mcdaniel college in Westminster (Ma-ryland). der Artikel ist zuerst auf der

Website des Instituts FRIdE erschienen.

Das Regime fördert gezielt tolerante Richtungen des Islam. Das birgt die Gefahr, dass die als

Sprachrohr des Staates in Verruf kommen.

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SüDAFRIKA welt-blicke

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ESSEN 16. und 17. April 2016

Mit Gesang und Tanz beginnen und enden die Sitzungen bei

der Khulumani Support Group.

HILdEgARd ScHEu

das Schweigen brechen

Zwei Frauen und 25 Männer singen und tanzen in einer Garage in der Township Tho-

koza bei Johannesburg. Es ist der Beginn ihrer Gruppensitzung. Im Halbdunkel sieht man Transpa-rente an den Wänden: „Wir for-dern Wiedergutmachung für die Verbrechen gegen die Mensch-heit“ steht dort und „Mission und Vision: Die Würde der Männer wiederherstellen“. Das Männerfo-rum ist Teil der Khulumani Sup-port Group, einer nichtstaatlichen Organisation, die sich seit fast 20 Jahren für die Entschädigung von Opfern der Apartheid einsetzt. Khulumani (auf Zulu: Sprich es aus!) hat 100.000 Mitglieder.

„Wir sind auch heute noch nicht frei“, erklärt die Leiterin der Gruppe, Nomarussia Bonase, zur Begrüßung. „Wir leben noch nicht in einer Demokratie, wir kämpfen noch für unsere Menschenrech-te.“ Und dann wählt sie einen Ver-gleich, den jeder hier versteht: „Wir sind wie Autos nach einem Unfall, schwer beschädigt. Jetzt brauchen wir eine Reparatur.“

Den meisten Männern in die-ser Selbsthilfe-Gruppe wurde während der Zeit der Rassentren-nung, der Apartheid, schwere Ge-walt angetan. Auch Tsietsi Motlo-kloa: Er geriet Anfang der 1990er Jahre in die ethnisch-politischen Auseinandersetzungen zwischen

dem von Nelson Mandela ange-führten Afrikanischen National-kongress (ANC) und der rivalisie-renden Inkatha-Partei in den Townships rund um Johannes-burg. Das weiße Regime hatte die-se gewaltsamen Exzesse gezielt geschürt, um den Übergang zu einer Regierung der schwarzen Mehrheit zu verhindern.

„Ich wurde von Inkatha-Leu-ten angeschossen“, erzählt Motlo-kloa, „die kamen aus den Wohn-heimen für Wanderarbeiter.“ Die Kugel durchschlug die linke Schulter. Bis heute hat der Vater von drei Kindern kaum Kraft in seinem linken Arm. Der Mittvier-ziger ist arbeitslos und hatte lan-ge auf die staatliche Entschädi-gung von rund 2000 Euro ge-hofft. Damit wollte er seine Schul-ausbildung beenden. Aber er wurde nicht als Apartheidopfer anerkannt. Die Enttäuschung war enorm: „Ich empfand größeren Schmerz als bei meiner Armver-

Viele in Südafrika leiden unter traumata, oft seit der Zeit der Apartheid. Westliche therapien sind den Lebensumständen häufig nicht angemessen. Südafrikanische Psychologen entwickeln ihre eigenen Konzepte.

Von Birgit Morgenrath

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letzung. Es brach mir das Herz.“ Die Gleichgültigkeit der Regie-rung sei sein Trauma, sagt er. Ständig stehe er unter Anspan-nung, „weil ich meinen Kindern keine gute Bildung für ihre Zu-kunft finanzieren kann“.

In der Terminologie westli-cher Psychologen leidet Tsietsi Motlokloa unter einer posttrau-matischen Belastungsstörung, PTBS. Die Weltgesundheitsorga-nisation WHO beschreibt trau-matische Erlebnisse als „Gewalt-erfahrungen – Überfall, Vergewal-tigung, Misshandlung oder deren Versuch – aber auch Entführung, Naturkatastrophen oder Kriegs-teilnahme“. Menschen, die an PTBS leiden, haben schwere Angstzustände und Alpträume, sie werden von Erinnerungen an das traumatische Ereignis ge-quält, manche sind reizbar und werden schnell wütend.

Laut dieser Definition, die auf Untersuchungen von Kriegsop-fern und Ex-Soldaten Ende des 19. Jahrhunderts basiert, sind den Opfern ein oder mehrere zeitlich begrenzte traumatische Ereignis-se zugestoßen. Sie haben das bis dahin stabile Leben stark erschüt-tert. Nach Überzeugung westli-cher Psychologen kann die seeli-sche Störung erfolgreich thera-piert werden und der Traumati-sierte kehrt danach in seinen normalen Alltag zurück. Die Aus-wirkungen des Traumas können in einer begrenzten Zeit bearbei-tet und bewältigt werden.

Professor Ashraf Kagee von der Universität Stellenbosch und viele seiner Kollegen in Afrika und Asien stellen diese Auffas-sung in Frage. Psychologen aus den Industrieländern hätten ihr Trauma-Konzept blind auf Opfer in Ländern des Südens übertra-gen, kritisieren sie. Bereits An-fang der 1990er Jahre hat der in Simbabwe geborene und in Lon-don lehrende Psychiater Derek Summerfield darauf aufmerksam gemacht. Er beschreibt Traumata als „soziale Konstruktionen“. Eine „Trauma-Industrie“ aus westli-chen Ländern finanziere Psycho-logen in NGOs, die die Lebensbe-dingungen der Menschen und die Realitäten vor Ort ignorierten.

Summerfield moniert, dass ausländische Helfer mit ihren standardisierten Massen-Tests die brutalen Lebensverhältnisse wie Armut, gewaltsame Konflikte, lähmende Schulden, Umweltzer-störung und Mangel an Bildung, Gesundheit und Fürsorge außer Acht lassen. Millionen Menschen „sitzen im Sumpf schieren Über-lebens fest“, schreibt Summer-field. Es stelle sich die Frage, was „geistige Gesundheit“ in einem kaputten sozialen Umfeld bedeu-te. Die Seele habe ihre Wurzeln auch außerhalb des Körpers, in der Art und Weise, wie die Men-schen leben. Millionen Arme in den Slums der Welt befinden sich danach in einer Art Dauertrauma.

Die Narben der kolonialen Vergangenheit schmerzen nochDiese Ansicht vertritt auch die Di-rektorin des Trauma-Zentrums für Überlebende von Gewalt und Folter in Kapstadt, die Psycholo-gin Valdi van Reenen-Le Roux. Sie betont überdies die fortgesetzte Gewalt im Gegensatz zur westli-chen Annahme eines singulären,

vergangenen traumatischen Er-eignisses. Die „Narben der koloni-alen Vergangenheit“, und dazu gehört die Apartheidzeit, schmerzten noch, sagt sie. „ Diese Traumata bahnen sich ihren Weg in die Gegenwart.“ Das zeige sich bei vielen nach dem Ende der Apartheid Geborenen, an ihren Depressionen und Suizidversu-chen. Sie erlebten Verzweiflung und erlitten häusliche Gewalt an-gesichts einer „nicht lebenswer-ten Zukunft“.

Oder sie werden selbst gewalt-tätig: Das zeigt sich an den jüngs-ten Übergriffen auf Hunderte Flüchtlinge aus den Nachbarstaa-ten. Bereits im Jahr 2008 hatten fremdenfeindliche Attacken das Land erschüttert. „Ich glaube, die noch immer unmenschliche Le-benssituation in den meisten Townships ist für die junge Gene-ration nur sehr schwer zu verste-hen“, sagt Valdi van Reenen-Le Roux.

Auch die Fremden, denen vie-le Südafrikaner mit Misstrauen und Hass begegnen, haben eine Leidensgeschichte. Einige von ih-

welt-blicke SüDAFRIKA

Dass er keine Entschädigung bekam, hat den ANC-Veteranen

Tsietsi Motlokloa mehr geschmerzt als der Schuss

in den Arm.HILdEgARd ScHEu

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SüDAFRIKA welt-blicke

nen kommen seit vier Monaten regelmäßig zum Psychologischen Dienst in der Johannesburger Township Sophiatown. Rund 20 Kongolesinnen sitzen im Warte-raum, trinken Tee und unterhal-ten sich leise, jede mit einer be-klemmenden Geschichte im see-lischen Gepäck. Im Gruppenraum erklärt die Psychologin und Grün-derin der Organisation, Johanna Kistner, heute gehe es um die Wohnsituation – also um Sorgen des täglichen Lebens.

Anny, mit Kopf- und Hüfttuch wie eine Frau vom Land gekleidet, erzählt: „Zuerst haben wir in Hillbrow gewohnt, konnten aber viele Monate nicht die Miete zah-len.“ Sie seien an die Luft gesetzt worden und hätten an einer Tank-stelle im Freien übernachten müssen. Jetzt seien sie und ihr Mann im Wohnzimmer einer an-deren Wohnung untergekom-men, zusammen mit neun weite-ren Personen. Die beiden Kinder schliefen im Esszimmer. „Die Ver-mieterin zwängt die Leute zu-sammen wie Kühe!“

Die Not des Alltags überlagert das seelische LeidAlle Frauen berichten von der un-erträglichen Enge in den nur durch Vorhänge voneinander ge-trennten Behausungen; dass die-se bis zu 100 Euro monatlich kos-teten und meist das Geld dafür fehle, dass sie manchmal hungern müssten und Medikamente ge-gen den Stress nehmen. Diane klagt, ihr Mann sei krank und ar-beitslos. Die vierköpfige Familie lebe in der Mitte eines Raumes. „Andere Mieter müssen nachts durch unseren Abschnitt laufen, um zur Toilette zu gehen. Dieses Leben ist nicht gut für die Kinder.“ Sie beginnt lautlos zu weinen und auch die anderen können ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Keinerlei Privatsphäre beim Um-kleiden vor den Kindern, während der Menstruation, bei der Liebe mit ihren Partnern – auch das kommt zur Sprache an diesem ge-schützten Ort. Nach anderthalb Stunden sind alle erschöpft.

Johanna Kistner und ihre Mit-arbeiter leisten anfangs viel prak-tische Lebenshilfe für diese Frau-

en – Orientierung in der neuen Umgebung und in der neuen Sprache. Erst später werde über seelische Belastungen gespro-chen: „Alle Frauen in dieser Grup-pe sind traumatisiert. Sie leiden unter Depressionen, Angstzu-ständen, Stress. In manchen west-lichen Ländern würde man sie in eine Klinik einweisen“, erklärt Jo-hanna Kistner. Die Alltagsnöte seien oft derart bedrängend, dass sie den vergangenen Traumata neue hinzufügen könnten: Miet-rückstände, Obdachlosigkeit, Hunger, das andauernde Bitten und Betteln.

„Mir scheint, unser Modell von Trauma und Traumatherapie beruht auf der These, dass guten Menschen manchmal Böses wi-derfährt. In Gesellschaften, die von Gewalt verwüstet sind, wider-fährt guten Menschen fortwäh-rend Böses“, schrieb die streitbare Psychologin 2014 in einem Auf-satz. Darum benutzen die Thera-peuten vom Psychologischen Dienst den von Kollegen in Sim-babwe geprägten Begriff: „lands-cape of suffering“. Die Opfer gera-ten in einer Landschaft des Lei-dens von einer Horror-Erfahrung in die nächste. Die Entwicklung ihrer Identität und ihre sozialen Netzwerke werden ständig ge-sprengt. Sichere Rückzugsorte für emotionales Auftanken existie-ren nicht.

Die Therapeutinnen begeben sich mit ihren Klientinnen auf eine lange Reise durch die Land-schaften des Schreckens – ohne vorzugeben, sie könnten sie hei-len. „Wir versuchen, Brücken zu bauen zwischen der gegenwärtig sehr negativen Identität und ver-gangenen Identitäten“, erklärt Jo-hanna Kistner. So bleibe das Op-fer Teil seiner Familie, auch wenn diese nicht mehr existiere. Auch die Heimat bleibe Teil der Person, obwohl sie nicht mehr dort lebt. Die Helfer in Sophiatown verste-hen sich als zuverlässige Begleite-rinnen auf dem Weg der Trauma-tisierten an beängstigende Orte, als Zeugen der Hilflosigkeit.

„Das ist eine Zeugenschaft, die nicht notwendigerweise ret-tet.“ Und die lange dauert. „Es gibt kein Ende der Behandlung, wir

schließen keine Akte, als wäre je-mand gestorben“, sagt Johanna Kistner entschieden. Und selbst wenn jemand gestorben sei, leb-ten die Kinder weiter. „Die haben wir auch integriert.“ Einige Kinder der Kongolesinnen erhielten Er-ziehungshilfe, andere beschäftig-ten sich in einer Gruppe für Neu-ankömmlinge mit Anpassungs-problemen und Schulbesuch.

„Wir wollen die Würde der Männer wiederherstellen“Im Laufe der Zeit lernen sich die Frauen einer Gruppe untereinan-der so gut kennen, dass sie eine Selbsthilfegruppe werden, ohne diesen Begriff zu kennen. So wie das Men’s Forum unter der Lei-tung von Nomarussia Bonase in Thokoza. „Wir haben uns selbst behandelt“, sagt sie lächelnd, „wir verstehen den Schmerz. Wir ken-nen die Wege, um das Schweigen zu brechen. Weil der stille Schmerz der schlimmste ist.“ Die Anerkennung der Wahrheit sei der Beginn der Heilung. Die Re-gierenden dürften Opfer nicht nur als Abhängige sehen, sondern als Teil der aktiven Bürger, die das Land voranbringen wollen.

Mit Hilfe von Khulumani ver-trauen sich Männer einander an und erkennen, dass sie als Folge ihrer traumatischen Erfahrungen zu Gewalttätern werden können, die vergewaltigen und Kinder missbrauchen. „Wir wollen die Würde der Männer wiederherstel-len“, sagt Nomarussia und Tsietsi Motlokloa fügt hinzu: „Wir lernen voneinander, was für ein Typ Mann wir sein wollen. Wir wollen sorgende Väter sein, die von ihrer Familie geliebt werden. Ich möch-te, dass meine Kinder sich freuen, wenn ich nach Hause komme. Und ich möchte, dass sie glück-lich sind.“

Auch in Deutschland werden unterdessen die kritischen Stim-men aus Afrika und Asien an den westlichen Trauma-Konzepten gehört. Laut der Hilfsorganisati-on medico international holen sich psychosoziale Zentren für Flüchtlinge Anregungen bei Pro-jekten wie Khulumani oder dem Psychologischen Dienst von So-phiatown.

Birgit Morgenrath ist Autorin für Hörfunk und Fachzeit-

schriften insbesondere zum südlichen Afrika.

Oben: Pause für die frauen-gruppe in der Johannesburger

Township Sophiatown.Links: Plakat im Gruppenraum

der frauen.BIRgIt MoRgENRAtH (2)

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welt-blicke LITERATUR46

Warum schreiben Sie als Journalist politische Krimis?

Wenn ich etwas kommentiere und meine Meinung verbreite, dann werfe ich den Lesern eine Antwort hin. Mit Literatur kann ich sie zum Nachdenken bringen und gleichzeitig über sehr per-sönliche Stimmungen schreiben. Warum ein Mensch plötzlich ein Killer wird und seinen Nachbarn umbringt, ist keine journalisti-sche Frage. Außerdem erreiche ich mit Literatur auch Menschen, die sich weniger für politische Fragen interessieren.

Ihr Vater Ngugi Wa thiong’o gilt als einer der bedeutendsten Schrift-steller ostafrikas. Was haben Sie von ihm gelernt?

Mein Vater hat mir viel über kenianische Literatur beigebracht und mir vorgelebt, die Dinge zu hinterfragen. Es hat mir vor allem geholfen, einfach zu sehen, wie er arbeitet: Wie er zwischen Papier-stapeln in seinem Arbeitszimmer saß, umgeben von einer Menge von Büchern. Ich hatte immer den Traum zu schreiben. Solch

ein Vorbild zu haben war ein gro-ßes Geschenk.

Fühlen Sie sich nie, als würden Sie in seinem Schatten stehen?

Nein, das ist für mich ein nor-maler Zustand. Wir reden viel über das Schreiben und unsere Texte. Wir sind auch nicht die einzigen Autoren in der Familie. Meine Schwester und zwei meiner Brü-der schreiben auch. Wir fühlen uns wie eine Schriftstellergemein-schaft. Es war nur seltsam, die Bü-cher meines Vaters in der Schule zu lesen. Alle haben mich ange-schaut, als sei ich der Experte.

Sie haben einmal gesagt, Sie schreiben Krimis, weil es das ein-zige genre ist, das Ihr Vater nicht bedient. Ist da etwas Wahres dran?

Oh nein, so ist das nicht. Mein Vater hat zwar versucht, einen Krimi zu schreiben und daraus ist nichts geworden. Bei mir war das eher unabsichtlich. Wenn ich nicht zufällig auf meine Ge-schichte gestoßen wäre, wäre mir das wahrscheinlich auch nicht ge-lungen.

Welche geschichte war das? Es war in Madison, Wisconsin.

