Alfred Sohn-Rethel - Oekonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus

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    KONOMIE UND KLASSENSTRUKTUR DES DEUTSCHEN FASCHISMUS AUFZEICHNUNGEN UND

    ANALYSEN

    Alfred Sohn-Rethel

    Herausgegeben und eingeleitet von Johannes Agnoli, Bernhard Blanke und Niels Kadritzke

    Alfred Sohn-Rethel, geboren 1899 in Paris, studierte in Heidelberg und Berlin. Er stand in denzwanziger Jahren in engem Kontakt mit Bloch, Benjamin, Kracauer, Adorno. Seit seiner Emigration imJahre 1936 lebt er in England. 1970 erschien sein Buch Geistige und krperliche Arbeit. Zur Theorieder gesellschaftlichen Synthesis.

    Die hier vorgelegten Analysen und Aufzeichnungen sind in doppelter Hinsicht wichtig und

    aufschlureich: sie beziehen sich auf die Ereignisse in Deutschland in den dreiiger Jahren, und siebilden einen hochinteressanten Materialzusammenhang, auf den knftig jede Theorie des Faschismuswird Rcksicht nehmen mssen. Die Niederschrift der Texte erfolgte zwischen 1937 und 1941 in derEmigration. Im Zentrum steht das Wechselspiel der Interessengruppierungen innerhalb des deutschenGrokapitals, die Hitler zur Macht verholfen und einen wesentlichen Teil seiner Politik bestimmthaben. Sohn-Rethel hat die Vorgnge in jener Periode von einem hervorragenden Beobachtungspostenaus verfolgt - als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Bro des Mitteleuropischen Wirtschaftstagse. V. in Berlin.

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    Einleitung der Herausgeber

    I.

    Sohn-Rethels hier zum ersten Male geschlossen verffentlichte Beitrge zur Analyse desdeutschen Faschismus vereinigen historische Zeugnisse ber wesentliche Momente der Entstehung undEntwicklung der faschistischen Diktatur in Deutschland mit einem theoretischen Ansatz zurFaschismus-Analyse, der seine Bedeutung der Vermittlung von empirischer Anschauung undmarxistischer Theorie verdankt. Damit ist Sohn-Rethels Arbeit fr die marxistischeFaschismus-Analyse in jener doppelten Hinsicht von Bedeutung, in der diese gegenber derbrgerlichen Geschichtsschreibung forschungsstrategisch benachteiligt ist:

    1.) Theoretisch hat sie die sehr viel schwierigere und komplexere Aufgabe zu lsen, gegen denoberflchlichen Augenschein und gegen die sich stndig verstrkende Flut brgerlicherForschungsresultate die scheinbar hermetische Diktatur einer totalitren Partei ber die Gesellschaft

    als Erscheinungsform kapitalistischer Herrschaft aufzudecken und zu erklren. Dabei werfen vor allemdie genetische Erklrung der einzelnen faschistischen Diktaturen und die Frage nach der Mglichkeiteiner Theorie faschistogener gesellschaftlicher Entwicklungen Probleme auf, die lngst noch nichtgelst sind.

    2.) In der Forschungsarbeit steht die marxistische Faschismus-Analyse vor der Schwierigkeit, dadie Evidenz ihrer Aussagen nur schwer aufzuweisen ist, weil weder Akten noch Memoiren denFaschismus aus der Sicht und im Interesse seiner Opfer zu dokumentieren pflegen.

    So hat einer der mageblichen Apologeten der Ruhr-Industrie, August Heinrichsbauer, schon1948 das Bemhen, die konkreten Verbindungen zwischen Vertretern des Kapitals und derfaschistischen Partei vor 1933 nachzuweisen, mit dem Argument fr aussichtslos erklrt, da wirklichvertrauliche Dinge, wie sie gerade die Befassung mit wichtigen politischen Fragen darstellt, nur invertrautestem Kreise behandelt zu werden pflegen, ohne Hinzuziehung von Gewhrsmnnern

    industriefeindlicher Kreise und Zeitungen oder gar der kommunistischen Presse. [...] Dinge, die mannicht einmal ber einen ganz kleinen Kreis eigener Berufsgenossen hinaus bekannt werden lie, hatman bestimmt nicht Auenstehenden anvertraut.1

    Was hier mit der typischen Arroganz der Macht festgestellt wird, ist in der Tat richtig:Industriefeindliche und kommunistische Kreise bleiben bei ihrer Analyse des Faschismus imallgemeinen auf indirekte Beweise und theoretische Deduktionen angewiesen, weil die erreichbarenDokumente meist aus formellem, in ffentlich-rechtlichem oder verbandlichem Interesse archiviertemMaterial bestehen, wohingegen in Entscheidungsprozessen das Wichtigste informell (wenngleich ingeregelter Weise) und in nicht archivierbaren Formen festgemacht und beschlossen wird. Dies gilt vorallem fr den politischen Kernbereich brgerlich verfater Gesellschaften, fr welche rechtlicheRegelungen politischer Entscheidungen konstitutiv sind und dennoch die Wirklichkeit wesentlich nichtausmachen. Diesen Kernbereich bildet das funktionale und institutionell-organisatorische Verhltnis

    von konomie und Politik, das sich zwar in den Beziehungen zwischen Einzelkapitalen undKapitalgruppen (und deren Reprsentanten) einerseits, politischen Fhrungsgruppen andererseitsjeweils widerspiegelt, durch diese Beziehungen allein jedoch nicht hinreichend zu bestimmen ist. Aberselbst die gespeicherte Information ber diese Beziehungen sagt in der Regel ber den wirklicheninformellen Entscheidungsgang wenig aus. Entsprechend weist die Archivdokumentation einnaturwchsiges bergewicht an formellen Entscheidungen, also an staatlich-politischenWillensbildungsakten und Manahmen auf, das eine dokumentarische, fr den exakten Historikerdamit aber scheinbar bewiesene Disproportionalitt zwischen Politik und konomie erzeugt, diematerialistisch nur auf dem Wege der Ableitung aus generellen theoretischen Prmissen ber diewesentlichen Strukturen kapitalistischer Gesellschaften (ber die gerade selbst im Faschismus nichtentschieden wird) wieder ins Gleichgewicht gebracht werden kann. Anders gesagt: das bergewicht

    1 August Heinrichsbauer, Schwerindustrie und Politik, Essen 1948.

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    des formell-staatlichen Quellenmaterials fhrt stofflich in der brgerlichen Geschichtswissenschaft zurinterpretatorischen Feststellung eines Primats der Politik im Umgang mit der konomie. Fr denFaschismus heit dies in der Schlufolgerung, da nicht spezifische Forderungen und Erfordernisse derkapitalistischen Akkumulation und Reproduktion die politische Flligkeit des Regimes erzwungen undseine politischen Handlungen langfristig und wesentlich bedingt haben, sondern, umgekehrt, da daspolitische Programm des Faschismus die Industrie in seinen Bann gezogen und dem Regime hriggemacht habe. Der Logik ihres Erkenntnisinteresses folgend zieht die brgerliche Analyse desFaschismus aus dem vorhandenen Archivmaterial den Schlu, den Publikationen a la Heinrichsbauernahelegen wollen, und postuliert so die totale Herrschaft des faschistischen Staates ber diekonomisch herrschende Klasse.

    Was einer materialistisch-dialektischen Analyse von der stofflichen Seite her fehlt, ist, schlichtgesagt, das Gegenstck zum Staatsarchiv: die ebenso dokumentarische Ausweisung des informellenProzesses.

    Eine solch eklatante Beweislcke ist fr die marxistische Analyse immer nur punktuell zuschlieen. Um so wichtiger ist es, wenn es gelingt, diese Lcke durch authentische Einblicke vonEinzelpersonen an zentralen Punkten des Umschlags von konomischen Interessen in politischeEntscheidungen zu fllen, wie dies in den Aufzeichnungen von Sohn-Rethel der Fall ist.

    So gesehen ist es einer der folgenreichsten Zuflle fr die Faschismus-Forschung, da einmarxistisch geschulter Wissenschaftler in den entscheidenden Jahren der Faschisierung quasi ungestrtEinblick in wichtige interne Vorgnge und politische berlegungen verschiedener Kapitalfraktionenerlangte und damit befhigt worden ist, ihre konomische Interessenlage und ihre Schwierigkeitentheoretisch zu erfassen und mit empirischer Beweiskraft darzustellen, wie diese die politische Tendenzzur faschistischen Diktatur vorangetrieben haben.

    II.

    Die besondere inhaltliche Leistung von Sohn-Rethel besteht darin, da er die Beziehungen

    zwischen Industrie- und Finanzkapital und Faschismus stringent aus den Verwertungsbedingungen desdeutschen Kapitals auf dem Weltmarkt und im nationalen, die internationale Konkurrenzreflektierenden Rahmen zu entwickeln und daraus die Interessenrichtung zu bestimmen vermag, diesich politisch, d. h. auf die Formen und Trger staatlicher Herrschaft bezogen, artikulierte. Damit wirddie Industrie weder idealtypisch auf einen Machtblock unter mehreren reduziert 2, noch werden ihreverschiedenen Fraktionen wie in der Monopolgruppen-Theorie der DDR-Autoren letztlich als reineMachtgebilde beschrieben, die ihre politische Durchsetzungsfhigkeit allein ihrem konomischenGewicht (und damit ihrer als Macht begriffenen konomischen Strke statt ihrer relativen, durch dieKrise bestimmten Reproduktionsschwche) verdanken. Bei Sohn-Rethel erscheinenInteressendifferenzierungen vielmehr von vornherein vermittelt, d. h. nicht erst der Gesamtkapitalistoder die strkste Monopolgruppe als politischer Reprsentant erzwingen den Interessenausgleich,sondern dieser entwickelt sich aus den Problemen der Kapitalverwertung am Kulminationspunkt der

    Reproduktionsschwierigkeiten des konomischen und politischen Systems insgesamt. Da dieserInteressenausgleich nur auf der Linie einer faschistischen Krisenlsung liegen konnte, geht aus derDarstellung Sohn-Rethels eindeutig hervor. Dabei sind es vor allem zwei politische Leistungen zurLsung der konomischen Probleme, die das faschistische Regime zu erbringen verspricht und diedeshalb das gemeinsame kapitalistische Interesse an diesem Regime begrnden. Erstens die langfristigeDurchsetzung einer politischen Expansion im Dienste der Markterweiterung fr die deutschen Kapitalevor allem in Richtung Sdosteuropa. Zweitens die terroristische Disziplinierung der deutschenArbeiterschaft auf einem Lohnkostenniveau, das die Akkumulationsmglichkeiten der deutschenKapitale sprunghaft verbessert.

    Beide Leistungen wurden von einem Regime erwartet, das die vernderten Voraussetzungen

    2 Wie bei Franz Neumann, Behemoth - The Structurc and Practice of National Socialism, London 1943 (New York19633), und Arthur Schweitzer, Big Business in the Third Reich, Bloomington 1964.

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    brgerlicher Herrschaft herrschaftsmethodisch auf eine qualitativ neue Formel brachte, insofern sie dasgenaue Gegenstck zur reformistisch abgesicherten Herrschaftsform der stabilen Jahre der WeimarerRepublik darstellte, deren nichtgewaltsame, auf sozialpolitischen Zugestndnissen an dieArbeiterschaft basierenden Integrationsmglichkeiten die Weltwirtschaftskrise gerade zerstrt hatte.

    Die faschistische Lsung der konomisch verursachten Systemkrise der ersten deutschenRepublik mute um so wahrscheinlicher werden, je mehr die Arbeiterbewegung ihre Unfhigkeit zurrevolutionren Wendung der Systemkrise erwies3, je eindeutiger alternative Lsungsversuche einerkapitalistischen Krisenlsung eine Rckkehr zur Politik der Arbeitsgemeinschaft mit denGewerkschaften implizierten, und je mehr sich infolgedessen die Interessen der unterschiedlichenKapital-Fraktionen auf der Linie der skizzierten politischen Erwartungen vereinigten und darberhinaus den traditionellen Gegensatz zwischen Groagrariern und Export-Industrie auszugleichenimstande waren.

