Agilstabile HR in der Praxis Personalmanagement im Mindshift · Führung muss sich verändern, um...

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Grundfragen und Trends | HRM 32 Weiterbildung 4 | 2019 • S.32-35 Unternehmen, die diese neuen Wege gehen, können dadurch für sich sowohl Agilität als auch Stabilität in einem dynami- schen Umfeld sichern. Ihre Ansätze zeigen, welche anderen Wege der Organisation und Zusammenarbeit möglich und praktikabel sind, losgelöst von Pyrami- denstruktur und klassischem Managementmodell. Diese Unternehmen beschränken sich nicht darauf, Projekte in agilen Strukturen abzuwickeln. Sie haben die gesamte Organisationsstruktur dynamisiert und dezentralisiert. Damit erreichen sie die zweite oder dritte Ebene der Reichweite von Agilität: 1. agile Pro- jekte, 2. agile Organisationsstrukturen, 3. Selbstor- ganisation (die Mitarbeitenden entwickeln aus opera- tiven Bedarfen heraus in kleinen Schritten die Orga- nisationsstruktur weiter, in Rollen, Teams et cetera). Im Folgenden wird auf die unterschiedlichen Aus- gangsvoraussetzungen, Ansätze und Logiken von vier konkreten Unternehmen eingegangen. Agilstabile HR in der Praxis Personalmanagement im Mindshift Phänomene wie diese haben die meisten Menschen im Arbeitsleben kennengelernt: Res- sourcenvergeudung und Ineffizienzen in der Organisation, individuelle Überlastung oder das Gegenteil, Boreout, kaum überwindbare Barrieren für die eigene Entwicklung, Manager ohne Leadership-Fähigkeiten, das Vorherrschen individueller Machtinteressen statt Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel, geringe Attraktivität des Unternehmens am Arbeitsmarkt. Einige Unternehmen zeigen aber, dass es möglich ist, mit neuen Formen der Zusammenarbeit den Weg zu lebendiger Entwicklung zu ebnen. Autor | Richard Pircher, Fachhoch- schule des BFI Wien, Unter- nehmensberater Pircher: Agilstabile Orga- nisationen - Der Weg zum dynamischen Unternehmen und verteilten Leadership, Vahlen 2018 www.agilstabil.com Blue Collar-Produktion wirkt bei „Gutmann Aluminium Draht“ zusammen mit dynamischer Anpassungsfähigkeit an neue Gegeben- heiten durch verteilte Entscheidung in Kreisstrukturen: Seit mehr als vier Jahren setzt das in Mittelfranken ansässige Unternehmen, in Anlehnung an Ansätze der Soziokratie und die daraus entwickelten Holacracy-Methoden, auf starke Dezentralisierung mit Kreisstrukturen für die das mittlere Management abgeschafft wurde. Klassische Führungsstrukturen gehören der Vergangenheit an. Bis auf den Geschäfts- führung sind Positionen wie Vertriebschef, Produktionsleitung und Schichtführer nicht mehr existent. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Hierarchien mehr gäbe. Die Aufbauorganisation bildet sich auch weiterhin in einer strategisch-visionären, einer prozesssteuernden und einer operativen Ebene ab. Innerhalb dieser Arbeitshierarchien agieren die Mitarbeitenden im Rahmen eines eigenständigen Aufgaben- gebiets, für das sie uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis besitzen. Die Aufgabengebiete sind von den Arbeitern an der Maschine bis zur Geschäftsführung jeweils der individuellen Kompetenz angepasst, parallel teilen sich Mitarbeitende bestimmte Aufgaben. Betrifft eine anstehende Entscheidung in einem Bereich andere Bereiche und Kompetenzen, kommt der Entscheidungskreis zusammen; das betrifft auch die Geschäftsführungsebene. Nach dem Konsentprinzip wird ein Vorhaben umgesetzt, sofern kein hieb- und stichfest begründeter Gegenein- wand erhoben wird. Der dahinterstehende Gedanke ist, ins Tun zu kommen. Stellt sich im Nachhinein eine Entscheidung als falsch heraus, gibt es keine individuellen Schuldzuweisungen, sondern eine auf sachlich orientierter Analyse beruhende Fehlerkultur. Das gesamte System beruht auf dem Bewusstsein von Autonomie und Verantwortung jedes Einzelnen. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass im Bereich jeder Kompetenzebene das individuelle Handeln, ob mittelbar oder unmittelbar, immer verknüpft ist mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Unterneh- mens. Dadurch wird die klare Ausrichtung des Unternehmens mit dynamischer Anpassungsfähigkeit in einem Produktionsbetrieb verbunden. Langsame IT und schnelle IT entstehen bei „Netcentric“ mit agilem Projektmanagement innerhalb einer holakratischen Organi- sationsstruktur: Netcentric, ein Schweizer IT-Unternehmen, das mehrere internationale Standorte besitzt, ist im Bereich Adobe-Marke- ting-Cloud tätig. Relativ kurz nach der Gründung arbeiteten bereits vierzig Personen im Unternehmen, dann bald 80. Die drei Eigentümer konnten ihre Führungsaufgaben nun nicht mehr zufriedenstellend bewältigen. Auf der Suche nach einer Lösung erkannte man schnell, dass man mit konventionellem hierarchischem Management die eigenen Erfolgsfaktoren des Trial-and-Error und schnellen Umsetzens ver- lieren und auf viel Widerstand bei den Mitarbeitern stoßen würde. Deshalb experimentierten die Gründer mit verschiedenen alternativen Organisationsansätzen, stießen in diesem Prozess auf die Methode Holacracy und entschieden, sie als organisatorisches Betriebssystem File Name: 10_WB_194_Pircher Stage: 1st Proof Date: 03/07/2019 06:14:15 nachm. (GMT+05:30) Pages: 32 of 35 07800904_WB_2019_04_Innenteil.indb 32 03-Jul-19 6:14:15 PM