Ich war auf dem Heimweg, da sah ich plötzlich ein Mädchen in Cheerleader-Uniform ohnmäch-tig auf einer Treppe liegen. Am

Abend hatte ein Baseball-Spiel stattgefunden, da wurde wahr-scheinlich viel getrunken. Ich rief also die Polizei und einen Kran-kenwagen. Der Polizist war ein Af-roamerikaner. Irgendwann habe ich einfach auf die Szene ge-schaut: Da stand dieser schwarze Polizist, und auf den Treppen lag diese weiße Frau. Das wurde der Einstieg in meinen ersten Krimi, der ebenfalls damit beginnt, dass eine blonde Frau tot auf einer Ve-randa in Madison liegt.

der afroamerikanische detective Ishmael ist eine der beiden Haupt-figuren in Ihren Krimis. der Kenia-ner ist in den uSA aufgewachsen und zieht später in seine Heimat zurück, fühlt sich aber nirgends richtig zu Hause. Wie viel von Ih-nen steckt in dieser Figur?

Ich habe früher mehr um meine Identität gerungen, da war er mir ähnlich, aber das ist schon eine Weile her. Als ich mit 19 zu-rück in die USA ging, hatte das einzig den Grund, dass ich dort studieren wollte. Bis dahin hatte ich mich ausschließlich als Kenia-ner gefühlt, und mir war klar, dass ich nach dem Studium dort-hin zurückgehen würde. Doch jetzt bin ich in den USA verheira-tet und habe eine Tochter, ein Haus und einen Job. Das hat zwi-schendurch schon ein paar Fra-gen bei mir aufgeworfen. Aber ir-gendwann habe ich entschieden, sowohl Kenia als auch die USA als mein Zuhause zu bezeichnen.

Waren Sie in jüngster Zeit in Kenia? Ja, im Dezember. Ich habe

meine Familie besucht, mich mit Kollegen getroffen und an einem

„In meiner Muttersprache kann ich direkter sein“ Der kenianisch-amerikanische Autor Mukoma Wa Ngugi fühlt sich an vielen Orten zu Hause

Mukoma Wa Ngugi stammt aus einer Schriftstellerfamilie. Er ist Literaturprofessor, Journalist und Krimiautor. Im Interview erzählt er von seinem großen Vorbild und dem Leben zwischen zwei Welten.

Gespräch mit Mukoma Wa Ngugi

„Es war seltsam, die Bücher meines Vaters in der Schule zu lesen. Alle haben mich

angeschaut, als sei ich der Experte.“

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47LITERATUR welt-blicke

Treffen für den Mabati Cornell Kiswahili Prize for African Litera-ture teilgenommen. Das ist ein Preis für besonders gelungene Übersetzungen aus und in afrika-nische Sprachen, den ich mitge-gründet habe. Übersetzungen in-teressieren mich sehr.

Sie selbst schreiben auf Englisch, obwohl Ihre Muttersprache das in Kenia verbreitete Kikuyu ist. Wel-che Rolle spielt die Sprache für Sie beim Schreiben?

Ich bewege mich derzeit weg vom Englischen und will dem-nächst ein Buch auf Kikuyu schreiben. Es wird interessant, das dann ins Englische zu über-

setzen, und in andere afrikani-sche Sprachen. Ich bin sehr ge-spannt, wie sich das anhört. In-wiefern Sprache einen verändert, ist auch eine interessante Frage. Ich könnte mir vorstellen, dass ich in meiner Muttersprache di-rekter bin.

Ändert sich etwas an Ihrem Ver-halten, wenn Sie in Kenia ankom-men?

Ich bleibe schon derselbe, aber in Kenia bin ich entspannter. Es ist immer noch vertrauter und ich habe dort mehr Erinnerun-gen: Da ist mein altes Kinderzim-mer, da bin ich zur Schule gegan-gen. Das habe ich zunehmend auch in den USA. Aber da werde ich einfach ständig daran erin-nert, dass ich schwarz bin. Manch-mal fühle ich mich geradezu überwacht. Du gehst in einen La-den und wirst schräg angeschaut, Du wirst angehalten, wenn Du Auto fährst.

Rassismus ist auch ein thema in Ihren Büchern. Wie nehmen Sie das in den uSA wahr?

Die USA sind sehr rassistisch. Der Rassismus hat sich aber ver-ändert. In den fünfziger und sech-ziger Jahren ging er eher von der politischen Macht aus. Seit dem 11. September 2001 ist Rassismus vor allem angstgesteuert. Viele weiße Amerikaner haben Angst, eine Minderheit im eigenen Land zu werden. Wirtschaftlich geht es den USA eigentlich gut, aber es gibt auch viele Weiße, die arm sind. 44 Millionen Menschen le-ben dort unter der Armutsgrenze, das sind ganz schön viele – so vie-le, wie in ganz Kenia leben. Weder

die Republikaner noch die Demo-kraten reden darüber. Jemand wie Donald Trump kann diese Fakten zu seinen Gunsten auslegen: In-dem er Feindbilder verschärft und andere für die Armut verant-wortlich macht.

Wie schreiben Sie Ihre Bücher? Früher habe ich gerne in Jazz-

clubs geschrieben. Das kann ich nicht mehr so gut. Auch nachts schreiben geht nicht mehr. Klingt trist, aber ich schreibe meist in meinem Büro. Das Schöne am Schreiben ist nach wie vor, dass man nie weiß, wo man ankommt. Bei meinen beiden Krimis wusste ich auch erst einmal nicht, wer der Mörder war, es gab nur die Lei-chen und die beiden Detectives.

Arbeiten Sie gerade an einem neu-en Buch?

Ich habe vor kurzem eine Ge-schichte über Musiker fertigge-schrieben, sie spielt in Nairobi und Äthiopien. Außerdem arbeite ich gerade an einem Buch über afrikanische Literatur.

und wie geht es weiter mit den de-tectives aus Ihren Krimis, Ishmael und seinem Kollegen o?

Ach, ich mache mir Sorgen um sie. Sie sind echt am Ende. Vielleicht muss ich sie ein biss-chen schonen. Sie haben viele Traumata. Am Ende von meinem zweiten Krimi „Black Star Nairo-bi“ stehen sie zum Beispiel vor der Entscheidung, ob sie Terroris-mus im Namen des Guten decken oder bekämpfen sollen. Das hat sie hart getroffen, ich leide wirk-lich mit ihnen.

das gespräch führte Hanna Pütz.

tRAN

SIt-

VERL

Ag-

„In den USA werde ich ständig daran erinnert, dass ich schwarz bin. Manchmal fühle ich mich geradezu überwacht.“

Wenn Mukoma Wa Ngugi ein Buch schreibt, ist er selbst gespannt, wie

die Geschichte ausgeht.

Mukoma Wa NgugiMukoma Wa Ngugi wurde in den USA geboren, ist in Kenia aufgewachsen und ging zum Studium wieder zurück. Er hat bisher einen Gedichtband und drei Romane veröffentlicht. In Deutschland ist er vor allem für seine beiden Krimis „Nairobi Heat“ und „Black Star Nairobi“ bekannt. Im Mittelpunkt ste-hen darin die Detectives Ish-mael und O. In „Nairobi Heat“ wird eine weiße Frau vor dem Haus eines schwarzen Profes-sors gefunden. Die Spur führt schnell nach Kenia und Ruan-da, wo sie auf Geldwäschege-schäfte einer Hilfsorganisation stoßen. „Black Star Nairobi“ be-ginnt mit einer Leiche in einem kenianischen Wald, führt die Ermittler aber zu einer Terror-

organisation. Doch nicht Terro-risten, sondern hohe Politiker und Geschäftsmänner stecken hinter der Gewalt – durch ge-zielte Morde an afrikanischen Politikern sollen Korruption und Armut auf dem Kontinent bekämpft werden.

Nairobi Heat transit Buchverlag, Berlin 2014 176 Seiten, 19,80 Euro

Black Star Nairobi transit Buchverlag, 256 Seiten, 19,80 Euro

Mehr Infos: www.mukomawangugi.com

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Journal

MEDIEN

Jeden Tag eine gute IdeeInitiative will „konstruktiven Journalismus“ fördern

überall nur Probleme, die keiner lösen kann. Stimmt nicht, glauben junge Wissenschaftler – und wol-len anders berichten. Ganz ausge-reift ist das Vorhaben noch nicht.

Kriege, Krisen, Klimawandel: Die Welt ist grausam. Den Eindruck ge-winnt, wer die Zeitung aufschlägt oder sich durchs Internet klickt. Viele schlechte Nachrichten drü-cken die Stimmung und lähmen, meint Maren Urner. Die Mitgrün-derin der Plattform „Perspective Daily“, hat sich einer neuen Form der Berichterstattung verschrie-ben. „Wir wollen den Menschen das Gefühl geben, dass man die Dinge verändern kann“, sagte sie bei einer Veranstaltung im Deut-schen Institut für Entwicklungs-politik (DIE) in Bonn.

Die neuen Medienmacher wollen nicht nur über Probleme, sondern auch über Lösungen berichten. Gleichzeitig sollen Er-eignisse ins Weltgeschehen einge-ordnet und ihre Hintergründe er-klärt werden. Konstruktiver Jour-nalismus nennt sich das. Die Neu-rowissenschaftlerin geht davon aus, dass die meisten Menschen das Weltgeschehen schlechter

einschätzen, als es tatsächlich ist. Viele Nachrichtenkonsumenten fühlten sich schlicht überfordert. Das belegen auch Studien, auf die Urner sich beruft: Medienwissen-schaftler der Universität South-ampton etwa haben gezeigt, dass zu viele schlechte Meldungen die Leser hoffnungslos und ängstlich machen. Je stärker diese Gefühle seien, desto unwahrscheinlicher werde es, dass sie spenden, die Umwelt schützen oder sich mit anderen austauschen. Werden hingegen Lösungswege aufge-zeigt, erhöhe sich die Bereitschaft, Probleme zu bearbeiten.

Für die entwicklungspoliti-sche Berichterstattung sei der konstruktive Journalismus ein guter Ansatz, sagte der Direktor des DIE, Dirk Messner, der künf-tig als Gastautor für „Perspective Daily“ schreiben soll. Gerade in diesem Politikfeld würden einer-seits viele Probleme unterschätzt, andererseits Fortschritte häufig nicht wahrgenommen. Das gelte für die Flüchtlingskrise ebenso wie für die Europapolitik oder den klimafreundlichen Städtebau. Das seien alles große Aufgaben, die gelöst werden könnten – aber

wie genau, werde zu wenig in den Medien diskutiert.

Mit guten Ideen neue Leser gewinnen?Das bestätigte auch die stellver-tretende Direktorin der Deutsche Welle Akademie, Ute Schaeffer. Es sei zwar häufig über die Ver-handlungen zu den Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) berich-tet worden. Doch es werde kaum

erläutert, was auf lokaler Ebene getan werden könne, um sie um-zusetzen.

Ob es Aufgabe von Journa-listen ist, dem Leser Lösungen aufzuzeigen und damit zu poli-tischem Handeln aufzufordern, ist umstritten – zumal das Miss-trauen gegenüber Zeitungen und Radio derzeit groß ist und viele über die vermeintliche „Lügen-presse“ schimpfen. Die Grenzen zur Schönfärberei seien fließend, hieß es jüngst auch beim Medi-enportal Meedia zum konstruk-tiven Journalismus. Maren Ur-ner betont jedoch, es gehe nicht darum, nur Gutes zu berichten oder Missstände auszublenden.

„Wir wollen Probleme nicht weg-schließen, sondern sie verstehen.“ Wie das bei „Perspective Daily“ schlussendlich aussehen wird, ist offen. Beispieltexte gibt es bisher nicht. Das Team ist noch damit beschäftigt, über das Internet Bei-träge für das Projekt zu sammeln. 12.000 zahlende Mitglieder sind das Ziel, bis Mitte Februar wa-ren es gut 5000. Wahrscheinlich wird die Frist um vier Wochen bis Mitte März verlängert. Bis dahin werde es genug Teilnehmer geben, glaubt Urner. Hanna Pütz

Geschützter Raum ohne HetzeDer konstruktive Journalismus hat bereits Vorbilder in anderen Ländern. Eines der er-folgreichsten ist das Online-Format „De Correspondent“ aus den Niederlanden mit rund 45.000 zahlenden Lesern. Auch eini-ge deutsche Medien haben die Idee aufge-griffen, etwa die Wochenzeitung „Die Zeit“ in einem Artikel mit dem Titel „Wie Deutschland Verteilungskämpfe zwischen Flüchtlingen und Einheimischen vermei-den kann“.

Das Team von „Perspective Daily“ will seinen Lesern auf der Internet-Plattform zugleich einen lösungsorientierten Aus-tausch möglich machen – im geschützten Raum und ohne Internet-Hetze, hieß es auf

der Veranstaltung im DIE. Einzelne Beiträge sollen für Nichtmitglieder freigeschaltet werden, aber mitdiskutieren dürfen auch bei diesen nur die zahlenden Mitglieder.

Pro Tag soll ein ausführlicher Beitrag erscheinen, der gemeinsam mit Gastauto-ren erstellt wird, etwa mit Fachleuten aus Forschungseinrichtungen oder auch ent-wicklungspolitischen Organisationen. De-ren eigene politische Zielsetzung soll au-ßen vor bleiben. Das Gründer-Trio aus den Neurowissenschaftlern Maren Urner und Han Langeslag und dem Physikochemiker Bernhard Eickenberg hat selbst keine jour-nalistische Ausbildung, lässt sich aber von Medienexperten beraten. (hap)

Lösungswege statt Skandale: Die Medienmacher Maren Urner, Han Langeslag und Bernhard Eickenberg werben

für ihr Projekt.oLIVER KRAto/PIctuRE ALLIANcE

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STUDIEN Journal

STUDIEN

Was unser Konsum anrichtetIn Deutschland ist vieles für we-nig Geld zu haben. Eine Studie von Brot für die Welt zeigt, wie die niedrigen Preise zustande kommen und was auf dem lan-gen Weg zwischen Baumwoll-feld und Discounter passiert. Die Hilfsorganisation beleuchtet, wie sich globale Wertschöpfungsket-ten auf Mensch und Umwelt aus-wirken. Dafür haben die Verfas-ser der Studie „Mein Auto, mein Kleid, mein Hähnchen – Wer zahlt den Preis für unseren grenzenlo-sen Konsum“ Daten in mehr als 20 Ländern erhoben.

Sie zeichnen beispielsweise die Wertschöpfungskette von Au-tos nach, die mit der Förderung von Eisen oder Kupfer beginnt. Die wirkt sich auf die Gesundheit der Minenarbeiter aus: So habe das peruanische Gesundheitsmi-nisterium im Umfeld einer Mine erhöhte Bleiwerte im Blut von 83 Prozent der dort lebenden Kinder festgestellt.

Manche Unternehmen ver-sprächen viel, hielten jedoch we-nig, kritisieren die Herausgeber weiter. Als wohlklingende, aber ir-reführende Werbebotschaft nen-nen sie eine Kampagne des H&M-Konzerns, die mit fairer Mode wirbt. Die schlechten Arbeits-bedingungen in einigen kam-bodschanischen Zulieferbetrie-ben zeugten aber vom Gegenteil, ebenso die Arbeitsbedingungen auf vielen Baumwollfeldern.

Ein weiteres Beispiel in der Studie ist die Fleischprodukti-on. Weil der Konsum steigt, wer-den gegenwärtig über 100 Milli-onen Tonnen Geflügelfleisch pro Jahr hergestellt. Darunter leiden auch Kleinbauern in Paraguay. Sie werden von ihren Feldern ver-trieben, damit dort Soja für deut-sche Hähnchenmastbetriebe an-gebaut werden kann.

Die Autoren richten Vorschlä-ge an Politik und Wirtschaft. So müssten die Hersteller dafür sor-gen, dass unabhängige Kontrol-leure Zugang zu allen Stufen der

Wertschöpfungskette bekom-men. Freiwillige Standards reich-ten dafür nicht aus. Die Präsiden-tin von Brot für die Welt, Cornelia Füllkrug-Weitzel, erklärte: „Es ist an der Zeit, dass der Gesetzgeber in Deutschland ansässige Unter-nehmen dazu verpflichtet, men-schenrechtliche Sorgfaltspflich-ten entlang ihrer gesamten Lie-ferkette einzuhalten.“ Darüber hinaus sollten Unternehmen ge-setzlich verpflichtet werden, Um-weltschäden zu beheben und transparent darüber zu berichten.

Hintergrund der Studie ist der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung, über den in den kommenden Wochen ent-schieden wird. Er soll verbindli-che Regeln für Unternehmen in Deutschland schaffen, um aus-beuterische Arbeitsbedingungen und die Zerstörung der Umwelt in Entwicklungs- und Schwellen-ländern zu stoppen. Die beteilig-ten Ministerien halten sich aber bisher noch bedeckt, wie weit sie mit der Verbindlichkeit zu gehen bereit sind. (hap)

Brot für die WeltMein Auto, mein Kleid, mein HähnchenWer zahlt den Preis für unseren gren-zenlosen Konsum?Brot für die Welt, Analyse 55, Berlin 2016, 52 Seitenwww.brot-fuer-die-welt.de

Globale WeggemeinschaftenÖkumene ist ein Muss. Und Mis-sion und Entwicklung gehören zu-sammen. Zu diesen Kernaussagen kommen zwei Grundlagentexte,

welche die Kammer für weltweite Ökumene im Auftrag des Rats der Evangelischen Kirche in Deutsch-land (EKD) herausgegeben hat.