    Die in der historischen Forschung inzwischen kaum noch bestrittene Vereinigungunterschiedlicher Kapital-Interessen auf der faschistischen Linie 4 , die Ende 1932 das ehemaligeBrning-Lager der exportorientierten Industrie aufgelst hatte, wird in der Darstellung Sohn-Rethels inihren wesentlichen Interessenrichtungen plausibel gemacht und damit aus dem konomischenGesamtproze, insbesondere aus dem Zerfall des Weltmarktes, erklrt. Drei Schwerpunkte seiner

    Darstellung sind dabei fr die marxistische Faschismus-Analyse ihrer exemplarischen Qualitt wegenvon besonderer Bedeutung: Expansionspolitik, Unterdrckung der Arbeiterbewegung und Verbindungvon Industrie- und Agrarpolitik. Die strategischen Planungen im Rahmen des MitteleuropischenWirtschaftstages (MWT), die Sohn-Rethel aus eigener intimer Kenntnis schildern kann, setzten fr ihreRealisierung eine politische Fhrungsgruppe voraus, die nicht nur entschlossen und in der Lage war, dieStrungen des Akkumulationsprozesses auen- und handelspolitisch rigoros zu beseitigen, sondern dieauch innenpolitisch ein Programm durchzusetzen vermochte, das einen fr alle Kapitalfraktionenannehmbaren Kompromi darstellte. Bei einer Identifikation von Kapital und Gesellschaft war, sogesehen, die NS-Diktatur in der Tat eine Regierung der nationalen Einheit, ihr Programm einProgramm der nationalen Erneuerung. Sohn-Rethel weist aber gerade nach, da die Richtung undpolitische Perspektive dieses Programms nicht etwa durch die Ideologie der Nazi-Partei, sonderndurch die konomische Zwangslage vorbestimmt ist, die erst dazu gefhrt hat, die handlungsunfhigen

    Fhrungsgruppen der Prsidialkabinette durch die in dieser Richtung handlungswillige faschistischeFhrungsgruppe zu ersetzen. Damit lst er die immer wieder knstlich herausgestellte Prioritt vonkonomischer bzw. politischer Herrschaft (theoretisch gefat: von Autonomie oder Heteronomiefaschistischer Regime 5 ) auf: die fr das Kapital notwendig gewordene Strategie stellt denZusammenhang mit einer politischen Gruppe her, die in genau derselben Richtung marschiert und bereinen fr ihre Durchsetzung ausreichenden Massenanhang verfgt. Eine gleichgerichtete Verltung vonIndustrieinteressen und politischen Ambitionen einer zunchst selbstndig entstandenen Bewegunghatte sich schon in der Faschisierung Italiens vollzogen: die Industrie mute die nach 1920unterbrochene Akkumulation beschleunigt und auen- wie innenpolitisch abgesichert fortsetzen; dasfaschistische Regime wollte Italien weltpolitisch und historisch stark machen. Diese Darstellung

    3 In den nach 1933 verfaten Analysen Sohn-Rethels wird diese Bedingung des Faschisierungsprozesses nicht mehrerrtert, weil die Eingriffsmglichkeiten der Arbeiterbewegung sich mit der faschistischen Diktatur fast vllig erledigt hatten.Die Darstellung kann deshalb als konomistisch verkrzt erscheinen, wenn man sich den Zusammenhang nicht vor Augenfhrt, wie er in dem Aufsatz ber Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus (in diesem Buch abgedruckt in Teil II)entwickelt ist. Vgl. dazu Niels Kadritzke, Faschismus als historische Realitt und unrealistischer Kampfbegriff, in: Problemedes Klassenkampfs, Heft 8, Erlangen 1973.

    4 Vgl. insbesondere E. Czichon, Wer verhalf Hitler zur Macht? Kln 1967, und die sehr aufschlureichen Erinnerungenvon G. Gereke, Ich war kniglich-preuischer Landrat, Berlin (DDR) 1971. Wie weitgehend diese Tatsache auch in derwestdeutschen Geschichtswissenschaft akzeptiert wird, zeigt exemplarisch H. Mommsen, HandbuchartikelNationalsozialismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Freiburg 1971.

    5 Zur Alternative Heteronomie/Autonomie vgl. Ernst Nolte (Hrsg.), Theorien ber den Faschismus, KlnBerlin 1967

    (Einleitung), und ders., Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen, Mnchen 1968. Zur Kritik dieserAlternative vgl. Johannes Agnoli, Zur Faschismus-Diskussion (I) und (II), in: Berliner Zeitschrift fr Politologie, 9. Jg. 1968,Heft 2 und 4; Bernhard Blanke, Thesen zur Faschismus-Diskussion, in: Sozialistische Politik, 1. Jg. 1969, Heft 3.

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    einer strategischen Transmission zwischen konomie und Politik durch ein dazu notwendiges undhinreichend starkes politisches Regime verweist die berhmte Primatfrage 6 auf die Ebene einesformell-heuristischen Problems. Denn ohne der Frage nach einem Primat von Politik bzw. konomieauf der personellen Ebene ihrer Entscheidungstrger nachzugehen, will Sohn-Rethel gerade zeigen, dadie konomisch zwingend gewordene Krisenlsungsstrategie des deutschen Kapitals den Zwang zurterroristischen Diktatur des Faschismus setzt, der als politischer Garant dieser Krisenlsung seinerseitsdie konomischen Zwangsgesetze vollstreckt, welche damit auf irreversible Weise in Gang gebrachtsind. Indem Sohn-Rethel schon vor Beginn des Zweiten Weltkrieges darlegte, da der faschistischabgesicherte Vollzug kapitalistischer Reproduktion die stndig neu produzierten konomischenSchwierigkeiten letztlich nur durch militrische Expansion zu lsen versuchen kann, hat erberzeugend den Raub- und Eroberungskrieg als notwendigen Bestandteil der Krisenlsungsstrategienachgewiesen und seines von brgerlichen Historikern oft auf die persnliche Dmonie Hitlerszurckgefhrten irrationalen Charakters entkleidet. Die Raison des Weltkrieges bleibt bei ihm wederexzentrisch zu den Interessen des deutschen Kapitals noch gilt sie als glatter Ausdruck der Summekonkreter konomischer Interessen (wie in der DDR-Literatur vorherrschend), sie liegt vielmehrunverrckbar auf der Linie und in der Logik des einmal eingeschlagenen Ausweges aus derkonomischen Krise. Fr den Faschismus bleibt also durchgngig konstitutiv, was fr jede Form

    kapitalistisch organisierter Reproduktion der Gesamtgesellschaft gilt: da die Erfordernisse derKapitalverwertung die gerade nicht unbedingt identisch sind mit der Summe der Einzelforderungender Kapitalisten sich durchsetzen. Am Unvermgen, der Kapitalverwertung einen alternativenWeg zu bahnen, scheiterten denn auch die brgerlich-parlamentarische Politik der Weimarer Endphasewie alle Versuche einer brgerlichen Opposition gegen den Faschismus, deren innere Unmglichkeit inder deutschen Situation Sohn-Rethel berzeugend darstellt.

    Gewi bedeutet diese Verltung von sozialer Herrschaft und politischem Regime keineswegslckenlose bereinstimmung. Darin ein Spezifikum des Faschismus zu sehen, ist nur ein verbreiteterFehler in der doktrinren marxistischen Analyse brgerlicher Gesellschaften. Eher ist einUnterscheidungsmerkmal gerade in dem Versuch des korporativen Staates zu erblicken, diebereinstimmung so weit wie mglich auch institutionell zu sichern. Tatsache bleibt aber auch untersolchen Bedingungen, da die ideologische faschistische Groraumpolitik die gleichgerichteten

    konomischen Forderungen nach Markterweiterung, neuen Rohstoffquellen und Arbeitskrftenausdrckte und da ihr nicht zufllig die militrischen Planungen des Generalstabs entsprachen. Wasspter zu Differenzen zwischen diesen verschiedenen Machtgruppen fhrte, war nicht dielangfristige Perspektivplanung, sondern es waren die unterschiedlichen Vorstellungen berVoraussetzungen und zeitlichen Ablauf ihrer Durchfhrung.

    III.

    Die terroristische Form der faschistischen Diktatur ist jedoch nicht nur Ausdruckgesellschaftlicher Militarisierung in auenpolitischer Absicht, sondern sie dient zunchst und vor allem

    dem Zweck, die Arbeiterklasse und ihre Organisationen zu zerschlagen beziehungsweise unterdrcktzu halten. Denn die Erschlieung neuer Mrkte und Rohstoffquellen fr die deutschen Kapitale setzteindeutig voraus, da die durch die Weltwirtschaftskrise blockierte Kapitalreproduktion erneut in Gangkommt und auf dem gegebenen Stand der Technologie wieder Profite abwirft. Dies erfordert fr dasKapital entscheidend vernderte Verwertungsbedingungen, die nur auf Kosten der Arbeiterklassegeschaffen werden knnen. Die Strategie zur wirtschaftlichen Erholung ist demnach allein als einepolitische Strategie wirksam, die die verschrfte Ausbeutung der Arbeiterklasse durchsetzt undgarantiert. Genau an diesem Knotenpunkt konomischer Erfordernisse und politischer Leistungen derDiktatur setzt Sohn-Rethels zentrale These zur Funktionsbestimmung des Faschismus an. Ihreentscheidende Formulierung, der Faschismus bedeute die Rckkehr zur absoluten

    6 Vgl. Tim W. Mason, Der Primat der Politik, in: Das Argument, 8. Jg. 1966, Heft 6, Nr. 41, und die KontroverseCzichon/Mason/Eichholtz/Gossweiler in: Das Argument, 10. Jg. 1968, Heft 3, Nr. 47.

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    Mehrwertproduktion, trifft einerseits den Kern einer materialistischen Faschismustheorie: DerFaschismus wird abgeleitet aus der materiell-konomischen Basis des Klassenverhltnisses, d. h. derNotwendigkeit einer drastischen Erhhung der Mehrwertrate angesichts der Krisensituation, in der sichbesondere nationale Kapitale im Rahmen des kapitalistischen Weltsystems befanden. Andererseitskann diese Verwendung des Begriffs des absoluten Mehrwerts zu Miverstndnissen fhren, weildamit bei Marx eine allgemeine Form der kapitalistischen Produktion gemeint ist, die ebenso wie dieForm des relativen Mehrwerts (deren Basis sie ist) nicht zur Unterscheidung historischerPhasen derkapitalistischen Produktionsweise dienen soll, sondern in allen Phasen existiert.

    Der Sachverhalt, den Sohn-Rethel mit dieser Formulierung kennzeichnet, stellt eine besondere,historische Situation der kapitalistischen Mehrwertproduktion dar, in welcher die konomischenMethoden und was wesentlich ist die klassenpolitischen Konstellationen der absolutenMehrwertproduktion aufgrund besonderer Bedingungen das bergewicht erhielten: gewaltsameAusdehnung der Arbeitszeit, Intensivierung der Arbeit bei gleichbleibendem Preis der Arbeitskraft, d.h. staatlich sanktioniertem Einfrieren der Lhne. Darber hinaus ist es die in der faschistischenKonjunktur in Deutschland eintretende Zerreiung des Zusammenhanges von Steigerung derProduktivkraft der Arbeit und Senkung des Werts der Arbeitskraft, die die Verwendung der Kategoriedes absoluten Mehrwerts zur Analyse der faschistischen Krisenlsung nahelegt. Obwohl nach der

    zunchst durch Kapitalvernichtung in der Krise und die ungeheure Arbeitslosigkeit ermglichten rein quantitativen Ausdehnung der Produktion auf gleichbleibender technologischer Grundlage (dieseAussagen gelten nur im Durchschnitt) fr das deutsche Kapital mit der Erreichung derVollbeschftigung (1937/38) die Notwendigkeit einer auch qualitativen Steigerung derProduktivkraft der Arbeit eintrat, wurde durch die Rstungsproduktion ein wachsender Teil dessteigenden gesellschaftlichen Wertprodukts quasi auerhalb des normalen Reproduktionsprozessesverbraucht. Die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit setzte sich kaum in die Sektoren der deutschenWirtschaft fort, die die notwendigen Lebensmittel produzierten. Eine der steigenden Produktivkraftentsprechende Senkung des Werts der Arbeitskraft trat nicht ein. Gleichzeitig fiel der Preis derArbeitskraft unter ihren Wert, da der durch hhere Arbeitszeit und steigende Intensitt der Arbeiterhhte (und zwar berproportional erhhte) Verschlei der Arbeitskraft nicht durch eineentsprechende Erhhung des Lohns kompensiert wurde. Die staatlich organisierte Umlenkung des