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Unternehmen, die diese neuen Wege gehen, können dadurch für sich sowohl Agilität als auch Stabilität in einem dynami-

schen Umfeld sichern. Ihre Ansätze zeigen, welche anderen Wege der Organisation und Zusammenarbeit möglich und praktikabel sind, losgelöst von Pyrami-denstruktur und klassischem Managementmodell. Diese Unternehmen beschränken sich nicht darauf, Projekte in agilen Strukturen abzuwickeln. Sie haben die gesamte Organisationsstruktur dynamisiert und

dezentralisiert. Damit erreichen sie die zweite oder dritte Ebene der Reichweite von Agilität: 1. agile Pro-jekte, 2. agile Organisationsstrukturen, 3. Selbstor-ganisation (die Mitarbeitenden entwickeln aus opera-tiven Bedarfen heraus in kleinen Schritten die Orga-nisationsstruktur weiter, in Rollen, Teams et cetera).

Im Folgenden wird auf die unterschiedlichen Aus-gangsvoraussetzungen, Ansätze und Logiken von vier konkreten Unternehmen eingegangen.

Agilstabile HR in der Praxis

Personalmanagement im MindshiftPhänomene wie diese haben die meisten Menschen im Arbeitsleben kennengelernt: Res-sourcenvergeudung und Ineffizienzen in der Organisation, individuelle Überlastung oder das Gegenteil, Boreout, kaum überwindbare Barrieren für die eigene Entwicklung, Manager ohne Leadership-Fähigkeiten, das Vorherrschen individueller Machtinteressen statt Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel, geringe Attraktivität des Unternehmens am Arbeitsmarkt. Einige Unternehmen zeigen aber, dass es möglich ist, mit neuen Formen der Zusammenarbeit den Weg zu lebendiger Entwicklung zu ebnen.

Autor |Richard Pircher, Fachhoch-schule des BFI Wien, Unter-nehmensberater

Pircher: Agilstabile Orga-nisationen - Der Weg zum dynamischen Unternehmen und verteilten Leadership, Vahlen 2018