„Ökumene im 21. Jahrhundert“ (EKD-Text 124) ist zum einen eine Hymne auf die Chancen kirch-licher Zusammenarbeit in einer globalisierten Welt. Zum anderen stellt der Text unmissverständlich klar, dass Ökumene kein optiona-les Handlungsfeld ist, sondern ein Muss für jede Kirche. Keine Kirche könne auf Ökumene verzichten, weil keine für sich allein den An-spruch erheben könne, die ganze Christenheit zu repräsentieren. Die Autoren empfehlen deswegen, die Gemeinschaft mit anderen Kirchen „in versöhnter Verschie-denheit“ zu suchen. „Alle kirchli-chen Arbeitsfelder sind daraufhin zu überprüfen, inwiefern sie die ökumenische Dimension mit re-flektieren und gestalten“, schreibt der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm im Vorwort. Das gelte für die Aus- und Fortbildung von Mitarbeitenden, die Seelsorge, die Verkündigung und auch dafür, wie sich Kirche ihrer gesellschaftli-chen Verantwortung stelle.

Das Christentum sei heute wesentlich stärker von den Kir-chen des Südens geprägt. Auch komme dem Dialog und der Ko-operation mit anderen Religionen in einer globalisierten Welt eine zunehmend wichtige Rolle zu. Dies habe Auswirkungen auf die Auswahl möglicher Partner und der Themen, an denen gearbeitet werden müsse; so nennt der Text die Folgen der Globalisierung, den Klimawandel oder globale Epidemien. Besonders betonen die Autorinnen und Autoren, dass

„Globalisierung nicht länger den Export europäischer Denktraditi-onen in alle Welt bedeuten darf“.

„Kirche sein in einer globali-sierten Welt“ (EKD-Text 125) ist auf einem ähnlichen Hintergrund geschrieben, geht allerdings de-zidiert auf den deutschen Kon-text und die Kooperation der Organisationen und Werke in der kirchlichen Entwicklungszusam-menarbeit und in der Mission

ein. Deutlich wird in dem Text der politische Wille beider Seiten – in der Kammer sitzen sowohl Ver-treter der Missions- als auch der Hilfswerke – zum Ausbau dieser Zusammenarbeit. Das ist bemer-kenswert, weil sich in der Vergan-genheit Entwicklung und Mission organisatorisch und inhaltlich eher voneinander abzugrenzen versuchten. Immer wieder betont der Text die „Weggemeinschaft von Mission und Entwicklung“, benennt die gemeinsame Ziel-gruppe – nämlich die von der Glo-balisierung an den Rand gedräng-ten Menschen – und spricht von einer gemeinsamen Hoffnung, dass eine andere Welt möglich ist.

Katja Dorothea Buck

Evangelische Kirche in deutschlandÖkumene im 21. JahrhundertBedingungen – theologische grundle-gungen – PerspektivenEKd-texte 124, Hannover 2015, 96 Seiten

Evangelische Kirche in deutschlandKirche sein in einer globalisierten WeltZur Weggemeinschaft in Mission und EntwicklungEKd-texte 125, Hannover 2015, 73 Seitenwww.ekd.de/EKd-texte

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fLüCHTLINGE – SCHWEIZ

Ausbilden statt ausweisen Die Schweiz will Flüchtlinge in Lohn und Brot bringen

Ab 2018 sollen in der Schweiz jähr-lich etwa tausend flüchtlinge eine sogenannte Vorlehre absolvieren, um Anschluss an den Arbeitsmarkt zu finden. Allerdings ist noch frag-lich, ob Unternehmen dafür genü-gend freie Stellen schaffen können.

Schweizer Unternehmen holen jedes Jahr Zehntausende Arbeits-kräfte aus dem Ausland, obwohl in der Schweiz Tausende erwerbs-fähige Flüchtlinge Sozialhilfe be-ziehen. Justizministerin Simonet-ta Sommaruga findet das absurd:

„Oder will da wirklich jemand

ernsthaft behaupten, dass es un-ter den Flüchtlingen keine ent-sprechenden Arbeitskräfte gege-ben hätte?“, fragte die Bundesrä-tin der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) im Januar beim Asylsymposium in Bern. In der Tourismusbranche etwa wur-den 2014 rund 32.000, für die Landwirtschaft rund 9000 Ar-beitskräfte im Ausland rekrutiert. Hier brauche es ein Umdenken, erklärte Sommaruga.

Beide Branchen engagieren sich zwar bereits in Integrations-projekten für Flüchtlinge, doch

das ist kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. So fällt die bisherige Bilanz des vor knapp ei-nem Jahr gestarteten Pilotpro-jekts des Bauernverbandes ( siehe welt-sichten 7/2015) ernüchternd aus. Nur rund ein Dutzend Flücht-linge fand bislang einen Arbeits-platz auf einem Bauernhof. Bes-ser sieht es in der Gastro- und Hotelbranche aus. Diese bietet bereits seit mehreren Jahren ei-nen eigenen Lehrgang für Flücht-linge an. Die meisten Absolven-ten finden anschließend einen Job.

Künftig soll die Zahl der Lehr-stellen für Flüchtlinge stark er-höht werden – und zwar in allen Branchen. Dafür will die Regie-rung bis zu 54 Millionen Franken (knapp 49 Millionen Euro) inves-tieren. Im Gegenzug spart allein der Bund für jeden Flüchtling, der ein Jahr früher eine Erwerbstätig-keit aufnimmt, rund 18.000 Fran-ken (gut 16.000 Euro) an Sozial-hilfebeiträgen. Die Hürden für die Anstellung von Flüchtlingen sollen ebenfalls gesenkt werden. Bislang brauchten Arbeitgeber dazu eine Bewilligung, was bisher

fLüCHTLINGE – BERLIN

flüchtlinge treiben die Entwicklungshilfe nach obenBerlin streitet über die Anrechnung von Kosten für Asylbewerber

Die Bundesregierung denkt darü-ber nach, die Kosten der flücht-lingsaufnahme stärker als staatli-che Entwicklungshilfe (ODA) anzu-rechnen. „Deutschland überprüft derzeit seine Meldemethode“, sagt eine Sprecherin des Entwicklungs-ministeriums auf Anfrage. Genau-eres sei erst Ende März zu erfahren, wenn die vorläufigen Ausgaben für 2015 an den Entwicklungsaus-schuss (DAC) der OECD gemeldet werden.

Die Frage ist angesichts der anhal-tend hohen Zahl von Flüchtlingen brisant, da Deutschlands Leis-tung an Entwicklungsländer an der ODA-Zielmarke von 0,7 Pro-zent des Bruttonationaleinkom-mens (BNE) gemessen wird. Groß-britannien und einige andere Länder haben sie schon erreicht. Deutschland ist über 0,4 Prozent nie hinausgekommen. Die Oppo-sition befürchtet, dass die Zahlen nun durch die enormen Kosten aufgebläht werden – vermutlich deutlich über 0,4 Prozent.

Aus Sicht der Grünen wür-de das ein völlig falsches Bild vom tatsächlichen Engagement für Entwicklungsländer geben – nämlich einen fragwürdigen „Scheinaufwuchs“, kritisiert der Abgeordnete Uwe Kekeritz. Auch Niema Movassat von der Links-partei teilt die Sorge und fürch-tet, dass dann weniger für arme Länder ausgegeben wird, was die BMZ-Sprecherin indes verneinte.

Die Union riskiert allerdings auch Krach mit dem Koalitions-partner, sollte sie heimische Auf-wendungen für Flüchtlinge mit Entwicklungshilfe in einen Topf werfen. Die gehören nach Mei-nung der sozialdemokratischen Entwicklungspolitiker da nicht hin. Dies widerspreche dem Kern-gedanken der Entwicklungszu-sammenarbeit, menschenwürdi-ge Lebensumstände und Perspek-tiven in den Partnerländern zu schaffen. Der SPD-Abgeordnete Sascha Raabe geht davon aus, dass sich für die Anrechnung 2015 noch nichts ändern wird.

Bereits bei der Vorlage des OECD-Prüfberichts zur deutschen Ent-wicklungszusammenarbeit im November hatte Staatssekretär Friedrich Kitschelt jedoch betont, die bisher angerechneten Kosten für anerkannte Asylbewerber aus Entwicklungsländern seien „mi-nimal“. Deutschland könne viel mehr anrechnen.

Die OECD gestattet die Anrechnung der KostenIm Bundestag wagte Volkmar Klein (CDU), im Haushaltsaus-schuss für Entwicklungspolitik zuständig, die Prognose, dass die Quote „nächstes Jahr“ 0,7 Prozent sogar deutlich übertreffen werde

– „weil sämtliche Kosten, die im Inland für Flüchtlinge anfallen, für die ersten zwölf Monate mit-gerechnet werden“.

Nach den OECD-Regeln ist das gestattet. Vor allem nordische Länder nutzen den Spielraum und melden Kosten für Transport und Unterhalt im ersten Jahr, zu dem Unterbringung, Versorgung

und Ausgaben für Grundbildung gehören. Deutschland meldete im Berichtsjahr 2014 ODA-anre-chenbare Kosten von rund 130 Millionen für Flüchtlinge, denen 2013 Asyl- oder Flüchtlingsschutz gewährt wurde. Dies entsprach etwa einem Prozent der gesam-ten deutschen ODA 2014. Die Kampagnenorganisation ONE hat ausgerechnet, dass gemelde-te Kosten europäischer Länder in diesem Jahr auf zehn Milliarden US-Dollar steigen könnten; das entspräche elf Prozent der gesam-ten EU-Entwicklungshilfe 2014.

Die OECD bemüht sich um Einheitlichkeit, aber eher im ein-schränkenden Sinn. In einem Interview plädierte der DAC-Vorsitzende Erich Solheim dafür, den Umfang der als ODA zu ver-buchenden Kosten für die Flücht-lingsaufnahme eng zu fassen. Auf einem sogenannten High-level Meeting im Februar beschlossen die DAC-Mitglieder, die Anrech-nung der Flüchtlingskosten zu vereinheitlichen. Marina Zapf

Journal FLüCHTLINGE

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FLüCHTLINGE Journal

mit einem abschreckenden Be-hördenmarathon verbunden war. Deshalb holten viele Schweizer Firmen lieber Personal aus Län-dern wie Portugal oder Deutsch-land. Auch mussten die Flüchtlin-ge zehn Prozent ihres meist ohne-hin schon niedrigen Lohns als Sondersteuer abgeben, was die Motivation bremste, überhaupt einen Job zu suchen. Beide Aufla-gen sollen nun wegfallen.

Neun von zehn „vorläufig Aufgenommenen“ bleiben länger2014 hatte nur jeder fünfte aner-kannte Flüchtling (Ausweis B) ei-nen gemeldeten Job. Bei „vorläu-fig Aufgenommenen“ (Ausweis F) lag die Erwerbsquote mit 30 Pro-zent etwas höher. Ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt ist beson-ders prekär: Anders als ihr Status vermuten lässt, bleiben 90 Pro-zent von ihnen langfristig in der Schweiz. Die „vorläufig Aufge-nommenen“ machen mit 33.000 Personen etwa die Hälfte der Asyl-bewerber aus. Ihnen wird kein Asyl gewährt, sie können aber nicht ausgewiesen werden, etwa

weil sie unter die Genfer Flücht-lingskonvention fallen.

Der Knackpunkt für das Vor-haben liegt in der Beteiligung der Wirtschaft, denn ohne genügend Lehrstellen und Praktikumsplätze kann es nicht funktionieren. Der Arbeitgeberverband signalisiert Unterstützung, will aber einen di-rekten Nutzen sehen. Potenzial

sieht der Verband im Bausektor, in Teilen der Industrie, im Gastge-werbe, in der Gesundheitsbran-che oder im Reinigungsdienst. Die Gewerkschaften begrüßen die Integration von Flüchtlingen, fürchten aber, dass das Projekt die Löhne nach unten drückt. Immer-hin: Seit der Annahme der Mas-seneinwanderungsinitiative sind

die in der Schweiz lebenden Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt gefragter denn je. Denn rein tech-nisch gelten sie jetzt nicht mehr als Ausländer, sondern als Teil des

„inländischen Fachkräftepotenzi-als“, das zunächst ausgeschöpft werden muss, bevor Unterneh-men im Ausland Arbeitskräfte re-krutieren. Theodora Peter

Zu einem Austausch über Erfahrungen beim Umgang mit flüchtlingen kamen Ende Januar in Wien Bürgermeister von Kommunen aus zehn Ländern in Europa und Nahost zusammen. Ziel war es, die Gemeinden aus den Nachbar-ländern Syriens, den Transitländern und den Aufnahme-ländern besser miteinander zu vernetzen.

Andreas Babler, der Bürgermeister von Traiskirchen bei Wien, wo das größte Erstaufnahmelager steht, und der Künstler André Heller hatten die Konferenz gemeinsam organisiert. „Wir werden Zeugen und Mitwirkende einer machtvollen Polarität zwischen zynischer Grausamkeit und tatkräftiger Herzensbildung, zwischen Hass und un-ermüdlicher Hilfsbereitschaft Zehntausender Mitglie-der der Zivilgesellschaft“, sagte Heller zu Beginn der Ver-anstaltung. In allen Etagen der unterschiedlichen Lager herrschten Überforderung sowie erschreckende Wis-

sensdefizite. Dem sollte die Kon-ferenz entgegentreten.

Gemessen an der Einwohner-zahl muss niemand mehr Schutz-suchende aufnehmen als Spyros Galinos, der Bürgermeister von Mitilini auf der griechischen Insel Lesbos. Er beklagt sich nicht über Überforderung, appelliert aber an die eigene Regierung und die eu-ropäischen Partner: „Wir wollen ordentliche Bedingungen für die Flüchtlinge schaffen.“ Jürgen Dupper, Bürgermeister von Pas-sau, lebt lieber in einem Land, „in das Menschen in Millionen strö-men als in einem, aus dem Men-schen zu Millionen herausströ-men“. Seine bayerische Grenz-stadt, die nur 50.000 Einwohner zählt, musste im vergangenen halben Jahr 30.000 Menschen vorübergehend unterbringen. Zwar müsse viel investiert wer-den, zugleich biete aber auch der Arbeitsmarkt „enorme Perspekti-ven“.

Dieter Posch, der der kleinen burgenländischen Gemeinde Neudörfl vorsteht, ist überzeugt, dass man sich vor der eigenen Be-völkerung nicht fürchten müsse, wenn man sie entsprechend in-formiere und einbinde. Sieben ehemalige Flüchtlinge seien be-reits in der Gemeindeverwaltung angestellt. Wenn sich alle Ge-meinden beteiligten, gebe es kein Kapazitätsproblem, betonte er. Im Burgenland hätten erst 83 von 171 Gemeinden Flüchtlinge aufge-nommen.

fLüCHTLINGE – ÖSTERREICH

Hass und HilfsbereitschaftWie Bürgermeister versuchen, die Flüchtlingskrise zu meistern

Obergrenzen fordern sie nicht: Bürgermeister aus zehn Ländern bei

der Konferenz in Wien.RALF LEoNHARd

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Auch Ali Mattar, Bürgermeis-ter der libanesischen Stadt Sahel El Zahrani, rückte die Relationen zurecht. In seinem Land seien zwei von fünf Menschen Flücht-linge aus Syrien: „Es wird für un-ser Land immer schwieriger, da-mit umzugehen“. Dennoch rief keiner der Gemeindechefs nach Obergrenzen. Vielmehr sorgten sie sich um die Kinder, die seit Jahren keine richtige Schule besu-chen und auch sonst unterver-sorgt seien.

Die internationale Hilfe sei zwischen 2011 und 2015 um zwei Drittel gekürzt worden, beklagte Mohammed Ali Kilani von der jordanischen Charity Organizati-on for Relief and Development (JHCO).

Die Konferenz fand nicht wie üblich in protzigem Ambiente, sondern in einer Montagehalle der Österreichischen Bundesbah-

nen (ÖBB) statt. Die ÖBB hatten seit September Flüchtlinge kos-tenlos zur deutschen Grenze transportiert. Die Entwicklungs-

agentur ADA und andere Bundes-einrichtungen hatten sich nicht an der privat finanzierten Veran-staltung beteiligt. Ralf Leonhard

Journal FLüCHTLINGE

fLüCHTLINGE – GLOBAL LOKAL

Neue Allianz für Syrien-flüchtlinge Erstmals tut sich ein Bundesland mit einer Kurden-Provinz zusammen

Millionen Syrer sind vor dem Krieg in die Nachbarländer geflohen. Das Land Baden-Württemberg und vie-le Kommunen wollen ihre Not vor Ort lindern und damit eine weitere flucht nach Europa verhindern.

Baden-Württemberg betritt bei seiner Zusammenarbeit mit der Provinz Dohuk im Nordirak Neu-land. Das Bundesland will dort helfen, die humanitäre Situation zu verbessern und für syrische Flüchtlinge sowie Einheimische neue Perspektiven zu schaffen. Die vier Provinzen der autono-men Kurdengebiete im Nordirak grenzen an Syrien, Iran und die Türkei. Die Provinz Dohuk mit rund 1,5 Millionen Einwohnern hat im vergangenen Jahr rund 900.000 Syrer aufgenommen.

Im Dezember 2015 haben Ver-treter von Dohuk und Baden-Württemberg ihre Zusammenar-beit besiegelt. Die Schwaben wol-len Generatoren und Entsor-gungsfahrzeuge liefern und mit einer Berufsschule in der Stadt Erbil zusammenarbeiten. Junge Menschen sollen dort zum KFZ-

Mechaniker, Mechatroniker oder Abfallmanager ausgebildet wer-den. Der Autokonzern Daimler hat zugesagt, die einheimischen Ausbilder mit Kurzzeittrainings in Stuttgart zu schulen.

