Alles im Griff

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Das Magazin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag clara . Nr. 36 · 2015

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Schwerpunktthema dieser Ausgabe unseres Fraktionsmagazins: Kranke Arbeitswelt: Weshalb immer mehr Beschäftigte im Job leiden - und welche Lösungen DIE LINKE vorschlägt. Zu vielen weiteren Themen – vom Dokumentarfilm Mietrebellen über Steueroasen in Europa bis zur globalen Totalüberwachung – gibt es Reportagen, Porträts, Interviews und Analysen.

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Das Magazin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

clara.Nr. 36 · 2015

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n Befris­tung und Leiharbeit stoppen! n Mindest­sicherung

ohne Sank tionen statt Hartz IV! n Arbeit um ­ verteilen statt Dauer­ stress und Existenzangst! n Wohnung und Energie bezahlbar machen! n Mehr Personal für Bildung, Pflege und Gesundheit!

www.linksfraktion.de

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Editorial

Ende April haben Fraktion und Partei DIE LINKE sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Kongress »Linke Woche der Zukunft« eingeladen – und mehr als 1 000 Menschen kamen, um miteinander zu diskutieren. Mit einer Fotoreportage präsentiert diese Ausgabe von clara einige Impressionen der viertägigen Zusammenkunft.

Nur wenige Tage später, am 1. Mai, sind wir einen weiteren Schritt in Richtung einer sozialen, demokratischen Gesellschaft gegangen: DIE LINKE hat die Kampagne »Das muss drin sein.« gestartet. Denn auch wenn Kanzlerin Angela Merkel den Eindruck erweckt, alles sei gut in Deutschland – es stimmt nicht. Viele Menschen stehen in ihrem Alltag und auf der Arbeit unter perma-nentem Druck oder wissen nicht, wie sie bis zum Monatsende über die Runden kommen sollen. Diesen Missständen widmet sich der Schwerpunkt dieser Ausgabe. clara zeigt, wie die unsoziale Politik der letzten Jahre dafür gesorgt hat, dass heute elf Millionen Menschen in Deutschland in unsicheren und schlecht bezahlten Jobs arbeiten müssen.

Nicht nur Politik und Wirtschaft haben die Arbeitswelt verändert, auch die Digitalisierung hat dazu beigetragen. Mittlerweile ist gar die Rede von einer neuen industriellen Revolution. Darüber hat clara mit dem Wirtschaftsjournalis-ten Jonas Rest gesprochen, der von Taxiunternehmen ohne Taxis und »digitalen Minutenlöhnern« berichtet. Wie sich die ver änderte Arbeitswelt auf das Klassen bewusstsein der Menschen auswirkt, darüber denkt der Sozialwis-senschaftler Horst Kahrs nach.

Porträtiert wird in dieser Ausgabe der Dokumentarfilmer Matthias Coers, dessen Werk »Mietrebellen« international erfolgreich ist und vielerorts zu Debatten und politischem Engagement geführt hat.

Vorgestellt wird zudem eine Studie, die sich erstmalig ausführlich mit dem Phänomen der Zwangsumzüge am Beispiel Berlin beschäftigt.

Auch dem 70. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus widmet sich dieses Heft: clara berichtet von einer Gedenkveranstaltung der Fraktion DIE LINKE mit internationalen Gästen, und der Politologe Georg Fülberth beleuchtet die politische Dimension der aktuellen Erinnerungskultur.

Zudem gibt es eine Reportage über das Fußballteam Welcome United 03 aus Babelsberg, in dem ausschließlich Flüchtlinge kicken. Und in der Gastko-lumne entwirft die Publizistin Anke Domscheit-Berg die Vision einer sozial gerechten Warenpro-duktion dank des Potentials von 3-D-Druckern.

Demokratie braucht soziale Grundlagen. Wenn wir nicht von links Druck für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen machen, werden Rechtspopulisten wie bei Pegida und AfD stark. Die haben aber keine Lösungen für die drängenden sozialen Probleme. Sie treten nach unten und wenden sich gegen Minderheiten, weil sie sich mit den Reichen und Mächtigen nicht anlegen wollen. DIE LINKE will hingegen gemeinsam mit vielen Menschen Druck machen für das, was

in einem reichen Land selbstverständlich sein sollte – getreu dem Motto der Kampagne: »Das muss drin sein.«

Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche und kurzweilige Lektüre,

Katja Kipping ist Vorsitzende der Partei DIE LINKE und sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

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Inhalt

Inhalt

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EditorialAuf ein Wort mit der Herausgeberin Katja Kipping 3

Foto des Monats

Girls’ Day Mädchen erkunden den Bundestag 6

SchwerpunktKranke Arbeitswelt Immer mehr Beschäftigte leiden unter psychischen Krankheiten 8

»Niemand darf auf der Strecke bleiben« Interview mit Rosemarie Hein und Jutta Krellmann 9

Von wegen Leistungsgesellschaft Horst Kahrs über die soziale Spaltung 11

Arbeiten in der digitalen Welt Der Wirtschaftsjournalist Jonas Rest über »digitale Minutenlöhner« und Sekundenjobs 12

Die Hütchenspieler von Amazon Wie ein Weltkonzern seit Jahren die Interessen seiner Beschäftigten ignoriert 14

Arbeit ist mehr wert Kurzinterview mit Matthias W. Birkwald über die Zustände bei Amazon 15

Mindestlohn in Gefahr Die zehn Tricks der Arbeitgeber beim Mindestlohn 16

Missbrauch bekämpfen! Kommentar von Klaus Ernst 16

Staatliches Versagen Erste große Studie zu Zwangsräumungen enthüllt Politskandal 17

Mietrebellen aus Berlin Wie ein Film über Berliner Mietkämpfe die Kinos der Welt erobert 18

Linke Woche der Zukunft Die große Konferenz in Bild und Wort 20

VorgestelltDie Nachrückerin Birgit Menz ist seit Kurzem Mitglied des Bundestags 22

Auf den Zahn gefühltVom Mindestlohn bis zur Bundeswehr DIE LINKE bringt mit Kleinen Anfragen erstaunliche Fakten ans Licht 23

Die Angst der Kanzlerin Was Angela Merkel beim Verhandlungs-poker mit Griechenland fürchtet 24Alte Schulden Griechenland fordert von Deutschland Reparationen 25Steueroase EU Wie Regierungen großen Konzernen beim Steuerdumping helfen 26Das verletzte Bankgeheimnis Interview mit dem berühmtesten Whistleblower der Schweiz 27

14Amazons AbzockeIn Deutschland streiten seit Jahren die Beschäftig-ten des US-amerikani-schen Versandkonzerns für einen Tarifvertrag – bisher noch vergeblich.

Erfolgreiche RebellenDer Film »Mietrebellen« dokumentiert Kämpfe auf dem Berliner Wohnungs-markt, feiert internationale Erfolge und ermutigt zum Protest.

»Billiger als Computer«Ein Gespräch mit dem Fachjournalisten Jonas Rest über Taxiunterneh-men ohne Taxis und den Wert von Arbeit in der digitalen Welt.

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Impressum Herausgeberin: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030/22 75 11 70 Fax: 030/22 75 61 28 [email protected] V. i. S. d. P.: Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch (Anschrift wie Herausgeberin)Leitung: Steffen TwardowskiRedaktion: Sophie Freikamp, Ruben Lehnert, Frank Schwarz, Benjamin Wuttke, Gisela ZimmerSatz: DiG/Plus GmbHDruck: MediaService GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 BerlinRedaktionsschluss: 10. Mai 2015

Erscheinungsweise: 4-mal im JahrDieses Material darf nicht zu Wahl-kampf zwecken verwendet werden.

Die Zeitschrift clara wird mit modernen und effizienten Druck verfahren bei Frank- Druck produziert. Die unvermeid-baren Treibhaus-gas emissionen, die durch das Printprodukt dennoch ent-stehen, werden durch Investitionen in ein Klimaschutz-projekt in Brasilien kompensiert.

Inhalt gedruckt auf 100 % Recyclingpapier

Inhalt

Kriegerische Truppe Regierung formt die Bundeswehr zur Armee im Dauereinsatz 28»Mit Friedensbewegung und Gewerkschaften« Interview mit Christine Buchholz 29Geheimdienste außer Kontrolle Interview mit André Hahn über das Versagen der Politik 30Meisterhaftes vom SV Babelsberg 03 Beim Regionalligisten gibt es die erste Flüchtlingsmannschaft 32Das Leid der Textilarbeiter Caren Lay trifft Überlebende eines Fabrikbrands in Pakistan 34Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Berichte über Gedenkveranstaltungen der Fraktion DIE LINKE 35Umkämpfte Erinnerung Georg Fülberth zum Umgang mit dem 70. Jahrestag der Befreiung 36

EinblickeAbgeordnete unterwegs 38

ServiceIhr gutes Recht Juristischer Rat von Halina Wawzyniak 40Mit links gelesen Buchtipps 41

GastkolumneHäuser aus 3-D-Druckern Anke Domscheit-Berg über die dritte industrielle Revolution 42

28Armee im Dauereinsatz Die Bundesregierung erhöht den Militäretat um mehrere Milliarden Euro. Aus der Bundeswehr will sie eine globale Einsatztruppe formen.

22Neu im ParlamentBirgit Menz ist für Agnes Alpers in die Fraktion DIE LINKE nachgerückt. Das Bundestagsmandat ist neu für sie, sich politisch einzumischen nicht.

32Fußball internationalBeim Regionalligisten SV Babelsberg 03 haben Flüchtlinge erst- malig eine eigene Fußball-mannschaft gegründet: Welcome United 03.

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23. April 2015

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Girls’ Day im BundestagAm 23. April 2015 fand der diesjährige Girls’ Day statt, an dem sich erneut die Fraktion DIE LINKE beteiligte. Sie hatte Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren in den Deutschen Bundestag nach Berlin eingeladen. Beim Speed-Dating lernten die Jugendlichen zahlreiche weibliche Abgeordnete kennen und erfuhren viel über ihre jeweiligen beruflichen Lebenswege.

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In Deutschland ist es üblich, will man et-was über die Situation am Arbeitsmarkt erfahren, lediglich die offizielle Arbeitslo-senstatistik zu konsultieren. Auch die Bundesregierung verweist gern darauf und beglückwünscht sich dafür, dass die Zahl der erwerbstätigen Menschen nie höher, die Zahl der arbeitslosen Menschen selten geringer war. Doch daraus zu schließen, dass es den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern in Deutschland rundum gut geht, greift zu kurz.

Zum einen verschleiert die offizielle Ar-beitslosenstatistik die tatsächliche Er-werbslosigkeit in diesem Land. Arbeitslose Menschen, die krank sind, einen Ein-Euro-Job haben oder an einer Weiterbildung teilnehmen, werden darin nicht gezählt. Viele arbeitslose Menschen, die älter als 58 Jahre sind, erscheinen ebenso wenig in der offiziellen Statistik. Und auch wenn private Arbeitsvermittler tätig werden, zählt die von ihnen betreute erwerbslose Person nicht mehr als arbeitslos, obwohl sie keine Arbeit hat. Wer die tatsächliche Arbeitslosigkeit erfassen will, muss alle diese Personen einbeziehen. Laut einer

detaillierten Statistik, die DIE LINKE seit Jahren führt, waren im April 2015 mehr als 3,6 Millionen Menschen arbeitslos – rund 800 000 mehr als in den offiziellen Ver-lautbarungen.

Zum anderen lassen die aktuelle Studie einer Krankenversicherung sowie parla-mentarische Anfragen der Fraktion DIE LINKE Rückschlüsse zu, wie es um den Gemütszustand von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland bestellt ist: Millionen Beschäftigte leiden unter psychischen Krankheiten; immer mehr Menschen greifen im Job zu leistungsstei-gernden Pillen.

In den vergangenen Jahren haben in Deutschland psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt drastisch zugenommen. Ausweislich der Antwort der Bundesregie-rung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im vergangenen Jahr zeigt sich das an der Zahl der Arbeitsunfähigkeits-tage und an den Zugängen in Erwerbsmin-derungsrenten aufgrund solcher Krank-heiten. Im Jahr 2012 betrug die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage mehr als 61 Mil-

lionen. Das sind fast doppelt so viele Fehltage wie im Jahr 2001. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile auch der häufigste Grund für Frühberentungen: Im Zeitraum zwischen 1993 und 2012 hat sich die Zahl der Anträge auf Erwerbsmin-derungsrente fast verdoppelt. Auffällig ist, dass überdurchschnittlich oft Frauen betroffen sind – besonders in Branchen, in denen Schichtarbeit, Wochenend-dienste und Rufbereitschaft typisch sind.

Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, fordert deshalb eine gesetzliche Anti-Stress-Ver-ordnung (siehe Interview rechts). Endlich müssten die Arbeitsbedingungen wieder zum Schwerpunktthema der Regierung gemacht werden. Auch die Industriege-werkschaft Metall setzt sich seit einiger Zeit für eine solche Verordnung ein. Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Mitglied der IG Metall, fordert angesichts allgegen-wärtigen Arbeits- und Zeitdrucks Maßnah-men »zum Schutz der Beschäftigten vor Stress und weiteren Gefährdungen aus psychischer Belastung«.

Kranke ArbeitsweltImmer mehr Beschäftigte in Deutschland leiden unter psychischen Krankheiten. Viele greifen zu vermeintlich leistungs-steigernden Medikamenten.

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Einer der Gründe, weshalb der Druck, den abhängig Beschäftigte verspüren, zunimmt, liegt im Wandel des Arbeitsmarkts. In den vergangenen zwanzig Jahren ist der Anteil der Normalarbeitnehmerinnen und -nehmer von 76 auf 67 Prozent zurückgegangen, atypische Beschäftigungsverhältnisse ha-ben hingegen stark zugenommen, von 13 auf 21 Prozent. Hierfür verantwortlich ist die deutliche Zunahme von Leiharbeit (+ 300 Prozent), von geringfügiger Beschäf-tigung (+ 277 Prozent) und von Teilzeitar-beit (+ 70 Prozent). Auch die Zahl der be-fristeten Beschäftigungsverhältnisse ist von 1,8 auf 2,5 Millionen angewachsen.

Doping am ArbeitsplatzIm Jahr 2014 waren rund 5 Prozent aller Erwerbstätigen Selbstständige ohne Mit-arbeiter. Viele von ihnen haben ein Er-werbseinkommen unterhalb des gesetzli-chen Mindestlohns. Die meisten dieser Solo-Selbstständigen sind in der Land- und Forstwirtschaft anzutreffen (22 Prozent), im Grundstücks- und Wohnungswesen (17 Prozent) sowie im Kommunikations- und Informationsgewerbe (12 Prozent). Sie müssen sich selbst versichern und erhal-ten in der Regel bei Urlaub und Krankheit kein Geld.

Auf Stress am Arbeitsplatz reagieren viele Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer mit Doping. Knapp drei Mil-lionen Menschen haben

bereits verschreibungspflichtige Medika-mente genutzt, um beim Job leistungs-fähiger zu sein oder um Stress abzubauen. 6,7 Prozent der berufstätigen Menschen haben schon einmal zu leistungssteigern-den Pillen gegriffen, regelmäßig dopen sich 1,9 Prozent – immer noch knapp eine Million Erwerbstätige. Das ist das Ergebnis eines aktuellen Gesundheitsreports der Krankenversicherung DAK. Mit Ritalin, Vigil oder Modafinil werden eigentlich kranke Menschen behandelt, etwa bei Schlafstörungen oder Alzheimer. Doch immer mehr gesunde Menschen nehmen diese Medikamente, um auf der Arbeit ihre Konzentration, ihr Gedächtnis oder ihre kognitiven Fähigkeiten zu verbessern. Bemerkenswert ist, dass die Einnahme vermeintlich leistungsfördernder Medika-mente steigt, je unsicherer der Arbeits-platz und je einfacher die Tätigkeit ist.

Diejenigen, die solche Medikamente neh-men, um beruflich Erfolg zu haben oder zumindest den Arbeitsplatz nicht zu verlie-ren, gehen ein hohes Risiko ein. Körperliche Nebenwirkungen, die von Kopfschmer-zen über Schlafpro-bleme bis zu Herz-

rhythmusstörungen reichen können, sind keine Seltenheit. Auch Persönlichkeitsver-änderungen und Abhängigkeiten sind möglich. Für die Untersuchung wurden 2,6 Millionen Arzneimitteldaten von erwerbs-tätigen Krankenversicherten analysiert und mehr als 5 000 berufstätige Frauen und Männer im Alter von 20 bis 50 Jahren be-fragt.

DIE LINKE hat am 1. Mai die Kampagne »Das muss drin sein.« gestartet, die meh-rere Jahre laufen soll und darauf abzielt, die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen Menschen zu verbessern. Eine der wichtigsten Forderungen dieser Kam-pagne lautet: Arbeit umverteilen statt Dauerstress und Existenzangst! Unter anderem sollen die Beschäftigten mehr Mitbestimmungsrechte bezüglich Arbeits-zeit und -gestaltung erhalten. Die maximal zulässige Wochenarbeitszeit soll auf 40 Stunden gesenkt werden. Zudem sollen eine Anti-Stress-Verordnung eingeführt und der betriebliche Arbeits- und Gesund-heitsschutz gestärkt werden. Ruben Lehnert

»Niemand darf auf der Strecke bleiben«Jutta Krellmann und Rosemarie Hein über die Notwendigkeit von Bildung und Weiterbildung angesichts radikaler Veränderungen in der Arbeitswelt

Die Gewerkschaften sind am 1. Mai selbstbewusst mit dem Motto »Die Zukunft der Arbeit gestalten wir!« aufgetreten. Ist das mehr Wunsch als Wirklichkeit?Jutta Krellmann: Grundsätzlich begrüße ich eine so selbstbewusste Herangehensweise an gesellschaftliche Veränderungen. Im Grunde waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer wieder gefordert, ihre Qualifikation auf den neuesten Stand zu bringen. Die Frage ist dann nur: Wie macht man das? Zurzeit gibt es zwei Diskussions-

richtungen. Die einen meinen, mit der stärkeren Vernetzung kommt es zur Höherqualifizierung. Andere befürchten, es wird eine Abqualifizierung für viele Beschäf-tigte geben. Ich denke, es passiert beides. Was auf keinen Fall passieren darf, ist, dass jemand komplett aus dem Produktionspro-zess und damit aus dem Erwerbsleben und der gesellschaftlichen Beteiligung ausge-schlossen wird. Deshalb fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund, dass die Ausbildungsverordnungen darauf überprüft werden, ob neue Qualifikationen überhaupt

Bestandteile der Ausbildung sind. Es darf niemand auf der Strecke bleiben, nur weil neue Entwicklungen in der Ausbildung und Qualifikation kein Thema sind.

Wie sind junge Leute auf das Berufsleben vorbereitet, wenn sie die Schule verlassen?Rosemarie Hein: Das Problem ist, dass viele junge Leute ins Berufsleben entlas-sen werden, ohne genau zu wissen, was ihnen liegt, was sie für einen großen Teil ihres Lebens machen wollen. Da reichen

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die derzeitigen Angebote zur Berufsorien-tierung schlicht nicht aus. Wir brauchen eine Schule, die mehr Praxiserfahrung für junge Menschen ermöglicht. Es gibt solche Modelle, leider nur für Jugendliche, die bereits gestrauchelt sind oder die den Schulabschluss nicht schaffen. Bei ihnen sind solche Modelle erfolgreich. Das heißt, wenn wir die Schule für das Lebensumfeld öffnen und nicht einen auf Faktenwissen zentrierten Lehrplan abarbeiten, dann gibt es für junge Menschen eher die Chance zu wissen, was sie wollen und können.