www. agilstabil. com

Blue Collar-Produktion wirkt bei „Gutmann Aluminium Draht“ zusammen mit dynamischer Anpassungsfähigkeit an neue Gegeben-heiten durch verteilte Entscheidung in Kreisstrukturen: Seit mehr als vier Jahren setzt das in Mittelfranken ansässige Unternehmen, in Anlehnung an Ansätze der Soziokratie und die daraus entwickelten Holacracy-Methoden, auf starke Dezentralisierung mit Kreisstrukturen für die das mittlere Management abgeschafft wurde. Klassische Führungsstrukturen gehören der Vergangenheit an. Bis auf den Geschäfts-führung sind Positionen wie Vertriebschef, Produktionsleitung und Schichtführer nicht mehr existent. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Hierarchien mehr gäbe. Die Aufbauorganisation bildet sich auch weiterhin in einer strategisch-visionären, einer prozesssteuernden und einer operativen Ebene ab. Innerhalb dieser Arbeitshierarchien agieren die Mitarbeitenden im Rahmen eines eigenständigen Aufgaben-gebiets, für das sie uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis besitzen. Die Aufgabengebiete sind von den Arbeitern an der Maschine bis zur Geschäftsführung jeweils der individuellen Kompetenz angepasst, parallel teilen sich Mitarbeitende bestimmte Aufgaben. Betrifft eine anstehende Entscheidung in einem Bereich andere Bereiche und Kompetenzen, kommt der Entscheidungskreis zusammen; das betrifft auch die Geschäftsführungsebene. Nach dem Konsentprinzip wird ein Vorhaben umgesetzt, sofern kein hieb- und stichfest begründeter Gegenein-wand erhoben wird. Der dahinterstehende Gedanke ist, ins Tun zu kommen. Stellt sich im Nachhinein eine Entscheidung als falsch heraus, gibt es keine individuellen Schuldzuweisungen, sondern eine auf sachlich orientierter Analyse beruhende Fehlerkultur. Das gesamte System beruht auf dem Bewusstsein von Autonomie und Verantwortung jedes Einzelnen. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass im Bereich jeder Kompetenzebene das individuelle Handeln, ob mittelbar oder unmittelbar, immer verknüpft ist mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Unterneh-mens. Dadurch wird die klare Ausrichtung des Unternehmens mit dynamischer Anpassungsfähigkeit in einem Produktionsbetrieb verbunden.

Langsame IT und schnelle IT entstehen bei „Netcentric“ mit agilem Projektmanagement innerhalb einer holakratischen Organi-sationsstruktur: Netcentric, ein Schweizer IT-Unternehmen, das mehrere internationale Standorte besitzt, ist im Bereich Adobe-Marke-ting-Cloud tätig. Relativ kurz nach der Gründung arbeiteten bereits vierzig Personen im Unternehmen, dann bald 80. Die drei Eigentümer konnten ihre Führungsaufgaben nun nicht mehr zufriedenstellend bewältigen. Auf der Suche nach einer Lösung erkannte man schnell, dass man mit konventionellem hierarchischem Management die eigenen Erfolgsfaktoren des Trial-and-Error und schnellen Umsetzens ver-lieren und auf viel Widerstand bei den Mitarbeitern stoßen würde. Deshalb experimentierten die Gründer mit verschiedenen alternativen Organisationsansätzen, stießen in diesem Prozess auf die Methode Holacracy und entschieden, sie als organisatorisches Betriebssystem

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Als Kernelemente oder Prinzipien organisch flexibler Strukturen lassen sich zusammenfassen: klare Aus-richtung, die bei Bedarf angepasst wird; Menschen wird zugetraut, sich über die jeweilige Stellenbe-schreibung hinaus weiterzuentwickeln; flexible Rollen und Durchlässigkeit für individuelle und organisato-rische Entwicklung; themengetriebenes, verteiltes Leadership im Sinne des gemeinsamen Ziels; ver-antwortliche Teams beziehungsweise Bereiche; kla-re und partizipative Kommunikations-, Meeting- und Entscheidungsprozesse; flexible Zuteilung von Res-sourcen; schnelle Experimentier- und Lernzyklen; transparente Informationen.

Unterschiedlichen „Geschwindigkeiten“

Einzelne Unternehmensbereiche unterscheiden sich darin, wie und in welchem Umfang diese Prinzipien

umgesetzt werden. Innerhalb einer Organisation gibt es Bereiche mit unterschiedlichen „Geschwindigkei-ten“ und Logiken. Die Produktion beispielsweise muss und soll nicht so agil sein wie vielleicht der Vertrieb oder die Innovation. Deshalb sollten jeweils unter-schiedliche, passende Formen der Zusammenarbeit und Struktur in diesen Bereichen kultiviert werden, die sich auch für unterschiedliche Persönlichkeits-strukturen und Lebensphasen der Mitarbeiter eignen.Hot Topics: Für Themenfelder, mit denen in agilstabi-len Organisationen anders umgegangen werden sollte als in traditionellen Unternehmensstrukturen, können Lösungsansätze, die wir in der Praxis von Unterneh-men und NPOs finden, als Vorbilder dienen. Beispiele für solche Themenfelder sind:  Leadership, Entschei-dungsfindung, Effizienz und Dynamik, Menschenbild, Entlohnung, Transparenz und Kommunikation, Steue-rung, Koordination und (Nicht-)Planung et cetera.

zu übernehmen. Im Transformationsprozess durchlief das Unternehmen eine Talsohle. Mittlerweile ist Holacracy als Betriebssystem fest etabliert und Netcentric beschäftigt an zehn Standorten 280 Mitarbeitende, von denen viele jedoch nicht direkt in die holacracybasierten Strukturen eingebunden sind, sondern primär in agilen Projektstrukturen arbeiten.