Für die Hilfe in Dohuk hat die Landesregierung in diesem und im kommenden Jahr rund 2,5 Millionen Euro im Haushalt eingestellt. Damit wäre auch eine neue Landesregierung an die Zu-sagen gebunden, falls es bei den Landtagswahlen im März in Stutt-gart zu einem Regierungswechsel kommt.

Kommunen aus Baden-Würt-temberg wollen zudem die Türkei bei der Schulbildung für syrische Flüchtlingskinder unterstützen. Deren staatliche Schulen sind überlastet und können längst nicht mehr alle syrischen Kinder aufnehmen. Aalen etwa will seine Partnerkommune Antakya im Os-ten der Türkei mit dem Bau einer Schule für tausend syrische Flüchtlingskinder unterstützen.

Ähnliche Initiativen planen Freiberg am Neckar, Stuttgart und Karlsruhe, die ebenfalls auf

langjährige Beziehungen zu tür-kischen Städten blicken können.

„Diese Partnerschaften, die zum Teil etwas eingeschlafen waren, können wir jetzt nutzen, um Fluchtursachen zu bekämpfen“, sagt Kristine Döll vom Staatsmi-nisterium in Stuttgart. Die Lan-desregierung stocke die von den Kommunen aufgebrachten öf-fentlichen Mittel und privaten Spenden auf. Für jeden Euro aus den Kommunen legt sie nochmal das Gleiche drauf.

Hilfe beim Wiederaufbau von Kobane

„Wenn syrische Flüchtlinge in der Türkei und im Nordirak klare Si-gnale bekämen, dass man ihnen helfen will, würden nicht so viele nach Europa fliehen“, meint Ve-dat Akter von der Initiative „Köl-ner helfen“. Seine Organisation wurde nach einem Hilferuf aus der türkischen Stadt Diyarbakir im September 2014 gegründet, die mit den vielen Zuflucht Su-chenden überfordert war. In dem Verein sind zahlreiche Migran-ten mit kurdischem Hintergrund

aktiv, aber auch Türken, Araber und Deutsche. Sie sammelten zunächst Spenden und kauften Hilfsgüter für Diyarbakir. Seit 2015 konzentrieren sie sich auf den Wiederaufbau der syrischen Stadt Kobane an der türkischen Grenze.

Kobane wurde 2015 zum Sym-bol des Widerstands gegen den sogenannten Islamischen Staat, als es gelang, die Terrortruppe von dort zu vertreiben. Große Tei-le der Stadt sind zerstört, doch seien bereits bis zu einem Drittel der ursprünglich 300.000 Ein-wohner zurückgekehrt, sagt Vedat Akter. „Beim Wiederaufbau wird Kobane weitgehend alleine gelas-sen.“ Lediglich einige kleinere Hilfsorganisationen seien dort tä-tig. Der Verein „Kölner helfen“ sammelt derzeit Spenden für den Bau einer Grundschule in Kobane. Von der Stadt Köln wünschen sich die Engagierten mehr Unterstüt-zung. Bisher erhielten sie eine einmalige Spende von 10.000 Euro. Eine mündliche Zusage des Oberbürgermeisters über weitere Zuwendungen wurde wieder zu-rückgenommen. Claudia Mende

Durchgriffsrecht und AsylquoteSeit Oktober 2015 hat der Bund in Österreich ein Durchgriffsrecht, falls ein Bundesland die ihm zugewiesene Quote von Flüchtlingen nicht unterbringt. Die Länder haben sich verpflichtet, eine Zahl von Asylbewerbern aufzunehmen, die 1,5 Prozent ihrer Bevölke-rung entspricht. Sie können diese dann auf die einzelnen Gemeinden verteilen. Bisher erfüllen lediglich Wien und Niederösterreich diese Vorgabe. Die übrigen sieben Bundes-länder verfehlen die Quote in unterschiedlichem Maß. Es ist vorgesehen, dass die Schutzsuchenden vorrangig Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern zuzuweisen sind. In einem Quartier sollen nicht mehr als 450 Personen untergebracht werden. In-nenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat bereits wiederholt von ihrem Durch-griffsrecht Gebrauch gemacht und Flüchtlinge in Kasernen und anderen Einrichtungen des Bundes einquartiert. Im vergangenen Januar hatten nur 40 Prozent der österreichi-schen Gemeinden Flüchtlinge aufgenommen. (rld)

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BERLIN

Deutschland will in Afrika digital flagge zeigenEine Initiative des Entwicklungsministeriums kommt nur langsam in Gang

Neun Monate nach dem Start trommelt die Bundesregierung für ihre Strategische Partnerschaft

„Digitales Afrika“. Mit der Privat-wirtschaft will das Entwicklungs-ministerium (BMZ) die Informa-tions- und Kommunikationstech-nologie (IKT) in Afrika fördern. Mehr als hundert Unternehmen zeigen Interesse – aber mehr bis-lang auch nicht

Der Initiative angeschlossen ha-ben sich etwa der in Afrika erfah-rene Softwarekonzern SAP und der Branchenverband Bitcom. Um förderwürdige Projektvor-schläge wirbt nun der Kanzlerbe-auftragte Günter Nooke beim Af-rika-Verein der Deutschen Wirt-schaft. Bei der Technologiemesse Cebit Mitte März in Hannover soll an Ständen und in Workshops die Werbetrommel gerührt werden. Ähnliche Partnerschaften gibt es bereits mit der Gesundheitswirt-schaft. Die German Food Partner-ship für die Landwirtschaft wur-de 2015 beendet. Sie hatte herbe Kritik angezogen. Zivilgesell-schaftliche Organisationen sahen darin Entwicklungshilfe für die beteiligten Konzerne.

Womöglich auch deswegen herrscht in der Wirtschaft eine ge-wisse Zurückhaltung. Unterneh-men scheuen offenbar, sich an feste Plattformen oder ausfüh-rende Organisationen wie die Ge-sellschaft für Internationale Zu-sammenarbeit (GIZ) zu binden. Daraus will das BMZ nun lernen: Die digitale Partnerschaft ver-steht sich stärker als Netzwerk Gleichgesinnter, deren Austausch es erleichtern soll, in neue Märkte einzutreten – sei es Äthiopien, Ke-nia oder Kamerun. IKT-Firmen aus Asien und den USA haben den Kontinent längst entdeckt.

„Indem man sich strategisch auf-stellt, macht man eine Ansage“, sagt Nooke.

In den Ländern Afrikas soll deutsches Firmenengagement

dazu beitragen, neue wirtschaftli-che Perspektiven zu schaffen: Ausbildung, gute Jobs und eine starke Privatwirtschaft, heißt es offiziell. Unklar ist, wie das Minis-terium die deutschen Firmen be-gleiten will. Möglich sind Studien, Versicherungen, Exportgarantien. „Maßnahmen der Entwicklungs-zusammenarbeit“ sollen verant-wortungsvolles Unternehmer-tum „wirkungsvoll flankieren“, heißt es. Ein eigener Geldtopf steht nicht bereit.

Auch die Weltbank drängt, die digitale Kluft zu schließenEingebettet ist die Partnerschaft in die Digitale Agenda der Bun-desregierung, die anregt, Digitali-

sierung als wichtigen Baustein der Entwicklungszusammenar-beit zu nutzen. Auch die Weltbank drängt, die „digitale Kluft“ zu schließen und den Zugang zum Internet bezahlbar zu machen so-wie IT-Kenntnisse für den Arbeits-markt aufzubauen.

Nach den Worten von Staats-sekretär Thomas Silberhorn zählt Deutschland mit weltweit 258 IKT-Projekten, einigen davon in Afrika, schon heute zu den größ-ten Gebern in dem Sektor. „In 2016 wollen wir 53 Millionen Euro allein für IKT-Vorhaben in Afrika investieren“, sagte Silberhorn Ende Januar. Im vergangenen Jahr seien es gerade einmal zwei Milli-onen gewesen.

Die Strategische Partner-schaft mit der Wirtschaft läuft pa-rallel dazu. Als erstes haben die interessierten Unternehmen Branchenarbeitsgruppen für Ge-sundheit und Logistik gebildet. Weitere sollen folgen. Brücken nach Afrika schlägt das GIZ-Pro-gramm „Lab for tomorrow“, das Teil der Partnerschaft ist: So ruft der Verband der Maschinenbauer VDMA zu einem Workshop über Ernteverluste. Mit kenianischen Fachleuten und möglichen Kun-den aus Produktion, Transport, Verarbeitung und Export soll da-bei in drei Tagen eine profitable Geschäftsidee mit marktfähigen Lösungsideen entwickelt werden.

Marina Zapf

Bundesminister Gerd Müller will die Religionen stärker in der Entwicklungszusammenarbeit nutzen. Glaubensfüh-rer und religiöse Netzwerke sollen als Partner für Gerech-tigkeit, frieden und Versöhnung sowie die Bewahrung der Schöpfung gewonnen werden.

„Zu lange wurde der Einfluss der Religion auf die internationale Zusammenarbeit vernachlässigt“, heißt es in der neuen Strategie, die Müller Mitte Februar in Berlin vorstellte. Erstmals in der mehr als 50-jährigen Geschichte des Ministeriums lud Müller dazu zu einer internationalen Konferenz

„Religion und Entwicklung“ ein. Unter den mehr als 200 Teilneh-mern waren alle Glaubensrich-tungen vertreten; prominente Gäste waren unter anderen der Großmufti des Libanon, Scheich Abdul Latif Derian, und der Erzbi-schof aus dem pakistanischen La-hore, Sebastian Francis Shaw.

BERLIN

Die Kraft des Glaubens nutzenDas Entwicklungsministerium entdeckt die Religion

BERLIN Journal

Minister Gerd Müller erklärt, warum Entwicklungspolitiker die Religion stärker beachten sollen.gIZ

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Journal BERLIN | SCHWEIZ

SCHWEIZ

Armutsbekämpfung versus friedensförderungIn der Schweizer Entwicklungshilfe herrscht zunehmend Konkurrenz

Die Schweiz will sich stärker ent-wicklungspolitisch in fragilen Staaten engagieren. Aber gibt es dafür überhaupt Geld?

„Im laufenden Jahr wollen wir un-sere Kernaufgabe der Armutsbe-kämpfung dort verstärken, wo staatliche Strukturen wegen Kon-flikten geschwächt sind oder feh-len“, sagte der Direktor der Direk-tion für Entwicklung und Zusam-menarbeit (DEZA), Manuel Sager, Ende Januar bei der Jahresmedi-enkonferenz in Bern. Die Ursa-chen von Armut führten oft auch zu Radikalisierung, Extremismus und Gewalt und bewegten Millio-nen von Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat. Dazu gehören laut Sager fehlende Zukunftsperspek-tiven für Jugendliche, soziale Un-gleichheit, die Marginalisierung von Minderheiten oder auch Menschenrechtsverletzungen.

In der Welt gelten über 40 Staaten mit einer Gesamtbevöl-kerung von rund 1,5 Milliarden Menschen als fragil oder von Ge-waltkonflikten betroffen. Bald werde die Mehrheit der Armen weltweit in solchen fragilen Kon-texten leben, sagte Sager. Deshalb bilde die Unterstützung dieser

Menschen in diesem Jahr eine der Prioritäten der DEZA.

In den kommenden Jahren soll weiter gespart werdenDoch das Vorhaben steht im Wi-derspruch zu den verfügbaren Mitteln. Für dieses Jahr hat das Parlament im Vergleich zum letz-ten Jahr die Entwicklungshilfe um fast 100 Millionen Franken auf 2,473 Milliarden Franken ge-kürzt, und in den kommenden Jahren soll weiter gespart werden.

Erschwert wird die langfristig angelegte Armutsbekämpfung in fragilen Staaten außerdem da-durch, dass der Mittelbedarf zur

Bewältigung der humanitären Krisen weltweit wächst, vor allem in Syrien. Und schließlich steht die Armutsbekämpfung bei der Mittelverteilung neuerdings in Konkurrenz mit der zivilen Frie-densförderung: Diese hat bisher eine eigene Kreditlinie, doch ab 2017 wird sie neu ins Kreditver-fahren der „Internationalen Zu-sammenarbeit“ aufgenommen. Weil friedenspolitische Organisa-tionen dafür mehr Mittel als bis-lang fordern, ist bei einem insge-samt sinkenden Budget der Ver-teilungskampf programmiert.

Wo also soll das Geld für den von DEZA-Chef Manuel Sager an-

gekündigten neuen Schwerpunkt herkommen? Der stellvertreten-de Leiter für die regionale Zusam-menarbeit bei der DEZA, Jean-François Cuénod, hat klarge-macht, wo gespart wird: Zum ei-nen laufen Programme in einigen Ländern wie Vietnam aus, das nun zu den Ländern mit mittle-rem Einkommen gehört. Zum an-deren werden geplante Mitteler-höhungen wie in Myanmar ge-streckt und Einsparungen bei Globalprogrammen wie die für Wasser, Landwirtschaft und Er-nährungssicherheit, Klimawan-del und Migration beschleunigt.

Rebecca Vermot

SCHWEIZ – KURZ NOTIERT

Ökumenische Kampagne 2016 fordert: Gold soll sauber werden. Unter dem Motto „Verant-wortung tragen – Gerechtigkeit stärken“ zei-gen Brot für alle und Fastenopfer am Beispiel von Burkina Faso, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Zwar erlebt das Land seit 2005 ei-nen wahren Goldboom. Doch wo nach dem Edelmetall geschürft wird, bleiben Men-schenrechte und Umweltschutz oft auf der Strecke. Umsiedlungen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen der lokalen Bevölke-rung verursachen großes Leid. Vom Geschäft

mit dem Edelmetall profitieren vor allem multinationale Konzerne. Die beiden christ-lichen Entwicklungsorganisationen zeigen auch die Rolle der Schweiz im Gold-Geschäft: So wurden in den vergangenen Jahren 90 Prozent des Goldes aus Burkina Faso hier ver-arbeitet. Zudem ist die Schweiz weltweit der größte Handelsplatz für Gold. Der Weg von der Goldmine zum Schmuckstück sei oft schwer überblickbar, sagt Bernard DuPas-quier, Geschäftsleiter von Brot für alle. Es brauche weltweit verbindliche Regeln. (kam)

Als das Ministerium 2015 Konsultationen zur Erstellung der neuen Strategie begann, hagelte es viel Kritik. Gegner befürchte-ten, der CSU-Politiker wolle vor allem das christliche „C“ seiner Parteienfamilie größer schreiben. Andere warnten davor, ohne Not die traditionell weltliche Ausrich-tung der Zusammenarbeit aufs Spiel zu setzen.

Auffallend ist nun, dass Zu-ordnungen wie „christlich“ oder

„islamisch“ in dem Strategiepa-pier sorgfältig vermieden werden.

„Unsere Politik ist weltanschaulich neutral, aber wir stehen für Wer-te“, betonte Müller am Vorabend

der Konferenz. „Wir bevorzugen keine Religionsgemeinschaft und grenzen niemanden aus.“ Univer-selle menschenrechtliche Stan-dards seien die Basis der neuen Strategie und für die Annährung an religiöse Mitstreiter, die sich als moderate Glaubensführer zu den Menschenrechten bekennen und gegen extremistische Angrif-fe verteidigen wollten.

Religionen können Konflikte anheizen – und entschärfenZiel sei es, Trennendes zu schwä-chen und Verbindendes zu stär-ken, sagte Müller. Damit erkennt die Strategie an, dass Religionen

Krisen und Konflikte ebenso an-heizen wie entschärfen können. Versöhnung und Frieden könn-ten nur in Zusammenarbeit mit religiösen Akteuren gelingen, gleiches gelte für die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungs-ziele.

Als verbindende Elemente unterschiedlicher Religionen zu einer gemeinsamen Wertebasis nannte Müller Toleranz und Re-spekt, Gleichberechtigung und Frieden. Das „große Bekenntnis zur Mitmenschlichkeit, der Ein-satz für den Nächsten“ verbinde staatliche Entwicklungszusam-menarbeit mit Religion. Als ge-

plante Maßnahmen werden in dem Papier unter anderem die Förderung interreligiöser Dialoge, lokaler religiöser Hilfsorganisati-onen oder der Einsatz für Religi-onsfreiheit genannt.

Die Lösung der heutigen Kri-sen dürfe nicht allein Politikern überlassen werden, sagte Müller. Deutschland gründet deshalb mit anderen Gebern die „Inter-national Partnership on Religion and Sustainable Development“ (PaRD), in die sich neben führen-den Glaubensvertretern auch Organisationen wie die Weltbank und die Vereinten Nationen ein-reihen. Marina Zapf

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BRüSSEL

Rote und blaue Linien für TISADas EU-Parlament schaltet sich in die Verhandlungen über den Handel mit Dienstleistungen ein

Seit drei Jahren verhandelt die EU-Kommission im Geheimen mit 23 Staaten über ein Abkommen zur Liberalisierung des Dienstleis-tungshandels (TISA). Jetzt hat das EU-Parlament klargestellt, unter welchen Bedingungen es den Ver-trag annehmen würde.

Der EU-Ministerrat hatte die Kom-mission schon 2012 zu den Ver-handlungen ermächtigt, aber erst nachdem WikiLeaks einige der Texte veröffentlicht hatte, wurde das TISA-Mandat vor einem Jahr bekanntgegeben. Bis heute haben die Abgeordneten des EU-Parla-ments nur beschränkten Zugang zu den Verhandlungstexten, die in zwölf Hauptbereiche mit 160 Unterpunkten gegliedert sind.