Stimmt die Klage, viele der heutigen Schulabgänger seien nicht ausbildungsreif? Hein: Diesen Vorwurf höre ich, seit ich in der Bildungspolitik arbeite. Aber was beschreibt er eigentlich? Es gibt im Übergangssystem – also dort, wo Jugend-liche geparkt werden, die keinen Ausbil-dungsplatz gefunden haben – eine Viertel-million Mädchen und Jungen. 75 Prozent, also drei von vier dieser Jugendlichen, haben einen gültigen Schulabschluss. Und dennoch wird ein großer Teil von ihnen als nicht ausbildungsreif bezeichnet. Da ist die Frage erlaubt: Hat die Wirtschaft falsche Erwartungen? Vielleicht ist es an der Zeit, dass in Unternehmen und Betrieben gesagt wird: Da kommen junge Leute, die wissen eine ganze Menge – und das, was sie im Beruf brauchen, wird ihnen hier beigebracht. Krellmann: Wenn es um die Qualifizierung junger Leute geht, dann muss man wissen, dass nur 20 Prozent der Betriebe über-haupt ausbilden. 80 Prozent bilden nicht aus. Alle reden über Fachkräftemangel, aber die Anzahl der Unternehmen, die sich der Ausbildung wirklich stellen, ist nicht gestiegen. Es existieren Betriebe, die kümmern sich; andere warten tatenlos ab. Oder sie übergeben die Aufgabe der Ausbildung der öffentlichen Hand. Das ist ein Unding.

Reden wir über Weiterbildung von Frauen und Männern im Job: Die Anforderungen an Berufstätige steigen. Aber steigen auch die Chancen, sich entsprechend weiterqualifizieren zu können? Krellmann: Das ist von Branche zu Branche unterschiedlich. In der Metall- und Elektroindustrie wurden jetzt tarifliche Bedingungen dafür auf den Weg gebracht: Beschäftigte sollen Anspruch auf Weiterbildungsmaßnahmen haben. Oftmals ist es aber so, dass es keine Weiterbildung gibt: Eine Person, die nicht mehr gebraucht wird, wird entweder im

Betrieb abqualifiziert oder gleich ent-lassen, um jemand Neues einzustellen, der oder die diese höhere Qualifikation mitbringt. Wir sagen: Bildung ist mit dem Ende der Schule und der Ausbildung nicht erledigt. Weiterbildung muss auch darüber hinaus für all diejenigen möglich sein, die es möchten. Hein: Das ist der Grund, warum wir ein Weiterbildungsgesetz fordern: Weiter-bildung im derzeit ausgeübten Job. Dafür sind die Unternehmen zuständig, sowohl was die Freistellung als auch die Bezah-lung angeht. Diese Form der Bildung muss aber auch dann möglich sein, wenn ich mich in meinem Leben beruflich umorientieren möchte. Auch dafür muss es Angebote, einen Rechts anspruch und Regelungen geben.

In der vergangenen Legislaturperiode hat DIE LINKE intensiv für eine Anti-Stress-Verordnung gestritten. Was ist daraus geworden?Krellmann: Von der jetzigen Bundes-regierung wurde das Thema nach hinten geschoben. Im Moment heißt es, das Ministerium für Arbeit und Soziales arbeite

daran, sich stärker an den Begriff der psychischen Belastung heranzutasten, um ihn dann sachgerecht in einer Verordnung umzusetzen. Ich bin gespannt, was das Ministerium uns präsentieren wird. DIE LINKE hat keine Veranlassung, von der bisherigen Position abzuweichen: Wir wollen, dass eine Anti-Stress-Ver-ordnung auf den Weg gebracht wird.

Aus welchen Gründen scheint die Bundesregierung dieses Problem aussitzen zu wollen? Krellmann: Eigentlich müssten die Arbeitgeber Druck machen, denn psychi-sche Belastungen verursachen inzwischen die meisten Kosten: für den Betrieb, für die Krankenkassen. Die Bundesregierung scheut sich vor klaren Regeln, auf die sich die Beschäftigten berufen können, zum Beispiel dem Anspruch auf freie Zeit, auf Arbeitszeitverkürzung oder von Teilzeit wieder auf Vollzeit wechseln zu können. Das wären wirksame Arbeitnehmerrechte. Doch diese scheuen die politisch Verant-wortlichen wie Teufelszeug.

Das Gespräch führte Gisela Zimmer.

Jutta Krellmann (l.) ist gewerkschaftspoliti-sche Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.

Rosemarie Hein ist bildungspolitische

Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.

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»Deutschland ist eine Klassengesellschaft«, heißt es im Grundsatzprogramm der Partei DIE LINKE. Doch machte es politisch kei-nen Sinn, von einer Klassengesellschaft zu sprechen, wenn die subjektive Selbstein-stufung der Menschen eine andere wäre. Denn die Zugehörigkeit zu einer gesell-schaftlichen Klasse oder Schicht bestimmt sich nicht allein über die Stellung im Ar-beitsprozess, sondern zunehmend über die Wohngegend, die soziale Zusammenset-zung der Nachbarschaft, den Zustand der öffentlichen Infrastruktur.

Tatsächlich zeigen Umfragen, dass es nach wie vor ein verbreitetes Bewusstsein für die Zugehörigkeit zu bestimmten Schich-ten und Klassen gibt. So stuften sich die Westdeutschen im Jahr 1980 zu 30 Pro-zent als Angehörige der Arbeiter- und Unterschicht ein, im Jahr 2012 waren es immer noch 25 Prozent. Facharbeiterin-nen, an- und ungelernte Arbeiter und Ar-beitslose zählen sich selbst mehrheitlich in diese Schicht, in Ostdeutschland sind die Befunde noch deutlicher. Unter einfa-chen Beamten und Angestellten sowie Vorarbeitern sehen sich immerhin noch zwischen 40 und 50 Prozent als Angehö-rige der Arbeiterschicht. Zugleich nimmt das Bewusstsein zu, trotz eigener Anstren-gungen die Schicht oder Klasse nicht hinter sich lassen zu können. Bis Anfang der 1980er Jahre meinten 60 Prozent der

Befragten, jeder sei seines Glückes Schmied. Im Jahr 2013 stimmte dann erst-mals eine relative Mehrheit der Aussage zu, dass, wer »unten« sei, auch »unten« bleibe – Klassenschicksal statt Leistungs-gerechtigkeit. Hinzu kommt das sich aus-breitende Gefühl, dass Entlohnung und Leistung entkoppelt werden, gute Bildung keinen sozialen Aufstieg garantiert und die soziale Durchlässigkeit des Schulsystems stark nachgelassen hat.

Deindustrialisierung in West und OstDiese Auffassungen haben sich über drei Jahrzehnte hinweg als kollektives Erfah-rungswissen in Teilen der Gesellschaft herausgebildet. Eine Rolle gespielt haben dabei unter anderem die Entwertung von industriellen Qualifikationen im Zuge der schleichenden (West) und schockhaften (Ost) Deindustrialisierung seit Ende der 1970er beziehungsweise Anfang der 1990er Jahre und die Arbeitsmarktexklu-sion von Arbeiterjugendlichen, insbeson-dere auch Migrantenkindern, sowie die Entwertung akademischer Qualifikationen für Berufsanfängerinnen und -anfänger seit Ende der 1990er Jahre.

Erschüttert ist die traditionelle Überzeu-gung, dass eine gute Lehre die beste Al-terssicherung sei. Die Statistik der beruf-

lichen Arbeitsteilung belegt, dass in den Jahren 1991 bis 2012 der Anteil der Fach-lehrberufe von über 45 auf unter 30 Pro-zent gesunken ist. Im Jahr 2012 erforderte knapp die Hälfte der Berufe mindestens eine halbakademische Qualifikation. Wäh-rend der Anteil der an- und ungelernten Berufe mit rund einem Viertel seit dem Jahr 1991 stabil geblieben ist, haben sich in den 1990er Jahren in Ostdeutschland und ab dem Jahr 2004 in Gesamtdeutsch-land neue Formen der Selbstständigkeit entwickelt, die vielfach bei Solo-Selbst-ständigen eine Wiederkehr von Tagelöh-nerei und proletarischen Lebenslagen bedeuten.

Die umfassende Umwälzung von Arbeits- und Lebensverhältnissen durch die Digi-talisierung wird den Druck für die meisten Berufe erhöhen und Selektionsprozesse verschärfen. Bereits jetzt gilt: Die sozialen Auseinandersetzungen im Schulsystem nehmen wieder zu. Angehörige der Mittel- und Oberschichten investieren in die Bil-dung ihrer Kinder nicht erst in der Schule und erwarten hierfür eine hohe Status-rendite. Dafür sind sie auch bereit, soziale Aufstiegschancen für Angehörige unterer Schichten und Klassen zu blockieren.

Horst Kahrs ist Referent für Klassen- und Sozialstrukturanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Klassenschicksal statt LeistungsgesellschaftDie Veränderung der Arbeitswelt hat die soziale Spaltung der Gesellschaft nicht aufgehoben, analysiert Horst Kahrs.

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Mikrochips, Computer, weltweite Kommunikationsnetze – manche sprechen von einer neuen industriellen Revolution. Wie haben diese Techno-logien die Arbeitswelt verändert?Jonas Rest: Ein zentraler Effekt ist, dass es diese Technologien extrem einfach machen, Arbeit auszulagern. Arbeit, die vorher von Angestellten mit sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigungs-verhältnissen gemacht wurde, wird nun über Internet-Plattformen abgewickelt. Es wäre beispielsweise früher undenkbar gewesen, dass ein deutscher Energiever-

sorger die Zählerstände seiner deutschen Kunden für Centbeträge in Indien eingeben lässt. Man kann dieses Phänomen die »Uberisierung« der Arbeit nennen.

Uber ist ein US-amerikanischer Konzern, der online Taxifahrer und Fahrgäste zusammenbringt und seit einem Jahr auch auf den deutschen Markt drängt.Uber hat einen Taxidienst aufgebaut, der ohne Smartphones und Internet nicht möglich wäre. Die Taxifahrer sind keine Angestellten von Uber, sondern formal Selbstständige. Tatsächlich sind sie aber total abhängig von dem Unternehmen. Wenn Uber von einem Tag auf den anderen den Preis pro Kilometer ändert, haben sie sofort starke Einschnitte beim Lohn.

Bei Uber müssen die meisten Taxifahrer ihre Privatwagen benutzen.Das wird häufig nicht beachtet, wenn von dem Stundenlohn von Uber-Fahrern und ähnlichen Selbstständigen gesprochen wird. Zwar verdient eine Fahrerin mögli-cherweise einen Stundenlohn in der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in der Stunde. Sie muss aber ihren

Wagen versichern, pflegen, reparieren, Benzin kaufen; sie muss sich selbst kranken- und rentenversichern. Um das mit dem Mindestlohn zu vergleichen, müsste er leicht etwa das Doppelte verdienen. Ein enormes Problem des Geschäftsmodells von Uber und ähnlichen Plattformen ist: Früher war Taxifahrer ein Beruf, heute kann jeder mit seinem Pkw Fahrgäste für ein paar Stunden befördern. Das Ergebnis ist eine Entwertung von Arbeit.

Für die »Berliner Zeitung« haben Sie die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt in Deutschland recherchiert. Welches Phänomen hat Sie am meisten überrascht?Mich hat beeindruckt, wie stark Menschen als Ersatz für Computerprogramme eingesetzt werden, ohne dass wir das merken. Bei Unternehmen wie Amazon oder Zalando fallen viele Aufgaben an, die nicht oder nur zu sehr hohen Kosten automatisiert erfüllt werden können: Kataloge sortieren, Ware klassifizieren oder Produktbeschreibungen texten. All diese Aufgaben werden zerlegt in Abermillionen Minijobs und über Platt-formen erledigt. Technologiekonzerne

»Menschen sind häufig billiger als Computer«Smartphones und Internet haben die Arbeitswelt radikal verändert. Ein Gespräch mit dem Fachjournalisten Jonas Rest über Taxiunternehmen ohne Taxis, »digitale Minutenlöhner« und Sekundenjobs.

Der Konzern Uber fordert traditionelle Taxiunter-

nehmen heraus.

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bevorzugen gewöhnlich Algorithmen, aber vielfach ist es billiger, Menschen anstelle von Computern einzusetzen. Auch in Deutschland ist dieses sogenannte Clickworking über Internet-Plattformen mittlerweile weit verbreitet.

Wie muss man sich die Arbeit eines Klickarbeiters vorstellen? Die Menschen, die für solche Plattformen arbeiten, haben keine Arbeitsverträge. Sie sind »digitale Minutenlöhner«, die ausschließlich pro geleistete Aufgabe bezahlt werden. Wie viel sie verdienen, hängt davon ab, wie viele Aufträge sie machen. Als Selbstständige müssen sie sich selbst versichern. Bei Krankheit oder Urlaub bekommen sie kein Geld.

In Deutschland geht die IG Metall davon aus, dass etwa eine Million Menschen solche Tätigkeiten verrichten. International gibt es einzelne Plattformen, die Zugriff auf mehr als fünf Millionen Klickarbeiterinnen und Klickarbeiter versprechen. Bei Amazon sind es allein mehr als eine halbe Million Klickarbeiter.

Sie haben mit vielen dieser Klick arbeiter gesprochen. Was denken diese über ihre Tätigkeit?Viele sind froh, wenn sie abends oder zwischendurch mit zwei, drei Stunden Arbeit zehn Euro zusätzlich verdienen.

Zum Beispiel eine alleinerziehende Frau, die, während das Kind schläft, arbeiten kann. Auch Schüler können sich so ihr Taschengeld aufbessern. Es gibt aber auch Leute, die das hauptberuflich machen. Viele von ihnen gehen ihrer Arbeit nach wie einem normalen Bürojob: Sie fangen um 9 Uhr an und klicken bis 17 Uhr Aufträge. Ich habe mit einer Klickarbeiterin gesprochen, die über 800 000 solcher Sekunden-Jobs gemacht hat.

Kann man mit solch einem Job dauer-haft über die Runden kommen?Ich habe niemanden getroffen, der oder die einen solchen Job dauerhaft machen möchte. Und ich glaube nicht, dass viele Klickarbeiter auf 8,50 Euro pro Stunde kommen, wie viele Plattformen in Deutsch-land behaupten. Das mag zwar vereinzelt passieren. Bei den meisten liegt der

Stundenlohn jedoch deutlich darunter. Die Auftragslage ist manchmal so dünn, dass einige in dieser Zeit nicht mehr als einen Euro pro Stunde verdienen.

Wie organisiert sich diese neue »digitale Arbeiterklasse«?In Deutschland gibt es bisher keine Interessenvertretung. Die Gewerkschaften ver.di und insbesondere die IG Metall haben zwar das Thema erkannt und aufgegriffen. Doch bisher gibt es kaum Austausch zwischen den Klickarbeiterinnen unabhängig von den Betreiberplattformen. In den USA ist das anders. Dort organisie-ren sich die Selbstständigen auf verschie-dene Weise. Bei Uber haben die Fahrer, die vom Konzern als Klein unternehmer betrachtet werden, mittlerweile eine Art Gewerkschaft gegründet und einzelne Forderungen durchgesetzt. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in Deutschland eine ähnliche Entwicklung sehen werden. Das Interview führte Ruben Lehnert.

Jonas Rest ist ein vielfach ausgezeichne-ter Journalist. Er arbeitet als Redakteur für die »Berliner Zeitung« und hat jüngst die Serie »Ausgelagert ins Netz – Wie die neuen Web-Jobs unsere Arbeit verändern« veröffentlicht.

Hierzulande soll es rund eine Million Klickarbeiterinnen und -arbeiter geben.

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Amazon, der HütchenspielerSeit Jahren ignoriert der Versandhändler Amazon die Forderungen seiner Beschäftigten – mit Hightech und Kaltschnäuzigkeit. Doch auch das hat Grenzen.

Amazon ist der dickste Fisch im Versand-handel. Doch bei Löhnen und Arbeitsbe-dingungen will der US-Konzern kein Händ-ler sein und weigert sich, den Tarif für den Versandhandel zu zahlen und auch sonst irgendeinen Tarifvertrag abzuschließen. Seit über zwei Jahren kämpfen die mehr als 10 000 Beschäftigten des Handelsrie-sen in Deutschland gegen diese Ungerech-tigkeit. Es könnte einer der längsten Ar-beitskämpfe seit Jahren werden.

Rückblende: Irgendwann im April 2013 hatten die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter von Amazon die Nase voll. Seit Mona-ten verweigerte ihr Unternehmen strikt Tarifverhandlungen mit der Dienstleis-tungsgewerkschaft ver.di, lehnte eine Tarifbindung ab und wollte – obwohl schon damals der größte Versandhändler Deutschlands – nicht nach dem Tarif des Einzel- und Versandhandels zahlen. Für die Beschäftigten bedeutete das nach Gewerkschaftsangaben damals einen fi-

nanziellen Verlust von bis zu 9.000 Euro im Jahr. Kein Wunder, dass schließlich eine große Mehrheit für Streik stimmte. Und so legten erstmals im Mai 2013 im hessi-schen Bad Hersfeld rund 600 und in Leipzig rund 500 Amazon-Beschäftigte die Arbeit nieder.

Andere Standorte folgten, und seit mehr als zwei Jahren hat sich eine wahre Streik-schlacht zwischen dem Konzern und der Belegschaft entwickelt. Trotzdem lehnt Amazon bis heute Verhandlungen mit der Gewerkschaft ab, will keine verbindlichen Festlegungen über Löhne und Arbeitsbe-dingungen. Vielmehr setzt Amazon in dem Konflikt, der inzwischen sieben seiner neun deutschen Standorte erfasst hat, auf Hightech und eine Kaltschnäuzigkeit, die selbst in unzähligen Arbeitskämpfen erfah-rene Gewerkschafter staunen lässt.

Warum die Streiks nicht immer auf den ersten Blick jene Wirkung haben, die sie

eigentlich angesichts der Häufigkeit erzie-len müssten, weiß Stefan Najda, Gewerk-schaftssekretär im Fachbereich Handel der ver.di-Bundesverwaltung. »Amazon kann per Knopfdruck zumindest einen Teil der Warenströme zwischen Standorten ver-schieben«, sagt Najda. Wird ein Versand-zentrum, im Amazon-Jargon »Fulfillment Center«, bestreikt, schickt die Münchner Zentrale CDs, Toaster oder Bücher aus ei-nem anderen Lager – und lenkt die Waren-ströme kurzerhand um. Amazon agiert wie ein Hütchenspieler: Bestreikt die Gewerk-schaft einen Standort, müssen die Waren, wie beim Hütchenspielen das Kügelchen, in ein anderes Hütchen, sprich Lager.

Konkurrenz durch Standorte in PolenEine wachsende Rolle spielen dabei Ver-sandzentren, die Amazon in Osteuropa hochzieht, bisher zwei in Polen, ein weite-res in Tschechien. Ein zweites tschechi-

Der Versandkonzern Amazon verweigert seinen Beschäftigten höhere Löhne. Doch diese kämpfen mit Streiks für ihre Interes-sen und Rechte.

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sches Zentrum ist nahe Prag im Bau, weitere sind in Planung. »Die Standorte bedienen vor allem den deutschen Markt. In Polen und Tschechien hat Amazon noch keine eigenen Vertriebsseiten«, berichtet Najda. In Polen wird laut ver.di ein Viertel des hiesigen Lohns bezahlt, etwa 400 Euro im Monat. In Tschechien liegt der Mindest-lohn nach Medienberichten gar nur bei 330 Euro. Und offenbar schafft es der Konzern, einen guten Teil der höheren Transportkosten an Dritte weiterzugeben. So klagten deutsche Verlage jüngst, Ama-zon bestehe auf kostenfreie Lieferung in polnische Lager. 40 Prozent des Liefervo-lumens sollen nach Angaben des Börsen-blattes des Deutschen Buchhandels dorthin verschoben werden.