    Wertprodukts und des zu akkumulierenden Mehrwerts in die Rstungsproduktion (garantiert durch eineVerstaatlichung des gesamten Kreditwesens) hatte eine ungeheure Verzerrung derProduktionsstruktur zur Folge: ein berproportionales Anschwellen der Produktionsmittel- und eineStagnation der Konsumtionsmittelindustrie. Dieser Proze wird von keynesianisch orientiertenmakrokonomischen Analysen des deutschen Faschismus nach 1945 besttigt.7Nach 1935/36 lstediese Entwicklung verschiedene Konflikte aus, die von Sohn-Rethel z. T. geschildert werden, wie dieNahrungsmittelkrise, spter auch Konflikte innerhalb der Deutschen Arbeitsfront und zwischen dieserund anderen Machtgruppen des Regimes. Sohn-Rethels Formulierung, die faschistische Konjunkturlse sich von den Bedingungen der konomischen Wertbildung und des Krisenzyklus, knnteverallgemeinert werden, indem man den skizzierten Proze als nationalstaatlich beschrnkten Versuchder Ausschaltung des Wertgesetzes in seiner regulierenden Funktion bezeichnet. Sohn-Rethel macht ananderer Stelle eine entsprechende Andeutung, dort nmlich, wo er auf die Folgen der Abschlieung

    vom Weltmarkt und der Aufhebung seiner intervalutarischen Kontrollfunktion zu sprechen kommt. Inder Tat waren Verlauf und Struktur der faschistischen Konjunktur nur mglich auf der Basis einer andererseits fr die Erhaltung des deutschen Kapitalismus notwendig gewordenen Abschlieungvom Weltmarkt, weshalb die Rckkehr zu einem relativ freien Weltmarkt auch den Zusammenbruchdes faschistischen Regimes in Deutschland bedeutet htte. Da diese Abschlieung vom Weltmarkt

    7 Rene Erbe, Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 1933-39 im Lichte der modernen Theorie, Zrich 1958;Gerhard Kroll, Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, Berlin 1958. Da diese keynesianischen Analysen eineAlternative zur faschistischen Konjunktur in einer innenpolitisch sozialpartnerschaftlichen und auenpolitisch friedlichenForm des Staatsinterventionismus ex post fr mglich halten, liegt an ihrer Unfhigkeit, die wesentliche Basis derkapitalistischen Produktion und Reproduktion, die Produktion von Mehrwert, zu erkennen, und an ihrer Miachtung der

    Weltmarktzusammenhnge. Zum allgemeinen theoretischen Rahmen der hier diskutierten Probleme vgl. Willi Semmler,Jrgen Hoffmann, Kapitalakkumulation, Staatseingriffe und Lohnbewegung, in: Probleme des Klassenkampfs, Heft 2,Erlangen 1972.

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    und der Versuch, sich dessen regulativer Kontrolle zu entziehen, nur ein vorbergehender, in Krieg undNachkriegskatastrophe endender sein konnte, ist klar. (Man vergleiche dies mit dem Verfall desDollar auf dem Hintergrund des Vietnamkrieges.) Deshalb mu hier auch offen bleiben, obSohn-Rethels zweite zentrale These vom Widerspruch zwischen Produktions- und Marktkonomie soweit sie zur Charakterisierung von Verlauf und Struktur des Akkumulationsprozesses dient nichtebenfalls von dieser spezifischen Krisenlage des kapitalistischen Weltmarktes geprgt ist. Immerhinfhrte gerade der Zweite Weltkrieg zu einer Reorganisation des kapitalistischenAkkumulationsprozesses im Weltmastab, die gerade durch die Internationalisierung der Produktionund die Verdichtung der Weltmarktbeziehungen einen enormen Aufschwung ermglichte. Damit istnicht gesagt, da sich hnliche Krisensituationen nicht wiederholen knnen.8 Auch kann hier nicht dieFruchtbarkeit dieses Teils der Faschismustheorie Sohn-Rethels fr eine allgemeine Theorie desgegenwrtigen (Spt-) Kapitalismus, d. h. fr die Frage nach den Vernderungen der Formen derVergesellschaftung und ihrer Widersprche, geprft werden.

    Da die Entwicklung im faschistischen Deutschland zwangslufig auf den Raubzug durch Europahindrngte, macht Sohn-Rethel berzeugend klar. Die Vernichtungstendenz wurde im Innern erstmglich, nachdem die Tarif- und Widerstandsfhigkeit der Arbeiterklasse ausgeschaltet waren. Dieterroristisch erzwungene Steigerung der Mehrwertrate zeigte eine der zerstrerischen Logik der

    absoluten Mehrwertproduktion (Ausdehnung des Arbeitstages auf 24 Stunden) entsprechendeKonsequenz im SS-Prinzip der Vernichtung durch Arbeit, das whrend des Krieges KZ-Insassen,andere Hftlinge und Kriegsgefangene traf. Der deutsche Arbeiter hatte demgegenber denmarginalen Schutz der DAF; die strkere Einbeziehung der deutschen Frau in denRstungsproduktionsproze whrend des Krieges wurde durch den Zwangseinsatz von ber 7Millionen auslndischer Arbeiter gebremst.

    Diese Zusammenhnge machen deutlich, da die Wiederingangsetzung der kapitalistischenAkkumulation nach der Weltwirtschaftskrise und die nationalstaatlich-imperialistische Perspektive derWiedererlangung der Konkurrenzfhigkeit des deutschen Kapitals (insbesondere auf der Basis einermitteleuropischen Groraumpolitik) fr die Allianz von Kapital und Faschismus nicht nur eine reinkonomische Begrndung abgibt, sondern bei der faschistischen Bewegung und dem faschistischenRegime eine spezifische geschichtliche Qualitt voraussetzt: nicht nur die machtpolitische Eroberung

    und Absicherung eines erweiterten Marktes, sondern primr die Schaffung der klassenpolitischenVoraussetzungen dafr, da diese Expansionsstrategie berhaupt mglich wurde, die Garantie einerKlassensituation, die gewissermaen die ganze Arbeiterbewegung seit dem Kampf um denNormalarbeitstag rckgngig machte. Die sich erffnende Perspektive einer erneutenWeltmarktprsenz hatte zur Bedingung, da die Nazis im voraus, institutionell, terroristisch oderanders, die Gefahr ausschalteten, da die dazu ntige Arbeitskraft nicht zur vollstndigen Verfgunggestanden htte. Dies ist die materialistische Ableitung fr die Zerschlagung derGewerkschaftsbewegung und gilt gleichermaen fr Italien.

    Ein anderes Moment der Herstellung der inneren Voraussetzungen fr die neueExpansionsstrategie des Kapitals stellen die internen Auseinandersetzungen in der faschistischenBewegung selbst dar. Von der Anfangsidentitt zwischen Generalstabsplanung, Kapital und Regimewar schon die Rede. Historisch fand diese Identitt ihren spektakulren Ausdruck in der Zerschlagung

    der kleinbrgerlich-rebellischen Bewegung der SA - im sogenannten Rhm-Putsch. Sohn-Rethelversucht, diesen Konflikt in die Klassenanalyse des deutschen Faschismus zu stellen. Eindeutig zeigtsich bei dieser Darstellung die Koppelung politischer Ereignisse mit der sozialen Bewegung einerseitsund den spezifischen Erfordernissen der Kapitalbewegung andererseits. Gewi sind soziale Inhalte undWidersprche der ganzen SA-Bewegung, die zum Teil auf hnlich gelagerte sozialrebellische Inhaltedes ursprnglichen, stdtischen Faschismus in Italien hinweisen, weitgehend bekannt. Gleichwohlbleiben Erklrungen meist abstrakt-allgemein, indem sie sich festmachen an einem formellenWiderspruch zwischen kleinbrgerlicher Auflehnung einerseits und dem machtpolitischen Zwang zurAllianz der faschistischen Fhrung mit Grokapital und Reichwehr andererseits. Sohn-Rethel deckt die

    8 Vgl. hierzu Christel Neus, Bernhard Blanke, Elmar Altvater, Kapitalistischer Weltmarkt und Weltwhrungskrise,in: Probleme des Klassenkampfs, Nr. 1, Erlangen 1971; Christel Neus, Imperialismus und Weltmarktbewegung desKapitals, Erlangen 1972.

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    materielle Allianz auf, die ber die bloe Zerschlagung potentiell jakobinisch-kleinbrgerlicherTendenzen hinausweist und die im deutschen Faschismus dieselbe Tendenz ausdrckt, wie sie fr dieinstitutionelle Strategie des italienischen Faschismus kennzeichnend war. Es ging nicht nur um einemachtpolitisch kontin-gente Allianz zwischen faschistischem Regime und Kapital, so zeitgebunden und(in illusorischen, teils allerdings besttigten Zukunftsperspektiven des Grokapitals)interessengebunden diese Allianz auch war. Es ging vielmehr, wie bei der Verstaatlichung derfaschistischen Bewegung in Italien 1926/27, um die schlichte Wiederherstellung der spezifischbrgerlichen, nmlich verrechtlichten, legal-formalisierten Qualitt des Staates, wenngleich in derpervertierten Form des Fhrerstaates. Der Fhrerstaat ging im Gegensatz zum SA-Staat insofern in die Brgerlichkeit zurck, als in ihm der Zugang zum Machthaber (Carl Schmitt) geregeltwurde, wobei diese Regelung nur die formelle Seite des wichtigeren Inhalts war, da selbst informell die Garantie der Kapitalreproduktion auch im Faschismus als zentrale Aufgabe staatlicherManahmen gewhrleistet wurde. Die kleinbrgerliche Revolte hatte sicher nicht die fr das Systemzerstrerische Komponente der proletarischen Klassenbewegung, aber sie war geeignet, denReproduktionsproze, der mittels des Faschismus wieder in geregelte Bahnen gelenkt werden sollte,zu stren. Der Rhm-Putsch stellt, so betrachtet, nichts machtpolitisch Zuflliges dar, ist auch mitdem Konflikt Reichswehr-Monopolanspruch versus SA-Einbruch in das staatliche Gewaltmonopol

    nicht hinreichend beschrieben, sondern eben wesentlich fr die Konsolidierung des faschistischenRegimes als einer spezifisch brgerlichen Herrschaftsform.

    IV.

    Im Widerspruch zur materiellen Identitt von Faschismus und den Zwngen der kapitalistischenReproduktion in einer spezifischen Krisensituation scheint die Agrarpolitik des deutschen Faschismuszu stehen. Oberflchlich gesehen, fixiert sich der Faschismus in starkem Mae ideologisch an tradiertenVorstellungen eines gesunden Bauerntums. Von der sozialen Basis her bilden agrarischeBevlkerungs- und Interessengruppen ebenso einen Teil der faschistischen Bewegung wie das

    stdtische Kleinbrgertum. In einzelnen Fllen, wie in Finnland nach dem Ersten Weltkrieg, istFaschismus ausschlielich Agrarfaschismus; ebenso hatte sich in sterreich eine regionale Front derAgrargebiete gegen das rote, industrielle Wien gebildet. Hatte sich im italienischen Faschismus auchliterarisch das Land gegen die Stadt gestellt, so drckte sich diese Wendung im deutschenFaschismus am strksten in der Blut-und-Boden-Mythologie aus. Der Widerspruch war allerdings auchhier in erster Linie nicht ein ideologischer, sondern ein konomischer, vor allem in Deutschland mitseinem Vorsprung der Industrie vor der Landwirtschaft. Die Subventions- und Entschuldungspolitikbedeutete schon seit lngerer Zeit eine Profiteinbue und damit eine Hemmung der Akkumulation, diezumal in der Weltwirtschaftskrise den Widerstand des Kapitals hervorrufen mute. Den entscheidendenAspekt aber schildert Sohn-Rethel: die sich aus der Konsequenz der kapitalistischen Expansionspolitik(Mittel-Sdosteuropa-Plne) entwickelnde Storichtung der Agrarpolitik. Die als Hinterland fr dieEroberung einer neuen Weltmarktposition zu erschlieenden Lnder standen als Agrarexporteure in

    Konkurrenz zur deutschen Landwirtschaft. Hier mute das faschistische Regime einenPerspektivenwechsel vollziehen. Es gehrt zu den auch von der informellen und Personalseite her -spannendsten Teilen der Analyse von Sohn-Rethel, wie es dem deutschen Grokapital in dieserSituation gelang, das Regime zu einem regelrechten Bauernlegen zu veranlassen, und wie imGefolge der faschistischen Konjunktur die Landwirtschaft voll der Logik der Kapitalakkumulationunterworfen wurde (Erbhofgesetzgebung als Basis fr die Abwanderung von Arbeitskrften in dieIndustrie etc.). Gewi nahm das Regime Rcksicht auf die Landwirtschaft, aber eben auf dieInteressen der kapitalistisch produzierenden Groagrarier, nicht auf diejenigen der Bauern, wie es dieIdeologie vorgab. Auch hier lassen sich Parallelen zu Italien ziehen, wenngleich die spezifischenUnterschiede zu bercksichtigen sind, die sich aus dem relativ niedrigen Stand der kapitalistischenEntwicklung in Italien, dem niedrigen Stand der Vergesellschaftung der Arbeit und aus der Dominanzder Landwirtschaft ergeben. Was aber fr den deutschen Faschismus wesentlich war, die Durchsetzung

    der Expansion des Kapitals und ihrer Voraussetzungen, hatte der italienische Faschismus bereits inGestalt der beschleunigten Akkumulation des Kapitals, der staatlichen Eingriffe zur Rettung der

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    Industrie whrend und nach der Weltwirtschaftskrise, vorexerziert. Jeweils waren das Landproletariatund die mezzardi (Pchter) ebenso die Leidtragenden wie das Industrieproletariat.