Dezentrale Organisations- und Entscheidungsstrukturen mit Verantwortlichkeit in den Filialen werden bei „Handelsbanken“ durch die Zentrale unterstützt. Das Unternehmen verzichtet gänzlich auf traditionelle Budgetierung: Bereits 1970 setzte der neue CEO Jan Wallander in der schwedischen Großbank auf Budgethoheit der Filialen und auf periodische Businesspläne statt rigider zentraler Kontrolle und langfristiger Planung. Entscheidungen über neue Produkte, Marketing, Personal und Budgets entkoppelte man von der Stockholmer Zentrale. Die Zentrale übernimmt nur Aufgaben, die von den einzelnen Filialen nicht selbst erledigt werden können, wie Cash Management oder Regu-latorien. Diese Form der Organisation ermöglicht es den Filialmanagern, sich zu Intrapreneuren weiterzuentwickeln und entsprechend den lokalen Bedingungen ihre Interessen mit jenen der Handelsbanken-Aktionäre in Übereinstimmung zu bringen. Zwei Ziele sind für dezentrale Entscheidungen und Handlungen vorgegeben: Erstens soll eine höhere Eigenkapitalrendite als bei der Konkurrenz erreicht werden und zweitens optimale Kundenzufriedenheit. Kunden erhalten eine individuelle, für ihre Bedürfnisse passende Lösung und eine rasche Entscheidung, die direkt in der Filiale getroffen wird. Handelsbanken gehört mit rund 11.000 Mitarbeitenden zu den erfolgreichsten Banken Europas mit einem der besten Ratings weltweit. Das Ziel der höchsten Eigenkapitalrendite wurde über 40 Jahre lang ohne Unterbrechung erreicht. Dies gelingt, obwohl die Bank keine Werbung oder Sponsoring betreibt und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit sehr zurückhaltend ist. Sie setzt erfolgreich auf die Mundpropaganda zufriedener Kunden. In der Personalpolitik gilt die Überzeugung, dass es für jeden und jede einen Platz im Unternehmen gibt. Deshalb wird niemand gekündigt. Durch Dezentralisierung und Wandel der Unternehmenskultur gelingt es somit, auch in einem Großkonzern Agilität zu leben.

Der mittelgroße Getränkehersteller „Premium Cola“ verstößt gegen viele Prinzipien der Marktwirtschaft und erzielt dennoch seit 17 Jahren sehr positive Ergebnisse: „Premium ist eine kleine Getränkemarke ohne Büro, die seit über 16 Jahren existiert und vieles bewusster regelt als die ‚normale’ Wirtschaft.“ So beschreibt sich das kollektivistisch organisierte Unternehmen selbst. Da der Gründer von Premium Cola, das heute immerhin rund 2,5 Millionen Getränkeflaschen jährlich absetzt, ungeplant und „versehentlich“ Getränkehersteller wurde, ohne Fachwissen dafür zu haben, band er von Anfang an in die Entscheidungsfindung alle Beteiligten – Hersteller, Händler, Gastro-nomen, Endkunden – ein und konnte so deren Know-how nutzen. Alle Personen, die eine Beziehung zu Premium Cola haben – das gesamte sogenannte Premium-Kollektiv – können sich an den nach dem Prinzip der „Konsensdemokratie“ durchgeführten Entscheidungsprozessen beteiligen. Darüber hinaus weist das Unternehmen noch einige andere ungewöhnliche Aspekte auf: Es wird explizit nicht angestrebt, Gewinne zu machen oder gezielt zu wachsen. Premium macht keine Werbung und sucht sich die Händler, die Premium Cola verkaufen dürfen, einzeln aus. Die Absatzmenge steigt kontinuierlich, und die sich daraus ergebenden niedrigeren Kosten je Flasche werden direkt an die Abnehmer weiter-gegeben. Das Unternehmen greift nicht auf Fremdkapital zurück. Alle produktrelevanten Informationen werden offengelegt, einschließlich der Kalkulation des Flaschenpreises. Premium schließt keine schriftlichen Verträge ab und hatte dennoch bisher keinerlei rechtliche Streitigkeiten. Im Leitsatz des Unternehmens kommen Getränke nicht vor: „Premium will ein faires, ökologisches und sozial tragfähiges Wirtschaftsmodell in hoher Qualität vorleben und verbreiten.“ Aus all dem wird klar, dass das eigentliche Produkt nicht die Herstellung von Getränken ist, sondern eine ganz besondere Art des Wirtschaftens.