So lassen sich vom US-Konzern beste Profite machen, und nebenbei schürt das auch die Angst der deutschen Beschäftig-ten vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Auch wenn es offiziell beim Konzern heißt, Zentren in Polen und Tschechien seien keine Konkurrenz, und Amazon-Europa-Manager Tim Collins behauptet: »Wir ha-ben keine Pläne, Standorte zu schließen oder zu verlagern.« Gewerkschaftssekre-tär Najda ist sich sicher: »Mit feinen Zwi-schentönen versuchen Standortleitungen dennoch, die Angst der Beschäftigten vor Verlagerungen zu schüren.«

In eine solche Richtung weisen auch Er-fahrungen, die Tim Schmidt, Betriebsrats-vorsitzender des Amazon-Versandzen-trums in Rheinberg am Niederrhein, gesammelt hat. »In einem Arbeitsgerichts-verfahren haben die Firmenvertreter mitgeteilt, dass es keinen größeren Per-sonalbedarf geben werde, weil ein Teil des Warenvolumens über die Standorte in Osteuropa läuft«, sagt er.

Dass aber auch das Amazon-Hütchenspiel Grenzen hat, da ist sich Najda sicher: »Wenn Amazon einmal einen Auftrag in einem Versandzentrum platziert hat, kön-nen sie diesen nicht mehr einfach verschie-ben. Auch das kurzfristige Lieferverspre-chen setzt Verlagerungen grundsätzlich Grenzen.

So haben wir es geschafft, die Auslieferung vor Ostern durch Streiks empfindlich zu stören.« Testkäufe seien mit zehn Tagen Verspätung gekommen, und in den Ver-sandzentren hätten sich liegen gebliebene Waren gestapelt. Auch verplapperte sich der Leiter des Amazon-Standortes Graben nahe Augsburg vor laufender TV-Kamera. Er räumte ein, man habe streikbedingt »leichte Einbußen im Volumen« gehabt. Plötzlich rief eine Unternehmensspreche-rin: »Stopp!«

Amazon hat sich als hartnäckiger Gegner erwiesen. Anfang 2015 gab es an vielen Amazon-Standorten massiven Personal-abbau durch die Nichtverlängerung befris-teter Verträge. »So versucht man die Grenze von 2 000 Beschäftigten je Betrieb zu unterschreiten, um einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat zu verhin-dern, um den wir gerade vor Gerichten ringen«, erläutert Najda. Die einzelnen Amazon-Standorte sind formal eigene GmbHs. »Diese Konstruktion verhindert auch einen Gesamtbetriebsrat«, erläutert Najda.

Aber im Hütchenspiel der Amazon-Bosse mit 25 europäischen Versandzentren zah-len die Gewerkschaften mit gleicher Münze zurück: »Wir sind europaweit eng gewerkschaftlich vernetzt, unter anderem mit Solidarnosc in Polen«, sagt Najda, »und alle Beteiligten wissen: Das ist eine mittelfristige Auseinandersetzung.«

Trotz aller Kaltschnäuzigkeit von Amazon: Der Organisationsgrad von ver.di an Standorten wie Bad Hersfeld oder Rhein-berg ist weiter gestiegen und liegt inzwi-schen schon bei 50 Prozent. Niels Holger Schmidt

Matthias W. Birkwald ist rentenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE

Arbeit ist mehr wert!Bei Amazon muss der Tarif-vertrag für den Handel gelten, sagt Matthias W. Birkwald.

Seit Jahren drückt sich der Handelsriese Amazon um einen Tarifvertrag. Wie kann die Politik das verhindern?Matthias W. Birkwald: Amazon ist kein Einzelfall. Im Jahr 2013 arbeite-ten nur noch 49 Prozent der Beschäf-tigten nach einem Flächentarifver-trag. DIE LINKE will daher die sogenannte Allgemeinverbindlich-keitserklärung von Tarifverträgen erleichtern. So kann Tarifflucht durch die gesetz liche Pflicht gestoppt werden, sich an Branchentarif-verträge zu halten. Beim Versand-händler Amazon muss das der Tarifvertrag für den Handel sein.

Wie unterstützt DIE LINKE das Anliegen der Beschäftigten?Im Herbst wollen wir im Bundestag das Verbot von Kettenbefristungen thematisieren. Amazon setzt systema-tisch zur Einschüchterung seiner Beschäftigten auf Befristungen. Aber es geht auch um praktische Solidari-tät. Die Kolleginnen und Kollegen sollen wissen: Wir sind an ihrer Seite. Das kann ein Soli-Schreiben für Streikende sein oder meine Einladung zur Wahlkreisfahrt nach Berlin an Beschäftigte von Amazon Rheinberg.

Gerade gibt es Streik bei Post, Bahn und Kitabeschäftigten. Werden die angeblich streikfaulen Deutschen aufmüpfiger?Ja, und das freut mich sehr. Auch nach den Eindrücken unserer Betriebsrätekonferenz in Köln bin ich optimistisch, dass Beschäftigte und Gewerkschaften selbstbewusst sagen: Arbeit ist mehr wert!

Tim Schmidt, Betriebsratsvorsitzender des Amazon-Versand-zentrums in Rheinberg am Niederrhein, setzt sich für höhere Löhne ein.

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Verrechnungvon Trinkgeldern

In der Gastronomie werden Trinkgelder mit dem Mindestlohn verrechnet, obwohl dies nicht gestattet ist.

Auszahlung desLohns in Naturalien

Den Beschäftigten werden Gutscheine für Leistungen des Unternehmens gegeben und mit dem Mindestlohn verrechnet. In Kinos sind es Gutscheine für Popcorn, in Wellness-Anlagen für das Solarium. Auch dies ist nicht zulässig.

Streichungdes Weihnachtsgelds

Viele Arbeitgeber streichen Zuschläge, das Weihnachts- oder das Urlaubsgeld, sodass die Beschäftigten unterm Strich das Glei-che oder weniger verdienen, obwohl ihr Stundenlohn formal angehoben wurde.

Zu kurze Zeitvorgaben

Bei den Zustellern von Zeitungen werden die Zeiten, die ihnen für die Auslieferung der Blätter vorgegeben werden, so kurz bemessen, dass es nichts mehr mit dem realen zeitlichen Aufwand zu tun hat. Ent-lohnt wird natürlich nur die vorgegebene Zeit und nicht die tatsächliche.

Reduzierung der Arbeitszeit

Viele Arbeitgeber kürzen die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit, lassen aber die gleiche Arbeit verrichten.

Unbezahlte Wartezeiten

Insbesondere in der Taxibranche werden Wartezeiten, in denen keine Fahrgäste befördert werden, nicht als Arbeitszeit betrachtet. Aber auch in anderen Branchen wird versucht, Bereitschaftszeiten nicht zu bezahlen.

Verschiebung von Arbeitins Ehrenamt

Eigentlich reguläre Arbeit, zum Beispiel im Bereich sozialer Dienstleistungen, wird als Ehrenamt deklariert, um den Mindestlohn nicht zahlen zu müssen. Das passiert ins-besondere dort, wo Minijobs mit einem Ehrenamt gekoppelt werden.

Urlaub wird reduziert

Der Urlaub wird auf die gesetzliche Min-destzeit reduziert, um die Kosten des Mindestlohns zu kompensieren.

Umsatzabgabe

Beschäftigte, beispielsweise in gastrono-mischen Lieferdiensten, erhalten zwar den Mindestlohn, von ihm wird aber ein Anteil des Umsatzes abgezogen.

Falsche Praktika

Reguläre Arbeit wird als Praktikum dekla-riert, obwohl es sich nicht um ein Lernver-hältnis handelt.

Arbeitgeber betrügen beim MindestlohnSeit Anfang des Jahres gilt der gesetzliche Mindestlohn. Doch um die Beschäftigten zu prellen, greifen viele Arbeitgeber tief in die Trickkiste.

Klaus Ernst ist stellvertreten-der Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE

Betrug stoppen!

Klaus Ernst fordert mehr Personal zur Kontrolle.

Acht Jahre nachdem die Fraktion DIE LINKE erstmals einen gesetzli-chen Mindestlohn im Bundestag gefordert hat, wurde er Anfang des Jahres eingeführt. Auch wenn er zu niedrig ist und es unakzeptable Ausnahmen gibt: Der Mindestlohn ist ein Erfolg – auch für DIE LINKE!

Schon im Gesetzgebungsprozess hatten CDU und CSU die Interessen der Arbeitgeber durchgesetzt und den Mindestlohn mit vielen Ausnah-men durchlöchert. Jetzt beklagen Arbeitgeberverbände und Teile von CDU und CSU, das Mindestlohnge-setz sei ein Bürokratiemonster, die zum Teil vorgesehene Erfassung von Arbeitszeiten der Beschäftigten ein überbordender Aufwand. Diese Attacken haben das Ziel, das Mindestlohngesetz zu sabotieren. Denn wird die Arbeitszeit nicht erfasst, kann der Mindestlohn weder berechnet noch kontrolliert werden.

Tatsächlich erschweren die vielen Ausnahmeregelungen die Arbeit der zuständigen Kontrolleure der Finanzkontrolle Schwarzarbeit. Hinzu kommt, dass es der Behörde an Personal fehlt. Lediglich 1 600 Planstellen, zu besetzen bis zum Jahr 2017, wurden vom zuständigen Finanzministerium bisher geneh-migt. Gebraucht werden aktuell aber etwa 2 500 zusätzliche Kontrolleure.

Wie notwendig eine flächende-ckende Bekämpfung des Miss-brauchs beim Mindestlohn ist, zeigt die Liste der Strategien, die Arbeit-geber anwenden, um den Mindest-lohn zu umgehen.

Hilfe bei Fragen rund um den Mindestlohn www.dgb.de

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Ernüchternder kann ein Befund kaum aus-fallen. In Berlin zeigt sich, dass das Hilfe-system des Staates das Recht auf Wohn-raum nur dann flächendeckend durchsetzen kann, wenn Vermieter und Eigentümer auch auf Einkommensschwache angewie-sen sind. Zu diesem Ergebnis kommt die kürzlich veröffentlichte Studie »Zwangsräu-mungen und die Krise des Hilfesystems«. Sie wurde von Andrej Holm und zwei Mit-arbeiterinnen erarbeitet und Ende April an der Berliner Humboldt-Universität (HU) vorgestellt und online veröffentlicht.

Holm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU und einer der prominentesten Stadtsoziologen Deutschlands. Die von ihm nun ans Licht gebrachten Zustände hätten dieselbe Prominenz verdient – doch Regierungen, Medien und auch die Sozio-logie befassten sich kaum mit den struk-turellen Hintergründen von Zwangsräu-mungen, sagt Holm.

Zum Skandal der massenhaften Zwangs-räumungen in Berlin gehört, dass es keine amtliche Statistik zu Zwangsräumungen gibt. Um dennoch aussagekräftige Daten zu bekommen, trugen Holm und sein Team Daten aus diversen staatlichen Dokumen-ten und Presseartikeln zusammen, führten Interviews mit Personal von zahlreichen

beteiligten Institutionen sowie mit Betrof-fenen.

Die wichtigsten Ergebnisse: 1. In den Jahren 2009 bis 2013 wurden in Berlin pro Jahr 5 000 bis 7 000 Termine für Wohnungsräumungen gerichtlich festgesetzt, wobei von zwei der zwölf Bezirke keine Daten vorliegen. 2. Es lässt sich zeigen, dass aufgrund der immens gewachsenen Wohnungs-nachfrage die Räumungsneigung der Eigentümer zugenommen hat. Es ist für sie viel lukrativer als früher, Men-schen aus dem Haus zu werfen.3. Die Wohnungsunternehmen des Landes räumen überdurchschnittlich viel, die Jobcenter sind durch Fehler (Mieten werden zu spät oder auf falsche Konten überwiesen) und lange Bearbeitungszeiten für viele Zwangs-räumungen verantwortlich. Die Macher der Studie nennen das eine »staatliche Koproduktion« des Elends.4. Der Staat ist zwar verpflichtet, wohnungslos gewordene Personen unterzubringen, die Berliner Bezirke halten das aber regelmäßig nicht ein. Sie sind personell wie finanziell hoff-nungslos überfordert und stehen sogar in einer Konkurrenzsituation zu den Hilfsbedürftigen: Je mehr Geld sie für

diese ausgeben, desto weniger haben sie selbst zur Verfügung.5. Das Hilfesystem verstärkt Diskriminie-rung und Isolation. Menschen werden alleingelassen oder vom Verwaltungs-personal nach persönlichen Kriterien bevorzugt. Der Auslesemechanismus des Marktes wird so verstärkt, die eigentliche Logik von Auffangsystemen wird ins Gegenteil verkehrt.6. Fürsorgeunternehmen finden selbst kaum noch Wohnungen, die sie an Wohnungslose vermieten könnten. 7. Die Profile der von Räumung oder erzwungenem Umzug Betroffenen sind sehr vielfältig geworden. Es trifft nicht mehr nur die Ärmsten.

Besserung scheint nicht in Sicht. Eher das Gegenteil, denn die Hilfsbedürftigen wer-den vom Wohnungsmarkt nicht gebraucht und vom Staat faktisch als bloße Kosten-faktoren betrachtet. Andrej Holm kritisiert, dass der Missstand systembedingt ist: »Die Überforderung des Berliner Hilfesys-tems ist kein Einzelfall. Das Problem dürfte es überall geben.«Ralf Hutter

Zwangsräumungen in der HauptstadtErstmals liegt eine umfassende Studie zu den Hintergründen von Zwangsräumungen vor: Der Wohnungsmarkt wird härter, die staatliche Hilfe versagt.

Die Studie zum Herunterladen u.hu-berlin.de/studie-zr

Staatsmacht gegen Mieterprotest: Behelmte Polizisten sollen am 14. Februar 2013 eine Zwangs-räumung in Berlin-Kreuzberg ermöglichen.

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Der Berliner Matthias Coers ist ein viel beschäftigter Mensch. Eben erst ist er von einem einwöchigen Einsatz als Moderator bei einem Filmfestival in Osnabrück zu-rückgekommen, von wo er stammt. »Heute werde ich bis Mitternacht am Computer sitzen und E-Mails beantworten«, kündigt er an. Es seien wieder über 100 gekom-men, etliche auf Spanisch und Französisch. Auch aus dem australischen Melbourne gebe es eine Anfrage.

Coers ist freiberuflicher Dokumentarfilmer und hat mehrere Projekte laufen. Seine letzte Veröffentlichung aber hat so einen großen Erfolg, dass sie »die anderen Pro-jekte in die Ecke drängt«, wie er sagt. Es ist der im April 2014 erschienene Film »Mietrebellen«.

Coers, Jahrgang 1969, und seine Partnerin Getrud Schulte Westenberg zeigen in dem 78-minütigen Film den Widerstand mehre-rer Berliner Initiativen gegen einen immer

härter wer-denden Woh-nungsmarkt mit enormen Mietsteige-rungen, Ver- drängungaus den nachbar- schaftlichen Lebenszusammenhängen und Zwangsräumungen. So schildern sie den Fall der Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ, die im Jahr 2013 zwei Tage nach ihrer trotz Protesten und ärztlicher Bedenken erfolg-ten Zwangsräumung in einem Obdachlo-senheim starb, sie zeigen den mehrere Monate andauernden Kampf einer Gruppe Rentnerinnen und Rentner um ihre Senio-renbegegnungsstätte und die in der Stadt langsam wachsende Solidarität einander völlig fremder Menschen. So wie im Fall der von Zwangsräumung bedrohten Familie Gülbol. Zwei Räumungstermine müssen wegen Protesten vor Ort abgesagt werden, und die Räumung kann schlussendlich nur

durch eine Übermacht von fast 1 000 Polizisten durchgesetzt werden, Hubschraubereinsatz und Ausschreitungen inklusive.

Obwohl ein Film über Berlin – in immer mehr Ländern wird »Mietrebellen« vorgeführt: in Wien, Dublin, Glasgow, Córdoba, Amsterdam, im Kosovo, in Istan-bul, Moskau, Brest, Groningen –, die Berliner »Mietrebellen« kom-men beeindruckend weit herum. Sie wer-den mal bei akademischen, mal bei akti-vistischen Konferenzen sowie bei Film- und Kunstfestivals gezeigt, und immer mehr Anfragen aus anderen Ländern und Orten kommen hinzu.

Coers versucht, möglichst oft bei den Vor-führungen dabei zu sein. Das Ganze sei für ihn vor allem ein politisches Projekt. »Mietrebellen« sei extra kurz gehalten, um Diskussionen im Anschluss zu ermöglichen, sagt der studierte Soziologe, der über das Fotografieren und den politischen Aktivis-mus als Autodidakt zum Filmen kam. »Der Film soll vor Ort zu Debatten über die lokale Situation führen.« Deshalb lädt er auch oft Initiativen oder Fachleute ein, die sich im Anschluss an den Film vorstellen bezie-hungsweise das Thema vertiefen.

Großes Kino für wohnungs ­ politischen ProtestDer Film »Mietrebellen« über Kämpfe auf dem Berliner Wohnungsmarkt hat im In- und Ausland unglaublichen Erfolg und trägt zum Widerstand gegen den Ausverkauf der Städte bei.

Der Filmemacher Matthias Coers über den Dächern seines Berliner Heimatbezirks Kreuzberg, in dem immer mehr Menschen wegen steigender Mietpreise aus ihren Wohnungen verdrängt werden.

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In den bundesweit 21 Kinos, in denen »Mietrebellen« schon gelaufen ist, konnte er eine unmittelbar politisierende Wirkung entfalten – was viele Menschen nicht ge-wohnt sind, so die Erfahrung des Filmema-chers: »Die sind erstaunt, dass danach noch lange diskutiert wird. Es dauert dann zehn Minuten, bis das Publikum einsteigt, aber dann steigt es ein, und auf einmal hat man eine Debatte, die es sonst nicht gäbe. Das sind zum Teil stundenlange Diskussi-onen, und das Tolle ist, dass die Leute bleiben.«

Der Film lief bereits in 15 LändernWas in Berlin passiert, »regt in anderen Städten die Fantasie an«, weiß Coers. Oft habe er gehört, dass nach Vorführungen E-Mail-Listen erstellt wurden, um sich

über das Thema weiter auszutauschen. In Gießen habe sich eine Arbeitsgruppe ge-bildet. In Mannheim habe eine Handvoll älterer Menschen auf dem Podium geses-sen, die in Wohnblöcken wohnen, die das städtische Wohnungsunternehmen abrei-ßen wollte; sie hätten sich vernetzt und auch gleich eine Kundgebung vor dem Büro des Unternehmens beschlossen. Häufig werde die Filmvorführung von Gruppen dazu genutzt, mit anderen poli-tischen Akteuren ins Gespräch zu kom-men, fügt Coers hinzu.

Als der Streifen kürzlich zum hundertsten Mal im Berliner Kino Moviemento lief, war eine griechische Geografin zu Gast und berichtete über den griechischen Woh-nungsmarkt. Sie arbeitet an der Universi-tät Edinburgh in Schottland und hatte »Mietrebellen« im August in London gese-hen, als der Film bei einer großen Konfe-renz der britischen Geografischen Gesell-schaft gezeigt wurde. Für Matthias Coers hat dieses Datum besondere Bedeutung: Am selben Tag, an dem der Film in London vor dem wissenschaftlichen Publikum lief, sei der Film in Leipzig bei einem Doku-Festival und in Hamburg bei einem großen Treffen der Hausbesetzerszene in der berühmten »Roten Flora« gezeigt wor-den.