Selbst der gemeinhin unter-nehmensfreundliche Handels-ausschuss des EU-Parlaments hat-te im Januar in seiner Stellung-nahme deutliche Kritik geäußert, die anderen Fachausschüsse füg-ten weitere Punkte hinzu. Am 3. Februar nahm das Plenum dann eine Entschließung an, die einige

„rote Linien“ definiert, die im ferti-gen Abkommen nicht überschrit-ten werden dürften. Dazu gehört, dass öffentliche Dienste wie die Wasserversorgung von einer un-beschränkten Öffnung für den Wettbewerb und einer möglichen Übernahme durch ausländische Privatfirmen ausgeschlossen blei-ben und dass die Kompetenzen von nationalen wie lokalen Ins-tanzen wie den Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten zur Regelung politischer Angelegenheiten nicht beschnitten werden.

Eine weitere rote Linie ist, dass die Privatisierung öffentlicher Dienste wieder rückgängig ge-macht werden darf. Diese Bedin-gung richtet sich gegen die soge-nannte „Stillhalte-“ und „Rück-nahmesperre“ (ratchet clause), die in den TISA-Texten bereits enthal-ten ist, wie Außenhandelskom-missarin Cecilia Malmström vor

dem Parlament einräumte. Im Entwurf der Berichterstatterin des Handelsausschusses, Viviane Re-ding, war sie noch nicht als rote Linie enthalten gewesen, doch die anderen Fachausschüsse hatten sie gefordert; im Plenum wurde sie dann mit knapper Mehrheit eingefügt. Einig war sich das Par-lament hingegen über eine weite-re „rote Linie“, nach der ausländi-sche Dienstleistungsunterneh-men in der EU nur hoch ausgebil-dete Arbeitskräfte aus dem Ausland beschäftigen dürfen, und

das auch nur für einen streng be-grenzten Zeitraum.

Ganz im Sinne des Verhand-lungsmandats des Ministerrats und der um Liberalisierung be-mühten EU-Kommission ist die „blaue Linie“ des Parlaments für die Ziele, die mit TISA erreicht werden sollten: gegenseitige Marktöffnung, insbesondere für öffentliche Beschaffung, Telekom-munikation, Transport, Finanz-dienstleistungen und digitale Dienste. Praktiken, mit denen Staaten die Tätigkeit ausländi-

scher Dienstleister behindern, etwa indem sie eine einheimische Mehrheitsbeteiligung an Filialen fordern, sollen nach dem Willen des Parlaments mit TISA über-wunden werden. Der Entwick-lungsausschuss des Parlaments wollte diese blaue Linie zuguns-ten von Entwicklungsländern re-lativieren und ausländische Kon-zerne wie große Einzelhandelsket-ten auf eine umwelt- und sozial-verträgliche Geschäftspraxis verpflichten. Das Plenum lehnte das jedoch ab. Heimo Classen

Anfang februar verhandelten Vertreter des EU-Parlaments, des Ministerrats und der EU-Kommission über die Kontrol-le von Rohstoffimporten aus Konfliktgebieten. Das Treffen verlief laut einer Teilnehmerin „stürmisch“.

Die EU-Kommission hatte bereits 2014 eine Vorlage auf den Weg gebracht, nach der Schmelzereien und Raffineri-en freiwillig prüfen sollen, ob sie die vier Erze und Metalle

Zinn, Tantal, Tungsten und Gold aus konfliktfreien Gebieten bezie-hen. Auf diesem Weg wollte die Kommission die in der Organisati-on für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung (OECD) vereinbarte Sorgfaltspflicht erfül-len, Importe von Rohstoffen zu vermeiden, mit denen sich Kriegs- und Konfliktparteien finanzieren. Die US-Regierung hatte 2010 als erste mit dem Dodd-Frank-Gesetz in den USA tätige Firmen zum Nachweis der Herkunft von im-portierten Rohstoffen und Vorpro-dukten verpflichtet.

Das EU-Parlament hatte im Mai vorigen Jahres in erster Le-sung die vom Ministerrat noch einmal abgeschwächte Fassung der Kommissionsvorlage abge-lehnt und gefordert, die Schmel-zereien und Raffinerien sollten verpflichtet werden, die Herkunft nachzuweisen. Zudem sollten auch weiterverarbeitende Unter-nehmen diesen Nachweis einse-hen können, um den Käufern ih-rer Produkte zusichern zu kön-nen, dass Mobiltelefone, Laptops,

BRüSSEL

Kein Konsens zu KonfliktrohstoffenEU-Parlament will schärfere Regelung als Ministerrat und Kommission

BRüSSEL Journal

Im Osten des Kongo suchen diese Männer in der Nähe einer Mine nach Zinnerz (Kassiterit). Oft feuern die Erlöse aus dem

Rohstoffabbau Konflikte an. JuNIoR d. KANNAH/AFP/gEtty IMAgES

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3-2016 |

Journal BRüSSEL

BRüSSEL

Eritreas langer ArmDas Regime verfolgt Kritiker und Flüchtlinge bis nach Europa

Die Vereinten Nationen zählen Eri-trea in einem Bericht vom Juni 2015 zu den Staaten mit der schlimmsten Menschenrechtsbi-lanz weltweit. Wie das Regime in der Hauptstadt Asmara seine Kriti-ker auch im Ausland drangsaliert, macht ein fall in den Niederlanden deutlich.

Mirjam van Reisen ist Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Tilburg und hat am Expertenbericht zu Men-schenrechten in Eritrea mitgear-beitet, der vergangenen Oktober im UN-Sicherheitsrat besprochen wurde. Für ihr entschiedenes Auf-treten gegen die eritreische Dikta-tur habe sie drohende Botschaf-ten über Twitter erhalten; jüngst sei sie auf dem Weg vom Flugha-fen nach Hause im südlichen Hol-land von einem Auto verfolgt worden, berichtet sie.

Ende Januar musste sich Van Reisen vor Gericht gegen eine Verleumdungsklage verteidigen, die Meseret Bahlbi, aktives Mit-glied der Partei von Diktator Isai-as Afewerki und bis voriges Jahr Vorsitzender der Jugendorganisa-tion (YPFDJ) dieser Partei in den Niederlanden, gegen sie ange-strengt hatte. Van Reisen hatte in Rundfunkinterviews voriges Jahr darauf hingewiesen, dass zwei Geschwister von Bahlbi als Dol-metscher für die niederländische Einwanderungsbehörde arbeite-ten, was laut Medienberichten

gegen niederländisches Recht verstößt. Ohne Bahlbis Namen zu nennen, erklärte van Reisen, dass der Bruder dieser beiden Mitar-beiter „als Angelpunkt des Nach-richtendienstes von Eritrea“ in den Niederlanden fungiere. Bahl-bi zeigte van Reisen daraufhin wegen Verleumdung an.

Am 10. Februar wies das Ge-richt in Amsterdam die Klage und Bahlbis Forderung auf 25.000 Euro Schadenersatz ab. Im Urteil heißt es, es sei erwiesen, dass die YPFDJ als „langer Arm“ des Regi-mes von Eritrea diene, dass Bahl-bi dort aktives Mitglied sei und dass diese Organisation für das Regime nachrichtendienstlich in den Niederlanden tätig sei.

Arbeitet das Regime mit Schleusern zusammen?Van Reisen hat mit ihren Hinwei-sen auf die Infiltration der eritrei-schen Diaspora durch Anhänger des Regimes in Eritreas Haupt-stadt Asmara und ihre möglichen Verbindungen zu Mitarbeitern von niederländischen Behörden und Einrichtungen der Flücht-lingsversorgung einen wunden Punkt berührt. In mehreren Be-richten und einem 2012 erschie-nenen Buch über Flüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien und Sudan be-schreibt sie die Zusammenarbeit des eritreischen Regimes mit Schlepperbanden, die mit der Er-pressung von Flüchtlingen „eine wichtige Einkommensquelle“ der

klammen Diktatur sei. Eritrea nehme „mit dem Verkauf seiner Bürger“ Hunderte Millionen Dol-lar ein. Mafiose Banden in Sudan, Ägypten und in Westeuropa, auch in der Disapora in den Niederlan-den und Deutschland, setzten ge-flüchtete Eritreer mit Drohungen gegen zurückgebliebene Famili-enangehörige unter Druck.

Das niederländische Justizmi-nisterium teilte unterdessen mit, es werde geprüft, wie gegen der-artige Vorgänge vorgegangen werden könnte. Eine Schwierig-keit ist dabei laut van Reisen, dass in der eritreischen Diaspora wie im Land selbst eine Angstkultur herrsche, weshalb die Betroffenen nicht zu sprechen wagten.

Zudem erpresse das Regime von Exileritreern über seine Bot-schaften eine Art „Diaspora-Steu-er“ in Höhe von zwei Prozent des Einkommens. Wer nicht zahlt, müsse mit Maßnahmen gegen Fa-milienangehörige zu Hause rech-nen. Der frühere Botschafter Erit-reas in den Niederlanden, Ande-brhan Giorgis, der jetzt selbst als Flüchtling in den Niederlanden wohnt, bestätigt diese Angaben von van Reisen und der niederlän-dischen Journalistin Sanne Terlin-gen. Van Reisen hatte deshalb in einem TV-Interview im vorigen September dafür plädiert, dass alle EU-Länder die Botschaften und Konsulate Eritreas schließen. Heimo Claasen

Exileritreer demonstrieren im februar 2013 gegen die Regierung von Präsident Isaias Afewerki.

JuStIN tALLIS/AFP/gEtty IMAgES

Flugzeuge oder Atomreaktoren keine Rohstoffe enthalten, die beispielsweise von Milizen im Kongo verschoben wurden.

Das erste Treffen im soge-nannten Trilog aus EU-Parlament, Ministerrat und Kommission sei jedoch dermaßen strittig und „stürmisch“ verlaufen, wie die fürs Parlament verhandelnde Bericht-erstatterin Marie Arena von der

Sozialdemokratischen Fraktion befand, dass eine Einigung „blo-ckiert“ sei. Der Ministerrat habe darauf bestanden, dass die Impor-teure ihre Rohstoffe selbst zertifi-zieren dürfen – was, so Marie Are-na, nachweislich nicht funktionie-re: Gerade mal ein Fünftel der rund 400 EU-Importeure von me-tallischen Rohstoffen habe bisher die Empfehlung der OECD zur

freiwilligen Kontrolle der Her-kunft befolgt. Zudem sei die vom Ministerrat vorgelegte Fassung noch schwächer als die ursprüng-liche Kommissionsvorlage, die weiterverarbeitenden Unterneh-men immerhin das Recht ein-räumte, von Zulieferern Auskunft über die Herkunft zu verlangen.

Die nächste Verhandlung im Trilog findet wahrscheinlich im

März statt. Wenn dann keine Eini-gung erzielt wird, müsste das Par-lament über die vom Ministerrat vorgelegte Vorlage abstimmen. Angesichts der bisherigen Diskus-sion im Parlament ist schwer zu sagen, wie das ausgehen würde. Schon bei der ursprünglichen Stellungnahme im vorigen Mai war nur eine knappe Mehrheit da-gegen gewesen. Heimo Claasen

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| 3-2016

KIRCHE UND ÖKUMENE Journal

KIRCHE UND ÖKUMENE

„Die vermutlich größte katholische Pfarrei der Welt“Die Kirchen in den Staaten am Persischen Golf wachsen

In manchen Ländern am Persi-schen Golf stellen Christen 15 Pro-zent und mehr der Bevölkerung. Die Gemeinden rekrutieren ihre Mitglieder aus den Millionen Mig-ranten, die in den Golfmonarchien arbeiten. Der Bamberger Erzbi-schof und Vorsitzende der Kom-mission Weltkirche in der Deut-schen Bischofskonferenz Ludwig Schick hat Anfang februar die Kir-chen in Katar, Bahrain, den Verei-nigten Arabischen Emiraten und in Oman besucht.

Wer kommt in den Kirchen am golf zusammen?

Die vielen Arbeitsmigranten kommen vor allem aus Indien, den Philippinen, Sri Lanka, aber auch aus Lateinamerika und den nördlichen arabischen Staaten wie dem Libanon oder Syrien. Die Gottesdienste werden auf Eng-lisch gehalten. Es gibt aber auch Priester aus den Herkunftslän-dern der Migranten, die in den je-

weiligen Muttersprachen die Messe feiern. In der Kathedrale von Abu Dhabi zum Beispiel fin-den jedes Wochenende 35 Gottes-dienste in zwölf verschiedenen Sprachen statt. In Dubai ist die vermutlich größte katholische Pfarrei der Welt; die Schätzungen variieren von 100.000 bis 300.000 Katholiken.

Inwiefern hängen die Kirchen von den jeweiligen Regierungen ab?

Kirchliches Leben kann in der Regel nur auf einem eigens da-für reservierten Gelände stattfin-den, meist hinter hohen Mauern. Auf solchen Compounds befinden sich oft Kirchen verschiedener De-nominationen, manchmal auch ein Sikh-Tempel. Den Grund und Boden stellt die jeweilige Regie-rung zur Verfügung. Aber nichts darf darauf hindeuten, dass sich hier Christen regelmäßig treffen. Es gibt zum Beispiel keine Kreu-ze oder Glockentürme. Solange

die Christen ihren Glauben auf diesem Gelände leben, ist alles in Ordnung. Missionieren dürfen sie nicht.

Sind die Kirchen Sprachrohr für die Interessen und Rechte der Arbeits-migranten?

Eine zivilgesellschaftliche Rol-le können die Kirchen nicht spie-len. Die Regierungen geben ihnen ihren Spielraum sehr genau vor. Als Netzwerk für die Gemeinde-glieder sind die Kirchen aber sehr wichtig. Arbeitsmigranten leben oft isoliert in sehr prekären Situa-tionen. Oft werden ihre Rechte verletzt und sie werden ausge-beutet. In den Kirchen teilen die Menschen Freud und Leid, spre-chen über Kindererziehung, Fa-milie und ihre Arbeitsstellen und tauschen Erfahrungen im Um-gang mit Behörden aus. Eindrück-lich ist auch, wie viele Ehrenamt-liche sich im kirchlichen Leben engagieren, sei es als Lektoren, sei

es als Katecheten. Es gibt auch ka-tholische Schulen. In der Vorbe-reitung der Kinder und Jugendli-chen auf die Erstkommunion oder die Firmung sind oft Hun-derte Männer und Frauen tätig. Die gegenseitige Hilfe findet auf ganz individueller Ebene statt, von Mensch zu Mensch.

Wie geht die muslimische Mehr-heitsgesellschaft damit um, dass die christliche gemeinschaft wächst?

Sehr pragmatisch. Sie weiß, dass sich ihr Wohlstand ohne die Arbeitsmigranten nicht halten lässt. Deswegen stehen viele auf dem Standpunkt, dass die Mig-ranten gut sind und bleiben sol-len, solange sie gebraucht werden.

gibt es einen interreligiösen dialog?Vor allem auf akademischer

Ebene unter Theologen; der Dia-log geht aber nicht sehr tief. Die Regierungen kontrollieren auch diesen Bereich. Im täglichen Le-ben soll es interreligiöse Begeg-nungen von Mensch zu Mensch nicht geben aus Angst, die Chris-ten könnten dabei Werbung für den eigenen Glauben machen.

Ist die europäische Flüchtlingskrise ein thema am golf? Immer wieder

Ludwig Schick ist Erzbischof von Bamberg und Vorsitzender der Kom-

mission Weltkirche in der Deutschen Bischofskonferenz.

SoNJA KREBS

Muslime rufen zum Schutz religiöser Minderheiten aufUneingeschränkte Religionsfreiheit for-dern 250 sunnitische und schiitische Theo-logen, Richter, Politiker und Intellektuelle aus 120 Ländern. In der Marrakesch-Erklä-rung, die Ende Januar in Marokko veröf-fentlicht wurde, verurteilen sie die Verlet-zung der Rechte religiöser Minderheiten im Namen des Islam; die Unterzeichner machen deutlich, dass sie die Feindseligkei-ten bekämpfen wollen. Die Konferenz sei nötig „angesichts der Lage der Minderhei-ten, die in verschiedenen Ländern des Na-hen Ostens Unterwerfung, Entwurzelung und andere Gräueltaten erleiden müssen und an denen Massaker verübt werden“.

Die islamischen Rechtsgelehrten und Intellektuellen werden in der Erklärung aufgefordert, eine islamische Gesetzge-bung nach den Prinzipien der Staatsbür-gerschaft zu entwerfen, die alle religiösen und ethnischen Gruppen einbezieht. Die Aufgabe von Politikern und Entschei-

dungsträgern sei es, diese Gesetzgebung dann anzuwenden.

Lehrer und Professoren sollten „mutig die Lehrpläne und Schulbücher in islami-schen Ländern revidieren und alle Stellen streichen, die zu Aggression und Hass ge-genüber Nicht-Muslimen aufrufen und zu Krieg und Chaos führen“. Die gesamte Zi-vilgesellschaft sei zur Zusammenarbeit aufgerufen, um das Bewusstsein für die Rechte religiöser Minderheiten in islami-schen Ländern zu schärfen. Die Erklärung endet mit der Aussage, dass Religion nicht dazu missbraucht werden dürfe, religiöse Minderheiten ihrer Rechte zu berauben.