    Die doppelte Storichtung des deutschen Kapitals (Mittel-und Sdosteuropa als Expansionsraum,in der Kompensation zugleich Exportraum fr landwirtschaftliche Erzeugnisse nach Deutschland) dientschlielich zur Klrung der Widersprche, die konomisch bei der auenpolitischen Bndnispolitik(Achse Berlin-Rom) der beiden historischen faschistischen Regime ausbrachen und in Italien zurKndigung der Allianz zwischen Kapital und Agrariern einerseits, faschistischem Regime andererseitsfhrten. Fr die italienische Landwirtschaft bedeutete die Orientierung des deutschen Markts an denBalkanlndern einen schweren Einschnitt in die eigenen Exportmglichkeiten nach dem DeutschenReich. Gerade in den Folgewirkungen der kolonialen Politik des faschistischen Italiens und als Auswegaus der franzsisch-englischen Sperre gegenber den italienischen Produkten hatte die italienischeLandwirtschaft zunchst im Reich den Ausweichmarkt gefunden. Noch wichtiger und nochdramatischer war diese neue Lage aber fr das auf dem Weltmarkt ohnehin schwache, durch dieAbsperrung gegen den Westen doppelt getroffene italienische Kapital, das von Anfang an auf Exportestark angewiesen war. Fr das italienische Kapital bot der Donauraum die sozusagen natrlicheExpansionsmglichkeit. Auenpolitisch versuchte das Regime in der Zeit vor dem Stahlpakt, genaudiesen Raum gegenber Deutschland abzuschirmen (Beistandspakte mit Ungarn, Jugoslawien etc.).

    Der Plan einer umgestellten Exportpolitik lie aus dem deutschen Kapital den strksten Konkurrentenwerden und aus dem Stahlpakt in der Sicht des italienischen Kapitals die widernatrlicheVerbindung eines schwachen mit einem stark expansiven Konkurrenten. konomisch htte eineBndnispolitik mit England fr die italienischen Exporte eher den Charakter einer flankierendenauenpolitischen Manahme gehabt. Hier soll die weitere Entwicklung der italienischen Situation nichtanalysiert werden. Wesentlich bleibt der Aspekt, wie konomische Grnde zur Desintegration der Basisdes italienischen Regimes fhren muten: seit 1938 befand sich die faschistische Diktatur in Italien aufdem Weg zum Untergang, da zu dem nur kurzfristig whrend des Abessinienfeldzuges bertnchtenDissens vor allem der Arbeiterklasse, aber zunehmend auch anderer Bevlkerungsgruppen der Entzugdes Vertrauens, d. i. des Konsens der Groagrarier und der Industrie, hinzukam.

    V.

    Insgesamt lt sich die soziale Funktion des Faschismus zusammenfassen als imperialistischeExpansion mit militrischen Mitteln auf der Grundlage einer doppelten Garantie fr das kapitalistischeSystem: der Garantie seiner konomischen Reproduktion zu optimalen Konditionen des Kapitals,insofern der Faschismus die Arbeiterklasse selbst am reformistischen Kampf um die lohn- undsozialpolitischen Bedingungen ihrer Ausbeutung hindert; und der Garantie seiner durch diekonomische Entwicklung gefhrdeten politischen Reproduktion, insofern der Faschismus dieArbeiterbewegung insgesamt zerschlgt und damit ihren revolutionren Kampf gegen das ganzeSystem der Mehrwertproduktion mit terroristischen Mitteln prventiv unmglich macht.

    Whrend die auch gegen die reformistische Arbeiterbewegung gerichtete Gewalt ein Spezifikum

    der faschistischen Form brgerlicher Herrschaft darstellt, ruft die gleichzeitige gewaltsame Repressionder revolutionren Potenzen der Arbeiterklasse den gemeinsamen Nenner aller brgerlichenHerrschaftsformen in Erinnerung und stellt die Faschismus-Theorie in den Zusammenhang derallgemeinen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer normalen Staatsform, deren sozialeund politische Funktion eben darin liegt, kapitalistische Akkumulation sowohl wirtschaftspolitischabzusichern (Funktion des Staatsinterventionismus) als auch mit dem stets latenten staatlichenGewaltmonopol vor einer revolutionren Bedrohung zu schtzen (Funktion derprventiv-permanenten Konterrevolution). Sohn-Rethels Analyse weist genau auf die nochunausgefllten Stellen einer umfassenden konkret-allgemeinen Theorie ber den Faschismus, fr diemit dem fr Deutschland doppelten konomischen Zwangscharakter des bergangs zur faschistischenDiktatur erst die eine Seite ihres zentralen Problems geklrt ist. Denn diese Entwicklung lt sich wederfr Deutschland noch fr Italien ohne gleichzeitige Analyse des Zustands der Arbeiterbewegung und

    ihrer Aktionen im Klassenkampf hinreichend erklren. Eine umfassende Faschismus-Theorie steht alsovor dem groen Problem, da, je nach dem geschichtlichen Stand der Akkumulation auf der einen und

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    der Klassenkmpfe auf der anderen Seite, der Zusammenhang zwischen Kapitalbewegung undKlassenbewegung erst jeweils konkret ausfindig gemacht werden mu. Wichtigster Punkt einerallgemeinen Faschismus-Theorie wird dabei die adquate Einschtzung des Zwangs zur Integration derArbeiterklasse sein, der zum wesentlichen, von Staats wegen zu lsenden Problem derKapitalreproduktion geworden ist, seit es eine Arbeiterbewegung gibt und erst recht seitdem diese sichin einem Lande auf revolutionrem Wege durchsetzen konnte. Sowohl in Italien 1920 als auch inDeutschland mit der Weltwirtschaftskrise scheiterte das reformistische Konzept der Integration(Giolittismus in Italien, sozialdemokratische Politik in der Weimarer Republik) an dem Widerspruchzwischen Integrationskosten und Akkumulationszwang. In Italien brach dieser Widerspruch an denbesonderen Akkumulationsschwierigkeiten des italienischen Kapitals nach dem Ersten Weltkrieg auf,in Deutschland an den besonders gravierenden Folgen der Weltwirtschaftskrise; in beiden Fllen httendie hohen reformistischen Integrationskosten zum Zusammenbruch der erweitertenKapitalreproduktion fhren mssen. Daher rhrt die Notwendigkeit einer Integrationsstrategie, dieweniger Kosten verursacht, sei sie terroristisch wie in den Anfngen aller faschistischen Bewegungen,sei sie institutionell wie im ausgebauten korporativen System, die aber, wie Sohn-RethelsAusfhrungen ber die tendenzielle Rckkehr zur absoluten Mehrwertproduktion zeigen, ebensoZwangscharakter annimmt wie die Anstrengung, das Problem der abgeblockten Profitrealisierung auf

    dem Weltmarkt politisch zu lsen.Mit Sohn-Rethels Darstellung und theoretischer Reflexion der tatschlichen Entstehung desdeutschen Faschismus ist der Ausgangspunkt fr eine die geschichtlichen Unterschiede und diewidersprchlichen Erscheinungen zufammenfassende materialistisch-dialektische Theorie desFaschismus erreicht. Unter Marxisten wird dieser Beitrag die weitere Diskussion ber einematerialistische Faschismus-Theorie vorantreiben und darber hinausgehende Fragen wie die nachden allgemeinen Bedingungen der institutionellen Strategie des Kapitals in unterschiedlichen Phasender Klassenauseinandersetzungen klren helfen. Gewi werden sich an Sohn-Rethels Ansatz auchinnermarxistische Kontroversen entznden. Die herrschende Richtung der brgerlichenFaschismus-Forschung freilich wird mit den folgenden Analysen wenig anfangen knnen, da sie aneiner wirklichen Klrung der geschichtlichen, also ber die sogenannte Epoche des Faschismushinausreichenden Bedeutung des Faschismus nicht interessiert sein kann.

    Berlin, Juni 1973Johannes AgnoliBernhard BlankeNiels Kadritzke

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    1. VorbemerkungDie hier zur Verffentlichung gelangenden Aufzeichnungen und Analysen beziehen sich auf die

    deutschen Ereignisse in den dreiiger Jahren. Zum weitaus grten Teil sttzen sie sich auf persnlicheErfahrung, und ihre Niederschrift erfolgte in der Hauptsache in den Jahren 1937 bis 1941 in England,

    bald nach meiner Emigration im Februar 1936. Die im ersten Teil enthaltenen Texte wurden verfat aufVeranlassung von Mr. Wickham Steed in London, einem hochgeachteten ehemaligen Chefredakteurder Times und engen Freund und politischen Verbndeten Winston Churchills, welcher damals inOpposition gegen die hitlerfreundliche Appeasement-Politik zuerst der Baldwin- und hernach derChamberlain-Regierung stand. Wickham Steed hielt Kontakt mit vielen aus Deutschland geflohenenPolitikern und Intellektuellen und spannte sie ein fr eine aktive und kohrente Politik desWiderstandes gegen den sich in Europa ausdehnenden deutschen, italienischen und spanischenFaschismus. Meine Berichte und Darstellungen waren fr verschiedene Persnlichkeiten innerhalb desChurchill-Lagers bestimmt und sind deshalb unabhngig voneinander abgefat worden. Sie enthaltenzahlreiche Wiederholungen und berschneidungen, die zum Zweck einer Verffentlichung inBuchform teils ganz eliminiert, teils auf ein Mindestma reduziert werden muten. Vollstndig lieensie sich nicht vermeiden, ohne den inneren Zusammenhang der Stcke zu zerreien oder einen fr denLeser beschwerlichen Apparat von Stellenverweisen in Kauf zu nehmen. Es erwies sich aber als ntig,die Texte so zu gruppieren und zu teilen, da sie nun in logischer Aufeinanderfolge einen einheitlichenZusammenhang bilden. Dies konnte unter voller Wahrung ihrer Identitt geschehen.

    Vier Stcke, die entweder jedes fr sich einen systematisch geschlossenen Zusammenhang bildenoder aber sich thematisch absondern, sind getrennt und unverndert der analytisch-inhaltlichenGesamtdarstellung des ersten Teils in einem zweiten als Anhang hinzugefgt worden. Sie haben jedochdas eine gemeinsam, da sie in der einen oder anderen Weise vorrangig mit der Klassenstruktur desNazifaschismus befat sind, im Unterschied zum ersten Teil, der sich vorwiegend mit der konomiedieser Entwicklungsform des Kapitalismus beschftigt. Daher die thematische Zweiteilung des Buches.Die Anordnung der Einzelstcke im zweiten Teil ist durch die zeitliche Folge ihrer Abfassungbestimmt. Dabei ist als erstes Stck der Aufsatz aus den Deutschen Fhrerbriefen vom September

    1932, der bereits im Kursbuch 21 zur Wiederverffentlichung gelangt ist, abermals aufgegriffenworden, weil er ein besonders klares Licht auf die zum Faschismus hindrngenden Klassenverhltnissezu werfen geeignet erscheint. Der Aufsatz Zur Klassenstruktur des deutschen Faschismus ist diebersetzung eines englischen Textes, der ein Kapitel in einer lngeren (unverffentlicht gebliebenen)Abhandlung darstellt und darum einer gewissen redaktionellen berarbeitung bedurfte, um ihn ausdiesem Zusammenhang herauszulsen. Die Abhandlung Einige Voraussetzungen zum Verstndnis derdeutschen Entwicklung wurde aufgenommen, weil sie in gedrngter Form die theoretischeGrundanschauung zusammenfat, die sich aus den Analysen des ersten Teils herausschlt. Tatschlichwar sie mein erster Versuch, zu einer theoretisch begrndeten Auffassung und Bewltigung derGeschehnisse, die ich aus der Nhe erlebt hatte, zu gelangen. Meine Auffassung erhielt eine gewisseBesttigung dadurch, da die Abhandlung im Februar 1938 die Ereignisse im Herbst desselben Jahres,also die Mnchner Krise, richtig prognostizierte. Das letzte Stck endlich, Die Geschichte des 30.Juni

    1934, steht am Schlu, nicht nur, weil es sich durch sein Thema vom brigen abzusondern scheint,sondern auch, weil mir das Datum seiner Abfassung nicht mehr erinnerlich ist. Fr dieses Schlukapitelmacht sich im besonderen Mae der Nachteil geltend, da ich fr meine Kenntnis und Auffassung derDinge keine dokumentarischen Belege, sondern nur mein persnliches Zeugnis vorzuweisen habe.Freilich liegt das auch gerade bei diesem letzten Gegenstand in der Natur der Sache, da ber dieGeschehnisse in dieser blutigen Episode bei der Gestapo wahrscheinlich berhaupt nichts zu den Aktengenommen worden ist oder aber nur in der Form von Privatdokumentationen, von denen nichts erhaltengeblieben ist.