330 Mal ist »Mietrebellen« schon öffentlich gelaufen, in 40 Städten in 15 Ländern, und bei 130 Terminen war Coers dabei, so seine Zählung. Für die zweieinhalb Monate von April bis Mitte Juni waren 25 Vorführungen geplant, vor allem in Berlin, aber auch eine beim Left Forum in New York, »dem größ-ten Kongress der undogmatischen US-amerikanischen Linken«, so Coers, wo schon im vergangenen Jahr Ausschnitte liefen. In Spanien und Frankreich spreche er derzeit Festivals an. Dass aus diesen von Zwangsräumungen gebeutelten Ländern

jetzt schon Anfragen von politischen Grup-pen kommen, veranschaulicht ebenfalls den geradezu unglaublichen Erfolg von »Mietrebellen«: Ohne Werbung des Film-teams hat sich das Interesse an der Doku-mentation von Berlin aus verbreitet.

Coers bekomme auf diese Weise viel von den Zuständen andernorts mit, erzählt er. So habe er sowohl aus Bukarest als auch von der Stadtplanungsfakultät in Neapel und vom Left Forum gehört, wie dankbar die Menschen dort waren zu sehen, dass es auch in Deutschland Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit gibt.

In Bukarest machen sich mittlerweile Frei-willige an eine Übersetzung der Untertitel, berichtet Coers. Auf Englisch, Französisch und Spanisch gibt es die schon, Griechisch und Italienisch seien fast fertig, Polnisch, Niederländisch und Russisch in Arbeit, Türkisch, Ungarisch, Portugiesisch und Albanisch in Planung, sagt der umtriebige Filmer und Aktivist, der für Anfang 2016 eine DVD des Films plant – »für die welt-weite Rezeption«.Ralf Hutter

Infos und Aufführungstermine: www.mietrebellen.de

So lässt sich Wohnen bezahlbar machenDIE LINKE. im Bundestag fordert eine grundlegende Neuausrichtung der Wohnungspolitik. Jeder Mensch muss das Recht auf bezahlbaren und angemessenen Wohnraum haben. Deshalb gehört das Recht auf Wohnen ins Grundgesetz.n Es muss einen Neustart im sozialen Wohnungsbau geben, der den Neubau von 150 000 Wohnungen jährlich beinhaltet.

n Es braucht eine echte Mietpreis-bremse, die flächendeckend und ohne Ausnahme gilt, und eine Erhöhung des Wohngeldes. n Es muss ein Verbot von Mieterhöhung allein wegen Neuvermietung gelten.n Mieterhöhungen sind auf die Höhe der Inflation zu begrenzen.n Die weitere Privatisierung von kommunalen Wohnungen muss verhindert werden.n Zwangsumzüge müssen gestoppt werden.

Ausschnitte aus dem Doku-mentarfilm »Mietrebellen«

www.fest-der-linken.de

eintritt frei

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Page 20: Alles im Griff

Der viertägige Kongress »Linke Woche der Zukunft« fand vom 23. bis 26. April 2015 in Berlin statt und war eine Art Denkfabrik. Eingeladen dazu hatten Partei und die Fraktion DIE LINKE und die Rosa-Luxem-burg-Stiftung. Gekommen waren weit über 1 000 Besucherinnen und Besucher. Dar-unter Frauen und Männer aus Wissen-schaft, Kunst und Kultur und Gewerk-schaften. Sie kamen aus der ganzen

Bundesrepublik, vor allem junge Leute, etliche mit Kindern. So viel Öffentlichkeit, so viel Zulauf, so viel Interesse an Zukunft, das sei »schön, überraschend und Mut machend«, so das Resümee von Parteichef Bernd Riexinger.

Es ging um die einfache wie ewige Frage: Wie wollen wir arbeiten, wie wollen wir le-ben? Das zog sich durch alle Foren, Gesprä-

che, Vorträge, Werkstätten und Podiumsdiskussionen. Sämtli-che Veranstaltungen waren

offen und öffentlich, mit entspannten De-batten draußen und drinnen, dazu richtig gut besucht, sodass manch einer nur noch einen Sitzplatz auf dem Fußboden fand. Den Eröffnungsabend bestritt der Schrift-steller Volker Braun im Grünen Salon der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

Katja Kipping und Bernd Riexinger, die beiden Parteivorsitzenden, stellten ge-meinsam ein Manifest vor. Darin heißt es: »Wie die Zukunft aussieht, entscheidet

sich nicht morgen, sondern heute. Ge-gen die organisierte Traurigkeit des Kapitalismus wie gegen seine reaktio-näre Kritik von rechts war die linke Wette immer, dass es die Menschen selbst sind, die ihre gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen können, dass Geschichte machbar ist. Beweisen wir es. Jetzt.«

Text: Gisela ZimmerFotos: Frank Schwarz

So wie es ist, bleibt es nichtDie erste »Linke Woche der Zukunft« – das waren vier Tage, über 80 Veranstaltungen, mehr als 1 000 Besucherinnen und Besucher, Begegnungen mit Prominenten und viel Lust auf eine bessere Zukunft.

Oben: Geklebte Zukunft – ein Tape-Art-Installation der Berliner Künstlergruppe Klebebande.

Rechts: Volle Säle, gespannte Zuhörer, abwechslungsreiche Diskussionen, unter anderem mit dem Politikwissenschaftler und Gewerkschafts-sekretär Tim Lubecki.

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Oben links: In Zukunft selbst machen: ein Workshop über Videoreporting.

Oben rechts: Kongres s-teilnehmerinnen bei einer Pause im Sonnenschein.

Mitte links: Katja Kipping und Bernd Riexinger stellen ihr »Manifest der Zukunft« vor.

Mitte rechts: Gregor Gysi eröffnet den dritten Tag des Kongresses.

Unten links: Der Schriftsteller

Volker Braun beim Abendempfang im Grünen Salon der

Berliner Volksbühne.

Unten rechts: Sahra Wagenknecht

unterbreitet Vor-schläge, um das

Vermögen des reichsten einen

Prozents der Bevölkerung

umzuverteilen.

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Birgit Menz kann sich noch ganz genau an den Tag erinnern, an dem sie mit ihrer Unterschrift dokumentierte, den Platz in der Fraktion anzunehmen. Es war ein Frei-tag, der 13. März. Dann muss sie schmun-zeln, erzählt vom ungewollten »Fehlstart« im Berliner Parlament. Unterzeichnet hatte sie ihren Vertrag in Bremen, ihrer jetzigen Heimatstadt. Als frisch gebackene Abge-ordnete dachte sie, es gebe danach ein offizielles Schreiben, eine Art Einladung vom Parlamentspräsidium. Das gab es aber nicht. Und so begann ihre parlamen-tarische Laufbahn mit einer Fehlzeit, sie hatte die erste Sitzungswoche verpasst. Kein Kavaliersdelikt, sagt sie, aber erklär-bar, und die erste handfeste Erfahrung hat sie damit auch hinter sich: Im sogenannten Hohen Haus läuft alles viel normaler als vermutet und – man muss sich schon selbst kümmern.

Geboren wurde Birgit Menz im Osten, in Suhl, im Mai 1962. Von Thüringen ging sie nach Leipzig, studierte an der Fachhoch-schule, lernte Buchhändlerin, und Bücher wurden fortan für sie – vor allem die, die sich mit Gegenwart beschäftigen – ver-lässliche Freunde und Wegbegleiter. Gleichzeitig begann sie sich für Politik, für Gesellschaft, für Zusammenhänge zu in-teressieren. Zu Beginn der 1980er Jahre trat sie in die SED ein, trat auch nicht aus, als sich mit der gesellschaftlichen Wende nicht nur das Land, sondern auch ihr ganz privates Dasein änderte. Den Umbruch sah sie als Chance, etwas neu zu gestalten und zu verändern. Damals, so sagt sie, sei sie »eigentlich schüchtern« gewesen, aber plötzlich wurden »Kräfte wach, die ich nicht an mir kannte«. Birgit Menz suchte das offene Gespräch, ging auf Leute zu, klingelte an Haustüren, debattierte auf Straßen und Plätzen. Das macht sie heute immer noch gern. Am Infostand zuhören

und reden, immer im direkten Kontakt mit den Leuten. Jetzt allerdings in Bremen. Dorthin hat es sie im Jahr 1997 verschla-gen, der Liebe wegen. Das Gefühl von Zuhause oder Heimat geben ihr ohnehin weniger Orte als vielmehr Menschen. Freunde, linke Mitstreiter, sowohl an der Basis als auch im Bremer Landesvorstand der Partei DIE LINKE, dem sie angehört.

Mensch und Umwelt zusammendenkenJetzt also der Sprung in den Bundestag. Sie folgt auf Agnes Alpers. Die hatte sich als Expertin für Bildung und Ausbildung in der Fraktion DIE LINKE und im Parlament einen Namen gemacht, war jedoch am Ende der vergangenen Legislatur-periode während einer Plenarde-batte zusammengebrochen und ins Koma gefallen. Daraus erwachte sie wieder, doch den aufwendigen Politik-job schafft sie nicht mehr. Das zu ent- scheiden, dafür ließ die Fraktion DIE LINKE ihr alle Zeit. Für Nachfolgerin Birgit Menz war das vor allem eine Zeit der »eigenen Traurigkeit«. Denn die Hoffnung, »der Ge-sundheitszustand bessert sich, sie schafft es«, blieb bis zum Schluss. Jetzt ist der Staffelstab übergeben, aber Birgit Menz, die einen ähnlich üppigen Haar-schopf trägt wie ihre Bremer Vorgängerin, sagt souverän, »sie

trete nicht in die Fußstapfen«. Das könne und wolle sie auch gar nicht. Ihr Fachgebiet ist der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorwesen. Da fühlt sie sich zu Hause, und das sei ein Bereich, in dem sich Mensch und Umwelt, sprich Soziales und behutsamer Umgang mit Ressourcen, sehr gut zusammendenken und entschei-den lassen. Das will sie angehen. Dafür bleiben ihr noch gute zweieinhalb Jahre

Zeit. Dann wird schon neu gewählt.

Gisela Zimmer

Für Agnes Alpers, die ihr Bundestagsmandat wegen Krankheit aufgeben musste, arbeitet seit März Birgit Menz in der Fraktion DIE LINKE mit. Bundes politik ist neu für sie, das Abgeordnetenmandat auch, sich politisch einzumischen dagegen nicht.

»Ich war aufgeregt, aber nicht unsicher«

Vor-gestellt

Birgit Menz aus Bremen, seit wenigen Monaten neu im Bundes-tag, ist Mitglied im Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit.

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Mindestlohn, Bundeswehr an Schulen, rechte Gewalt

Woche für Woche fühlt die Fraktion DIE LINKE der Bundesregierung mit parlamentarischen Anfragen auf den Zahn. Was die Regierung gerne verheimlicht, kommt so ans Licht. Das ist wichtig für die Betroffenen und für die Öffentlichkeit. Nicht selten sind diese Anfragen auch für Journalistinnen und Journalisten der Stoff, aus dem sie ihre Artikel weben. So auch bei den folgenden drei Anfragen.

Propaganda im Klassenzim-mer: Die Bundeswehr wird seit Jahren dafür kritisiert, an Schulen zu werben. Jetzt musste das Verteidigungsmi-nisterium aufgrund einer Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE Rede und Antwort stehen, wie oft sich die Bun-deswehr im Jahr 2014 als vermeintlich attraktive Ar-beitgeberin vor Jugendlichen präsentiert hat. Es sind bri-sante Zahlen: Die Bundes-wehr hat im vergangenen Jahr über 400 000 Schülerin-nen und Schüler auf dem Schulgelände agitiert. Als Karriereberater getarnte Soldaten, die den Jugendli-chen einen Job beim Militär schmackhaft machen wollen, haben Vorträge vor 189 000 Jugendlichen gehalten. Hinzu kommen 26 000 Schülerinnen und Schüler, die Bundeswehrkasernen besucht haben, die Hälfte von ihnen im Klassenverband. Außerdem haben sich die militärischen Karriereberater an 600 Ausstellungen, Jobmessen, Projekttagen und ähnlichen Veranstaltungen auf Schulgelände beteiligt und dabei 96 000 Schüler erreicht. Spezi-

ell für politische Debatten ausgebildete Jugendoffiziere sprachen zudem bei Vor-trägen und Seminaren vor und mit 117 000 Schülern sowie 12 500 Erwachsenen.

In den Medien, unter anderem im Magazin Der Spiegel, wurde darüber berichtet. Auch die Bundestagsabgeordnete der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, kam dort zu Wort:

»Es kann ja nicht sein, dass die Bundeswehr ihre Personalprobleme dadurch löst, dass sie in Klassenzimmern und auf Schulhöfen Militär-propaganda verbrei-tet.«

Beschwerden aus Callcentern

Die Callcenter-Branche zählt zu den Berufs-zweigen mit einem hohen Niedriglohnan-teil. Die Beschäftigten müssten deshalb ganz besonders von der Einführung des gesetz-lichen Mindestlohns profitieren. In Anrufen und Schreiben an die Fraktion DIE LINKE

berichteten Callcenter-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter jedoch häufig über verzö-gerte Lohnzahlungen, das Vorenthalten des Mindestlohns und die Verrechnung bisher gezahlter Zuschläge und Boni mit dem Mindestlohn. Daraufhin wollten es einige Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE genau wissen: Welche Kenntnisse hat die Bundes-

regierung eigentlich über die Probleme mit der Ein-führung des Mindestlohns in der Callcenter-Branche? Die Antwort ist ernüch-ternd: Die Bundesregie-rung weiß so gut wie nichts darüber. Allein dass es Hunderte Arbeit-nehmerbeschwerden gibt,

kann sie bestätigen: Bei der Mindestlohn-Hotline des Bundesarbeitsministeriums hätten sich seit Jahresbeginn 589 Anrufer aus der Callcenter-Branche gemeldet. Über die Anfrage der Fraktion DIE LINKE und die Antwort der Bundesregierung berichteten unter anderem die Zeitung DIE WELT und das Nachrichtenportal N24.

Rechte Gewalt nimmt zuJeden Monat fragt Petra Pau, Bundestags-vizepräsidentin und Abgeordnete der Frak-tion DIE LINKE, nach rechten Straftaten in der Bundesrepublik. Anfang April berichtete die Presse über die monatliche Antwort der Bundesregierung, unter anderem Der Ta-gesspiegel und Die Zeit. Der Grund: Gewalt-tätige Angriffe von Neonazis und anderen Rechtsextremen auf Flüchtlinge, Ausländer, Linke und Andersdenkende nehmen wieder zu. So meldet die Bundesregierung bereits 98 Angriffe von Neonazis und anderen Rechten in den ersten beiden Monaten des Jahres 2015, bei denen 67 Menschen körper-lich geschädigt wurden. Im vergan-genen Jahr hatte die Polizei im Januar und Februar 69 De-likte mit 58 Körper-verletzungen festge-stellt. Im Jahr 2013 waren es im selben Zeitraum 64 rechte Gewalttaten mit 52 Verletzten.

Weiter berichtete Der Tagesspiegel: »Die Summe aller rechten Delikte [im Januar und Februar 2015], darunter auch Hakenkreuz-Schmie-rereien, Volksverhetzung und Drohungen, liegt bei 1 728 Straftaten.« Wahrscheinlich ist, dass die Zahlen noch deutlich steigen werden, da die Polizeien der Länder erfah-rungsgemäß viele Delikte erst später melden.Sophie Freikamp

vom 23. April 2015

vom 8. April 2015

Nr. 36/ Seite 23

Auf den Zahn gefühlt

vom 13. April 2015

Page 24: Alles im Griff

Warum die Bundesregierung beim Schuldenstreit mit Griechenland Angst vor einem Präzedenzfall hat, erläutert Sahra Wagenknecht.

Die Frontstellung nach der Wahl in Grie-chenland war klar: Auf der einen Seite die Syriza-Regierung, gewählt, um das Kürzen von Löhnen, Renten und Sozialleistungen zu beenden. Auf der anderen Seite die Gläubigerphalanx aus den anderen Regie-rungschefs der Eurozone, dem Internatio-nalen Währungsfonds (IWF) und der Euro-päischen Zentralbank (EZB). Insbesondere für die Bundesregierung steht viel auf dem Spiel. Denn bei einem erfolgreichen Auf-stand der linken Regierung in Athen gegen die Troika-Politik würde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, der die Vorherr-schaft des deutschen Lohn- und Sozial-dumpings als angebliches Krisenlösungs-modell in Frage stellt.

Um an Griechenland ein Exempel zu sta-tuieren, gibt es für die Bundesregierung im Verhandlungspoker zwei Ziele: Entweder die linke Regierung in Athen verschwindet – oder sie exekutiert die Vorgaben der Gläu-biger wie ihre Vorgängerregierungen. Der griechische Finanzminister Yanis Varoufa-kis bringt es auf den Punkt: »Die Gläubiger würden gerne die ganze Regierung degra-dieren, jedenfalls wenn sie nicht kapitu-liert.« Griechenland steht einem über-mächtigen Gegner gegenüber. Doch im Gegensatz zur biblischen Erzählung von

David und Goliath hat die neue Regierung in Athen keine direkte Konfrontation ge-sucht. Im Februar erklärte sie, dass sie »ihren Verpflichtungen gegenüber all ihren Kreditgebern nachkommen« werde. Das hat schwerwiegende Folgen. Von Februar bis April hat Griechenland auf die untrag-bare Schuldenlast rund 2,5 Milliarden Euro Zinsen gezahlt, Geld, das nicht zur Linde-rung der katastrophalen sozialen Situation und zur Ankurbelung der Wirtschaft ver-wendet werden konnte.

Offenbar setzte die Regierung von Alexis Tsipras darauf, Zeit zu gewinnen, um mehr Unterstützung bei den anderen Regierun-gen der Eurozone zu erreichen. Zudem hoffte man auf eine Veränderung der poli-tischen Landschaft in der Eurozone durch die spanischen Parlamentswahlen Ende des Jahres, wo ein Sieg der neuen linken Partei Podemos (»Wir können«) möglich schien.

Griechenland braucht einen SchuldenschnittBisher gibt es aber leider kein Anzeichen dafür, dass die Phalanx der Gläubiger auf-gebrochen werden kann. Denn auch die EZB beteiligt sich weiter am »fiscal water-boarding« (Varoufakis) und erpresst Athen

mit der möglichen Kappung der Geldver-sorgung griechischer Banken. Damit mischt sich die Zentralbank massiv in die Politik ein, obwohl sie dafür kein Mandat hat. Wie viel Zeit bleibt der Syriza-Regie-rung unter diesen Umständen überhaupt noch?

Die Antwort lässt sich in Euro messen, denn Geld ist für die Syriza-Regierung Zeit. Der Kassenstand ist zwar nicht bekannt, auf jeden Fall aber prekär: Denn Merkel und ihre Verbündeten haben bereits Ende 2014, als sich ein Wahlsieg von Syriza ab-zeichnete, den finanziellen Spielraum des griechischen Staates systematisch redu-ziert. Eine damals planmäßige Auszahlung der letzten Kredittranchen des IWF, der Geberländer und der EZB in Höhe von insgesamt 7,2 Milliarden Euro wurde zu-rückgehalten. Auch nach der Verlängerung des laufenden »Hilfsprogramms« im Fe-bruar wurde kein Euro überwiesen. Die Bundesregierung bleibt kompromisslos. Und die Suche der Regierung Tsipras nach alternativen Geldquellen erweist sich als schwierig: Auch die Hoffnung auf eine kurzfristige Liquiditätsspritze in Milliarden-höhe als Vorabzahlung aus einem grie-chisch-russischen Pipeline-Projekt erfüllte sich zunächst nicht.

Verhandlungspoker vor dem Show­Down

Gegenspieler: Griechenlands

Ministerpräsident Alexis Tsipras

verweigert sich den Kürzungsdiktaten, die sein Land in den Ruin

gestürzt haben, und stößt damit bei Angela Merkel auf erbitterten

Widerstand.