Zu der dreitägigen Konferenz hatte das marokkanische Ministerium für islami-sche Angelegenheiten eingeladen. Durch-geführt wurde sie vom Forum für Frieden in der muslimischen Gesellschaft, einer nichtstaatlichen Organisation mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten. (kb)

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Journal KIRCHE UND ÖKUMENE

KIRCHE UND ÖKUMENE

Geistliche kippen das ReligionsgesetzKenias Regierung scheitert vorerst bei der Regulierung religiöser Sekten

Nach Kritik von Religionsführern in Kenia hat Präsident Uhuru Kenyat-ta Ende Januar ein Gesetz zur Re-gelung des religiösen Lebens kurz vor Inkrafttreten zurückgenom-men. Es hätte der Regierung weit-reichende Befugnisse zur Kontrolle von Religionsgemeinschaften ge-geben.

Mit dem Gesetz wollte die Regie-rung den Wildwuchs im religiö-sen Sektor unterbinden. 2014 hat-te es einen Skandal um einen Pfarrer gegeben, der Mitgliedern seiner Kirche gegen Geld Heilung versprochen hatte (siehe welt-sichten 5/2015). Daraufhin waren insbesondere Gemeinden in den Blick der Öffentlichkeit geraten, bei denen der Verdacht nahelag, dass sie nur zur Bereicherung der Führungsebene dienen. In Kenia sind mehr als vier Fünftel der Be-völkerung Christen; 14 Prozent davon gehören weder der katholi-schen noch der evangelischen Kirche an. Allein 2014 hatten 7000 neue Gemeinden eine offi-zielle Registrierung beantragt, aber nicht bekommen.

Anfang dieses Jahres war der genaue Gesetzestext bekannt ge-worden. Demnach müssen füh-

rende Geistliche studiert haben und ein polizeiliches Führungs-zeugnis vorlegen. Jede Gemein-schaft muss genaue Mitgliederlis-ten führen, eine Verfassung mit klaren Angaben zu Auftrag und Struktur sowie einen Rechen-schaftsbericht über alle Tätigkei-ten und Finanzen vorlegen. Alle Würdenträger müssen die Ver-

wandtschaftsverhältnisse zu An-gestellten in ihrer Gemeinde of-fenlegen. Und schließlich sieht das Gesetz vor, dass alle Kirchen und Gemeinden in Dachverbän-den organisiert sein müssen, die dann als Ansprechpartner für die Regierung dienen und die Einhal-tung gewisser Standards in der jeweiligen Religionsgemeinschaft

sorgen. Das Gesetz hätte für alle in Kenia vertretenen Religionen gegolten.

Kurz nach Veröffentlichung des Gesetzestextes hatte bereits die kenianische Bischofskonfe-renz vehement dagegen protes-tiert. Das Gesetz verletze die keni-anische Verfassung, die die Tren-nung von Staat und Religion fest-legt, sagte Bischof Philip Anyolo, der Vorsitzende der Bischofskon-ferenz. Die Verfassung garantiere außerdem die Freiheit des Got-tesdienstes. Das Gesetz werde „di-rekte und negative Auswirkungen auf das kirchliche Leben in Kenia haben“, sagte Anyolo. Allein die geforderte Registrierung aller Mitglieder sei aus logistischen Gründen nicht realistisch: „Wenn die Kirchen damit beauftragt werden, Listen über ihre Mitglie-der zu führen, dann reduziert das das Christentum auf ein reines Zahlenspiel.“

Bischof Anyolo kritisierte zu-dem, dass sich die Regierung nicht mit den Religionsführern beraten habe. Genau das will sich Präsident Kenyatta bei der Neu-formulierung des Gesetzes nun zu Herzen nehmen.

Katja Dorothea Buck

Papst franziskus besucht im November 2015 Kenia. In dem Land schießen neue Kirchen und Gemeinden wie

Pilze aus dem Boden.ANAdoLu AgENcy/gEtty IMAgES

wird ja gefordert, dass auch die golfstaaten sich Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak öffnen.

Es ist eine Frage der Identität und der Erhaltung der politischen Strukturen. In Oman sind die Muslime zum Beispiel Ibaditen und die Regierung ist in der Hand einer Familie. Sie sehen sich und ihre Art, den Islam zu leben, be-droht, sollten etwa zu viele Sunni-ten ins Land kommen. Auch die anderen Golfstaaten fürchten um das gesellschaftliche Gleichge-wicht und öffnen deswegen ihre Grenzen nicht für Flüchtlinge aus anderen islamischen Ländern. die Fragen stellte Katja Dorothea Buck.

KIRCHE UND ÖKUMENE – KURZ NOTIERT

Eine internationale Jury aus 150 fachleuten hat vier von der Christoffel-Blindenmission (CBM) geförderte Inklusionsprojekte als be-sonders innovativ und effektiv ausgezeichnet. Mehr als 3000 Projekte waren bei der Zero-Project-Konferenz in Wien nominiert wor-den, 86 wurden prämiert, darunter die CBM-Bildungsprojekte in Nicaragua, Simbabwe, Kambodscha und Indien.

In Nicaragua kümmert sich der Projekt-partner ASOPIECAD um Kinder mit Entwick-lungsstörungen und Behinderungen, unter anderem mit Familienseminaren. In Sim-babwe unterstützt die CBM Gemeinden, ihre Schulen in inklusive Lern-Zentren zu ver-wandeln. Im Projekt in Kambodscha stehen

Kinder mit Seh- oder Hörbehinderung im Mittelpunkt. Das Projekt hat die Brailleschrift in der Landessprache eingeführt und entwi-ckelt die lokale Gebärdensprache weiter. Der CBM-Projektpartner in Indien setzt sich für die Verbreitung von barrierefreiem Lehr- und Lernmaterial ein.

Das Zero Project ist eine Initiative der Essl-Stiftung, die sich global für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Das Projekt wird unterstützt von den Verein-ten Nationen und bietet eine Plattform, auf der innovative und erfolgreiche Lösungen für Inklusion präsentiert werden. Schwer-punkt der diesjährigen Konferenz war inklu-sive Bildung. (kb)

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PERSONALIA Journal

PERSONALIA

Asiatische Infrastruktur- Investitionsbank (AIIB)

Der deutsche Ökonom Joachim von Amsberg wird einer von fünf Vizepräsidenten der neu gegrün-

deten AIIB. Er soll dort für Politik und Strategie zuständig sein. Von Amsberg ist derzeit noch Vizeprä-sident bei der Weltbank mit Zu-ständigkeit für die Entwicklungs-finanzierung. Zuvor war er für die Weltbank unter anderem auf den Philippinen und in Indonesi-en tätig, wo er für den Wiederauf-bau von Aceh nach dem Tsunami im Jahr 2004 zuständig war.

Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)Der bisherige Teamleiter Latein-amerika in der KAS-Zentrale in Berlin, Olaf Jacob, ist seit Januar KAS-Repräsentant in Buenos Aires, Argentinien. Ebenfalls seit Januar leitet Kristin Wesemann das Stiftungsbüro in Montevideo, Uruguay. Sie war bisher Auslands-mitarbeiterin in Argentinien.

friedrich-Ebert-Stiftung (fES)Neue Leiterin des Büros der FES in Dhaka, Bangladesch, ist seit Februar franziska Korn. Ihr Vorgänger Henrik Maihak wird voraussichtlich demnächst in den Südsudan wechseln. Klaus-Peter Treydte hat zum gleichen Zeitpunkt das Büro in Cotonou, Benin, übernommen. Sein Vor-gänger Constantin Grund ist jetzt im Inland bei der Stiftung tätig. Auch in Addis Abeba, Äthiopien, gibt es einen neuen Stiftungsver-treter: Peter Oesterdiekhoff hat friedrich Kramme-Stermose abgelöst, der in den Ru-hestand gegangen ist.

Vereinte Evangelische Mission (VEM)

Der deutsche Theologe Volker Martin Dally ist seit Februar neuer Generalsekre-

tär der VEM in Wuppertal. Er folgt auf fidon Mwombeki, der zum Lutherischen Weltbund nach Genf gewechselt ist. Der 54-jährige Dally hatte vorher das Evangelisch-Lutherische Missionswerk Leipzig geleitet.

Auswärtiges Amt (AA)Der deutsche Vertreter bei den Vereinten Nationen in Genf, Joachim Rücker, wird Sonderbeauf-

tragter der Bundesregierung für den Mittleren Osten. Auf diesem Posten soll er sich um die Stabili-sierung im Irak und in Syrien be-mühen und die Folgen der Krisen für die Türkei, Jordanien und den Libanon in den Blick nehmen.

RenovabisChristian Hartl ist zum neuen Geschäftsführer der Solidaritäts-aktion der deut-schen Katho-liken mit den

Menschen in Mittel- und Osteu-ropa, Renovabis, berufen worden. Der 51-Jährige folgt im Oktober auf Gerhard Albert, der das Amt seit Juni 2015 innehat. Hartl ist derzeit noch Spiritual des Interdiözesanen Priestersemi-nars St. Lambert in Lantershofen.

Sustainable Development Solu-tions Network Germany (SDSN)

Die ehemalige Präsidentin der Europa-Univer-sität Viadrina, Gesine Schwan, wurde bereits im vergange-

nen November als eine von zwei Vorständen des SDSN gewählt. Sie folgt auf den früheren Bundes-umweltminister und Chef des UN-Entwicklungsprogramms UNDP, Klaus Töpfer. Die Doppel-spitze wird vervollständigt durch Dirk Messner, den Direktor des Deutschen Instituts für Entwick-

lungspolitik (DIE), der dieses Amt bereits seit der Gründung des Netzwerks im Jahr 2014 innehat. Das SDSN steht unter der Schirm-herrschaft von UN-Generalse-kretär Ban Ki-moon und bündelt Expertise aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Privatwirt-schaft, um weltweit nachhaltige Entwicklung mit innovativen und praktischen Strategien vor-anzutreiben. Geschäftsführender Direktor des deutschen Zweigs ist der frühere Abteilungsleiter im Bundesentwicklungsmi-nisterium, Adolf Kloke-Lesch.

EUROSOLAR Neuer Geschäftsführer der Euro-päischen Vereinigung für Erneu-erbare Energien EUROSOLAR ist seit Januar Tobias Jaletzky. Er folgt auf Irm Scheer-Pontenagel, die seit dem Tod ihres Mannes und EUROSOLAR-Gründers Hermann Scheer im Jahr 2010 die Organi-sation geleitet hatte. Der Verein setzt sich dafür ein, atomare und fossile Energie durch erneuerbare Energie zu ersetzen. Der jährliche Europäische Solarpreis geht an Initiativen, die sich für dieses Ziel einsetzen.

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60 Service FILMKRITIK | REZENSIONEN

fILMKRITIK

Ein Konzert für die freiheitNach dem Atomvertrag von Wien ist der Iran auf die Weltbühne zurückgekehrt. Wie das Regime noch im-mer die Menschenrechte beschränkt und wie repressiv es vor allem gegen frauen vorgeht, zeigt der iranische filmemacher Ayat Najafi in seinem Dokumentarfilm

„No Land’s Song“.

Bereits in seiner ersten langen Dokumentation „Football Under Cover“ hat sich der 1976 in Teheran geborene Theater- und Filmregisseur nachdrücklich für die unterdrückten Frauen in seinem Heimat-land eingesetzt. Damals hielt er das erste öffentliche Frauenfußballspiel in einem iranischen Stadion seit der sogenannten Islamischen Revolution von 1979 fest. In seinem neuen Werk begleitet er nun seine Schwester Sara über zweieinhalb Jahre bei ihren An-strengungen, in Teheran ein Konzert mit Solo-Sän-gerinnen auf die Beine zu stellen. Seit 1979 ist es Frauen im Iran verboten, öffentlich Solo zu singen, zumindest vor männlichen Zuhörern. Denn die weibliche Stimme könnte die Männer ja sexuell er-regen.

Sara, die erste Frau, die im Iran ein Diplom in Komposition erhielt, findet sich mit dem Verbot nicht ab. Sie tut sich mit den Sängerinnen Parvin Na-mazi und Sayeh Sodeyfi zusammen und spricht beim zuständigen Ministerium für Kultur und isla-mische Führung vor. Doch bei den heimlich aufge-zeichneten Gesprächen, die im Film über schwarzen Bildern zu hören sind, handelt sie sich nur Absagen ein. Die gewiefte Musikerin findet einen Ausweg, in-dem sie die französischen Sängerinnen Elise Caron und Jeanne Cherhal sowie deren tunesische Kollegin Emel Mathlouthi für einen kulturellen Brücken-schlag zwischen Paris und Teheran gewinnt. Viele Hindernisse und Rückschläge gilt es zu überwinden, bis die Aktivistinnen die bürokratischen und ideolo-gischen Widerstände überwunden haben und mit Instrumentalisten aus beiden Ländern am 19. Sep-

tember 2013 endlich in Teheran auftreten dürfen – unter großem Beifall.

„Wir wollen die weibliche Stimme wieder bele-ben“, verkündet Sara Najafi gleich zu Beginn des Films auf der Bühne, so dass die Zuschauer von An-fang an wissen, dass der Kampf siegreich ausgeht. Gleichwohl wird der Film nie langweilig, dafür sorgt schon die schier unerschöpfliche Energie der leiden-schaftlichen Protagonistin. Und die vielen kraftvoll vorgetragenen Lieder und Melodien, die iranische Künstler zwischen den zwanziger Jahren und der Ge-genwart komponiert haben.

Die Regie protokolliert nicht nur die Stationen des langwierigen Kulturprojekts, sondern macht auch die Hintergründe der Zensur im Iran anschau-lich, schildert das Engagement der Sängerinnen und Musiker, für die das öffentliche Vortragen ihrer Kunst eine Art Lebenselixier darstellt.

In gelegentlichen Exkursen erläutert Najafi, der heute in Berlin lebt, die Geschichte der iranischen Musik vor 1979. Alte Schwarzweiß-Filmsequenzen und Fotos lassen die legendären Auftritte der Sänge-rinnen Qamar, die 1924 mit einem öffentlichen Kon-zert in einem Teheraner Hotel Pionierarbeit leistete, und Delkash, die 1960 sogar vom Alkoholtrinken und der Lust sang, Revue passieren. Die Kamera be-gleitet Sara zeitweise zu den Schauplätzen der dama-ligen Konzerte, die heute als Kabellager dienen oder völlig verfallen sind.

Insgesamt ein packender Film über die Macht der Musik, der Mut macht, die Stimme zu erheben, auch wenn das verboten ist. Auf seiner langen Festi-valtournee hat das Werk etliche Preise gewonnen, darunter den Publikumspreis und den Preis für den besten Dokumentarfilm auf dem Montréal World Film Festival, den Preis der Jugendjury auf dem Dok Leipzig und den Nestor Almendros Preis auf dem Human Rights Watch Film Festival in New York.

Reinhard Kleber

REZENSIONEN

Krieg als NormalzustandAtef Abu Saif hat ein bedrückendes Tagebuch über den Gaza-Krieg im vergangenen Jahr geschrieben. Dabei nimmt er konsequent die Perspektive der zivilen Opfer ein und verzichtet auf Schuldzuweisungen. Zumindest fast.

„Papa, wann kommt der nächste Krieg?“, wird Atef Abu Saif von seinem Sohn Mustafa gefragt. Der Kna-be ist elf Jahre alt, als der 51 Tage dauernde Angriff Israels auf Gaza im Sommer 2014 endet. Es ist der

dritte Krieg, den Mustafa erlebt hat. „Nun bereitet er sich auf den vierten vor“, schreibt Abu Saif am Ende seines Buches. Auf den 240 Seiten davor hat uns der palästinensische Schriftsteller eindrucksvoll eine Ahnung davon vermittelt, was es heißt, mit Frau und fünf Kindern in einer dicht besiedelten Stadt zu le-ben, die sieben Wochen lang von einer übermächti-gen Militärmaschine aus der Luft, von Land und von See aus mit Raketen, Bomben und Granaten be-schossen wird.

No Land‘s SongFrankreich/deutschland/Iran 201492 MinutenRegie: Ayat NajafiKinostart: 10. März

Atef Abu SaifFrühstück mit der Drohnetagebuch aus gazaunionsverlag, Zürich 2015, 252 Seiten, 19,95 Euro

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REZENSIONEN Service

Wege der RadikalisierungDer jordanische Politikwissenschaftler Mohammed Abu Rumman hat mit Salafisten gesprochen, um her-auszufinden, was junge Menschen in der arabischen Welt in die Hände der Radikalen treibt. Das ist ihm nicht ganz gelungen.

Salafismus ist zwar in aller Munde, doch darüber, wie sich Salafisten selber sehen, ist wenig bekannt.

Der Islamismus-Experte Mohammed Abu Rum-man vom Center for Strategic Studies der Universität von Jordanien in Amman hat für die Friedrich-Ebert-Stiftung den Versuch unternommen, anhand der wachsenden salafistischen Szene in Jordanien sala-fistische Gemeinschaften von innen zu beschreiben. Sie existieren in Jordanien vor allem in den armen östlichen Stadtteilen der Hauptstadt und in der an-grenzenden Provinz Zarqa. War das Phänomen zu-nächst vor allem unter palästinensischen Jordaniern verbreitet, gehören heute immer mehr „ursprüngli-che“ Jordanier zur Bewegung dazu.

Es war schwierig für Abu Rumman, überhaupt Gesprächspartner zu finden, die zu den Interviews bereit waren. Immerhin 33 Salafisten konnte er aus-führlich befragen, warum und wie sie sich der Bewe-gung angeschlossen haben. Aus den Antworten liest er Grundzüge eines „salafistischen Charakters“ her-aus. Dazu benutzt er das Werkzeug der Identitätsso-ziologie, indem er das Phänomen Salafismus als eine Selbst- und Identitätssuche inmitten von Krisen und ungelösten Fragen deutet, vor denen arabische Ge-sellschaften stehen.