    Das wirft die wichtige Frage auf, an welchen Stellen und aus welchen Quellen die Kenntnisse undErfahrungen, die hier vorgelegt werden, gesammelt worden sind. Es ist keine bertreibung zu sagen,da unterm Faschismus alles politisch Wissenswerte nur noch hinter verschlossenen Tren vor sichgeht und da nichts Glaubhaftes mehr in den Zeitungen steht. Wer informiert sein und die Dinge

    wirklich verfolgen will, mu die entsprechenden Kontakte haben, und die gab es damals selbstredendnur in Berlin. Wir, d. h. eine Gruppe von etwa fnf Leuten, die einander vertrauen konnten, arbeiteten

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    damals so, da wir uns regelmig einmal in der Woche trafen, um die Informationen undMutmaungen, die jeder im Laufe der Woche gesammelt hatte, gleichsam auszupacken, miteinander zuvergleichen und zu analysieren. Zu dieser Gruppe gehrte Wolfgang Hanstein, Sekretr desDeutsch-Franzsischen Studienkomitees, in dessen Rumen in der Bendlerstrae wir uns derquasidiplomatischen Sicherheit des Ortes wegen trafen; Hugo Richarz von der PreuischenHauptlandwirtschaftskammer; Wolfgang Krger von der Reichswirtschaftskammer, moralischerMentor von Robert Ley, dem Fhrer der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront; MargretBoveri, eine ungeheuer kluge, vor allem auenpolitisch ausgezeichnet informierte Journalistin(Frankfurter Zeitung undBerliner Tageblatt), und ich, Assistent von Dr. Hahn im MWT und Mitgliedder Redaktionskonferenz der Deutschen Fhrerbriefe.1 Nach Mglichkeit traf ich mich auch mitKontaktleuten aus Stellen, wo gerade Wichtiges vor sich ging, zum Mittagessen, um zustzlicheInformationen oder Besttigungen zu erhalten.

    Meine eigentlichen Einsichten in die Natur der faschistischen Diktatur und ihrer Vorbereitungenzog ich aus den Erfahrungen beim MWT, aber der Hauptteil der politischen Informationen ergab sichaus meiner Mitarbeit bei den Deutschen Fhrerbriefen. Es scheint deshalb unerllich, ber dieseeiniges von dem zu wiederholen, was bereits im Kursbuch 21 gesagt worden ist. Vor allem, da derName zu Unrecht unmittelbare Assoziationen mit Hitler erweckt. Diese politisch-wirtschaftliche

    Privatkorrespondenz war von Dr. Franz Reuter und Dr. Otto Meynen Ende 1928 in Kln gegrndetworden, also zu einer Zeit, als die Nazibewegung fast von der politischen Tagesbhne verschwundenwar und noch gute anderthalb Jahre von ihrem Wiederanstieg entfernt war. Dennoch war dieNamenswahl eine Inspiration, da dieses eigentmliche Organ auf Seiten der groen Industrie, der hohenFinanz und der hohen Politik zu den Anfangssymptomen der kommenden Entwicklung gezhlt werdenmu. Es hatte eine stetig ansteigende Zahl von Lesern, die Abonnenten sein muten, da dieKorrespondenz nicht ffentlich erhltlich war. Zu ihrer Leserschaft gehrten auer den Herren von derWirtschaft die oberen Reichswehrspitzen, Kabinettsmitglieder, fhrende Groagrarier, die UmgebungHindenburgs etc. Die Fhrerbriefe waren also keine Pressekorrespondenz, und Journalisten waren vomEmpfang ausgeschlossen. Sie erschienen zweimal wchentlich, und smtliche Beitrge, abgesehen vonden Leitartikeln, waren strikt anonym. Franz Reuter hatte hauptschlich Verbindung mit Schacht, zudem er freien Zutritt hatte und ber den er 1933 eine Biographie verffentlichte. Diese Verbindung

    wurde natrlich erst richtig wertvoll in der Nazidiktatur, als Schacht der finanzielle Berater undVertrauensmann Hitlers wurde. Aber auch die Beziehungen zu Papen waren ergiebig und von groerWichtigkeit in der Vorbereitungszeit der Diktatur, 1931 und 1932. Da die Verbindung mit denIndustrie- und Finanzkreisen nichts zu wnschen briglie, versteht sich am Rande. Kurzum, es darfohne groe bertreibung gesagt werden, da die kleine Gruppe der Informationsbrse in derBendlerstrae zu den bestinformierten Leuten im Deutschland der dreiiger Jahre gehrte. DieKenntnis und bersicht mute gut sein, um die Chaotik und Unberechenbarkeit der Ereignisse undzugleich die treibende, aber verborgene Gesetzmigkeit einschtzen zu knnen. Das freilich gelangauch uns erst mit der Zeit und auch dann meist nur mangelhaft. Eine wirkliche Tiefenanalyse kann nurim Abstand gelingen. Aber ich mu sagen, da ich die Position, in der ich mich damals befand, wegendes ungewhnlichen Interesses, das sie bot, niemals verlassen htte, wenn ich mir die Verhaftung durchdie Gestapo, als sie drohte, sozusagen htte leisten knnen. Sie drohte aus relativ trivialen Grnden, die

    mit meiner Ttigkeit als Geschftsfhrer einer gyptischen Handelskammer in Deutschland brigens auch in der Bendlerstrae situiert , die ich seit Anfang 1935 ausbte, zusammenhingen, aberdie Untersuchung wre zweifellos zu anderen Dingen vorgedrungen, die zu einem Todesurteilmehrfach gengt htten. Um aber noch einmal auf die politische Gruppe des Churchill-Lagers inLondon zurckzukommen, fr die der Groteil des hier verffentlichten Materials geschrieben wurde,so war die Zusammenarbeit hier auf spontane Freiwilligkeit gegrndet; sie hatte in keiner Weise den

    1 ber diese Informationstreffen in der Bendlerstrae hat Frau Dr. Margret Boveri einen recht instruktiven kurzenBericht in den Neuen Deutschen Heften. Nr. 123, S. 205 ff. (16. Jg. 1969) verffentlicht. Zu der Zeit, als ich noch daranteilnahm, d. h. bis Anfang 1936, fanden die Zusammenknfte am Freitag statt, so da ich am Wochenende fr meine illegalenKontakte daraus Nutzen ziehen konnte. Spter mssen sie auf den Mittwoch verlegt worden sein. Jedenfalls waren sie fr alle

    Beteiligten wertvoll genug, um eine regelrechte Institution aus ihnen werden zu lassen, die bis tief in den Krieg fortgelebt hat.Von mir spricht sie als einem philosophischen Kommunisten oder kommunistischen Philosophen, von dem sie z. B.vierzehn Tage vor dem 30. Juni von der bevorstehenden Entmachtung der SA unterrichtet worden sei.

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    Charakter eines Geheimdienstes. Fr einen solchen habe ich niemals gearbeitet. Dagegen habe ich biszu meiner Auswanderung aus Deutschland nacheinander mit drei illegalen sozialistischenWiderstandsgruppen zusammengearbeitet; zuerst, und zwar schon 193132, mit einer Gruppe inHamburg, berresten aus dem Hamburger Aufstand von 1923, mit der Dr. Joachim Ritter, spterProfessor der Philosophie in Mnster, die Verbindung fr mich hielt; danach, 1932/33, als dieVerbindung mit Hamburg zu schwierig wurde, mit der Organisation Roter Sturmtrupp unter RudolfKstermeier und Franz Hering, gesttzt auf eine linkssozialistische Jungarbeitergruppe; und zuletzt,von 1934 bis zu meiner Emigration im Februar 1936, mit der Gruppe Neu-Beginnen, die unter derLeitung von Eliasberg und Richard Lwenthal, damals Paul Sering, arbeitete. Von den Genannten sindnur Eliasberg und Rudolf Kstermeier nicht mehr am Leben. Auer ihnen sind noch Frau Dr. MargretBoveri in Berlin und Dr. Wolfgang Hanstein in Bonn-Godesberg ber meine antifaschistische Aktivittim damaligen Zeitraum unterrichtet. Ich fhre das an fr den Fall, da jemand meine konsequentantifaschistische Bettigung bezweifeln oder zum mindesten als beweispflichtig ansehen knnte, wenner aus den nachstehenden Berichten ersieht, in welchem politischen Milieu sich meine offizielleTtigkeit abspielte. Ich bin auf diese Ttigkeit bereits in meinem Kommentar im Kursbuch 21 vomOktober 1970 zu sprechen gekommen, anllich des Wiederabdrucks jenes Artikels von mir aus den

    Deutschen Fhrerbriefen. brigens gibt es auch dafr, da dieser anonyme Artikel tatschlich von mir

    stammt, beweiskrftige Zeugen.Die Chance, als unerkannter Marxist in eines der inneren Aktionszentren des Finanzkapitals zugelangen, und noch dazu an einem solchen Knotenpunkte der Entwicklung, ergibt sich natrlich uerstselten und kann dann sehr wertvoll sein, theoretisch sowohl wie praktisch. Nach der theoretischen Seiteerhebt sich darum um so mehr die Frage, warum Aufzeichnungen und Analysen wie die vorliegendenso lange unverffentlicht und ungenutzt gelassen worden sind. Der Grund ist, da ich viel weiterreichende Plne im Sinne hatte, als sich dann sowohl theoretisch wie praktisch fr mich als realisierbarerwiesen haben. Vor allem die theoretischen Voraussetzungen stellten sich als viel tiefer gehend heraus,als ich gedacht hatte, und sind nach und nach erst zur Ausarbeitung und vollen Klrung gelangt auf derBasis, die in meinem 1970 erschienenen Buch Geistige und krperliche ArbeitAusdruck gefunden hat.Zu dieser Verzgerung gesellte sich der Zwang von Lebensumstnden, die mich zu langjhrigerUnterbrechung der Fortarbeit ntigten und mir schlielich keine Wahl lieen, als die ursprnglichen

    Plne aufzugeben. So habe ich mich nunmehr entschlossen, kurzerhand die alten Schriftstcke mit deneingangs beschriebenen Modifikationen als Materialien zum Studium des Nazifaschismus derffentlichkeit zugnglich zu machen.

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    2. EinleitungDer Gegenstand, der im Mittelpunkt der Aufzeichnungen steht und um den sie direkt und indirekt

    stndig kreisen, sind die wechselnden Interessengruppierungen innerhalb des deutschen Grokapitals,welche das Hitler-Regime ans Ruder gebracht und den Groteil seiner Politik bestimmt haben. Die

    Interessenkmpfe, die whrend der Krisenjahre 1930-1933 zwischen den fhrenden Grofirmen wiedem Stahlverein, der LG. Farbenindustrie AG, Krupp, Siemens usw., aber auch mit den Groagrariernund der buerlichen Landwirtschaft ausgetragen wurden, sind zum groen Teil schon zu ihrer Zeit indie ffentlichkeit gedrungen und allgemein bekannt geworden. Gleichwohl gibt es fr jemand, derdiesen Vorgngen damals an einem hervorragenden Beobachtungsposten nahe gestanden hat, immernoch genug, das in dem Bilde bisher fehlt und zum Verstndnis der Dinge beitragen kann.