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Ministerpräsident Alexis Tsipras und seine Regierung haben die Bundesrepublik auf-gefordert, Reparationen und Entschädigun-gen für deutsche Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg zu zahlen und eine Zwangsanleihe zu begleichen.

Nach den Berechnungen griechischer Ex-perten belaufen sich die Forderungen nach Entschädigungen und Reparationen auf bis zu 280 Milliarden Euro: für rund eine halbe Million ermordete Griechinnen und Grie-chen, für Überlebende von Massakern und Zwangsarbeit sowie für die enorme wirt-schaftliche Ausplünderung und Zerstörung während der deutschen Besatzungszeit. Die Bundesregierung lehnt dies vehement ab und gibt vor, alles sei schon beglichen worden. Zwar gewährte Deutschland im Jahr 1960 Griechenland eine Zahlung in Höhe von 115 Millionen D-Mark, aber diese war nur für einen sehr kleinen Teil der Nazi-Opfer gedacht und entsprach nicht einmal im Ansatz den wirklichen Schäden. Vor-sichtige Schätzungen beziffern

den heutigen Wert der damals zugefügten Schäden allein an Sachwerten, Infrastruk-tur und Staatsvermögen auf dreistellige Euro-Milliardenbeträge.

Bei der Zwangsanleihe handelt es sich um einen zinsfreien Kredit, den die Nazis im Jahr 1942 der griechischen Nationalbank abgepresst hatten. Diese Verbindlichkei-ten, die bei Kriegsende noch 476 Millionen Reichsmark betrugen, hat Deutschland bis zum heutigen Tag nicht zurückgezahlt, obwohl es die vertraglichen Verpflichtun-gen des Deutschen Reichs übernommen hat. Nach Ansicht der griechischen Regie-rung entspricht diese Zwangsanleihe heute einem Wert von mehr als 10 Milliarden Euro. Dass die Bundesregierung die Forderungen der griechischen Regierung brüsk zurückweist, empfindet der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE,

Gregor Gysi, als unfair: »Wie will man jetzt von Griechenland die Rückzahlung von Darlehen verlangen, wenn man eigene niemals zurückgezahlt hat?«

Die Fraktion DIE LINKE hat zu dieser The-matik schon drei Anträge in den Bundestag eingebracht und veranstaltet am 29. Juni 2015 in Berlin eine Konferenz mit interna-tionalen Gästen, bei der es um die Frage von Entschädigungen, Reparationen und der Rückzahlung des Zwangskredits an Griechenland gehen wird. Dabei werden nicht nur Umfang und Berechtigung der griechischen Forderungen dargelegt und diskutiert, sondern auch die Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung.Nathalie Roth

Die akute Finanznot wird dadurch verstärkt, dass die Steuereinnahmen Anfang des Jahres stark zurückgingen. Dadurch wird wohl der Primärsaldo – also der Saldo aus laufenden Einnahmen und Ausgaben ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen – die-ses Jahr wieder negativ sein. Neben Zins- und Tilgungszahlungen in Höhe von rund 13 Milliarden Euro sind damit auch mehrere Milliarden Euro für die laufenden Ausgaben zu finanzieren. Ohne »frisches« Geld kann ein Staatsbankrott bis Jahresende nicht verhindert werden. Insbesondere im Juli und August sind hohe Tilgungszahlungen von rund 7 Milliarden Euro fällig.

Bereits aktuell ist die Lage extrem ange-spannt. Um die Zahlungsunfähigkeit zu

vermeiden, musste die griechische Regie-rung inzwischen umstrittene Maßnahmen ergreifen. So wurde Ende April ein Dekret im griechischen Parlament verabschiedet, das der Regierung den Zugriff auf die liqui-den Überschüsse öffentlicher Einrichtun-gen wie Krankenhäuser oder Universitäten sichert. Zentrale Forderungen von Syriza aus dem Wahlkampf, wie die Anhebung des Mindestlohns, müssen aufgrund der anhal-tenden Erpressungspolitik der Gläubiger verschoben werden.

Die griechische Bevölkerung braucht in dieser schwierigen Phase unsere uneinge-schränkte Solidarität. Die beste Hilfe ist eine klare Opposition gegen Angela Mer-kels Erpressungspolitik. So wie für Syriza

ist auch für die Fraktion DIE LINKE die Forderung nach einem Ende der Kürzungs-politik nicht verhandelbar. Deshalb braucht Griechenland einen Schuldenschnitt. Das ist auch zum Vorteil für die deutschen und europäischen Steuerzahler, denn bei einem unkontrollierten Zahlungsausfall Griechen-lands wäre der Verlust größer.

Das Erbe des Zweiten WeltkriegsDie neue griechische Regierung erwartet, dass Deutschland alte Schulden begleicht.

Sahra Wagenknecht ist 1. stell-vertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE

Dokument der Nazipropaganda: Flugzeuge der Wehrmacht über Athen

bei einer Parade am 3. Mai 1941

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Steueroase EUWie internationale Konzerne dank politischer Unterstützung massiv Steuern vermeiden und damit die öffentlichen Kassen prellen.

Dank den Enthüllungen von Whistleblowern zu Steuerdeals in Luxemburg weiß mittler-weile auch eine breite Öffentlichkeit: Große, internationale Konzerne drücken in Europa durch legale und illegale Tricks mit Unter-stützung von Regierungen Steuern. Damit schröpfen sie die öffentlichen Kassen so-wie Bürgerinnen und Bürger in Europa, die unter Kürzungsdiktaten ächzen.

Schätzungen zufolge verlieren die EU-Staaten jährlich eine Billion Euro durch Steuervermeidung und Steuerhinterzie-hung. Wie leicht die Unternehmen tricksen können, zeigt der Fall Amazon. In Deutsch-

land zahlte der Konzern im Jahr 2013 ledig-lich 1,3 Millionen Euro Steuern bei einem Gesamtumsatz von 11,9 Milliarden Euro. Das sind zirka 0,01 Prozent. Der Trick: Ama-zon wickelt seine Verkäufe in Deutschland nicht über eine hiesige offizielle Betriebs-stätte ab, sondern die Erlöse fließen direkt nach Luxemburg zu einer dort ansässigen europäischen Zentrale. Diese ist im Eigen-tum einer luxemburgischen Briefkasten-firma, welche direkt der amerikanischen Konzernmutter gehört und die Rechte an den Patenten für die Marke Amazon und weitere immaterielle Vermögenswerte hält. Für deren Nutzung zahlt die europäische

Zentrale astronomische Lizenzgebühren an die Briefkastenfirma, was ihren Gewinn – das heißt die aus Deutschland und anderen Ländern dorthin geflossenen Gewinne – und dadurch auch ihre Steuerschuld stark reduziert. Dieser Trick wurde von den lu-xemburgischen Behörden über einen offizi-ellen Steuervorbescheid vorab genehmigt. Die Firma, die die Lizenzgebühren ein-streicht, muss aufgrund ihrer Rechtsform in Luxemburg gar keine Steuern zahlen.

Deutschland gilt als Paradies für GeldwäscheAmazon ist dabei nur ein Beispiel für den Steuersumpf. Viele internationale Kon-zerne nutzen systematisch Schlupflöcher in Gesetzen aus und profitieren von viel-fältigen Steuerdeals, die ihnen Regierun-gen anbieten. Dabei spielt die bevorzugte Behandlung von Lizenz- und Patentgebüh-ren eine zentrale Rolle. Ähnliches gilt für Zinsen und Dividenden, die zwischen Kon-zernmüttern und -töchtern verschoben werden, sowie die Praxis konzerninterner Verrechnungspreise. Dabei kaufen Kon-zerne Güter und Dienstleistungen von anderen Konzernteilen. Sie setzen dabei zum Beispiel überhöhte Einkaufspreise an, um in Ländern mit höheren Steuern den Gewinn zu drücken und in Länder mit nied-rigen Steuern zu verschieben.

Steueroasen austrocknen!Die wichtigsten Maßnahmen gegen Steuerdumping:n Eine öffentliche länderspezifische Berichterstattung (Country-by- Country-Reporting) der Konzernen Automatischer Austausch von und öffentlicher Zugang zu Steuer-vorbescheidenn Die Offenlegung von Schein- und Briefkastenfirmenn Die Kündigung von Doppelbesteue-rungsabkommen mit Steueroasen

sowie eine mindestens 50-prozentige Besteuerung aller Finanzströme in nicht kooperative Staaten (Quellen-steuer)n Die Einführung einer Gesamtkon-zernsteuer auf breiter, internationaler Bemessungsgrundlage und EU-weiter Mindeststeuersätze. Letzteres erfordert neue EU-Verträge.n Lizenzentzug für Banken, die aus Steuer oasen agieren oder aktiv Bei hilfe zur Steuerhinterziehung leistenn Eine Steuerverwaltung mit ausrei-chend Personal, um einen effektiven Steuervollzug zu gewährleisten

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»Es braucht wirksame Whistleblower­Gesetze«Erst war er Banker, dann wurde Rudolf Elmer wegen der Weitergabe von geheimen Kundendaten an Steuerbehörden und die Enthüllungsplattform Wikileaks der berühmteste Whistleblower der Schweiz.

Sie waren Whistleblower, haben ab dem Jahr 2008 geheime Kundendaten an Steuerbehörden und Wikileaks übergeben. Warum eigentlich? Rudolf Elmer: Es wurde mir bewusst, dass sich hier der größte Diebstahl der Menschheit unter Nachbarstaaten abspielt und die schweizerische Justiz die kriminellen Geschäfte schützte.

Mit dem Abstand von ein paar Jahren: Sind Sie zufrieden mit dem Resultat Ihrer Enthüllungen, hat es sich gelohnt?Ja, ich bin grundsätzlich zufrieden, denn viele Menschen sind meinem Beispiel gefolgt und haben die kriminellen Machenschaften öffentlich gemacht. Zudem wurden und werden noch weitere Machenschaften offengelegt.

Es kommt einem so vor, als gebe es alle paar Monate einen neuen Steuer-hinterziehungsskandal und wenig würde passieren. Versagt die Politik oder will sie nicht?Nicht nur die Politik versagte, vor allem aber auch die Justiz. Ich habe trotzdem die Hoffnung, dass – momentan mehrheit-lich meist linke – Politiker daran arbeiten und die Steuerproblematik in den nationalen Parlamenten immer wieder zur Sprache bringen.

Was muss passieren, um dem inter nationalen Steuerbetrug endlich Einhalt zu gebieten? Es ist ein globales Problem, das mit aller Schärfe bekämpft werden muss. Es müssen Sanktionen gegen nicht kooperative Länder

verhängt werden, Steuerbetrügern und deren Beratern müssen lange Gefängnis-strafen drohen, und für sie müssen inter nationale Haftbefehle ausgestellt werden. Zudem muss Country- by- Country-Reporting als internationaler Reporting Standard durchgesetzt werden, bei dem multinationale Unternehmen dazu verpflich-tet werden, in ihren Geschäftsberichten detailliert Informationen über ihre Ge-schäfte in allen Ländern offenzulegen wie etwa Ergebnisse vor Steuern oder die Höhe der abgeführten Steuern je Land. Außerdem dürfen die wahren Eigentümer von Vermö-gen nicht mehr verschleiert werden können.

Sie persönlich und Ihre Familie haben hart gelitten für Ihren Mut, die Öffentlichkeit zu informieren: Gefängnis, Überwachung. Anderen Whistleblowern geht es ähnlich. Was muss sich ändern, damit Whistleblower besser geschützt werden? Es braucht echte und wirksame Whistle-blower-Gesetze und nicht nur Lippenbe-kenntnisse. Aufgrund meiner Beobachtun-gen in den letzten Jahren bin ich heute der Meinung, dass Whistleblower – ähnlich wie in den USA – entschädigt werden müssen. Es zeigt sich immer mehr, dass die Belohnung von Whistleblowern der Zivilgesellschaft großen Nutzen brächte.

Das Interview führte Benjamin Wuttke.

Hierbei spielen nicht nur klassische Steueroasen wie die Cayman Islands, Luxemburg oder die Schweiz eine Rolle, sondern auch Belgien, die Niederlande oder das Vereinigte Königreich und somit Kernstaaten der EU. Deutschland wiede-rum gilt als Paradies für Geldwäsche aufgrund laxer Vorschriften über die Transparenz der Eigner von Stiftungen und anderen Rechtsformen. Der Steuer-sumpf hat System. Der einstige Regie-rungschef der Steueroase Luxemburg, Jean-Claude Juncker, ist Präsident der EU Kommission, der Finanzminister der Steu-

eroase Niederlande, Jeroen Dijsselbloem, ist Chef der Eurogruppe, und der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble will mit Patentboxen beim Steuerdumping mitmi-schen, einem Steuersparmodell für internationale Konzerne, das sich wunder-bar zur Gewinnverschiebung und Steuer-vermeidung nutzen lässt.

Die EU-Kommission versprach nun mehr Transparenz: wie den automatischen Aus-tausch von Steuerbescheiden zwischen Mitgliedstaaten. Das ist aber im Kern schon seit 1977 Pflicht, passiert ist nichts.

»Die Vorschläge der EU-Kommission sind Nebelkerzen. Die EU bleibt eine Steuer-oase«, kommentiert der Europaabgeord-nete Fabio De Masi (DIE LINKE) die Pläne der Kommission und fordert strikte Ge-setze gegen Steuerdumping (siehe Info-kasten) und einen gesetzlichen Schutz von Whistleblowern. Denn ausgerechnet diese sind es – wie jetzt auch im Fall des Luxem-burger Steuerskandals – die angeklagt werden. Für De Masi ein Skandal: »Die Anständigen kommen vor Gericht, die Kriminellen machen Politik.«Dominik Stamm

Whistleblower Rudolf Elmer: »Steuerbetrug ist ein

globales Problem.«

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Die Bundesregierung erhöht den Militäretat, um aus der Bundeswehr eine Truppe im globalen Dauereinsatz zu machen.

Einsatzziel: weltweit Krieg führen

Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sich in Deutschland 40 Jahre lang zwei schwer bewaffnete Machtblöcke gegenüber. Bun-deswehr und Nationale Volksarmee (NVA) waren Teil dieser Konfrontation. Aufrüs-tung begründete man – im Westen wie im Osten – mit der Bedrohung durch die je-weils andere Seite. Doch als im Jahr 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks der Kalte Krieg endete und die NVA aufge-löst wurde, rüstete die Bundeswehr nicht dauerhaft ab. Stattdessen schickten di-verse Bundesregierungen deutsche Solda-tinnen und Soldaten in Auslandseinsätze.

Im Jahr 1992 beteiligte sich die Marine an einem Aufklärungseinsatz in der Adria, ein Jahr später wurde das Heer zum Brunnen-bohren nach Somalia entsandt. Kurz dar-auf, im Jahre 1999, wirkte die Bundeswehr bereits an der Bombardierung Jugoslawi-ens mit. Und im Jahr 2002, als deutsche Kampftruppen schon auf afghanischem Boden kämpften, behauptete der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD),

Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt.

Tatsächlich verfolgen seit einem Vierteljahr-hundert alle Bundesregierungen das Ziel, aus der einst defensiven Truppe eine Streit-macht im globalen Dauereinsatz zu machen. Die aktuelle Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) begründete dieses Ziel jüngst so: »Unsere Interessen haben keine unverrückbaren Grenzen, weder geogra-fisch noch qualitativ.«

Diesem Zweck dienten auch die verschie-denen Bundeswehrreformen der vergan-genen Jahre: Die Armee wurde verkleinert, aber die Zahl der gleichzeitig einsatzfähi-gen Truppenteile von 7 500 auf 10 000 Soldaten erhöht. Offensive Kampfeinhei-ten wie die Division Schnelle Kräfte (DSK) und das Kommando Spezialkräfte (KSK) wurden gestärkt. Panzerverbände, die die Bundeswehr für den Landkrieg gegen die Sowjetunion und die Staaten des War-schauer Pakts vorgehalten hatte, wurden

verkleinert oder komplett aufgelöst. Das Berufssoldatentum trat an die Stelle der allgemeinen Wehrpflicht.

Seit der Ukraine-Krise stehen sich Russ-land und der Militärpakt NATO, dem Deutschland angehört, wieder feindlich gegenüber. Von der Leyen nutzt jede Gele-genheit, um die Bundeswehr in Stellung zu bringen: Erst übernahm die deutsche Ma-rine das Kommando über einen Flottenver-band in der Ostsee, dann verstärkte die Luftwaffe ihre Beteiligung an Überwa-chungsflügen über dem Baltikum. Schließ-lich übernahm Deutschland die Führung beim Aufbau einer ultraschnellen Eingreif-truppe der NATO.

Bevölkerung lehnt Aufrüstung abJüngst erhöhte die Bundesregierung den Militäretat: Bis zum Jahr 2019 sollen die Streitkräfte acht Milliarden Euro mehr als geplant erhalten. Das Geld soll in Hightech-

Aktuelle bewaffnete Auslands-einsätze der Bundeswehr2 955 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr werden gegenwärtig in 12 Missionen im Ausland eingesetzt.

Libanon (UNIFIL) Mandat seit 2006

Sudan (UNAMID) Mandat seit 2007

Südsudan (UNMISS) Mandat seit 2011

Mittelmeer (OAE) Mandat seit 2001

Kosovo (KFOR) Mandat seit 1999

Türkei (Active Fence) Mandat seit 2012

Irak Mandat seit 2015

Somalia (EUTM Somalia) Mandat seit 2014

Horn von Afrika (ATALANTA)

Mandat seit 2008

Mali (EUTM Mali) Mandat seit 2013

Mali (MINUSMA) Mandat seit 2013

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Projekte fließen, die dem globalen Einsatz dienen: Einige hundert Millionen Euro sind für deutsch-französische Spionagesatelli-ten und den Nachfolger der Euro-Hawk-Drohne bestimmt. Von der Leyen will zudem bis zum Jahr 2025 eine eigene Kampfdrohne entwickeln, die vermutlich mehrere Milli-arden Euro kosten wird. Außerdem wurde im aktuellen Haushaltsjahr ein zusätzlicher dreistelliger Millionenbetrag bewilligt, um die Bundeswehr mit weiteren Panzern aus-zurüsten, die im Konfliktfall gegen Russland eingesetzt werden können.

Doch diese Militärpolitik ist in Deutschland nach wie vor sehr unpopulär. Anders als die Mehrheit im Bundestag lehnt eine stabile Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland Auslandseinsätze und die Aufrüstung der Bundeswehr, beispiels-weise mit Drohnen, ab. Diese Ablehnung spiegelt sich auch in den Problemen der Bundeswehr, neue Soldatinnen und Solda-ten zu rekrutieren. In vielen Einheiten fehlt

es an Personal. Von der Leyen hat vor diesem Hintergrund die Mittel für Werbung im letzten Jahr auf 30 Millionen erhöht. Jugendoffiziere der Bundeswehr haben im vergangenen Jahr in Schulen rund 185 000 Schülerinnen und Schüler angesprochen, um sie für den Dienst an der Waffe zu kö-dern. Von der Leyen stößt mit ihren Zielen auch an andere Grenzen: Viele der Rüs-tungsprojekte verzögern sich um Jahre, sind viel teurer als geplant und weisen eklatante technische Mängel auf. Die Liste der Skandale ist lang und reicht vom Kampfjet Eurofighter bis zum Sturmgewehr G36 (siehe auch Infokasten).

Eine der Ursachen für diese Steuerver-schwendung ist die enge Verflechtung zwischen Verteidigungsministerium und Rüstungsindustrie. Immer wieder heuern ehemalige Minister und Staatssekretäre bei den Waffenschmieden an. Lobbyisten der Konzerne gehen in den Ministerien ein und aus. Kein Wunder, dass viele der von der Bundeswehr geschlossenen Abma-chungen zugunsten der Konzerne ausfal-len. Trotz Milliardenverlusten durch tech-nische Mängel und Verzögerungen sehen die Verträge bei keinem der vielen Pannen-projekte Kompensationszahlungen der Industrie vor.