Salafismus interpretiert Abu Rumman so als Verteidigung einer schwachen Identität gegen die

Herausforderungen der Moderne und den Druck ei-ner globalisierten Kultur, die in traditionellen Gesell-schaften starke Verunsicherung hervorruft.

Mit Hilfe einer Vielzahl von Namen und Details vermittelt er einen guten, manchmal etwas trocken zu lesenden Überblick über die breite Palette salafis-tischer Strömungen, die alles andere als homogen sind. Drei Hauptströmungen macht der Politikwis-senschaftler innerhalb des Salafismus aus, die aller-dings nicht scharf voneinander abgegrenzt sind: Traditionalisten, die jede politische Mitwirkung ab-lehnen; Dschihadisten, die die säkularen arabischen Regime als „gottlos“ ablehnen und bekämpfen; und Aktionisten, die zwischen den beiden ersten Lagern schwanken und in ihren Positionen oft am schwie-rigsten zu bestimmen sind. Die Übergänge sind häufig fließend. Neben beliebten Scheichs als Füh-rungsfiguren spielen dabei auch das Internet und religiöse Fernsehsender eine wichtige Rolle. Die Be-wegung ist ständig im Fluss, Allianzen entstehen und zerbrechen schnell. In vielen Einzelfragen sind sich Salafisten uneins, zum Beispiel ob man christli-che Freunde haben darf, ob Schachspiel oder Fuß-ball zulässig sind oder wie es sich mit den Körper-strafen verhält.

Die Porträts überzeugen jedoch nicht immer. Abu Rumman beschreibt zwar die einzelnen Statio-nen im Werdegang seiner Gesprächspartner minuti-ös, trotzdem bleibt der Mensch oft wenig greifbar. Die entscheidenden Bruchlinien im Leben werden nicht sichtbar. Die Frage, warum ein junger Mensch zum Salafisten wird, kann Abu Rumann im Einzelfall nicht überzeugend beantworten. Claudia Mende

Solche Geschichten gab es bestimmt auch aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny oder gäbe es aktuell auch aus Aleppo zu erzählen. Das Beson-dere an Gaza ist, dass die Leute vor dem Beschuss nicht fliehen können: Sie sitzen buchstäblich in der Falle. Atef Abu Saif schildert die 51 Kriegstage aus Sicht der palästinensischen Zivilbevölkerung als per-manenten Ausnahmezustand. Fast täglich sterben bekannte oder verwandte Männer, Frauen und Kin-der, jeder fragt sich, ob sein Haus als nächstes getrof-fen und dem Erdboden gleichgemacht wird. Mit der Zeit wird der Krieg allerdings mehr und mehr zum Normalzustand: Man arrangiert sich, beschäftigt ir-gendwie die Kinder, solange die nicht auf die Straße dürfen, verlegt das Schlafzimmer ins Treppenhaus, weil das der sicherste Ort im Haus ist, und trifft sich abends mit Freunden, um darüber zu diskutieren, wie lange die neue Feuerpause wohl dauern wird.

Dann aber folgt der Horror: Während eines israe-lischen Luftangriffs hetzen wir mit Abu Saif durch die Straßen des Flüchtlingslagers Jabalia in Gaza und spüren geradezu, wie beim Einschlag der Rakete und der folgenden Explosion der Boden bebt. In nüchter-

ner Sprache schildert Abu Saif, wie er nach dem An-griff mit anderen Helfern Teile der zerfetzten Lei-chen einsammelt, sie auf Laken bettet und in Autos packt, die sie ins Krankenhaus bringen.

Atef Abu Saids Buch handelt vom Krieg, aber nicht vom Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Wer welche Schuld an der Eskalation im Sommer 2014 trägt, spielt bei ihm keine Rolle. Das Buch handelt nicht von politischen Hintergründen und militärischen Strategien, es geht nicht um Kämpfer, sondern allein um die Opfer in Gaza.

Nur an einigen wenigen Stellen macht sich Abu Saif Gedanken über die israelischen Soldaten in den vorrückenden Panzern oder F-16-Kampfjets. Sie er-scheinen ihm als im besten Falle gedankenlose, im schlimmsten Fall sadistische Roboter, die ohne mit der Wimper zu zucken töten, was sich ihnen in den Weg stellt. Das ist aus seiner Sicht gut nachvollzieh-bar. Beim Leser aber verursacht das einen schalen Nachgeschmack, denn es fehlt etwas: Die in Gaza herrschende Hamas, die diesen Krieg wenn nicht an-gezettelt, so doch wie ein Lebenselixier gebraucht hat, kommt in dem Buch nicht vor. Tillmann Elliesen

Mohammed Abu RumannIch bin SalafistSelbstbild und Identität radikaler Muslime im Nahen ostendietz Verlag, Bonn 2015240 Seiten, 19,90 Euro

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Service REZENSIONEN

Wirtschaftskritik als PassionsgeschichteMit Hilfe der Kreuzwegmetapher schildern die Auto-ren, wie eine auf Wachstum und Konsum ausgerichte-te Wirtschaft Not und Hunger verursacht. Und setzen ihre Hoffnungen auf den nachhaltigen Konsum.

Das Buch bedient sich der Leidens- und Kreuzweg-metapher, um die wirtschaftliche Ungerechtigkeit der Welt aufzuzeigen. „Viele der Betroffenen sind von Geburt an zum Hunger verurteilt, ihr Leben lang beschreiten sie die vielen Stationen eines tägli-chen Leidensweges und jeden Tag verhungern sie ein Stückchen, um schließlich einen vorzeitigen Tod zu sterben“. So beginnt das erste Kapitel des Buches oder, wie es heißt, die Erste Station auf dem Leidens-weg.

Mit dem Thema Hunger hat sich der Innsbrucker Professor Josef Nussbaumer schon in mehreren Bü-chern befasst. Dabei widmet er sich nicht den gro-ßen Hungerkatastrophen der Geschichte, sondern vielmehr dem alltäglichen Hunger heute und dessen Ursachen. „Für die Produktion von 50 Litern (eine Tankfüllung) Bioethanol benötigt man 232 Kilo-gramm Mais. Davon könnte ein Kind in Sambia oder Mexiko ein Jahr lang leben“.

Die Autoren überdehnen die christliche Meta-phorik dabei nicht. Statt auf der klassischen Via Do-lorosa bewegen sie sich auf einem selbst entworfe-nen Weg, der schließlich ins Schlusskapitel „Hoff-nung“ mündet. Das ist auch notwendig, denn in den Stationen, die von der Produktion und dem Konsum

Josef NussbaumerLeidenswege der ÖkonomieStudia universitätsverlag, Innsbruck 2015, 272 Seiten, 19,90 Euro

Samar yazbekDie gestohlene RevolutionReise in mein zerstörtes SyrienNagel & Kimche, München 2015, 286 Seiten, 19,90 Euro

Die Allgegenwart des Todes in SyrienWer wirklich verstehen will, was in Syrien geschieht, sollte dieses Buch lesen. Samar Yazbek berichtet darin eindringlich vom Krieg – vor allem darüber, was er im Inneren der Gesellschaft anrichtet.

Konferenzen und politische Verhandlungen, Luftan-schläge und belagerte Städte: Damit sind Berichte über Syrien derzeit untrennbar verknüpft. In Samar Yazbeks Buch geht es um Menschen in dem Kriegs-land. Die Autorin befasst sich mit den Schicksalen derer, die in Syrien leben, und mit der Allgegenwart des Todes in einem Land, das in Gewalt versinkt.

Die Lektüre wirkt ähnlich wie Kriegsfotografie: Sie führt so dicht an den Konflikt heran, dass es sich manchmal fast voyeuristisch anfühlt; als sei man versehentlich zu nah an etwas derart Privates wie das Sterben anderer Menschen herangerückt. Die Autorin beschreibt Leichen auf der Ladefläche eines Lasters, unter ihnen ein Junge, dessen „honigfarbe-nes Haar blutgetränkt“ ist, ebenso wie staubige Kel-lerräume, die unter der Wucht von Fassbomben und Granaten erzittern. Doch sie sieht sich nicht als Kri-senreporterin, sondern als Schicksalsverbündete.

Samar Yazbeck stammt selbst aus Syrien. Als dort 2011 die Revolution begann, protokollierte die Jour-nalistin die Proteste. Sie befragte Demonstranten, aus der Haft entlassene Rebellen, Polizisten und Sol-daten. Wenig später wurde sie selbst verfolgt und floh ins Ausland. Seitdem ist sie mehrmals unter fal-schem Namen in ihre Heimat zurückgekehrt. Wie sie selbst erklärt, will sie über die Toten der syrischen Revolution berichten und zeigen, dass die Welt ihr Land im Stich gelassen hat.

Dabei geht es in dem Buch vor allem um die Le-benden, die sie dort getroffen hat. Darunter sind Frauen, deren Männer im Kampf gegen das Regime Baschar al-Assads gestorben sind, aber auch Dschi-hadisten sowie Freunde, mit denen sie früher ge-

meinsam gegen das politische System protestierte. Für ihre Aufzeichnungen hat sie gefährliche Wege auf sich genommen, etwa in die Stadt Maarat al-Nu-man, in der Rebellen und Regierungstruppen heftige Gefechte austrugen.

Das Buch liest sich wie ein sprachlich ausgefeil-ter Tagebucheintrag über eine grauenhafte Reise. Denn die Autorin schreibt auch über das eigene Ent-setzen hinsichtlich ihrer zerfallenden Heimat. Das ist genauso ansteckend wie die Wut, die sie über Plünderungen, Missbrauch und Morden seitens des Militärs empfindet. Hinzu kommt, dass die Autorin selbst Alawitin ist, also derselben Religionsgruppe angehört wie Assad. Für die Rebellengruppen ist das ein Grund, sie zu hassen. Yazbek verzweifelt mehr als einmal daran, dass sie ihre Identität verheimlichen muss. „Ich bin keine Alawitin, und Du bist kein Sun-nit. Ich bin Syrerin und Du bist Syrer“, versucht sie einmal, einem Kämpfer zu erklären – und stößt da-mit nur auf Unverständnis und noch mehr Hass.

Auch dafür lohnt es sich, das Buch zu lesen. Es macht auf erschreckende Weise klar, wie vertrackt die gesellschaftlichen Geflechte sind. Nichts ist mehr eindeutig, schreibt Yazbek: Bataillone kämpfen ge-gen Bataillone, die Revolution wurde durch das Mili-tär vernichtet; religiöse Extremisten verbreiten bes-tialischen Schrecken, Kinder tragen Waffen. Und sie alle unterlägen der „absoluten Herrschaft eines töd-lichen Himmels“, von dem es Bomben regnet.

Das Schicksal der Menschen sei der beste Beweis für den moralischen Verfall der Menschheit, hält sie am Ende des Buches fest. Nicht nur der IS, sondern auch Assad und das lange Stillhalten der internatio-nalen Staatengemeinschaft trügen Schuld an der Ge-walt in Syrien, hätten sie doch den Nährboden für religiösen Extremismus geschaffen. Es ist traurig, dass sie damit wahrscheinlich Recht hat.

Hanna Pütz

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REZENSIONEN Service

Informiert protestierenDer Widerstand gegen das transatlantische freihan-delsabkommen TTIP ist groß. Zwei neue Bücher analy-sieren Ängste und Versprechen – und liefern den Geg-nern wichtige Argumente.

Petra Pinzler hat das weitergehende Buch geschrie-ben. Die Wirtschaftsjournalistin stellt – aufgehängt an den aktuellen Diskussionen über TTIP, den Frei-handelsvertrag mit Kanada CETA und das Dienstleis-tungsabkommen TISA – das globale Handelssystem insgesamt auf den Prüfstand. Weitgehend unbe-merkt von der Öffentlichkeit sei ein internationales „Schattenregime“ entstanden; Handelspolitiker und Lobbyisten hätten ihre eigenen Regeln geschaffen, die vor allem multinationalen Konzernen und der

„Zerstörung der Natur und des Menschen“ dienten, diagnostiziert sie.

Mit Verschwörungstheorien wartet die ZEIT-Re-dakteurin aber nicht auf. Im Gegenteil: Nüchtern und verständlich geht sie den Bedenken auf den Grund, das Abkommen werde Sozial- und Umwelt-standards senken und ärmeren Ländern Nachteile auf dem internationalen Markt verschaffen. Pinzler belegt mit vielen Beispielen, wie berechtigt diese Ängste sind – beim Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft etwa oder Substanzen in Kosmetika, die in Europa verboten, aber in den USA erlaubt sind. Oder im Blick auf die Rechte von Arbeitnehmern, die in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jah-ren deutlich abgebaut worden sind.

Weitere Kapitel widmet sie den besonders um-strittenen privaten Schiedsgerichtsverfahren, bei denen Firmen Staaten verklagen können, wenn sie durch deren Gesetze die Rentabilität ihrer Investitio-nen in Gefahr sehen. Sie beschreibt, wie die Verfah-ren zu einem milliardenschweren Markt für An-waltskanzleien und Konzerne geworden sind. Und sie erklärt, wie die Privatwirtschaft mit Hilfe solcher

Gerichte Gesetze bereits im Vorfeld zu verhindern sucht. Die Schiedsgerichte stehen zwar bei TTIP zur Diskussion, sind im CETA-Abkommen jedoch bereits festgeschrieben.

Der britische Politikwissenschaftler Gabriel Siles-Brügge und sein Genfer Kollege Ferdi de Ville be-schränken sich in ihrem Buch auf die Auseinander-setzung mit TTIP. Auch sie nehmen Argumente von Gegnern und Befürwortern unter die Lupe und kom-men zu dem Schluss, dass sowohl die damit ver-knüpften Ängste als auch die Versprechen derzeit übertrieben werden. Ihr Ziel ist es, die Debatte zu versachlichen – und ihr vor allem in den USA eine größere Öffentlichkeit zu verschaffen. Denn im Ge-gensatz zu Europa sehen sie jenseits des Atlantiks noch zu wenig „politische Reife“ in den Diskussio-nen.

Petra Pinzler, Gabriel Siles-Brügge und Ferdi de Ville würdigen den Widerstand gegen TTIP und be-scheinigen ihm eine große Kraft für Veränderungen: Bürgerinnen und Bürger wehren sich gegen Geheim-verhandlungen, sie fordern Beteiligung und mehr demokratische Kontrolle. Darüber hinaus würdigen die Autoren die bereits erzielten Erfolge. Sie teilen aber auch die Skepsis, dass sich das Abkommen tat-sächlich noch stoppen lässt beziehungsweise dass es gelingt, höhere Umwelt- und Sozialstandards darin festzuschreiben, die weltweit Schule machen könn-ten.

Pinzlers Buch ist leichter zugänglich, sie schreibt anschaulich und lässt die Leserinnen und Leser an vielen ihrer Gespräche mit Vertretern von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft direkt teilhaben. Siles-Brügge und de Ville kommen wissenschaftlicher und theoretischer daher. Doch beiden Büchern ist eine breite Aufmerksamkeit zu wünschen, diesseits und jenseits des Atlantik, in der Zivilgesellschaft und in der Politik. Gesine Kauffmann

Petra PinzlerDer Unfreihandeldie heimliche Herrschaft von Konzer-nen und KanzleienRowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015, 288 Seiten, 12,99 Euro

Ferdi de Ville, gabriel Siles-BrüggeTTIPthe truth about the transatlantic trade and Investment PartnershipPolity-Verlag, cambridge 2015, 160 Seiten, ca. 17,50 Euro

von Nahrungsmitteln über die Ressourcen bis zu den Themen Verteilung, Müll und Klima reichen, kann man schon an der Welt verzweifeln.

Sie tischen dabei keinesfalls neue Tatsachen auf, sondern vielmehr Fakten, die allgemein bekannt sind oder bekannt sein könnten. Zusammengefasst und ergänzt werden sie durch im Telegrammstil ver-fasste Splitter namens „Einfach zum Nachdenken“. Da heißt es etwa zum Thema Beifang im Kapitel

„Meer“: „Meeresschildkröten, Haie oder Delfine ver-enden qualvoll in den Netzen. Insgesamt gibt es Jahr für Jahr 38 Millionen Tonnen Beifang, das entspricht 40 Prozent des weltweiten Fischfangs“. Oder zur Ent-waldung: „Durch die Zerstörung der Wälder verliert die Weltwirtschaft zwei bis fünf Billionen Dollar pro Jahr“.