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Roadmap/Wegweiser: Je nach Geschichte und Ist-Stand lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte und Schritte beschreiben, wie der Transformations-prozess umgesetzt werden kann. Eine Roadmap im Buch „Agilstabile Organisationen“ zeigt konkrete Schritt-für-Schritt-Ansatzpunkte zur Transformation des Unternehmens. Des Weiteren wird ein New-Work-Experience-Training zur Begleitung dieses Pro-zesses vorgeschlagen.AgilStabil Check: Entscheidende Eigenschaften, die es einem Unternehmen ermöglichen, sich sowohl professionell stabil zu verhalten als auch sich flexibel an ein dynamisches Umfeld anzupassen, können mit dem AgilStabil Check (ASC) überprüft werden (sie-he Abbildung 1).

So wird ein Unternehmen agilstabil

Der AgilStabil Check (ASC) ermöglicht es, den Sta-tus quo der Organisation abzubilden, gemeinsam mit der Unternehmensleitung strategisch relevante Aktionsfelder zu identifizieren und geeignete Maß-nahmen umzusetzen. Die Wirkungen dieser Schrit-te werden wiederum mit dem ASC gemessen und evaluiert.

Schlussfolgerungen für die Praxis

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sowohl Dynamik beziehungsweise Agilität als auch klare Ausrichtung beziehungsweise Stabilität sich in ein und demselben Unternehmen erfolgreich integrieren lassen, was in einem volatilen Umfeld zunehmend zu einem Erfolgs- und Überlebensfaktor wird. Unter-nehmen können unabhängig von Branche, Größe, Kultur oder Alter in Bezug auf Agilität oder Stabilität beziehungsweise beidem in der Regel Verbesserungs-

potenzial aufweisen und dadurch einen messbaren Nutzen erzielen. Der dafür erforderliche Transforma-tionsprozess wird auf die jeweilige Geschichte, den Status quo und die strategischen Ziele der Organisa-tion angepasst.

Auswirkungen für die HR-Praxis

Was bringt die Entwicklung hin zu einer agilstabilen Organisation an Veränderungen für das Personalma-nagement?● Da bei dezentralen Organisationsstrukturen die tra-

ditionelle Unterscheidung zwischen Management und ausführenden Funktionen aufgehoben wird, steht auch eine isolierte HR-Management-Einheit unter Erklärungszwang. Die HR-Kompetenzen sind natürlich weiterhin erforderlich, doch könnten sie zumindest teilweise auf die Organisation verteilt, also stärker an die operativen Teams zurückgege-ben werden?

● Bei verteilter Entscheidungsmacht kommt dem Seinszweck, dem Purpose der Organisation eine größere Bedeutung zu, weil die dezentralen Ent-scheidungen vieler auf das gemeinsame übergeord-nete Ziel hin ausgerichtet sein sollen. So wie alle Funktionen und Rollen der Organisation eine klare Ankoppelung an diesen Purpose brauchen, gilt das auch für HR. Der Seinszweck der Organisation und die damit verbundenen Werte sollten sich in allen HR-Aktivitäten wie Recruiting, On- und Offboarding, et cetera widerspiegeln.

● Ein ganzheitliches Menschenbild kann als ele-mentarer Bestandteil von agilstabilen Organisatio-nen verstanden werden. Dieses Menschenbild, das weit darüber hinausgeht, Bewerber und Mitarbeiter nur nach ihrem Lebenslauf zu beurteilen, erfordert mitunter ein grundlegendes Umdenken.

● Im Transformationsprozess sollten, generell gespro-chen, sowohl Führungskräfte als auch Mitarbei-tende Unterstützung finden, um eine möglichst reibungslose Neudefinition ihres Rollenbildes zu ermöglichen. Dabei kommt HR sicher eine wichtige Funktion zu.