Zwar sind die Eliten aus Politik, Militär und Industrie ihrem Ziel nähergekommen, die Bundeswehr zu einer Armee im globalen Dauereinsatz zu formen. Auf breite Unter-stützung aus der Bevölkerung können sie dabei jedoch nicht zählen. Jürgen Reinhardt

Christine Buchholz ist verteidigungs-politische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

»Die Richtung muss sich ändern«Die Bundeswehr hat in inter-nationalen Einsätzen nichts zu suchen, sagt Christine Buchholz.

Ministerin von der Leyen behaup-tet, sie räume im Verteidigungsmi-nisterium auf. Was sagen Sie dazu?Christine Buchholz: Die Steuerver-schwendung bei der Bundeswehr hat System. Geht es um Rüstungspro-jekte, sitzen von Anfang an Vertreter der Industrie mit am Tisch. Sie werden sogar beteiligt, wenn Ausrüstungsdefi-zite definiert werden. Daran wird Frau von der Leyen nichts grundsätzlich ändern. Ministerium und Rüstungsin-dustrie wollen beide die Bundeswehr global in den Einsatz bringen.

Welche Vision haben Sie für die Bundeswehr? Die Richtung muss sich vollständig ändern: Die Bundeswehr hat in internationalen Einsätzen nichts zu suchen. Auch die Beteiligung an der Eskalation des Konflikts mit Russland muss beendet werden, denn dadurch wird der Konflikt um die Ukraine zusätzlich angeheizt. Schließlich muss der Einfluss der Industrie beschnitten werden. Dirk Niebel beispielsweise war bis zum Jahr 2013 Minister, heute ist er Leiter für Regierungsbeziehungen bei der Rüstungsschmiede Rheinmetall. Diese gegenseitige Durchdringung muss durch strenge Anti-Lobby-Gesetze unterbunden werden.

Welche Bündnispartner haben Sie, um diese Ziele zu realisieren?Wir setzen auf die Friedensbewegung, auf Gewerkschaften und andere zivile Organisationen, um Gegendruck zu erzeugen. Auch in Kirchen und Religionsgemeinschaften gibt es viele, die Aufrüstung und Auslandseinsätze ablehnen.

Bundeswehr verballert SteuergeldWeil das Sturmgewehr G36 nach Dauerfeuer nicht mehr präzise schießt, soll die Standardwaffe der Bundeswehr bald ausgetauscht werden. Doch das Gewehr ist nur einer von vielen Skandalen in der Bundeswehr: Die 15 größten Rüstungsprojekte verzögern sich im Durchschnitt um vier Jahre und werden insgesamt rund 19,2 Milliarden Euro teurer als geplant. Drei Beispiele:

Schützenpanzer»Puma«

Der Panzer kostet bereits 2,3 Milliarden Euro mehr als veranschlagt. Und noch immer muss wegen technischer Mängel nachgerüstet werden.

Transporthubschrauber NH90

Aktuell liegen die Kosten bereits um 1,1 Milliarden Euro über den ursprüng-lichen Plänen. Trotzdem musste der Betrieb wegen vieler Technikfehler zeitweise eingestellt werden.

Unterstützungshubschrauber »Tiger«

Die aktuelle Kostenplanung übersteigt die ursprüngliche um 1,1 Milli arden Euro.

Afghanistan (Resolute Support) Mandat seit 2001 (ISAF)

Quelle: DIE LINKE. im Bundestag, Stand: 25. April 2015

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Seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist bekannt, dass der US-Geheimdienst NSA weltweit kontrollieren kann, wer wann mit wem worüber kommuniziert, und dabei auch eng mit dem Bundesnach-richtendienst (BND) zusammenarbei-tet. Was ist die neue Qualität beim jüngsten Spionageskandal?André Hahn: Im Kern geht es darum, dass der BND den US-Amerikanern geholfen haben soll, von Deutschland, konkret von Bad Aibling aus über viele Jahre hinweg politische und wirtschaftliche Spionage zu betreiben, die sowohl gegen deutsche als auch gegen europäische Interessen gerichtet war. Dabei wurden offenbar EU-Institutionen, befreundete Regierungen sowie Politiker und wichtige Unternehmen wie EADS, Eurocopter oder Siemens ausspioniert.

Wusste der BND um die politische Dimension dieser Überwachung?Der BND hat über mehrere Jahre hinweg immerhin über 40 000 illegale Suchbe-griffe festgestellt, die seitens der NSA in die Überwachungsmaschinerie eingespeist wurden. Es wäre daher die Verantwortung

des BND und vor allem des Kanzleramts, das nach derzeitigem Kenntnisstand spätestens seit 2008 darüber informiert war, gewesen, sofort zu intervenieren und diese Ausspähung zu unterbinden. Das ist nicht geschehen.

Was muss dringend aufgeklärt werden?Wir wollen wissen, wer von der Spionage gegen deutsche und europäische Interes-sen Kenntnis hatte und was dagegen unternommen wurde – oder eben auch nicht. Der Untersuchungsausschuss muss alle angeforderten Unterlagen erhalten, und natürlich zwingend auch die Listen mit den rechtswidrigen Selektoren, also jenen Suchbegriffen wie Namen, Firmen, E-Mail-Adressen, Telefonnummern, die die NSA interessierten und die zum Teil über Jahre hinweg mit Unterstützung des BND im Einsatz waren. Erst dann wird man den tatsächlich entstandenen Schaden erkennen können. Hier ist auch die Bundes-kanzlerin gefordert. Sie darf sich nicht immer wegducken, wenn es ernst wird.

Welche Motive vermuten Sie aufseiten des BND, einem fremden Geheimdienst bei der Spionage im eigenen Land zur

Hand zu gehen?Offiziell sollte es bei der Kooperation von BND und NSA gegen Terrorismus, Waffen- und Drogenhandel oder Geldwäsche gehen. Die Sache ist aber offenkundig völlig aus dem Ruder gelaufen. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum der BND Spionage gegen deutsche und euro päische Interessen direkt oder in direkt unterstützt, zumindest aber geduldet hat. Ich habe dafür keine rationale Erklärung, zumal das Ganze eklatant rechtswidrig war, weshalb ja inzwischen auch der General bundes anwalt ermittelt. Von BND-Leuten wurde im Unter suchungs ausschuss immer wieder betont, dass die Kooperation mit den USA angeblich unverzichtbar sei. Womöglich hat man deshalb immer wieder weggeschaut. Und der Bundesregierung fehlt offenbar der Mut, den US-Bestrebungen entschieden entgegenzutreten. Diese Unterwürfigkeit muss endlich ein Ende haben!

Sie sind Vorsitzender des Parlamen-tarischen Kontrollgremiums (PKGr). Was ist die Aufgabe des Gremiums?Das Kontrollgremium ist zuständig für die Kontrolle der Tätigkeit der deutschen Geheimdienste, also des Bundesnach-

André Hahn über die Dimension des jüngsten Geheimdienstskandals, die Verantwortung der Bundeskanzlerin und die faktische Unmöglichkeit, Geheimdienste zu kontrollieren

»NSA und BND sind völlig aus dem Ruder gelaufen«

Aus dem bayerischen Bad Aibling sollen jahrelang deutsche Bürgerinnen und Bürger, einheimische und internationale Unterneh-

men sowie europäische Institutionen bespitzelt worden sein.

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richtendienstes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Militärischen Abschirmdienstes. Es muss laut Gesetz regelmäßig über die allgemeine Lage-entwicklung und über Vorgänge von besonderer Bedeutung unterrichtet werden.

So weit die Theorie, wie sieht die Praxis aus?Am Ende entscheidet immer die Bundes-regierung darüber, was uns mitgeteilt wird, und nur das können wir auch bewerten. Über viele Skandale haben wir leider zuerst aus den Medien und nicht im zuständigen Kontrollgremium erfahren. Das führt immer wieder zu der grund-sätzlichen Frage, ob sich Geheimdienste wirklich demokratisch kontrollieren lassen. Ich habe da massive Zweifel.

DIE LINKE will die Geheimdienste perspektivisch abschaffen. Dafür gibt es derzeit keine Mehrheit. Wie kann man denn zumindest die parla-mentarische Kontrolle verbessern?Es ist zwingend erforderlich, das entspre-chende Gesetz grundlegend zu ändern. Die Rechte der einzelnen Mitglieder des Gremiums müssen deutlich gestärkt werden, die Akteneinsicht auch für Unterlagen des Kanzleramtes möglich sein, das ja die Aufsicht über die Dienste hat. Die Sitzungen des PKGr sollten komplett aufgezeichnet werden, um später feststellen zu können, ob die Vertreter der Regierung oder der Dienste wirklich korrekt informiert haben. Ein- oder zweimal im Jahr sollten zudem alle

Abgeordneten die Möglichkeit erhalten, die Chefs der Geheimdienste im Bundes-tag öffentlich zu befragen.

Ist Kontrolle nur die Aufgabe der Opposition oder auch der Abgeordne-ten der Regierungsparteien?Die Kontrolle des Regierungshandelns und auch der nachgeordneten Behörden, zu denen die Geheimdienste gehören, ist laut Grundgesetz Aufgabe des gesamten Parlaments, also auch der Koalitions-fraktionen. Die Realität sieht leider häufig anders aus. Die Abgeordneten der regierungstragenden Parteien versuchen oft fast alles, um die Regierung sowie die von ihnen gestellten Minister vor Ungemach zu schützen, und behindern dadurch die Aufklärung, anstatt sie

voranzutreiben. Auch deshalb braucht es eine starke Opposition, damit Vertu-schungsversuchen entgegengewirkt werden kann.

Welche Konsequenzen sind aus Ihrer Sicht notwendig, wenn sich die Vorwürfe bestätigen?Wenn die NSA mit Hilfe des BND über ein Jahrzehnt hinweg ohne Widerstand der Bundesregierung (Wirtschafts-)Spionage gegen deutsche und euro-päische Interessen betreiben konnte, muss es neben organisatorischen auch personelle Konsequenzen geben, an der Spitze des BND ebenso wie im Kanzleramt.

Das Interview führte Ralf Knüfer.

Fakten zum Überwachungsskandal

Vor zwei Jahren enthüllte der ehemalige US-amerikanische Geheimdienstmitarbei-ter Edward Snowden die bis dato schier unvorstellbare Dimension der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken von Geheimdiensten, insbesondere aus den USA und Großbritannien: Telekommu-nikation und Internet werden global, mas-senhaft und verdachtsunabhängig über-wacht; die so erbeuteten Daten werden auf Vorrat gespeichert und bei Bedarf analysiert, ausgewertet und benutzt. Einer der mächtigsten Geheimdienste ist die National Security Agency (NSA).

Die NSA kooperiert unter anderem mit dem Bundesnachrichtendienst (BND). So

soll der BND bis zu 60 Millionen Telefon-verbindungen pro Tag überwacht und in großem Umfang Verbindungsdaten wei-tergegeben haben. Zudem soll der BND den Internetknotenpunkt in Frankfurt am Main abgeschöpft und viele der abgefan-genen Daten an die NSA weitergereicht haben. Die NSA soll dem BND zudem Listen mit mehr als einer Million Suchbe-griffen übergeben haben, mit dem dieser den Telefon- und Internetverkehr durch-forstet hat.

Besonders brisant: Der BND als Auslands-geheimdienst darf deutsche Bürgerinnen und Bürger nicht bespitzeln. Das verbietet das Grundgesetz. Er darf auch keine Bei-hilfe zur (Wirtschafts-)Spionage fremder Geheimdienste leisten. Dieser Vorwurf steht ebenso im Raum wie der des Lan-desverrats.

André Hahn ist Vorsitzen-der des Parlamentarischen Kontrollgremiums und für die Fraktion DIE LINKE stell vertretendes Mitglied im NSA-Unter suchungs-ausschuss.

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Welcome United – zwischen Krieg und KreisligaBeim Regionalligisten SV Babelsberg 03 gibt es die erste reine Flüchtlingsmannschaft Deutschlands: Welcome United 03.

23 Spieler stehen auf dem Platz. Einer muss runter, denn beim Fußball spielen elf gegen elf. Lautstarke Diskussionen in den verschiedensten Sprachen, Arabisch, Französisch, Deutsch. Ein bisschen chao-tisch sieht das aus, aber jeder hier brennt auf seinen Einsatz. Mitten in Brandenburg, genauer gesagt in Babelsberg, findet ein besonderes Fußballspiel statt: Welcome United 03 gegen Inter Hoppegarten – das Spiel zweier Flüchtlingsmannschaften.

Der Gastgeber, Welcome United, ist die dritte Mannschaft des Regionalligisten SV Babelsberg 03. Gegründet im letzten Jahr, kicken in diesem Team Spieler aus mehr als zehn verschiedenen Nationen, die Wo-che für Woche hart trainieren und ab Sommer 2015 sogar in der Kreisliga um Punkte spielen werden. Damit werden sie das erste reine Flüchtlingsteam einer deut-schen Fußballmannschaft im regulären Ligabetrieb sein.

Nachdem Trainer Zahirat Juseinov, genannt Hassan, einen seiner spielbegierigen Schützlinge zurück auf die Bank geschickt hat, rollt der Ball, das Spiel beginnt. Die

Spieler sind konzentriert, sauberes Kurz-passspiel, wenige Ballverluste. Der Sieges-wille der beiden Mannschaften ist für jeden auf der Sportanlage am Karl-Liebknecht-Stadion spürbar. Die Partie ist hart um-kämpft, eine strittige Szene jagt die nächste. Die »Nulldreier« sind spielbestimmend. Immer gefährlicher tauchen die Babelsber-ger Angreifer vor dem gegnerischen Tor auf. Dann endlich: Nach einem schnellen Konter gehen die Gastgeber verdient in Führung. Noch vor der Halbzeit baut Babelsberg die Führung auf 2:0 aus. Durch einen Elfmeter kommt Inter Hoppegarten in der zweiten Hälfte noch mal ran. Nach 90 Minuten ist es vollbracht. Die Spieler reißen die Arme in die Luft. Die Zuschauer am Spielfeldrand jubeln ihrer Mannschaft zu.

Einer der bejubelten Torschützen heißt Johnson Ejike, ein kleiner bulliger Spieler, eiskalt vor dem Tor. Vor vier Jahren kam die Nummer 9 von Welcome United aus Nigeria nach Deutschland. In seinem Hei-matland war der 34-Jährige Politiker. Nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2011 eskalierte die Gewalt im Land, und Johnson Ejike musste fliehen. Eltern und Geschwis-

ter blieben in Afrika. Heute wütet die isla-mistische Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria. »Jeder lebt in Furcht, ich bin froh, dass meine Familie Boko Haram noch nicht zum Opfer gefallen ist«, sagt Johnson Ejike. Seit seiner Ankunft in Deutschland war ihm klar: »Ich muss Fußball spielen, wie zu Hause auch.«

Als Ejike in Potsdam die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe, Manja Thieme, kennenlernt, wird aus diesem Wunsch in kürzester Zeit Realität. Thieme, die dieses Anliegen nicht das erste Mal hört, hat eine Idee. Warum nicht den Verein kontaktieren, den sie seit Jahren wegen seiner antirassistischen und toleranten Haltung schätzt und liebt: den SV Babels-berg 03. »Ich schrieb der Geschäftsstelle eine E-Mail, in der ich von dem Anliegen der Flüchtlinge berichtete«, erzählt sie. Prompt wurde Thieme zum persönlichen Gespräch eingeladen. Dort teilte ihr der Verein mit, dass er nicht nur einen Trai-ningsplatz zur Verfügung stellt, sondern die fußballbegeisterten Flüchtlinge gleich als offizielles Team in den Verein integrie-ren will.

Welcome United 03 bei einem Testspiel gegen Inter Hoppe-garten im April, das

die Potsdamer mit 2:1 gewannen.

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Der SV Babelsberg ist zugegebenermaßen eher ein kleiner Stern am Fußballhimmel. Noch vor einigen Jahren spielte der Verein in der zweiten Bundesliga. Mittlerweile dümpelt die erste Elf im Mittelfeld der Re-gionalliga Nordost vor sich hin. Kontrahen-ten sind Vereine mit ruhmreicher Vergan-genheit wie der FC Magdeburg oder BFC Dynamo Berlin, aber auch der VFC Plauen oder ZFC Meuselwitz und damit nicht nur sportliche Leckerbissen. Was der Verein allerdings vielen Bundesligaclubs voraus-hat, ist seine einzigartige Fankultur. Die Anhänger setzen sich gegen Rassismus, Homophobie und Sexismus ein. Antifa-Fahnen und »Refugees Welcome«-Transpa-rente bestimmen das Bild der Nordkurve des Karl-Liebknecht-Stadions. Kein Wunder also, dass die Fans das neue Projekt Wel-come United unterstützten und spontan die Trikots für den Vereinszuwachs bezahlten. Das blau-weiße Vereinsemblem prangt nun auf der Brust der Sportsfreunde.

Andere Fußballvereine fol-gen Babelsberger BeispielAngefangen zu zehnt, stehen heute über vierzig Spieler im Kader. Für »jedes befreite Lachen, jede Unbeschwertheit der Jungs« lohne sich die Arbeit mit dem Team drei-fach, sagt Thieme. Keine Selbstverständ-lichkeit, wenn man bedenkt, welche schwe-ren Lasten die meisten Kicker von Welcome United auf den Schultern tragen. Viele von ihnen haben in ihrer Heimat Traumatisches erlebt: Hunger, Kriege, Vertreibung und vieles mehr. Nicht wenige bangen täglich um das Schicksal ihrer zurückgebliebenen Familienangehörigen und haben oft lebens-gefährliche Fluchtwege nach Deutschland überlebt. So wie ein Spieler von Welcome United, der aus Somalia stammt und mit einem vollbesetzten Schlauchboot im Mit-telmeer kenterte. »Wer nicht schwimmen konnte, musste sterben«, erzählt er. »Jetzt

bin ich froh, hier zu sein, die meisten Gleichaltrigen in meinem Heimatland ha-ben eine Waffe in der Hand.«

Wenn die Babelsberger Ballkünstler dann voller Elan und Freude über den Platz spur-ten, wird klar, wie wichtig der Fußball für sie ist. Nächste Saison möchte Welcome United am offiziellen Spielbetrieb in der Kreisliga teilnehmen. »Unser langfristiges Ziel ist es, auch andere Sportvereine davon zu überzeugen, Flüchtlingen eine Möglich-keit zu geben, Sport zu treiben«, sagt Thieme. Besonders wichtig sei dabei die Rückendeckung von Fans und Vereinsfüh-rung, wie in Babelsberg eben. Immer mehr Fußballvereine folgen nun dem Babelsber-ger Beispiel. So startet kürzlich der Bun-desligist VfB Stuttgart die Initiative »Fußball verbindet«, bei der jugendliche Flüchtlinge in der Fußballschule der Schwaben mittrai-nieren können.

Als die Flutlichter ausgehen und die Spieler die Kabine verlassen, ist Johnson Ejike er-schöpft vom Spiel. Der Stürmer spricht Deutsch und Englisch und hat als Binde-

glied zwischen Team und Trainer eine zentrale Rolle. Auf dem Platz übersetzt Ejike Ansprachen des Trainers für seine Mitspieler und gibt oft den Ton an.