    Die Kenntnis und Beurteilung der genannten Interessengruppierungen kann sich nicht aufBerichte ber Personen sttzen, seien es Politiker oder Wirtschaftsfhrer, da die konomischenCharaktermasken der Personen, wie Marx uns lehrt, berhaupt nur begreiflich und aufschlureichwerden, wenn sie als die Personifikationen der konomischen Verhltnisse verstanden werdenknnen, als deren Trger sie sich gegenbertreten. Die Grundlage mu die Kenntnis derkonomischen Verhltnisse bilden, also der objektiven Interessenlage der magebenden Konzerne, derBedingungen ihrer Produktionsweise sowohl wie ihrer Kapitalverwertung, und diese Kenntnis mteauf Grund genauer Unterlagen und beweiskrftiger Untersuchungen erhrtet werden. Aber an dieserVoraussetzung fehlt es in meinem Fall, und der Mangel an solchen dokumentarischen Untersuchungenist ein weiterer Grund fr das bisherige Zurckhalten des Materials. Meine Kenntnisse und Urteile sindaus persnlichen Beobachtungen, Gesprchen und Erkundigungen und damals allgemein bekanntenTatsachen geschpft und befriedigen mein Gewiheitsverlangen, haben aber fr andere keinegleichwertige berzeugungskraft. Da ich aber in absehbarer Zeit nicht hoffen kann, diesen Mangel zubeheben, und eher auf andere bauen mu, da sie das Fehlende nachholen, soweit das noch mglich ist,verlasse ich mich darauf, da meinen Darstellungen dennoch gengend Glaubwrdigkeit zukommt, umihre Verffentlichung zu rechtfertigen. Fr manche Gebiete und Fragenkreise kann berhaupt nur daspersnliche Zeugnis Aufschlukraft besitzen, und das sind gerade Phnomene, auf die diese

    Aufzeichnungen Licht, z.T. neues Licht werfen. Dazu rechne ich vor allem die Grnde undHintergrnde der Agrarpolitik des Dritten Reichs, die Zielsetzungen der Mitteleuropa-Politik, gewisseEntwicklungslinien und Geschehnisse in der Auenpolitik, die Organisation des Rstungsgeschfts inseiner Anlaufzeit, die mutmaliche Wahrheit ber den 30. Juni 1934, u. a. m. Um so ntiger ist esfreilich, Rechenschaft darber zu geben, an welcher Stelle, abgesehen von den DeutschenFhrerbriefen, und in welcher Eigenschaft die Kenntnisse und Erfahrungen, die hier vorgelegt werden,gesammelt worden sind. Die Stellung war keine prominentere als die eines wissenschaftlichenHilfsarbeiters in einem Bro in Berlin, das mit seinem offiziellen Namen MitteleuropischerWirtschaftstag e.V. (MWT) hie, inoffiziell freilich sehr viel besser als Bro Hahn bekannt warnach seinem unerhrt rhrigen, ehrgeizigen und geschickten Geschftsfhrer Dr. Max Hahn. Stellt mandie Frage, auf welche Weise, durch welche Vermittlungsglieder sich damals in Deutschland dieprivaten Wirtschaftsinteressen des Kapitals, speziell des Finanzkapitals, in groe Politik umsetzten, so

    wird die Antwort fraglos den Geschftsfhrern oder Syndici der Interessenverbnde einenHauptplatz einzurumen haben. Die Kapitalmagnaten und Industriellen selbst haben grtenteils nurdie allerdrftigsten und verworrensten Vorstellungen von ihrer Politik gehabt, und solchengelegentlichen Verlautbarungen wie denen von Thyssen oder von Krupp von Bohlen lt sich so vielGewicht beimessen wie entsprechenden Erklrungen hervorragender Regenmacher bei den Wilden.Der positive Sachgehalt solcher Reden stammte ohnehin nicht von ihnen, sondern von diesem oderjenem Syndicus, und bei wichtigen Gelegenheiten stimmt das fr die ganze Rede. Die Erfahrungen beiden Entnazifizierungsverfahren oder vor den Nrnberger Gerichten haben ber den Bewutseinsstandder Groen der Privatwirtschaft eindrucksvolle Aufklrung gewhrt. Nicht da die Syndici von Hausaus notwendig intelligenter waren, aber sie machten in ihrer beruflichen Funktion eine unvergleichlicheSchulung durch in der Erfassung und Abwgung von Interessengegenstzen und in der Behandlungderselben durch berbrckung oder Umgehung, Verheimlichung oder Ausbgelung. Auerdem

    weiteten sich ihr Horizont und ihre Kenntnis durch die Fhlung, die sie im Umkreis verschiedenerVerbnde untereinander hielten, weit ber die der einzelnen Verbandsmitglieder aus. Freilich waren die

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    Rollen, die die einzelnen Geschftsfhrer spielten, auerordentlich verschieden. Einige wurden dafrbezahlt, da sie Politik machten, andere dafr, da sie sie fernhielten. Das Bro Hahn gehrte inausgesprochenem Mae zu den ersteren, und jeder, der die Verhltnisse in den oberen Regionen damalskannte, wird mir zustimmen darin, da dieses besondere Bro in jener Zeit zu den politisch aktivstenund einflureichsten in Berlin und in ganz Deutschland zhlte. Ich stimme Frau Dr. Margret Boveri zu,wenn sie sagt, der MWT sei ein strategischer Ort gewesen, wie es wenige gegeben haben drfte, [...]wert, einmal in einer zeitgenssischen Dissertation untersucht zu werden.

    Dr. M. Hahn hielt stndige enge Fhlung mit der Reichswehr (wir waren am Schneberger Ufer 39der Bendlerstrae gerade gegenber), speziell mit dem Kriegswirtschaftsamt (Oberst, spter General G.Thomas), dem Heeresverpflegungsamt (General Kaamann) und der Abwehr-Abteilung sowie mit demAuswrtigen Amt. Wir hatten Brogemeinschaft mit denDeutschen Fhrerbriefen (einer 1928 von Dr.Franz Reuter und Dr. Otto Meynen gegrndeten politisch-wirtschaftlichen Privatkorrespondenz1),der Osthilfe-Korrespondenz sowie mit dem Deutschen Orient-Verein (Geschftsfhrer Dr. FritzHesse vom Deutschen Nachrichten-Bro), welcher die Zielsetzung des MWT nach dem Nahen Ostenausdehnte, mit einem wissenschaftlichen Privatsekretr von Dr. Schacht (Dr. Krmer) und mit derdeutsch-jugoslawischen Handelskammer (die u. a. auch eine Agentur fr Pavelic's Ustaschis war).

    Da das Bro Hahn nach auen hin, d. h. in der ffentlichkeit, so wenig von sich reden gemacht

    hat, lag im Sinne seines Geschftsfhrers und war ein Beweis fr seine diplomatische Geschicklichkeit.Fr das Unbekanntbleiben des MWT in der Nachkriegszeit aber ist die Tatsache verantwortlich, da Dr.Hahn im Jahre 1941 starb und da damit sein Bro wohl auch die spezifische Bedeutung einbte,die es so beachtenswert gemacht hatte. Nur der Tod Dr. Hahns vermag zu erklren, da der MWT mitseinem weitreichenden Einflu auf die Vorkriegs- und Kriegsentwicklungen in Deutschland gnzlichdurch die Maschen der Nrnberger Gerichtsbarkeit geschlpft ist. In den Akten, soweit mein Einblickreicht, findet sich so gut wie keine Spur von ihm, und der Name von Dr. Max Hahn wird meinesWissens lediglich anllich der Vernehmung von Dr. H. Gattineau, Leiter des WirtschaftspolitischenAmtes der LG. Farben, genannt. Schon dieses akzidentellen Nichtauftauchens in den Nrnberger Aktenwegen ist ein auf persnlichem Zeugnis beruhender Bericht ber den MWT gerechtfertigt, und das erstrecht mit Rcksicht auf die berragende Bedeutung der politischen Aktivitt dieses Verbandes. Warumder MWT unter den willentlichen und unwillentlichen Wegbereitern der Hitlerdiktatur besondere

    Aufmerksamkeit verdient, das lt sich in einem Satz zusammenfassen: Er hat wie kein anderer zu derneuen Konzentration der groen Kapitalinteressen beigetragen, die an die Stelle der vorhergegangenen,durch die groe Wirtschaftskrise hinfllig gewordenen treten mute, bevor die Diktatur dann 1933politisch mglich wurde.

    Der MWT war Ende August 1931 vom Essener Langnam-Verein bernommen, d. h. in Wahrheitneu gegrndet worden, jedoch unter Beibehaltung des alten unscheinbaren oder gar irrefhrendenNamens, zu dem Zweck, die alten imperialistischen Mitteleuropaziele wahr zu machen und dadurch ausder Stagnation der Wirtschaftskrise einen neuen machtpolitischen Aufschwung in die Wege zu leiten.Im Mai 1931 hatte der Auenminister Curtius einen Vorsto zur Zollunion mit sterreichunternommen, an den als guten Anfang angeknpft werden sollte, aber als im September dieVerwerfung dieses Vorstoes durch das Haager Schiedsgericht herauskam, schien es kurze Zeit, als obdie Neugrndung des MWT zum mindesten vertagt, wo nicht ganz ad acta gelegt werden mte. Aber

    Dr. Max Hahn, Hauptmitarbeiter von Dr. Max Schlenker in Essen, berzeugte die zgerndenInteressenten davon, da nun die neue Initiative erst recht notwendig sei, und tatschlich konnte er nochim selben Monat nach Berlin gehen, dort gemeinsam mit Franz Reuter ein geeignetes Bro nehmen undsich als der Geschftsfhrer des MWT installieren. Durch eine glckliche Verkettung von Umstndenwurde ich als sein wissenschaftlicher Assistent engagiert, ein bloes unbedeutendes Anhngsel miteinem bescheidenen Zimmer nach hinten hinaus, hauptschlich mit den Statistiken und dereinschlgigen Literatur beschftigt. Weitere Angestellte auer Dr. Hahn und mir, abgesehen von denSekretrinnen, gab es nicht. Die Grndergruppe des neuen MWT war der Stahlhof in Dsseldorfgewesen, und Frhr. von Wilmowski, der Leiter der Fried. Krupp AG in Berlin, wurde Vorsitzender. Erund Dr. Hahn erweiterten bald die Mitgliederzahl zu einer Basis, die alle nennenswerten Konzerne undGruppen des deutschen Finanzkapitals umfate, also die I.G. Farben sowohl wie den Stahlverein, die

    1 Vgl. S. 165 ff. dieses Bandes.

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    Elektroindustrie wie die Dresdner Bank, die Verarbeitungsindustrie und die Groagrarier, den EssenerZweckverband, den DAC, den Deutschen Stdtetag, um nur einige zu nennen. Im ganzen war es eineideale Klaviatur fr Dr. Hahn, um darauf seine weitgesteckten Plne zu instrumentieren. EngeBeziehungen spannen sich mit der Preuischen Hauptlandwirtschaftskammer, mit der Reichswehr,speziell der Abwehr-Abteilung, und natrlich mit dem Auswrtigen Amt an. Allerdings ist meinZeugnis selbst nur ein unvollstndiges, weil ich nicht in Anspruch nehmen kann, von den AktivittenMax Hahns mehr als einen gewissen Bruchteil gekannt zu haben. Z. B. was die Lenkung derEntwicklung auf den Krieg zu, auch vor Hitler schon, im direkten Sinne betraf, hielt er vieles, wo nichtdas meiste vor mir geheim, obgleich meine marxistische Denkweise weder ihm noch sonst jemand inunseren Bros bekannt war. Von diesen Aktivitten erfuhr ich oft nur auf Umwegen undandeutungsweise. So fanden in Hahns gerumigem Zimmer im Jahr 1932 in zweimonatlichenAbstnden Sitzungen zwischen den Vertretern der nationalen Wehrverbnde statt, derenVerhandlungsstoffe mir unbekannt geblieben sind. Nur aus Andeutungen wei ich, da Dr. Hahn denKontakt mit den Vaterlndischen Verbnden pflegte, weil er die Kontrolle ber diese politischen undideologischen Bewegungen in der Hand behalten wollte, statt sie an die Nazis zu verlieren. Freilichhtten diese Bewegungen unter der Obhut bloer industrieller Interessenverbnde niemals die fr ihreZwecke unerlliche Massenstrke erlangen knnen. Hier lag einer der fatalen inneren Widersprche

    der ganzen faschistischen Politik des Monopolkapitals, und diese Widersprche weigerte Max Hahn,obwohl er sie sprte, sich einzugestehen. Davon gibt seine Beurteilung der Dinge bei der AbberufungHugenbergs und dessen Ersetzung durch Darre und Kurt Schmitt im Juni 1933, wovon noch zuberichten sein wird, ein weiteres Zeugnis. Das Datum selbst der MWT-Umgrndung beinhaltet, richtiggedeutet, ein Programm. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Wirtschaftskrise zwar noch nicht ihrenTiefststand erreicht, sie war aber in ihr tiefstes Fahrwasser gelangt, und entscheidende Teile desdeutschen Grokapitals konnten in den Bahnen der bisherigen Methoden, d. h. im Kampf mit reinwirtschaftlichen Mitteln, keine Zukunft mehr fr sich erblicken. Die Umgrndung des MWT bekundetedie Entschlossenheit zu einer nderung der Methoden. Um die Grnde dafr zu erkennen, wird esgengen, mit wenigen Strichen das Bild der damaligen Wirtschaftslage in Erinnerung zu rufen.