Die erschreckenden Zahlen, die auch mit Quel-lenhinweisen belegt werden, zeigen, dass ein solches

Verhalten auch der ökonomischen Vernunft wider-spricht. Auf moralisierende Belehrung verzichten die Autoren, denn die Botschaft kommt auch so an. Wenn wir so weiter wirtschaften, wie bisher, schau-feln wir unser eigenes Grab. Oder, wie der im Vor-spann zitierte Papst Franziskus es knackig ausdrückt:

„Diese Wirtschaft tötet“.Die gute Nachricht: Die Erde ist imstande, die

Menschheit weiterhin zu ernähren, auch wenn die –den Prognosen entsprechend – weiter wächst. Von einem Konsum, der nach dem Motto „mein Auto, mein Haus, mein Boot“ auf den althergebrachten So-zialstatus setzt, werden wir uns aber verabschieden müssen. Initiativen für nachhaltigen Konsum und ein Wandel bei den gängigen Statussymbolen lassen die Autoren hoffen, dass die Konsequenzen aus den aufgelisteten Bedrohungen schließlich doch irgend-wann gezogen werden. Ralf Leonhard

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Service REZENSIONEN

Impressum www.welt-sichten.org

Redaktion: Bernd Ludermann (bl, verantw.), Tillmann Elliesen (ell), Barbara Erbe (erb), Gesine Kauffmann (gka), Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online)

Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main; Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162, E-Mail: [email protected]

Ständig Mitarbeitende: Kathrin Ammann (kam), Bern; Katja Dorothea Buck (kb), Tübingen; Heimo Claasen (hc), Brüssel; Ralf Leonhard (rld), Wien; Claudia Mende (cm), München; Theodora Peter (tp), Bern; Rebecca Vermot (ver), Bern; Marina Zapf (maz), Berlin

Ansprechpartner in Österreich: Gottfried Mernyi, Kindernot hilfe Österreich, 1010 Wien, Dorotheergasse 18

Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP), Klaus Seitz (Vorsitzender), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin

Mitglieder im VfEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt – Evangelischer Entwick-lungsdienst (Berlin), Christoffel-Blindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern), Kindernothilfe (Duisburg), Misereor (Aachen)

Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt/Engagement Global gGmbH.

Anzeigenleitung: Yvonne Christoph, m-public Medien Services GmbH, Zimmerstraße 90, 10117 Berlin, Telefon: 030-325321-433, www.m-public.de

Grafische Gestaltung: Angelika Fritsch, Silke Jarick

Druck: Strube Druck&Medien OHG, Stimmerswiesen 3, 34587 Felsberg

Verlegerischer Dienstleister: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH, Frankfurt am Main

Preis der Einzel-Nr.: 5,50 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten Preis im Jahresabonnement: 49,20 Euro, ermäßigt 36,90 Euro. Preisänderungen vorbehalten.

ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“ und „eins Entwicklungspolitik“.

ISSN 1865-7966 „welt-sichten“

Schwarzer Humor aus dem IranMojgan Ataollahis Roman bricht mit dem Klischee der leidenden, aber kämpfenden frau und inszeniert statt-dessen auch mal das groteske Scheitern.

Es könnte eine Geschichte aus irgendeinem Land der Erde sein: Eine Frau wird von ihrem Ehemann miss-handelt, trennt sich von ihm, das Scheidungsverfah-ren zermürbt sie, Beziehungen mit anderen Män-nern scheitern. Sie wird depressiv, will aus dem Leben scheiden. Aber dieser Roman bietet dank Mojgan Ataollahis Schreibkunst weit mehr als das. Und ist da-bei keineswegs langweilig oder vorhersehbar.

Allerdings ist es nicht die Handlung, die über-rascht – sie nimmt tatsächlich keine wirklich uner-warteten Wendungen. Dass die Hauptfigur des auto-biografisch gefärbten Werkes ihre Suizidabsicht schließlich nicht in die Tat umsetzen wird, weiß man von vornherein. Doch fesselt Mojgan Ataollahi, die im Iran bislang lediglich einen Lyrikband veröffentlichen durfte, mit dieser weltweiten Erstpublikation gerade dadurch, dass sie das Klischee der leidenden, aber kämpfenden, der unterdrückten, aber zur Selbstbe-stimmung findenden Frau immer wieder bricht.

Denn mit der Selbstbestimmung tut sich die Pro-tagonistin schwer. Sie heißt wie die 1981 geborene Autorin Mojgan und ist ebenso alt. Sie trägt ein Kopf-tuch, das jedoch immer wieder herunterrutscht, vor allem in unpassenden Momenten. Groteskes Schei-tern begleitet sie, beginnend schon auf den ersten Buchseiten: Im Haus ihrer Eltern in Teheran, in das sie nach der Flucht vor ihrem Mann zurückgekehrt ist, will Mojgan sich das Leben nehmen. Sie sucht nach einer selbstbestimmten Todesart, die sanft und schmerzlos sein soll. Sie probiert es mit einer „Reista-blette“, einem zyanidhaltigen Schädlingsbekämp-fungsmittel zum Schutz von Reisvorräten. Das ver-meintliche Gift erweist sich jedoch als Grippemittel.

Mojgan beschafft sich erneut eine Reistablette, diesmal eine echte, und beschließt: „Zumindest in der Todesstunde sollte man von Störenfrieden be-freit sein.“ Sie zieht sich daher in ein Haus in einer Küstenstadt zurück. Es ist eine Bruchbude, überall liegen tote Kakerlaken, die ihre Beine in die Luft stre-cken; viele andere der Tierchen sind noch lebendig. Mit Insektenspray kämpft Mojgan gegen die Kakerla-ken. Gegen menschliche Schädlinge stellt sie jeden Abend ein Paar Männerschuhe in den Hof, um den Eindruck zu erwecken, es sei ein Mann in der Woh-nung. Doch dem leichten Tod in absoluter Einsamkeit stehen nicht nur die Schaben in ihrer Behausung und potenzielle Eindringlinge von außen entgegen, son-dern auch ihre eigenen Gedanken. Es sind die „ab-scheulichen Erinnerungen und unmenschlichen Er-fahrungen“ ihres Lebens, die nun vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen.

Diese Erinnerungen zeigen Mojgan als eine Per-son, die keineswegs immer alles passiv über sich er-gehen ließ. Als Kind zum Beispiel hatte sie schwache Hände, aber auch den großen Wunsch, einem älteren Nachbarjungen, der sie immer wieder mit dem Mo-ped verfolgte, einen Fausthieb zu versetzen. Sie stähl-te sich, indem sie jeden Tag mit einem Lineal auf ihre Handflächen und Handrücken schlug. Ihre Familie glaubte, es handele sich um einen Fall von Masochis-mus. Aber irgendwann war sie soweit, dass sie gegen eine Wand hauen und sie eindellen konnte. Und dann erwischte sie den Nachbarjungen, ihre Faust landete auf seinem Auge.

Trotz solcher Wehrhaftigkeit wird sie immer wie-der Opfer von Übergriffen und Gewalt. Selbst sehr brutale Szenen sind dabei nicht ohne Situationsko-mik. Denn die Autorin schildert sie mit dem ihr eige-nen schwarzen Humor jenseits der Klischees, der den Roman lesenswert macht. Anja Ruf

Mojgan AtaollahiEin leichter TodResidenz-Verlag, Salzburg 2015, 182 Seiten, 17,90 Euro

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TERMINE Service

TERMINE – VERANSTALTUNGEN

Bundesweit10. bis 23. März 2016Internationale Wochen gegen RassismusStiftung für die Internationalen Wochen gegen RassismusKontakt: Tel. 06151-3399-71www.internationale-wochen-gegen-rassismus.de

Bonn14. bis 16. April 2016WeltWeitWissen Kongress – Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung Eine-Welt-Landesnetzwerke Kontakt: Tel. 0251-28-4669-0www.weltweitwissen2016.de

Bensheim14. bis 15. April 2016Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit Christoffel-Blindenmission (CBM) Kontakt: Tel. 06251-131-131www.cbm.de

Hofgeismar8. bis 10. April 2016Im Zeichen der Menschenrechte. Die flüchtlinge und wirEvangelische Akade-mie HofgeismarKontakt: Tel. 05671-881-200www.akademie-hofgeismar.de

Kochel am See8. bis 10. April 2016Was wird aus TTIP? – Mecha-nismen und Verhandlungslogik hinter dem freihandelsabkommen

18. bis 22. April 2016Schwellenländer auf dem Vormarsch: Weltordnung im Umbruch?Georg-von-Vollmar-Akademie Kontakt: Tel. 08851-780www.vollmar-akademie.de

Königswinter17. bis 19. April 2016Letzter Ausweg LampedusaUnbegleitete minderjährige Flüchtlinge in DeutschlandStiftung Christlich-Soziale Politik e.V. Kontakt: Tel. 02223-73-123www.azk-csp.de

Lutherstadt Wittenberg11. bis 13. März 2016freiheit, Gleichheit, Mensch-lichkeitGeschlechtergerechtigkeit in der Einen WeltEvangelische Akademie Sachsen-Anhalt Kontakt: Tel. 03491-49-88-0www.ev-akademie-wittenberg.de

Rehburg-Loccum15. bis 17. April 2016Im staatlichen Auftrag oder in politischer Selbstständigkeit?Zivilgesellschaftliche Akteure der Konfliktbearbeitung im In- und AuslandEvangelische Akademie LoccumKontakt: Tel. 057-66-81-0www.loccum.de

Schwerte14. bis 15. April 2016Humanitäre Hilfe als gesellschaft-liche Aufgabe?Evangelische Akademie VilligstKontakt: Tel. 02304-755-324www.kircheundgesellschaft.de

Stuttgart31. März bis 3. April 2016Messe für fair Trade und global verantwortungsvolles HandelnStiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit Baden-Württemberg (SEZ)Kontakt: Tel. 0711-185-60-0www.messe-stuttgart.de

Stuttgart2. April 2016Entwicklungspolitische Landes-konferenz 2016Die Agenda 2030 für nachhaltige EntwicklungEvangelische Akademie Bad BollKontakt: Tel. 07164-79-0www.ev-akademie-boll.de

Weingarten10. bis 15. April 2016 13. Weingartener Woche zum Ein-wanderungs- und flüchtlingsrechtTagung für Studierende der Rechtswissenschaften Akademie der Diözese Rottenburg-StuttgartKontakt: Tel. 0711-1640-600www.akademie-rs.de

Eine südafrikanische Biografie

Father Michael Lapsley verlor als Kämpfer gegen die Apartheid bei einem Briefbombenattentat beide Hände und eines seiner Augen. In seiner Autobiografie erzählt er von diesem entsetzlichen Ereignis – und davon, wie er seine eigene traumatische Erfahrung umgelenkt hat und sie nun, als Leiter des Institute for Healing of Memories, für die Heilung anderer Traumatisierter auf der ganzen Welt nutzt.

Stimmen:

Das ist eines der bewegendsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.Rupert Neudeck

Michaels Leben ist eine faszinierende Metapher… Nelson Mandela

Michael Lapsley

Mit den Narben der Apartheid Vom Kampf für die Freiheit zum Heilen traumatischer Erinnerungen

mit Stephen Karakashian Vorwort von Desmond TutuÜbersetzt von Hélène und Dieter Rybol

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2014. 270 Seiten. Kart. 19,90 € (D), 20,50 € (A)ISBN 978-3-8474-0171-1eISBN 978-3-8474-0443-9

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3-2016 |

TERMINE – KULTURTIPPS

facetten der Schönheit

Das Museum für Völkerkunde Hamburg widmet sich in seiner Ausstellung unterschiedlichen

Schönheitsidealen Afrikas. Sie il-lustrieren, dass sich die europäi-schen Vorstellungen von „typisch

afrikanischem“ Aussehen teils stark von der Wirklichkeit unter-scheiden.

Obwohl Afrika längst Teil der internationalen Modeindustrie ist, halten sich dort auch noch traditi-onelle Schönheitsideale. Sie zei-gen sich in der Bemalung des Kör-pers oder in bestimmten Frisuren, die sich teilweise wiederum in westlichen Ländern durchgesetzt haben. Schmucknarben oder Tat-toos und sogar das Spitzfeilen der Vorderzähne werden in einigen Subkulturen bereits kopiert.

Die Ausstellung beleuchtet auch vergangene afrikanische Schönheitsideale. So präsentiert sie Masken und Skulpturen, die bis zu 500 Jahre alt sind. Beispiele aus der Modewelt zeugen davon, welchen Einfluss afrikanische

Schönheitsideale weltweit haben. Eine Wand aus Titelblättern euro-päischer Modemagazine zeigt die wachsende Anzahl afrikanischer Models; auf Monitoren laufen Mo-denschauen, und auch die erste Barbie-Puppe Afrikas ist zu sehen. Die Ausstellungsstücke stammen zum großen Teil aus der Samm-lung des Museums und wurden durch Objekte afrikanischer Part-ner – zum Beispiel des Mode-schöpfers Diouma Dieng Diakha-te aus dem Senegal – ergänzt.

Hamburgbis 6. November 2016Africa’s Top ModelsSchönheitsideale – Ideale SchönheitKontakt: tel. 040-428-879-0www.voelkerkundemuseum.com

Berlinbis 30.04.2016Ein Gott – Abrahams Erben am NilJuden, Christen und Muslime in Ägypten von der Antike bis zum MittelalterDer titelgebende Abraham gilt als wichtiges Bindeglied zwischen Judentum, Christentum und Islam. In Ägypten teilen sich diese großen Religionen eine lange gemeinsame Geschichte. Die Aus-stellung will das religiöse Leben von der Römerzeit bis zum Ende der Fatimiden-Herrschaft im 12. Jahrhundert beleuchten. Während dieser Zeit lebten die drei Weltreli-gionen dort friedlich miteinander. Rund 150 Ausstellungsobjekten sollen dem Besucher vermitteln, wie der Alltag in Ägypten aussah. Zu sehen sind zum Beispiel die Überreste der jeweiligen heiligen Schriften, die alle in Ägypten gefunden wurden. Ebenso wird die Baugeschichte von Synagogen, Kirchen und Moscheen erörtert. Fotografien aus der jüngeren Zeit ergänzen die Ausstellung. Bode-MuseumKontakt: tel. 030-266-4242-42www.smb.museum.de

Karlsruhe5. März bis 4. September 2016New Sensorium – Exciting from failures of ModernizationDie Ausstellung präsentiert Werke asiatischer Künstler, die sich mit Globalisierung und digitalen Technologien befassen. Sie wollen zeigen, wie das digi-tale und das tatsächliche Leben miteinander verbunden sind. Viele der Künstler sind mit neuen Technologien aufgewachsen und haben gleichzeitig die ideolo-gischen und wirtschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte in Asien mitbekom-men. Gleichzeitig existieren noch viele alte Traditionen. Die Werke von rund 15 Künstlern dieser Generation sind in Karlsruhe zu sehen. Dazu gehören Videoin-stallationen, Skulpturen und Zeichnungen. Die Ausstellung beleuchtet die Zukunft der neuen Medien, will aber auch die Beziehung zwischen ihnen und der greifbaren Welt hinterfragen. Zentrum für Kunst und MedientechnologieKontakt: tel. 0721-8100-0www.zkm.de

Kasselbis 1. Mai 2016ImagesMit der Frage, wie Bilder wahrge-nommen werden und welchen Einfluss die Bilderflut im Internet auf die menschliche Wahrneh-mung hat, beschäftigt sich die Ausstellung „Images“ im Kasseler Museum für Gegenwartskunst „Fridericianum“. Die dort ge-zeigten Arbeiten untersuchen die Wandelbarkeit von Bildern. Der documenta-Künstler Pierre Huyghe lässt in einer Installation gemeinsam mit Philippe Parreno eine animierte Figur in einem kurzen Film ihren eigenen Tod erzählen. Die Arbeit von Seth Price zeigt die Enthauptung eines Amerikaners durch Dschihadis-ten im Irak aus dem Jahr 2004: Der Künstler hat ein Bild aus dem Video in roter Farbe auf eine Plastikfolie gebracht. Insge-samt sind die Werke von neun internationalen Künstlern zu sehen, darunter Trisha Donelly, Cory Arcangel und Mark Leckey.FridericianumKontakt: tel. 0561-707-27-20www.fridericianum.org

Koblenzbis 10. April 2016Grimanesa Amorós. OcupanteDie peruanisch-amerikanische Licht- und Videokünstlerin Gri-manesa Amorós zeigt in Koblenz, im Museum Ludwig direkt am Zusammenfluss von Mosel und Rhein, bunte und großforma-tige, dreidimensionale Lichtin-stallationen. Amorós lebt und arbeitet in New York. Ihre Werke standen bereits auf dem Time Square, außerdem waren sie in Mexiko, Tel Aviv und Peking zu sehen. Sie alle sollen Geschichte und Lebensweise der jeweiligen Ausstellungsstätte widerspiegeln. Viele von Amorós‘ Lichtinstal-lationen nehmen Bezug auf die Sozialgeschichte und Kultur ihrer Heimat Peru. Im Ludwig Museum stellt sie außerdem ihre neue Videoarbeit „Ocupan-te“ vor, die sich mit der Suche nach Schönheit und Poesie in der Kunst befasst. Die Instal-lation ist die erste Ausstellung der Künstlerin in Deutschland.Ludwig Museum KoblenzKontakt: tel. 0261-3040-412www.ludwigmuseum.org

Schönheit und Idyll: Der

Künstler Didier Ahadsi aus

Togo hat diese figurenszene

aus Blech gestaltet.

PAuL ScHIMWEg/ MuSEuM FÜR VöL-

KERKuNdE HAMBuRg

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Im nächsten Heft

ENTwIcKluNGS-bANKENFinanzinstitutionen wie die Weltbank oder die KfW investieren Milliarden in Entwicklungslän-dern. Wie verhindern sie, dass dabei die Umwelt geschädigt oder Menschenrechte verletzt werden? Wie fördert der deutsche Entwick-lungsfinanzierer DEG Privatun-ternehmen in Afrika? Welche Absichten verfolgt China mit der neuen Entwicklungsbank AIIB? Und warum kommt die latein-amerikanische Banco del Sur nicht in Gang?

wINDKRAFT IN bRASIlIENIm Nordosten von Brasilien sollen große Windkraftprojekte entste-hen. Die Anwohner werden vom sauberen Strom jedoch kaum profitieren.

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Mia coutoDas Geständnis der Löwin unionsverlag, 2016280 seiten

gary VictorSchweinezeitenunionsverlag, 2016130 seiten

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