Abseits des Platzes kann er seine Qualitä-ten kaum zum Einsatz bringen – vor allem die beruflichen. Johnson Ejike ist Politologe. In Berlin arbeitet er als Reinigungskraft in einem Museum. »Das ist nicht mein Beruf, ich kriege keine Chance, mein Können unter Beweis zu stellen«, sagt er. Selbst eine Ausbildung zum Lkw-Fahrer könne das Jobcenter ihm nicht bezahlen. Lange Zeit hat er im Flüchtlingsheim in Bad Belzig gelebt, mittlerweile ist er mit seiner Freun-din und dem gemeinsamen Kind in eine eigene Wohnung gezogen. Vor dem Training geht der gläubige Christ oft in die Baptis-ten-Kirche in Potsdam. Dort wird die Pre-digt für die Flüchtlinge simultan übersetzt. »Bald ist das nicht mehr nötig, ich verstehe eh fast alles«, sagt Ejike grinsend. »In der Kabine reden wir allerdings nicht über Religion oder Herkunft. Fußball ist hier al-les, was zählt.«Paul Schwenn

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Stürmer Johnson Ejike im Gespräch mit Manja

Thieme, eine der Initiatorinnen des Teams

Das Team des Welcome United 03

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Mit einer Gruppe von Bundestagsabgeordneten reiste Caren Lay im April 2015 nach Pakistan. Dort traf sie Überlebende des Textilfabrikbrandes, Angehörige von Opfern und Gewerkschaften. Ihr Reisebericht für clara

»KiK muss Forderungen erfüllen«

»Ich habe mich gefreut, dass sich die Parlamentariergruppe auf meinen Vorschlag hin mit linken Gewerkschaften und Opfern und Angehörigen der Katastro-phe in der KiK-Fabrik treffen konnte. Diese Begegnung gehörte zweifellos zu den bewegendsten Momenten meiner Reise. Die Angehörigen der Opfer sind meistens Frauen, die ihren Mann oder Sohn und

damit den Haupternährer verloren haben. Für pakistanische Frauen ist es kaum möglich, außerhalb der Heimarbeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Viele der Frauen brachen in Tränen aus, wenn sie berichteten, dass sich die Entschädigungs-verhandlungen mit KiK bis heute hinzie-hen. Sie erzählten auch, dass die Türen der Fabrik verschlossen und die Fenster

vergittert waren, damit die Arbeiter keine Jeans klauen konnten. So konnten sie dem Feuer nicht entkommen. Die Vorstellung ist entsetzlich. Und dass die Angehörigen und Überlebenden bis heute auf ihr Recht warten müssen, ist beschämend. KiK muss den berechtigten Forderungen endlich nachkommen.

Hoffnung machte mir das Treffen mit dem linken Gewerkschaftsverband NTUF, der eine Gewerkschaft für Frauen in der Heimarbeit und im informellen Sektor gegründet hat. Der Großteil der pakis tanischen Wirtschaft findet im informellen Sektor statt. Die NTUF hat uns mit Blumengirlanden und Geschenken empfangen. Eine ausländische Delegation wurde als große Wertschätzung empfun-den, denn in Pakistan sind Gewerk-schafter Repressionen ausgesetzt.

Die Europäische Union hat die Einfuhr-zölle für Pakistan deutlich gesenkt, im Gegenzug mussten die Gesetze im Arbeitsrecht verbessert werden. Das Problem ist jedoch deren Einhaltung und Kontrolle. Staatliche Aufsicht in den Fabriken gibt es so gut wie gar

nicht – und wenn, dann nur bei den wenigen registrierten Vorzeigeunter-nehmen. Die Fabrik, in der wegen des Brands 260 Menschen starben, war sogar zertifiziert – aber von einem Unterneh-men, das für Gefälligkeitsgutachten bekannt ist.«

Caren Lay ist stellvertretende Vorsitzende und verbraucherpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Caren Lay (2. v. l.) an der Gedenkstätte für die Opfer der Brandkatastrophe der KiK-Fabrik.

Die Arbeiterin Fouzia (r.) erhält 150 Euro im Monat. Die Jeans, die sie näht, kosten hierzulande 19,99 Euro.

In einer Nähfabrik: Jeans im »Used Look« sind besonders aufwendig herzustellen

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Fakten zur Brandkatastrophe

Im Herbst 2012 starben bei einem Brand in einer Textilfabrik des Textilzu-lieferers Ali Enterprises in Pakistan 260 Arbeiterinnen und Arbeiter. In der Fab-rik wurde fast nur für den deutschen Bekleidungskonzern KiK produziert. Überlebende und Angehörige haben sich entschlossen, KiK zu verklagen.

Ursächlich für die Katastrophe waren vermutlich mangelhafte Sicherheits-standards in der Fabrik in Karatschi, im Süden Pakistans: Notausgänge waren verriegelt, die Fenster vergittert. Außer-dem waren leicht entzündliche Textilien unsachgemäß gelagert. Der Hauptab-

nehmer des pakistanischen Werks war der deutsche Textildiscounter KiK. Mehr als 70 Prozent der Ware wurde für den deutschen Markt produziert.

Zwar hatte KiK nach dem Brand eine Million US-Dollar Soforthilfe an Betrof-fene und Hinterbliebene gezahlt. Doch die Verhandlungen über Entschädigun-gen und Schmerzensgeld brachten keine Einigung. Nun haben drei Hinter-bliebene und ein früherer Arbeiter der Fabrik sich entschlossen, gegen das deutsche Unternehmen zu klagen. Es wäre nach Auskunft des Deutschen Instituts für Menschenrechte das erste zivilrechtliche Verfahren dieser Art in Deutschland und könnte eine Signalwir-kung auf andere Unternehmen haben, die ihre Produkte ebenfalls in Billiglohn-ländern produzieren lassen.

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7. Mai 2015, Deutscher BundestagVorabend des 70. Jahrestags der Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Das At-rium im Paul-Löbe-Haus ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als 700 Gäste sind für das Glasfoyer nicht zugelassen. Zum Erinnern gehören Erzählungen: Drei Zeitzeugen – einst vertrieben oder geflo-hen aus Nazideutschland – kehrten im Jahr 1945 in Uniform zurück, in britischer, tschechischer und russischer. Sie erzäh-len, was Kriege Menschen bis heute antun: Verlust von Familie und Heimat, Tod, Ver-nichtung, Trauer. Der Beifall für die drei heute weit über 80- beziehungsweise 90-Jährigen will kaum enden.

Dann reden Oskar Lafontaine, Wladimir Grinin, der russische Botschafter, Nikolai Arefiew von der Staatsduma in Moskau und Manolis Glezos aus Griechenland. Der Mann, der im Jahr 1941 die verhasste Ha-kenkreuzfahne von der Akropolis holte und noch heute mit 92 Jahren die linke Partei Syriza im Europaparlament vertritt. Diese 70 Jahre nach der Befreiung seien ein guter Anlass zum Lachen und Tanzen, sagt er und setzt ein »Aber« nach. »Nachdenken« sollen wir. Noch gebe es »kein Europa der Völker, keins des Friedens«.

Und wieder Zeitzeugen. Inge Heym, Frau des verstorbenen Schriftstellers Stefan Heym, Luc Jochimsen, einstige linke Bun-destagsabgeordnete, Schauspieler Rolf

Becker. »Wir waren Kinder«, Kriegskinder! Was der Krieg in ihnen angerichtet hat, konnten sie erst viel später aussprechen und aufschreiben. Am Ende eines langen emotionalen Abends erinnert Gregor Gysi daran, dass der 8. Mai als Tag der Befrei-ung von vielen – wenigstens nach der Rede des inzwischen verstorbenen Bundesprä-sidenten Richard von Weizsäcker – ange-nommen wurde.

DIE LINKE hatte mehrfach den Antrag ge-stellt, den 8. Mai zum gesetzlichen Gedenk-tag zu erheben. Gesine Lötzsch warb für DIE LINKE am Tag nach der Festveranstal-tung erneut im Parlament dafür. Doch auch

an diesem 8. Mai 2015 wurde der Antrag von CDU/CSU und SPD abgelehnt. Die Grünen enthielten sich.

10. Mai 2015, Bebelplatz in BerlinDas Lesen gegen das Vergessen erinnert an die schreckliche Nacht der Bücherver-brennung am 10. Mai 1933. Damals brann-ten tausendfach Bücher und Schriften deutscher Dichter und Denker. Ins Feuer geworfen unter dem Gejohle junger Bur-schenschaften. Stattgefunden vor nunmehr 82 Jahren.

Und doch kamen auch an diesem 10. Mai 2015 wieder Hunderte Menschen auf den Berliner Bebelplatz zur Veranstaltung der Fraktion DIE LINKE. Als prominente Vorle-ser waren diesmal die Schauspieler Otto Mellies, Peter Bause, Jens-Uwe Bogadtke und Ernst-Georg Schwill dabei. Dann der Musiker Tino Eisbrenner, Autor und Lieder-sänger Reinhold Andert, Gregor Gysi, An-dreas Nachama, Direktor der Stiftung To-pographie des Terrors, und Beate Klarsfeld, deutsch-französische Journalistin. Es wurde viel gelacht und es gab viel Beifall: für den spöttischen Heine, den frivolen Brecht, den satirischen Gorki und den nachdenklichen Thomas Mann.

Besonders gefeiert wurde Jessy James LaF-leur, eine junge Poetry Slamerin. Sie sagte eine »Revolution, die nicht im Fernsehen« stattfindet, voraus. Aber vielleicht kommt sie »morgen« schon, stünde bereits jetzt »vor der Tür«. Wortakrobatisch dann auch die Big Soul Band der Gustav-Heinemann-Schule in Berlin-Marienfelde. Sie spielten Musik und überraschten mit Wortwitz. Das Wort habe »Macht«, steige »wie Phönix aus der Asche« auf, sei »Gedankenträger«. Und »Gedanken sind frei«, so ihr Rap-Sprechge-sang. Ein guter Abschluss und eine wunder-schöne Einladung zur Lesung gegen das Vergessen im nächsten Jahr. Gisela Zimmer

Erinnern Gedenken VerantwortungNie wieder Krieg, nie wieder Faschismus – das war das Motto zweier Veranstaltungen der Fraktion DIE LINKE.

Gregor Gysis Rede am 7. Mai 2015youtu.be/CNSQafGu5Co

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung der Fraktion DIE LINKE anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung

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Jessy James LaFleur beim Lesen gegen das Vergessen auf dem Bebelplatz in Berlin

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Umkämpfte ErinnerungWenn in Deutschland des 70. Jahrestags der Befreiung von der Barbarei gedacht wird, geht es nicht nur um Vergangenheit, sondern um die Zukunft, meint Georg Fülberth.

Selbst das Datum ist geteilt: Die Kapitula-tion Deutschlands erfolgte nach westli-chem Längengrad am 8., nach östlichem am 9. Mai 1945.

Noch in der totalen Niederlage versuchte die Rest-Führung des Nazi-Reichs den Kern von Adolf Hitlers Strategie zu retten. Diese bestand in der Zerschlagung der Sowjetunion. Der Krieg gegen Frankreich, Großbritannien und die USA war nur als Kollateral-Konflikt eingeplant, für den Fall, dass diese sich nicht arrangierten. US-Präsident Theodore Roosevelt, der briti-sche Premierminister Winston Churchill und der französische General de Gaulle machten nicht mit, und daraus ergab sich ab dem Jahr 1941 die Anti-Hitler-Koalition. Die Führung der geschlagenen Wehrmacht versuchte zu erreichen, dass die West-mächte es bei einer am 7. Mai erfolgten Kapitulation in Reims beließen, die Sowjet-union also draußen blieb. Der US-amerika-nische Oberbefehlshaber Eisenhower sah keinen Anlass, sich darauf einzulassen. So kam es zur neuerlichen Unterzeichnung

der Kapitulationsurkunde, diesmal auch vor dem sowjetischen Marschall Georgi Schukow, in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 in Karlshorst. Ob das Plänchen des Hitler-Nachfolgers Karl Dönitz, des Chefs des Oberkommandos der Wehr-macht Wilhelm Keitel und des General-obersten Alfred Jodl damit für alle Zeit gescheitert war – dies soll im Folgenden bedacht werden.

Zunächst machten die Siegermächte klar, wer am 8./9. Mai 1945 befreit worden war: die von Hitlerdeutschland überfallenen Völker Europas. Die Deutschen waren zu-nächst Besiegte, sonst nichts. Ihre Nieder-lage war eine notwendige, aber nicht hin-reichende Bedingung für deren eigene Befreiung von ihrer bisherigen Beteiligung am Faschismus als Täter und Mitläufer (zumindest in ihrer überwältigenden Mehr-heit). Eine Chance hierfür erhielten sie durch die Konzepte einer gründlichen Ent-nazifizierung in Ost und West. Das war zunächst ein gesamtalliiertes und gesamt-deutsches Programm.

Mit Beginn des Kalten Kriegs las man es anders. Die von Konrad Adenauer propa-gierte »Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit« zielte unverhohlen auf die Wie-derherstellung des Reichsgebiets in den Grenzen von 1937. Hier figurierte der 8./9. Mai als schreckliche Niederlage, die korri-giert werden sollte.

Als die sozialliberale Koalition mit ihrer Neuen Ostpolitik diesen Traum beendete und die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs als Voraussetzung eines friedlichen und demokratischen Neubeginns definierte, bremste das Bundesverfassungsgericht: In einem Urteil im Jahr 1973 stellte es fest, das alte Reich von 1937 bestehe fort und sei durch die gegenwärtigen Kräfteverhält-nisse nur an seiner Realisierung gehindert. Wieder blieb der 8./9. Mai 1945 ein Stör-fall.

Immerhin kam im Zuge der Entspannungs-politik für einen winzigen Moment die Anti-Hitler-Koalition noch einmal zusammen: bei der Unterzeichnung des Viermächte-

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abkommens über Berlin im ehemaligen Kontrollratsgebäude am 3. September 1971.

Nach der Überrüstung der Sowjetunion durch die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa erklärte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, das Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal als Niederlage. Angesichts des neuerdings

veränderten Kräfteverhältnisses lag der Gedanke an eine nachträgliche Aufhebung dieses Missgeschicks nahe. Am 5. Mai 1985 legten Kanzler Helmut Kohl und US-Präsi-dent Ronald Reagan einen Kranz auf dem Soldatenfriedhof Bitburg nieder, wo neben US-Soldaten auch Gefallene der Waffen-SS liegen. Die Sowjetunion, ein Partner der Anti-Hitler-Koalition, wurde zum x-ten Mal als Reich des Bösen abgestempelt.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker witterte hier eine Gefahr. Diejenigen, die auf eine Beseitigung der Nachkriegsord-nung spekulierten, mochten zwar davon ausgehen, dass die UdSSR nicht mehr viel dagegen unternehmen konnte, aber es war auch Misstrauen im Westen zu überwinden, das durch neue martialische Gesten und

Worte wiederbelebt werden konnte. In seiner Rede vom 8. Mai 1985 erklärte der Bundespräsident deshalb, die Kapitulation sei eine Befreiung gewesen. Ganz nebenbei gönnte er seinen Landsleuten auch noch eine Art Lebenslüge: Sie konnten sich, soweit sie im Jahr 1945 schon erwachsen waren, einreden, von einem bei ihnen ver-hassten Regime erlöst worden zu sein. Das war dann legitim, wenn die Kapitulation inzwischen tatsächlich als positiv akzep-tiert wurde. Angesichts der erfolgreichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg empfanden die Westdeutschen das immer-hin schon dreißig Jahre zurückliegende Ende des Faschismus nicht als ihre persön-liche Niederlage, da durfte man diese gern auch eine Befreiung nennen.

Noch ein weiteres Mal wurde die Szene vom 8./9. Mai 1945 nachgestellt, jetzt aber mit umgekehrter Bedeutung: Am 12. September 1990 bei der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags in Moskau. Wieder waren die Großen Vier von einst versammelt. Die Deutschen, die gleich in zweifacher Aus-fertigung (BRD und DDR) auftraten, waren – anders als einst Keitel und seine Kame-raden – nicht mehr die Verlierer. Statt der Kapitulation Deutschlands wurde jetzt die der Sowjetunion unterschrieben.

Im Westen möchte man lieber unter sich seinNicht nur für einstige Kalte Krieger war es ein wenig anstrengend gewesen, ausge-rechnet Josef Stalin zu den Urhebern der von Richard von Weizsäcker verkündeten Befreiung zu zählen. Mit Michail Gorbat-schow ging das schon leichter, allerdings nicht in Zusammenhang mit 1945, sondern mit 1990. Die Bild-Zeitung rief ihn zum »Ehren-Deutschen« aus. Vor allem in Polen und den baltischen Ländern entstand ein neues Geschichtsbild: im Jahr 1945 Befrei-ung von der nationalsozialistischen, ab dem Jahr 1989 von der kommunistischen Unterdrückung. Antikommunisten in den neuen Bundesländern mögen dem zustim-men.

In den ersten Jahren nach dem Zusammen-bruch der Sowjetunion waren die Reprä-sentanten des russischen Staats beim Gedenken an das Jahr 1945 noch gern gesehen. Spätestens seit der Ukraine-Krise möchte man im Westen lieber unter sich sein. Bundespräsident Joachim Gaucks Russland-Phobie und Kanzlerin Angela Merkels Putin-Bashing positionieren Deutschland unter den Frontstaaten im Kampf gegen den russischen Präsidenten

Wladimir Putin: nicht mehr Karlshorst, sondern Reims.

Schon im Februar 1985, zwei Monate vor der Weizsäcker-Rede, hatte der Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza in einer Kolumne mit dem Titel »Tanz in den 8. Mai« folgende Zeitdiagnose gegeben: Nicht Deutschland habe den Zweiten Weltkrieg verloren, sondern die von ihm überfallene Sowjetunion. Diese habe sich von ihren Verlusten niemals mehr völlig erholt, wäh-rend die Bundesrepublik nicht nur straffrei ausging, sondern auf der ökonomischen Basis weitermachen konnte, die das Kriegsende unbeschadet überstand.

Aus dieser Sicht war das, was ab dem Jahr 1989 geschah, nur logisch. Die Erfolgs-story erlaubt nunmehr auch noch eine Modifikation der Weizsäcker-These. Gauck wird nicht müde, es zu verkünden: Nicht trotz seiner Nazi-Verbrechen und der ihnen folgenden Niederlage sei Deutschland heute eine moralische Großmacht, son-dern gerade umgekehrt. Weil die Deut-schen das alles durchgemacht hätten und geläutert seien (kostengünstige Krokodils-tränen und Versöhnungskitsch inklusive), dürften sie nun andere Länder zurechtwei-sen, auch Russland. Der Einsatz von Militär sei dabei nicht nur erlaubt, sondern im Extremfall sittliche Pflicht.

Damit ist der 8./9. Mai an einem neuen historischen Ort angekommen: nicht als Teil einer zu bedenkenden Vergangenheit, sondern einer Zukunftsoffensive.

Georg Fülberth war in den Jahren 1972 bis 2004 Professor für Politik-wissenschaften an der Universität Marburg. Zu seinen Forschungs-schwerpunkten zählen die Theorie und Geschichte des Kapitalismus.

Bundeskanzler Helmut Kohl (l.) und US-Präsident Ronald Reagan (3. v. l.) beim Besuch des Militärfriedhofs in Bitburg am 5. Mai 1985

Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner Rede im Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985

Unterzeichnung des 2+4-Vertrags am 12. Dezember 1990 in Moskau

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Einblicke

Erfurt. Bei einem Besuch des FC Erfurt Nord überzeugt sich Martina Renner davon,

dass Fußball Kinder und Jugendliche trotz unterschiedlicher Herkunft verbindet. Bei

dem Verein, dessen Aktive vor allem aus Ilversgehofen im nördlichen Stadtgebiet von Erfurt kommen, spielen Kinder und Jugend-

liche in neun Mannschaften von der Kreis oberliga bis in die Landesliga.