    Gesttzt grtenteils auf Auslandskredite in Hhe von rund 25 Mrd. RM (etwa 11 Mrd. davonkurzfristig) war in den Jahren 1924 bis 1930 der Wiederaufbau der deutschen Industrie und

    Landwirtschaft erfolgt. Dabei hatte in manchen Zweigen, besonders in der Eisen- und Stahlindustrie,dieser Aufbau auf einer viel zu groen Stufenleiter stattgefunden, gemessen an den reellenErtragschancen nach dem verlorenen Kriege einschlielich der in Versailles verhngten totalendeutschen Abrstung und des Verlustes des gesamten deutschen Auslandskapitals. Freilich waren dieseverengten Ertragschancen immer wieder verschleiert worden, zuerst durch den Bedarf fr dieUmstellung auf die Friedenswirtschaft im Innern und das auerordentliche Inflationsdumping nachauen, und dann, als mit der Whrungsstabilisierung Ende 1923 die Ernchterung htte folgen sollen,setzten nach der Annahme des Dawes-Plans im April 1924 die Sachlieferungen auf Reparationskontoein, an denen die Eisen- und Stahlindustrie in hervorragender Weise beteiligt war. Zur gleichen Zeitkam die Rationalisierungswelle in Schwung und mit ihr die monopolkapitalistische Hochkonjunkturder Jahre von 1924/25 bis 1929. Diese war in erster Linie eine Investitions- und Baukonjunktur, also aufdie Produktion von Produktionsmitteln gerichtet, und erst in zweiter Linie auch eine

    Verbrauchsgterkonjunktur. Sie schuf daher eine unverhltnismig hohe Nachfrage nach Produktender Eisen- und Stahlindustrie, zumal die letztere ihr auch mit ihrer eigenen Rationalisierung nachhaltigzu Hilfe kam. 1926 wurde durch Kapitalfusion von vier oder fnf der grten Firmen (darunterThyssen, Stinnes und Otto Wolff) unter durchgreifender Modernisierung und arbeitsteiligerReorganisierung ihrer Werke die Vereinigten Stahl-Werke AG (Vestag oder Stahlverein) gegrndet.Dieses Riesengebilde war das grte Industrieunternehmen Europas damals, vereinigte auf sich alleindie halbe Roheisenerzeugung Deutschlands und beschftigte bis zu 200 000 Arbeiter und Angestellte.Als Rationalisierungsmanahme war die Vestag ein Modellfall. Die Arbeitsproduktivitt erhhte sichum mehr als 50%, die Produktionskosten erfuhren eine substantielle Senkung, die Produktionskapazittwurde entscheidend erhht, die Arbeitskosten pro Produkteinheit entsprechend vermindert. Freilichkonnten alle diese Vorteile nur zur Geltung kommen unter der Bedingung einer befriedigendenKapazittsauslastung, und hier lag der wunde Punkt, die innere Widersprchlichkeit der ganzenEntwicklung.

    Um diese Widersprchlichkeit in ihrem vollen Ausma ins Licht zu rcken, mchte ich auf einen

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    Vortrag Professor Eugen Schmalenbachs rekurrieren, worin dieser hervorragende Betriebswirtschaftlerim Mai 1928, also etwa anderthalb Jahre vor dem Ausbruch der Krise, seine weitreichendenErfahrungen zusammenfate. 2 Schmalenbach gehrte fraglos zu denen, die den grndlichstenberblick ber die Vorgnge der Rationalisierungskonjunktur der zwanziger Jahre in Deutschlandbesaen, da er, wo nicht als Berater zu den geplanten Manahmen, so zumindest als Gutachter ber dieerfolgten privaten oder staatlichen Manahmen an den meisten Knotenpunkten der Entwicklunghinzugezogen wurde. Auch an der Konstruktion des Stahlvereins hatte er konsultativ teilgenommen.Seine Beurteilung und Analyse der Dinge damals kann darum nicht nur als Anla zu theoretischerErrterung, sondern geradezu als historisches Zeugnis ber den faktischen Stand der konomischenVerhltnisse in jener Phase der Vergangenheit gewertet werden. Und es ist wegen dieser zweitenEigenschaft, da der Schmalenbachsche Vortrag hier in extenso verwandt werden soll.

    2 Die Betriebswirtschaftslehre an der Schwelle der neuen Wirtschaftsverfassung, Vortrag anllich des 30. Jahrestagsder akademischen Anerkennung dieses Wissenschaftszweiges, gehalten vor dem Verband der Betriebswirtschaftslehrer andeutschen Hochschulen am 31. Mai in Wien (s. Zeitschrift f. handels-wirtschaftl. Forschung, 32. Jg., H. V). Das Jahr 1898verleiht dem Aufkommen der modernen Betriebswissenschaft die spezifische monopolkapitalistische Zuordnung.Untersttzend sei auf Werner Hofmanns Studie Die skulare Inflation (Duncker & Humblot, 1962) verwiesen, wonach der

    Wiederaufstieg des Kapitalismus 1895/96 aus der langen, vorangegangenen Stagnationsperiode im Zeichen des konsolidiertenMonopolkapitalismus erfolgte, begleitet von den ersten Anzeichen der seither anhaltenden und unaufhaltsamenGeldentwertung. Auch in Lenins Darstellung des Imperialismus findet dasselbe Datum prominente Erwhnung.

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    3. Das Dilemma der RationalisierungE. Schmalenbach sieht die konomischen Verhltnisse der zwanziger Jahre im bergang oder auf

    der Schwelle von der freien Wirtschaft zur gebundenen Wirtschaft, und diese neueWirtschaftsverfassung ist fr ihn gekennzeichnet durch Kartelle und Trusts und andere

    Monopolgebilde sowie durch eine wachsende Vielfalt staatlicher Wirtschaftsfunktionen. Er bemerkt,da bei diesem bergang von einem bewuten Willen nicht die Rede sein kann. [...] Keiner unsererWirtschaftsfhrer geht mit freiem Willen in die neue Wirtschaftsform hinein. Nicht Menschen, sondernstarke wirtschaftliche Krfte1 sind es, die uns in die neue wirtschaftliche Epoche hineintreiben. [...]Was ist es denn im Grunde genommen anderes als die Erfllung der Voraussagen des groenSozialisten Marx, die wir erleben? [...] Wenn wir unseren Wirtschaftsfhrern von heute sagen wrden,da sie gewollt oder ungewollt sozusagen Vollstrecker des Marxistischen Testaments seien, so wrdensie, ich nehme es an, mit allem Nachdruck dagegen protestieren. [...] Sie sind Werkzeuge, nichts alsWerkzeuge. Und wenn wir nach den inneren Grnden des Systemwechsels fragen, den wir erleben, somssen wir diese Grnde nicht in den Menschen, sondern in den Dingen suchen. Und hier ist es fastausschlielich eine einzige Erscheinung, die theoretisch exakt untersucht und in ihren Konsequenzenrichtig beurteilt zu haben, ein unzweifelhaftes Verdienst der Betriebswirtschaftslehre ist. DieseErscheinung, die in ihrer Auswirkung so stark ist, da sie das ganze groe Gebude der Wirtschaftumzubauen zwingt, ist die Verschiebung der Produktionskosten innerhalb des Betriebes. Und zwarhandelt es sich darum, [...] da der Anteil der proportionalen Kosten am Produktionsproze kleiner undder Anteil der fixen Kosten immer grer geworden ist, und zwar so sehr, da schlielich der Anteil derfixen Kosten fr die Produktionsgestaltung bestimmend wurde. [...] Die Epoche der freien Wirtschaftwar nur mglich, wenn die Produktionskosten im wesentlichen proportionaler Natur waren. Sie warnicht mehr mglich, als der Anteil der fixen Kosten immer betrchtlicher wurde. Das erste, was sichdem Beobachter aufdrngt, ist diefortgesetzte Steigerung der Betriebsgre und damit die Quellevon Kosten, die ohne Rcksicht auf die Produktionsmenge entstehen und die selbst dann nichtwesentlich herabgemindert werden knnen, wenn der Betrieb nur mit dem halben oder mit dem viertenTeil seiner Kapazitt arbeitet. Dazu kommt als weitere Eigentmlichkeit der modernen Betriebe, da in

    ihnen dieZwangslufigkeit immer grer wird. Gerade unsere Zeit hat es erlebt, da man das Prinzipder Fliearbeit strker zur Geltung gebracht hat [...], das sich durch uerste Zwangslufigkeitauszeichnet. [...] Mit diesem Prinzip der Zwangslufigkeit sind so groe einschneidendeVerbesserungen verbunden, da man auf sie nicht verzichten mag. Aber der Anteil der fixen Kostenschnellt dadurch wiederum mchtig empor. [...] Unzertrennlich von dieser Entwicklung ist diefortgesetzt wachsende Steigerung der Kapitalintensitt.2 Die Beispiele, die Schmalenbach dafranfhrt, illustrieren den Tatbestand als wenig Lhne, aber hohe Zinsen und hohe Abschreibungen.Von einer groen automatischen Rderfrsmaschine heit es, was dieser groe Automat anArbeitslhnen erfordert, das ist nichts. Aber was er an Zinsen und Abschreibungen frit, das ist eineganze Menge. [...] Ob der Automat arbeitet oder nicht arbeitet, das ist ganz gleichgltig. Dieses um somehr, als er schlielich nicht durch Verschlei zugrunde gehen wird, sondern dadurch, da ein tchtigerIngenieur einen neuen Automaten erfindet, der noch leistungsfhiger sein wird als der, den wir vor uns

    haben.Um die konomischen Konsequenzen aus diesen Vernderungen in den Produktivkrften deutlichzu machen, setzt Schmalenbach nochmals auseinander: Die Eigentmlichkeit der proportionalenKosten ist es, da sie mit jedem erzeugten Stck, jeder gefrderten Tonne tatschlich entstehen. [...]Gehen die Preise unter die Selbstkosten herunter, dann schrnkt man die Produktion ein und spart einentsprechendes Stck der proportionalen Kosten. (Und die stillschweigende Voraussetzung hier istauch, da die Betriebsgren sich noch innerhalb der Grenzen bewegen, welche Finanzierung durchdas persnliche Eigenkapital der Unternehmer erlauben, so da keine stndigen Zinskosten entstehen.)Ist aber der wesentlichste Teil der Selbstkosten fix, dann bringt eine Verringerung der Produktion die

    1 Hervorhebungen von Schmalenbach.

    2 Marxistisch ausgedrckt also das Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals oder das fortgesetzteWachsen des konstanten im Verhltnis zum variablen Kapital.

