Alain Badiou: Das Endliche und das Unendliche

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Das Endliche und das Unendliche

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Die Frage nach der Unendlichkeit als Herausforderung für die Philosophie: In der Konfrontation dieses komplexen philosophischen Gegenstands mit den unverblümten Fragen von Kindern zeigt sich abermals die Größe des Denkens von Alain Badiou

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Das Unendliche ist ein negatives Wort, denn was mit „un“ beginnt, ist die Verneinung des danach Kommenden. „Unendlich“ heißt also „das, was nicht endlich ist“. Nehmen wir ein Beispiel: „Untätig“ bezeichnet jemanden, der nicht tätig ist, der nichts tut, einen Nichtstuer. „Unfähig“ ist jemand, der nicht fähig ist, zum Beispiel nicht fähig, sehr schnell eine einfache Rechnung wie 197 mal 183 auszuführen. Noch ein Beispiel: Das „Unbekannte“ ist das, was nicht oder noch nicht bekannt ist. Das Ergebnis der Multiplikation von 197 mal 183 kann euch unbekannt sein und euch unfähig machen, es bekannt zu geben. Es ist euch nicht bekannt, aber ich weiß, dass das 36051 macht. Es kann mir bekannt und euch unbekannt sein. Ihr seht also, was „un“ bedeutet. Nehmen wir ein letztes Beispiel. Ein „Ungeziefer“ ist etwas, das

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kein Geziefer ist. Was ist ein „Geziefer“? Nun, das „Geziefer“ ist unbekannt. Kann man sagen, dass, da wir nicht das „Geziefer“ kennen, wir auch nicht das Ungeziefer kennen, genauso wie, wenn wir nicht das Bekannte kennen, wir auch nicht das Unbekannte kennen? Wir müssen also feststellen, dass es Ungeziefer ohne „Geziefer“ gibt. Die Regel, der zufolge „un“ die Verneinung einer Sache ist, gilt also nicht immer. Im All-gemeinen bedeutet „un“ gefolgt von etwas, die Verneinung von etwas. Aber jede Regel hat ihre Ausnahmen. Eine Unmenge zum Beispiel ist nicht das strenge Gegenteil einer Menge und ein Unwetter ist nicht die Verneinung des Wetters. Es ist jetzt also klar, „unendlich“ bedeutet „was nicht endlich ist“. Dieser Fall fällt unter die Regel. Wenn das Unendliche das ist, was nicht endlich ist, dann muss man wissen, was „end-lich“ heißt. Das Endliche ist etwas, das Grenzen hat, das sich nicht unbegrenzt ausdehnt. Das ist zum Beispiel ein Ding, das eine Form und Grenzen im Raum hat. Die Flasche hat Grenzen und es ist einsichtig, dass ihr Verschluss noch mehr Grenzen hat. Er ist noch kleiner. Wenn eine Sache endlich ist, wissen wir, was das heißt, dass eine Sache noch kleiner als sie ist. Das ist

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ein endliches Ding wie der Verschluss, von dem wir sagen können, dass er noch kleiner als die Flasche ist, denn die Grenzen des Verschlus-ses liegen innerhalb der Grenzen der Flasche. Folglich hat ein endliches Ding Teile, die noch kleiner sind als es. Diese Dinge können immer kleiner sein, denn ich kann zum Beispiel den Oberteil des Verschlusses nehmen, der kleiner ist als der Verschluss, der selbst kleiner ist als die Flasche. Und alle drei sind endlich. Ihr seht, dass das Endliche gemessen werden kann, denn wie kann ich sagen, dass ein Ding kleiner ist, wenn ich über kein Maß verfüge? Wenn ich ein Maßband nehme, werde ich merken, dass die Flasche mehr Zentimeter misst als der Ver-schluss. Es existiert also ein Verhältnis zwischen dem Endlichen und der Zahl, denn wenn etwas endlich ist, dann gibt die Zahl das Maß und ermöglicht zu sagen, dass das Ding kleiner oder größer als ein anderes ist. All das liegt im Raum. Die Flasche hat Grenzen im Raum dieses Saals, und ihr seht, dass dieser Saal selbst Grenzen im Raum von Montreuil hat und Montreuil im Raum von Frankreich, Frankreich im Raum der Welt und die Welt im Raum des Universums, und das Universum selbst hat Grenzen im Raum

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von irgendetwas anderem. Es gibt also immer eine Grenze. Das betrifft den Raum, aber auch die Zeit. Die Dinge haben auch in der Zeit Grenzen. Das menschliche Leben auf Erden ist endlich, leider! Zwischen meiner Geburt und meinem Tod liegt eine bestimmte Anzahl von Jahren. Wir finden die Zahl wieder: das Alter. Nur selten erreicht man mehr als hundert Jahre, was bereits eine große Hoffnung ist. Aber nach hundertzwanzig Jahren ist das Leben leider zu Ende. Das ist einer der Gründe, warum man sagt, dass der Mensch endlich sei. Die Philosophen, die allem einen barbari-schen Namen geben, nennen das die Endlich-keit. Endlich sein, das heißt die Endlichkeit, so wie unhöflich sein die Unhöflichkeit genannt wird. Der Philosoph wird also sagen, dass es eine menschliche Endlichkeit gibt, eine Grenze in der Zeit und im Raum, denn wir haben einen Körper im Raum wie die Flasche. Ihr seht, dass die menschliche Endlichkeit mit dem Tod zu tun hat, und dass das Endliche und das Unendliche etwas über den Tod aussagen. Wie die Tiere haben wir einen endlichen Körper, der stirbt. Der Mensch mag nicht sterben,

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und deshalb hofft er, unendlich zu sein, hofft darauf, dass etwas nach dem Tod auf andere Weise weitergeht. Denn schließlich sind wir vielleicht unendlich, existiert vielleicht ein ewiges Leben. Die Religionen haben dieses Problem des Endlichen und des Unendlichen des menschlichen Lebens lange untersucht. Aber bleiben wir vorläufig ein wenig beim Endlichen. Wie ich euch gesagt habe, hängt das Endliche mit der Zahl zusammen, denn diese misst es. Ich sterbe in einem gewissen Alter, mit achtzig Jahren zum Beispiel. Dieses Alter ist eine Zahl. Ihr werdet merken, dass man immer das Alter des Gestorbenen sagt: Er ist mit hundertzwanzig an einem schweren Krebsleiden gestorben. Das Endliche ist also eine Zahl. Das Unendliche hin-gegen ist so etwas wie das Gegenteil des Todes, das Gegenteil dieser Zahl, die man fixiert, des Alters, in dem wir wirklich ans Ende gelangen. Wenn wir denken, dass Gott existiert, dann werden wir notwendigerweise sagen, dass er un-endlich ist, ansonsten müssten wir denken, dass er stirbt. Aber was ist das für ein Gott, der stirbt? Er wäre kein wirklicher Gott, wenn er stirbt, denn er wäre uns zu ähnlich. Wenn Gott mit

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