● Führung muss sich verändern, um mit agilen Struk-turen kompatibel zu sein. Das bringt sowohl für bis-herige Managerinnen und Manager als auch für Mit-arbeitende einen Schulungsbedarf für Leadership-Kompetenzen mit sich. Führung wird dezentral, im

Abb. 1: Agilstabil Check

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Sinne von „ein Leader ist jeder, der für ein Thema brennt und andere dazu bringt, mitzugehen“.

● Da Managementaufgaben auf die ganze Organisa-tion verteilt und dezentralisiert werden, brauchen viel mehr Mitarbeitende entsprechende Kompeten-zen, die zuvor nur den Führungskräften vorbehalten waren – wenn auch nicht im selben Umfang und dieser Tiefe.

● Die Kompetenzentwicklung wird viel stärker in die Hände der Mitarbeitenden gelegt und weniger „pa-ternalistisch“ und zentral geplant. Es geht mehr in Richtung selbstgesteuerter Weiterbildung inner-halb vordefinierter Rahmenbedingungen.

● Der Fokus geht weg von personenorientierten Positio-nen hin zu bedarfsorientieren Rollen, die aufgrund von Erfordernissen geschaffen und besetzt werden. Dieses Staffing und die Betreuung von Mitarbeiten-den, die zu wenige oder zu viele Rollen haben, sind ebenfalls durch geeignete Rollen durchzuführen.

● Die gesteigerte Flexibilität durch Rollen erleichtert es, dass möglichst alle Beschäftigte ihren „Sweet Spot“ finden. Bei dem Unternehmen W. L. Gore bei-spielsweise wird so der Punkt bezeichnet, bei dem individuelle Interessen, Kompetenzen und Unter-nehmensbedarfe zusammenfallen. Dabei sollten HR-Rollen unterstützen.

● Im Recruiting ist zu vermitteln, dass die internen Strukturen und die Formen der Zusammenarbeit andere sind als die üblichen. Dadurch werden si-cherlich manche Bewerber abgeschreckt, andere hingegen angezogen. Erfahrungen zeigen, dass es mitunter weniger, dafür aber geeignetere Bewer-bungen gibt.

● Steuerung und Koordination werden in agilsta-bilen Organisationen meist grundlegend anders

praktiziert als üblich. Oft gibt es keine traditionel-len Budgets mehr, sondern agile Finanzplanung mit dezentraler Verantwortung. Das betrifft auch HR.

● Schließlich wirkt sich eine Unternehmenstransfor-mation in Richtung dezentralerer, agiler Strukturen auf einen zentralen HR-Aspekt aus, nämlich auf das Entgelt. Wenn die individuellen Positionen nicht mehr (primär) hierarchisch definiert werden, so fällt dieser Parameter für die Entlohnung mehr oder we-niger weg. Dafür lässt sich aufgrund der bisherigen Erfahrungen keine generelle Lösung definieren. Es hängt von der konkreten Situation im Unternehmen ab, ob sich eher eine abwartende Haltung bei vor-läufigem Beibehalten des Status quo, eine graduel-le Anpassung oder eine radikale Neuausschreibung aller Funktionen mit vollständiger Umstellung des Entlohnungssystems als geeigneter erweist. Ein transparenter Fachkarrierepfad ersetzt vielfach den hierarchischen als Gehaltsparameter.

Agilität bedeutet Bewusstseinswandel

Zusammenfassend kann gesagt, werden, dass die Transformation eines Unternehmens in Richtung Agilität massive Auswirkungen auf zahlreiche HR-As-pekte besitzt. Es handelt sich nicht nur um eine neue Methode, die genauso „isoliert“ eingeführt werden kann wie vielleicht ein anderer Projektmanagement-ansatz oder ein neues IT-Tool. Bei Agilität handelt es sich um einen Mindshift, einen Bewusstseinswandel bezüglich der Art, wie Zusammenarbeit gelebt wird. Nur so lassen sich die möglichen Potenziale für das Unternehmen und für die individuelle Kompetenzent-wicklung realisieren. ■■

Abb. 2: Der Weg zum agilstabilen Unternehmen

1. Ist-Analyse mit dem Agilstabil

Check (ASC)

2. Strategische Schwerpunkte mit

Unternehmensleitung festlegen

3. Passgenaue Maßnahmen mit Erfolgskontrolle

Agilstabiles

Unternehmen

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