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    Kosten nicht entsprechend herunter. Und wenn bei dieser Sachlage die Preise fallen, dann hat es keinenZweck, diesen Preisverfall durch Produktionsverminderung auszugleichen. Es ist billiger, unter dendurchschnittlichen Selbstkosten weiter zu produzieren. Zwar arbeitet der Betrieb fortan mit Verlust,aber der Verlust ist kleiner, als er sein wrde, wenn man die Produktion verringern wrde und trotzdemfast die vollen bisherigen Kosten tragen mte. Und so ist die moderne Wirtschaft mit ihren hohenfixen Kosten des Heilmittels beraubt, das selbstttig Produktion und Konsumtion in Einklang bringtund so das wirtschaftliche Gleichgewicht herstellt. Weil die proportionalen Kosten in so groemUmfange fix geworden sind, fehlt der Wirtschaft die Fhigkeit der Anpassung der Produktion an dieKonsumtion, und es tritt die merkwrdige Tatsache ein, da zwar die Maschinen selbst immer mehr mitautomatischen Steuerungen versehen werden und so der menschlichen Hilfe entraten knnen; da aberdie Wirtschaftsmaschinerie im ganzen, die groe Volkswirtschaft, ihr selbstndiges Steuer verloren hat[also nach planmiger Steuerung verlangt S. R.]. Die fixen Kosten begngen sich nicht damit,den Betrieb dahin zu drngen, seine Kapazitt trotz mangelnder Nachfrage voll auszunutzen. Siedrngen ihn zugleich, sich trotz mangelnder Nachfrage zu vergrern. Das Prinzip der gleichmigenBeschftigung fhrt in Ansehung unterbeschftigter Anlageteile die Betriebsleiter dazu, den Betrieb[...] zu vergrern, um diese nicht ausgenutzten Anlagen besser zu beschftigen [...], ohne da ihnen einSteigen der Nachfrage dazu Veranlassung gibt. [. ..] In unzhligen Generalversammlungen hrt man die

    Verwaltung vortragen, der Betrieb arbeite heute noch nicht voll befriedigend; aber wenn noch einigeMaschinen angeschafft und sonstige Erweiterungen vorgenommen wrden, dann werde der Betriebrentabel. Aber da andere Betriebe der gleichen Branche das gleiche tun, rationalisieren sich dieseIndustriezweige automatisch in eine bergroe Kapazitt hinein. [...] Ist ein Geschftszweig so weitgekommen, so ist es zur Grndung eines Kartells oder bis zur Vertrustung nicht mehr weit.

    In seinen weiteren Teilen ist Schmalenbachs Vortrag der Miachtung der Grundstze derWirtschaftlichkeit in den von ihm aufgezeigten Enwicklungstendenzen gewidmet. DieseUnwirtschaftlichkeit grndet vor allem in dem Auseinanderklaffen der Produktionskonomie der fixenKosten und der Marktkonomie der Nachfrage- und Preisbewegungen, ein Auseinanderklaffen, das umso deutlicher wird, je konsequenter sich die Betriebsleiter von den produktionskonomischenGesichtspunkten leiten lassen. Aber Schmalenbach sieht die Unwirtschaftlichkeit in nahezu allenAuswirkungen des resultierenden Monopolismus. Er beklagt den Nepotismus in den Direktionen, die

    von Arrivierten oder von bestimmten Familien oder Interessengruppen monopolisiert werden. In denVerwaltungen herrschen bermiger Brokratismus, bermige Schwerflligkeit, bermigeKostspieligkeit der Verwaltung und bergroe Gehlter und Tantiemen leitender Personen. Er weistauf die Unwirtschaftlichkeit hin, die daraus folgt, da die Leiter in ihrem Tun nicht mehr ihr eignes,sondern fremdes Kapital riskieren, da die Betriebsgre alle Grenzen von Eigenkapital berschreitet.Aber er sieht sie vor allen Dingen schon in den Verfassungen der Monopolgebilde (Kartelle undSyndikate). Bei deren Grndung geht der ganze Kampf der bisherigen Konkurrenten um ihreBeteiligungsquote am monopolisierten Geschftsvolumen. Diese Organisationsformen bieten keinRemedium fr die Widersprche, die zu ihrer Bildung fhrten, sie verewigen dieselben blo. Lassen dieQuoten bei der periodischen Erneuerung des Vertragsabschlusses eine Vernderung zu, so sorgt jeder,der eine hhere Kapazitt aufweisen kann, dafr, da er dafr, gleichviel ob eineKapazittsvermehrung am Platze ist oder nicht, eine hhere Beteiligungsquote bekommt. [. ..]

    Infolgedessen zielt in derartigen Syndikaten alles darauf hin, da die Kapazitt nicht etwa in Einklangmit den Verhltnissen des Marktes bleibt, sondern da sie fortgesetzt weit ber diese hinausragt. DieFolge ist Schleuderabsatz in den bestrittenen Gebieten, oft noch unter den proportionalen Selbstkosten.Er illustriert das am Beispiel des Kohlensyndikats. Whrend in den Lieferlndern die Verbraucher dieKohle zu den knstlich hochgehaltenen Kartellpreisen bezahlen mssen, erhalten die Lnder, die keineKohle erzeugen, dieselbe zu ebenso knstlichen Schleuderpreisen. Ein unbeteiligter Zuschauer muden Eindruck erhalten, da Kohlebesitz eine Krankheit ist. Allerdings tun die Kohleerzeuger dies nunnicht etwa mit vollem Bewutsein, sondern sie tun es so, wie wenn ein Trunkener ein Fenstereinschlgt. [...] Die Gedankenlosigkeit auf diesem Gebiete [des Schleuderabsatzes - SR] geht so weit,da nicht einmal eine genaue Kalkulation darber angestellt wird, wie hoch sich die proportionalenKosten belaufen. Ein noch grerer Nonsens besteht darin, da man nicht alles daransetzt, diebergroe Kapazitt fr die Zukunft zu vermeiden. Man macht auf diese Weise die vorbergehendeKrankheit zu einer Dauerkrankheit. Man fragt sich mit Recht, wie diese gebundene Wirtschaft beisoviel Mngeln gegenber der alten bestehen kann. Aber da mu man sagen, da diese Wirtschaft trotz

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    aller ihrer Torheiten der alten freien Wirtschaft zu einem groen Teile berlegen ist. Sie ist eshauptschlich deshalb, weil die Existenz der fixen Kosten fr die alte Wirtschaft so wenig mehr taugteund so unhaltbare Zustnde erzeugte, da selbst eine schlechte, selbst eine geradezu stmperhaftorganisierte gebundene Wirtschaft das bergewicht bekommt.

    Den Schlu seiner Ausfhrungen bildet ein Pldoyer fr die Rolle der Betriebswirtschaftslehre,die dazu berufen sei, in die konomie des Monopolkapitalismus das unentbehrliche Ma anRationalitt zu bringen.

    Das Bild ist klar. In der Rationalisierungskonjunktur der zwanziger Jahre wirkt sich eine neueProduktionskonomie der fixen Kosten aus, die ihre Regulative nicht mehr in der Nachfrage und imMarkte hat, sondern in einer inneren Zeitkonomie des modernen Arbeitsprozesses. Aus den Folgendieser neuen Produktionskonomie und ihrer Diskrepanz zur Marktkonomie ergibt sich der Zwangzum Monopol. Oder, besser gesagt, da die Produktion aus Grnden ihrer Kostenstruktur sich nicht mehrden Marktregulativen unterwerfen kann, mu versucht werden, die Marktentwicklungen denNotwendigkeiten der Produktionskonomie zu unterwerfen. Monopolismus ist nur derzusammenfassende Name fr diese Versuche. Und was die fixen Kosten anlangt, die hier als derDemiurg unseres Verhngnisses figurieren, so ist das nichts als der verdinglichte Ausdruck derhochgradigen Vergesellschaftung der Arbeit im modernen Produktionsproze. Was also hier vorliegt,

    ist in der Tat die Erfllung einer Prophezeiung von Marx und Engels, nmlich da die unaufhaltsamsteigende Vergesellschaftung der Arbeit oder wiederum verdinglicht ausgedrckt: die steigendeorganische Zusammensetzung des Kapitals an einem gewissen Punkt der Entwicklung inunvereinbaren Widerspruch mit der Warenkonomie der privaten Appropriation geraten wrde. DieWaren- und Marktkonomie entstammt in ihrem Ursprung der Vereinzelung der Arbeit in Gestaltvoneinander unabhngig betriebener Privatarbeiten (Marx), also dem entgegengesetzten Prinzip zumkontinuierlichen Proze und zur Fliearbeit, worin im 20. Jahrhundert die Vergesellschaftung derArbeit eine spezifische Struktur von normativer konomischer Bedeutung ein von den Arbeiternselbst unabhngiges objektives Skelett, wie Marx es ausdrckt gewonnen hat. 3

    Heute, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, hat die Unvereinbarkeit der beidenheterogenen konomien die groen Privatkonzerne zur Planung und genauen Programmierung ihrerVorgehensweise gezwungen, womit sie die Widersprche zu berbrcken versuchen, um sich der

    ntigen Verklammerung von Produktions- und Marktkonomie im vorhinein zu versichern. Aberdamals, nach dem Ersten Weltkrieg, befand sich die neue konomie des Arbeitsprozesses noch in ihrerGrnderzeit und steuerte blindlings und ahnungslos in das konomische und gesellschaftliche Chaoshinein, das aus dem unvermittelten Zusammensto der beiden Ordnungen resultierte. Um sobemerkenswerter ist das Ma an Einsicht, das Schmalenbach in seiner Analyse bezeugt, wenn sie sichauch gnzlich in den verdinglichten Begriffen der brgerlichen Betriebswirtschaftslehre bewegt. DasSchmalenbachsche Zeugnis ist wichtig, weil es uns den Mastab an die Hand gibt, nach welchem diekonomischen Einzelverhltnisse der verschiedenen fhrenden Grokonzerne derInteressengruppierungen whrend der Weltkrise in Deutschland bewertet werden knnen.

    Die Trustbildung im Stahlverein im Jahre 1926 bewahrheitete das von Schmalenbach gezeichneteBild in eklatanter Weise. Die Rationalisierung und die von ihr bewirkte Senkung der Arbeitskosten desProdukts waren hier durch Anwendung der verbundwirtschaftlichen Methoden erzielt worden, welche,

    von Amerika kommend, damals in fast allen Zweigen industrieller Groanlagen zum Zuge gelangten.In der Eisen- und Stahlindustrie nahmen sie freilich eine besonders starre Form an. Nicht nur wurdendie verschiedenen Betriebsabteilungen wie Roheisenerzeugung, Stahlgu, Walzstraen, Drahtzieherei,Rhrenwerke, Gieereien etc. so weit wie mglich nach Prinzipien der Fliearbeit organisiert; dieverschiedenen Werksteile wurden auch ihrerseits wiederum miteinander zu einem Gesamtverbundverkettet durch die konomie der Gichtgase. Diese im Oberteil der Hochfen sich ansammelnden sehrheien Gase waren frher sehr unvollkommen genutzt worden, aber schon 1905 oder 1906 hatte man inAmerika damit begonnen, sie in Rohrleitungen aufzufangen und als Heiz- und Energiequelle fr andereAbteilungen zu verwenden. Whrend des Weltkrieges war diese Verwendung zum allgemeinen

    3 Das Kapital, Bd. 1. Vgl. MEW 23, S. 389, passim.

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    Rationalisierungsprinzip ausgebaut worden. Das Ergebnis war eine sehr erhebliche Einsparung vonFeuerungsanlagen und -Stoffen, aber auch eine Verkettung aller Werksabteilungen derart, da sie nurnoch als geschlossene Gesamtheit wie ein einziges riesenhaftes Uhrwerk produzieren konnten. DieSynchronometrie aller Teile war zu solcher Perfektion gebracht, da die ungeheure Anlage von einemzentralen Schaltwerk durch zwei oder drei Oberingenieure berwacht und gesteuert werden konnte.Technik und konomie waren in eins verschmolzen. Aber auch die fixen Kosten waren auf einen neuenGipfelpunkt gestiegen und hatten damit ein Hochma an Krisenanflligkeit desGesamtunternehmens erzeugt. Denn die Gesichtspunkte der ganzen Konstruktion waren allein solcheder Produktionskonomie, also der Produktivkrfte, die mit den marktkonomischenProduktionsverhltnissen verknpft waren lediglich in Gestalt der Normierung der Produktionsanlagenauf eine bestimmte Kapazitt fr ihr Erzeugungsprogramm von Hunderten von Kartellnummern vonHalbzeug. Diese Normierung hatte keine solidere Sttze als die eines blind gesetzten Postulats. DieProduktionskonomie der Rationalisierung machte ihre Vorteile geltend unter der Voraussetzung einerbefriedigenden Kapazittsauslastung. In der Weltkrise, die nicht lange auf sich warten lie, verwandeltesich der Segen dieser Rationalisierung bald in den Fluch der Irrationalitt. Die bloe Erwhnung desWortes Wissenschaft lste in einem Gesprch im Herbst 1931 bei dem stellvertretendenGeneraldirektor des Stahlvereins, Ernst Poensgen, eine spontane Reaktion aus: La mich mit der

    Wissenschaft in Ruhe! Wir sind mit der Wissenschaft gefttert und berfttert worden,wissenschaftliche Technik, wissenschaftliche Betriebsfhrung, wissenschaftliche Materialkunde,wissenschaftliche Marktforschung, wissenschaftliche Bilanzierung, und so weiter, und so fort. Undwohin hat all die Wissenschaft uns gebracht?

    Die wissenschaftliche