Frankfurt am Main. Christine Buchholz nimmt am 1. Mai an der DGB-Veranstaltung teil. Sie zeigt ihre Solidarität mit den Streikenden und fordert wie Tau-sende Teilnehmerin-nen und Teilnehmer bundesweit das Ende von Befristung und Leiharbeit.

Berlin. Die vier Abgeordneten der AG Gesund-heit und Pflege, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann,

Harald Weinberg und Kathrin Vogler (v. l. n. r.), zeigen ihre Solidarität mit den Streikenden an

der Berliner Charité. Die Beschäftigten kämpfen für bessere Arbeits- und

Pflegebedingungen.

Hoyerswerda/Berlin. Flüchtlinge und deren Unterstützerinnen und Unterstützer sind auf Einladung von Caren Lay in Berlin unterwegs. Diese Fahrt ist für die Ehrenamtlichen ein Dankeschön für das Engagement vor Ort im Landkreis Bautzen und für die Flüchtlinge gelungene Abwechslung zum Alltag.

Bundesregierung/Atelier Schneider

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Berlin. Die Fraktionen DIE LINKE des Bundestags und des Berliner Abge-

ordnetenhauses laden Mitte Mai zum 6. Queerempfang ins SchwuZ. Galant und

kokett leiten die Moderatorinnen Gloria Viagra (l.) und Sigrid Grajek (r.) durch den Abend, der diesmal unter dem Motto 70 Jahre Tag der Befreiung steht. Mit dabei

auch Gregor Gysi, der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE

Dachau. Nicole Gohlke (l.) legt bei der Gedenk-feier zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau einen Kranz nieder. In Dachau wurden vor allem politische Widerstands-kämpfer von den Nazis ermordet. An die Verpflichtung zu Zivilcourage und politischem Widerstand gegen Unrecht erinnern auch Überlebende und das Internationale Dachaukomitee.

Karlsruhe. Karin Binder (l.) und Ruhan Karakul von der baden-württembergi-schen Landesvertre-tung der Alevitischen Gemeinde Deutsch-land e. V. (AABF) nehmen an den Protesten gegen den Wahlkampfauftritt des türkischen Präsiden-ten Recep Erdogan in Karlsruhe teil.

Köln. Volles Haus bei der Betriebsrätekonferenz »Das

muss drin sein: Arbeit ist mehr wert!« der Bundestags-fraktion DIE LINKE Mitte Mai. Der Kölner Bundestagsabge-ordnete Matthias W. Birkwald

(l.) begrüßt eine Delegation der Streikenden aus den

Sozial- und Erziehungsdiens-ten besonders herzlich.

Berlin. Eva Bulling-Schröter gibt zwei Schülerinnen im Clara-Zetkin-Saal der Fraktion DIE LINKE Antworten beim spielerischen Kennenler-nen am Girls’ Day Ende April. Gut 20 Mädchen lernten an diesem Tag den Alltag der Bundestagsabgeordneten der Linksfraktion kennen.

Berlin. Im Herzen der Hauptstadt startet DIE LINKE, zusammen mit Bundestagsabgeordneten, Ende April die neue Kampagne »Das muss drin sein«.

Niels Holger Schmidt

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Zweckentfremdungsverbotsgesetz verfassungsgemäßNach einer Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts (BVerfG) vom 13. Februar 2015 (1 BvR 3332/14) ist das Berliner Ge-setz über das Verbot der Zweckentfrem-dung von Wohnraum verfassungsgemäß. Dieses Gesetz untersagt unter bestimmten Bedingungen, Wohnraum als Ferienwoh-nung zu vermieten, sie gewerblich zu nutzen oder langfristig leer stehen zu lassen. Die Entscheidung dürfte über das Land Berlin hinaus Wirkung entfalten, da in ihr grund-sätzliche Überlegungen angestellt werden. Das BVerfG wiederholt eine frühere Ent-scheidung und argumentiert, ein »repressi-ves, nur mit einer Befreiungsmöglichkeit versehenes Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum« beeinträchtige »zwar die freie Verfügungsbefugnis über den Eigen-tumsgegenstand«, es sei »jedoch durch den Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG gerechtfertigt […]«. Zweckentfremdungsverbotsgesetze sind

also möglich. Dass sie dringend erforderlich sind, sagt DIE LINKE schon lange.

Strafgefangener darf nicht zum bloßen Objekt des Strafvollzugs gemacht werden Die vollständige Entkleidung eines Strafge-fangenen in einer durchgängig videoüber-wachten Zelle verletzt nach einer Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18. März 2015 (2 BvR 1111/13) die Menschenwürde. Das BVerfG ist der Ansicht, dass schon die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit ständiger Videoüberwachung ein er-heblicher Eingriff in die Menschenwürde ist. Wenn zusätzlich noch die Entkleidung hinzukomme, würde der Gefangene seiner Intimsphäre beraubt und zum bloßen Ob-jekt des Strafvollzugs gemacht.

Eigenbedarfskündigung: Vor Vertragsabschluss Vermieter fragen! Im Hinblick auf eine Eigenbedarfskündi-gung hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 4. Februar 2015 (VIII ZR 154/14) entschieden, dass kein Rechtsmissbrauch des Vermieters vorliege, wenn dieser »ei-nen unbefristeten Mietvertrag wegen eines nach Vertragsschluss entstandenen Eigen-bedarfs kündigt und das Entstehen dieses Eigenbedarfs für ihn zwar im Rahmen einer ›Bedarfsvorschau‹ erkennbar gewesen wäre, er jedoch bei Vertragsabschluss eine solche Kündigung nicht zumindest erwogen hat«. Will sich die Mieterin oder der Mieter gegen solche Eigenbedarfskündigungen

schützen, dann bleibt ihr oder ihm nur übrig, den Vermieter bei Anmietung der Wohnung explizit zu fragen. Denn nach Ansicht des BGH kann eine Eigenbedarfs-kündigung dann rechtsmissbräuchlich sein, »wenn der Vermieter anlässlich des Ver-tragsabschlusses von sich aus oder auf Fragen des Mieters vorsätzlich unrichtige Angaben über den derzeitigen Stand ihm bekannter, für die Beurteilung einer Eigen-bedarfssituation maßgebender Tatsachen gemacht hat«. Nicht nur wegen dieser Ent-scheidung ist eine strengere Handhabung der Eigenbedarfskündigung notwendig.

Mindestentgelt auch für Arbeitsbe-reitschaft und BereitschaftsdienstIn einem Urteil vom 19. November 2014 (5 AZR 1101/12) hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass das Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV nicht nur für die Vollarbeit, sondern auch für die Arbeitsbereitschaft und den Bereitschaftsdienst zu zahlen ist. Nach Ansicht des Gerichts folgt dies dar-aus, dass das Mindestentgelt in der Verord-nung »je Stunde« festgelegt wurde. Damit werde »entsprechend den Gepflogenheiten der Tarifpartner und auch vieler Arbeitsver-tragsparteien« als Entgelt ein bestimmter Euro-Betrag in Relation zu einer bestimm-ten Zeiteinheit (zumeist Stunde oder Monat, bisweilen auch Tag, Woche, Jahr) bezie-hungsweise dem Umfang der in einer be-stimmten Zeiteinheit zu leistenden Arbeit festgesetzt. Unter »vergütungspflichtige Arbeitszeit« falle deshalb auch Arbeitsbe-reitschaft und Bereitschaftsdienst.

Ihr gutes RechtHalina Wawzyniak, Rechtsanwältin und Mitglied der Fraktion DIE LINKE, kommentiert für clara aktuelle Urteile.

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Julia Friedrichs: Wir Erben – Was Geld mit Menschen macht. Berlin Verlag 320 Seiten 19,99 Euro

Anna Erelle: Undercover Dschihadistin. Droemer 272 Seiten 19,99 Euro

Ein großes Thema der Journalistin Julia Friedrichs ist die Chancengerechtigkeit. Sie untersuchte bereits, welchen Unter-schied es in Sachen Bildung, Teilhabe oder nun Vermögen macht, wenn jemand aus einem reichen Elternhaus stammt oder nicht. 250 Milliarden Euro werden pro Jahr in Deutschland vererbt, der Staat kassiert davon nur wenig. Warum? Wo bleibt die vom Bundesverfassungsgericht ange-mahnte Reform? Was ist dran am Argu-ment, sehr viele Arbeitsplätze seien bei einer höheren Steuer in Gefahr? Friedrichs traf sich mit Menschen, die viel vererben oder erben, mit Eliten-, Sozial- und Vermö-gensforschern. Sie interviewte Bundes-tagsabgeordnete wie den linken Steuerpo-litiker Richard Pitterle. Von allen Fraktionen im Bundestag fordert sie mehr Mut und Konsequenz. Denn sonst würde »sie wohl Wirklichkeit werden, die Gesellschaft der Erben«.

»Anna Erelle« steht auf dem Cover, doch so heißt die französische Journalistin nicht. Seit Erscheinen ihres Reports über die Re-krutierungsmethoden islamischer Milizen wurde eine Fatwa gegen sie verhängt und sie musste untertauchen. Sie wollte her-ausfinden, wie der IS junge Leute aus Eu-ropa für den Krieg anwirbt und radikalisiert. Dafür schlüpfte sie im Frühjahr 2014 in die Rolle der jungen Konvertitin Melodie. Bald meldete sich ein hochrangiger IS-Kämpfer, schwor ihr die Liebe und wollte sie nach Syrien locken. Die Journalistin erfuhr im-mer neue Details über die Strategien und Ziele des IS. Ihr mutiges Buch deckt die Psychotricks der IS-Anwerber auf und zeigt, welche Schwächen der westlichen Gesellschaften sie ausnutzen. Steffen Twardowski

Bücher von Naomi Klein sind sehr persön-liche Berichte über eine Welt, die aus den Fugen gerät. Fünf Jahre lang recherchierte sie, um dem Zusammenhang zwischen Kli-mawandel und Wirtschaftsordnung auf den Grund zu gehen. Fazit: Der Kampf gegen die Erderwärmung wird scheitern, weil er der herrschenden Ideologie entgegensteht. Von allein lassen sich die Energiekonzerne nicht auf einen Kurswechsel ein, der Markt wird das Problem ebenfalls nicht lösen: »Anders ausgedrückt, nur eine soziale Mas-senbewegung kann uns jetzt noch retten. Weil wir wissen, wo das gegenwärtige Sys-tem hinsteuert, wenn es ungehemmt wei-terläuft. Wir wissen auch, möchte ich hin-zufügen, wie dieses System mit der Realität einer Serie von Klimakatastrophen umge-hen wird: mit Gewinnmaximierung und es-kalierender Barbarei, um die Gewinner von den Verlierern abzusondern.« Naomi Klein rüttelt wach und fordert Aktion, weniger Diskussion. Die Fakten liegen auf dem Tisch. n David Graeber gehörte zu den ers-ten Occupy-Aktivisten, der Slogan »Wir sind die 99 Prozent« stammt von ihm. Mit dem tschechischen Ökonomen Tomás Sedlácek diskutiert er in »Revolution oder Evolution« darüber, ob der Kapitalismus die aktuellen Probleme der Menschheit noch lösen kann. Die soziale Ungerechtigkeit wächst weiter, die Finanzkrise fordert im-mer neue Opfer, die Natur wird täglich mehr zerstört. Sedlácek will reformieren, Graeber will abschaffen. Gelingt es, beste-hende Wirtschaftsorganisationen auf das Gemeinwohl zu verpflichten oder ist bereits diese Absicht zum Scheitern verurteilt? Der Band dokumentiert ein munteres, wortge-waltiges Streitgespräch zweier prominen-ter Querdenker, etwas mehr Kontroverse hätte ihm gutgetan.

»Ich möchte eine lebendigere Demokratie. Eine um direktdemokratische Möglichkei-ten (Stichwort Volksentscheide) erweiterte parlamentarische Demokratie, die nicht nur lebendig, sondern auch mitreißend ist. Die nicht in Ritualen erstarrt und in der tatsäch-lich debattiert und überzeugt wird.« Halina Wawzyniak macht sich viele Gedanken da-rüber, wie mehr Menschen dafür begeistert werden können, sich für ihre eigenen Inte-ressen und Ziele einzusetzen. Sie sitzt seit dem Jahr 2009 für DIE LINKE im Bundestag und meint, dass auch Politikerinnen und Po-litiker selbst zum Politikverdruss beigetra-gen haben. Wachsende Wahlenthaltung ist nur ein Symptom, nicht die Ursache. Was muss getan werden, damit das Volk tat-sächlich mehr mitreden und mitentschei-den kann? Als Juristin analysiert Halina gründlich das geltende Recht für Abgeord-nete, Parteien und Wahlen. Sie liefert ge-naue Vorschläge, wie ihr Wunsch umgesetzt werden kann. n Der Österreicher Walter Baier kennt sich mit linken Bewegungen bestens aus, von 1994 bis 2006 war er Chef der Kommunistischen Partei Österreichs. Er nimmt das gesamte Spektrum der Linken in Europa präzise unter die Lupe, ordnet ihre Entwicklung historisch ein und setzt sich mit ihren Herausforderungen ausein-ander. Beispiel Europäische Union (EU): »Die Waffenungleichheit zwischen Wirt-schaft und Politik stellt keinen Defekt, son-dern das Konstruktionsprinzip der EU dar, die die kapitalismustypische Konkurrenz zwischen Unternehmen und Kapitalien zum Wettbewerb zwischen Staaten radikalisiert, der auf dem Gebiet der Steuersysteme, der Sozial- und Umweltstandards, der Löhne und der Rechtssysteme geführt wird, und in dem die letztgültigen Urteile von den Fi-nanzmärkten getroffen und den Rating-agenturen verkündet werden.« Schließlich formuliert Baier konkrete Programme für mehr Demokratie und den Kampf gegen den Rechtsextremismus in Europa.

Walter Baier: Linker Aufbruch in Europa? Edition Steinbauer 224 Seiten 22,50 Euro

Halina Wawzy-niak: Demokratie demokratisieren. VSA-Verlag 200 Seiten 14,80 Euro

Tomás Sedlácek, David Graeber: Revolution oder Evolution. Hanser 144 Seiten 15,90 Euro

Naomi Klein: Die Entschei-dung - Kapitalis-mus vs. Klima. S. Fischer 700 Seiten 26,99 Euro

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Service Nr. 36/ Seite 41clara.

Page 42: Alles im Griff

Die Kombination aus erneuerbaren Energien mit dem Internet birgt eine Chance für eine sozialere Verteilung von Wohlstand, meint Anke Domscheit-Berg.

Häuser aus 3­D­Druckern

Zum dritten Mal in der Geschichte treffen neue Technologien der Energiegewinnung und der Kommunikation aufeinander und lösen umfassende Veränderungen aus: Bei der Industriellen Revolution waren es Buchdruck und Dampfmaschine, dann fossile Brennstoffe und elektrische Kom-munikation, und jetzt führt die Kombination erneuerbarer Energien mit dem Internet zu einer dritten Industriellen Revolution, die wieder Branchen aussterben und völlig neue entstehen lassen wird. Machtverhält-nisse werden verändert, enorme Wohl-standsfortschritte möglich. Umwälzungen dieser Dimension werden jedoch oft nur als Krise beschrieben.

Eine durch das Internet erleichterte Share Economy bedeutet aber nicht nur den Weg-fall von 80 Prozent Autos ohne Mobilitäts-verlust und damit von vielen Arbeitsplätzen in der Autoindustrie. Sie bedeutet auch die Einsparung kostbarer Ressourcen um 80 Prozent – eine notwendige Veränderung, wollen wir die Erde nicht endgültig ruinieren und die Spaltung zwischen reichen und armen Ländern weiter vertiefen.

Die Vision einer gerechteren Gesellschaft, eines »Commonismus« (von Commons = Gemeingüter), wird greifbar als echte Al-ternative zum Kapitalismus. Heute lassen sich nicht nur Gegenstände, sondern auch virtuelle Güter teilen – das Wissen der Welt etwa in Datenbanken wie der Wikipedia und in Beschreibungen von Problemlösun-gen, die Not lindern, Menschenleben ret-ten, Lebensqualität erhöhen.

Eine der größten Chancen für eine sozia-lere Verteilung von Wohlstand in unserer Welt birgt die 3-D-Druck-Technologie, die das Eigentum an Produktionsmitteln de-mokratisiert. Künftig kann überall produ-

ziert werden – im 3-D-Druckshop um die Ecke oder zu Hause. Die Kombination dieser Technologie mit freien Datenban-ken, die Druckdateien für alle Arten von Gegenständen enthalten, und mit Soft-wareprogrammen, mit denen solche Da-teien verändert oder erstellt werden können, wird heutige Produktionsketten sprengen und viele Globalisierungskreis-läufe überflüssig machen.

Ein Haus für 5.000 Dollar Vorausgesetzt, man verteilte den Zugang zu Land gerechter, wäre auch das Woh-nungsproblem für viele Menschen preis-werter und schneller lösbar – auch nach Katastrophen. In China wurden zehn Häu-ser an einem einzigen Tag zu Stückkosten von weniger als 5.000 US-Dollar gedruckt, aus Bauabfall. Die NASA forscht am Druck von Häusern aus Gestein und Sedimenten, die man auf dem Mars, aber auch auf der Erde findet.

Wie viel Leid ließe sich lindern, wenn Pro-thesen, medizinisches Gerät, Haut und transplantierbare Organe gedruckt werden können? In beliebiger Menge, zu minimalen Kosten, wo, wann und wie man sie benö-tigt? Herzen werden noch zehn Jahre brauchen, aber Haut und Prothesen wer-den jetzt schon gedruckt, Handprothesen für unter fünf US-Dollar Materialkosten – die Datei gibt es kostenlos im Internet, selbst mit auswechselbaren Teilen wie vormontierten Werkzeugen, die ein unab-hängiges Arbeitsleben auch für Handam-putierte möglich machen.

Mit der Welthungerhilfe und einer äthiopi-schen Nichtregierungsorganisation ent-wickle ich gerade ein Konzept, wie man aus Abfallplastik Rohstoff für 3-D-Drucker

herstellen und daraus Dinge des täglichen Bedarfs produzieren kann, die ihrerseits recyclingfähig sind. Selbst Kleinigkeiten wie gedruckte Wasserhähne für Plastik-container, die das Händewaschen nach dem Toilettenbesuch erleichtern, sind wertvoll, denn sie bedeuten weniger To-desfälle durch vermeidbare Krankheiten.

All diese positiven Szenarien sind realis-tisch, aber ob und wie schnell sie Realität werden, hängt letztlich von uns ab, von unserer Bereitschaft zu teilen, von unserer Offenheit für Veränderungen auch radika-lerer Art. Auch ethische Fragen müssen wir endlich anders beantworten: Darf ein Copyright auf ein Herz schwerer wiegen als ein Menschenleben? Nach heutiger Rechtslage ist die unerträgliche Antwort darauf Ja.

Anke Domscheit-Berg, Jahrgang 1968, ist Publizistin, Unternehmerin und Netzaktivistin. Von 2013 bis 2014 war sie Vorsitzende der Piratenpartei in Brandenburg, der sie mittlerweile nicht mehr angehört.

Gast-kolumne

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Seite 42 / Nr. 36 clara.Gastkolumne

Page 43: Alles im Griff

Kultur ist mehr als eine Ware – TTIP stoppen!Das Handelsabkommen TTIP gefährdet die kultu-relle Vielfalt. In Europa wird Kultur als Gemeingut gefördert, in den USA wird sie hauptsächlich privat-wirtschaftlich organisiert. Durch TTIP kann die eu-ropäische Kulturförderung infrage gestellt werden: US-Produktionsfirmen könnten gegen die öffentliche Unterstützung des hiesigen Kultursektors klagen.

linksfraktion.de/ttip-stoppen

Page 44: Alles im Griff

Die nächste clara erscheint am 9. Oktober 2015

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