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Mitbestimmung DAS MAGAZIN DER HANS-BÖCKLER-STIFTUNG · WWW.MAGAZIN-MITBESTIMMUNG.DE US-VW-WERK · Industriesoziologe Turner über eine Niederlage, die ein Erfolg ist MOBILE ARBEIT · Recht auf Abschalten nicht ansatzweise geregelt STAHLBRANCHE · Engere Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren feiern 50. Jubiläum APRIL 4/2014 Ideen für eine moderne Hochschule So geht’s!

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Noch Fragen?

www.uni-kassel.de/go/sommerakademieHarald Kröck, [email protected] für Mitbestimmungs-Leser: 1. Mai 2014

Über Globalisierung, Institutionen der Fünf Tage Dialog zwischen den Ländern

Betriebsrät

e und Gewerksch

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auf zur Sommerakademie 2

014!

Weltwirtschaft und die Zusammenarbeit

von Aktiven aus Betrieben und NGOs.

des Nordens und des Südens.

Vom 16. bis 20. Juni in Hofgeismar.

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uS-VW-WerK · Industriesoziologe Turner über eine Niederlage, die ein Erfolg ist MOBILe ArBeIT · Recht auf Abschalten nicht ansatzweise geregeltSTAHLBrANCHe · Engere Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren feiern 50. Jubiläum

AprIL 4/2014

Ideen für eine moderne Hochschule

So geht’s!

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Däubler / Kittner / Klebe / Wedde (Hrsg.)BetrVG – Betriebsverfassungsgesetzmit Wahlordnung und EBR-GesetzKommentar für die Praxis14., überarbeitete Auflage2014. 2.887 Seiten, gebundenSubskriptionspreis bis 30. April 2014: € 89,– Danach: € 98,–ISBN 978-3-7663-6320-6

Fundiert und verständlich erläutert der Kommentar das gesamte Betriebsverfassungsrecht. Die Autoren –allesamt anerkannte Experten mit umfassender Praxiserfahrung – bieten einen vollständigen Überblick über die neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsge-richts und der Instanzgerichte sowie über den Stand der Fachdiskussion. Für Konfliktfälle, die noch nicht gericht-lich entschieden sind, entwickeln sie eigenständige und innovative Lösungen. Diese haben vor allem eine faire Beachtung von Arbeitnehmerrechten im Blick.

Der Kommentar ist für alle Betriebsratsgremien und für Anwälte mit Schwerpunkt Arbeitsrecht eine wertvolle In-formationsquelle. Das Werk bietet konkrete Anregungen für die tägliche Praxis. Das übersichtliche Layout gewähr-leistet komfortables Arbeiten. Die Neuauflage verarbeitet Gesetzgebung und Rechts prechung bis einschließlich Oktober 2013.

Die Schwerpunkte der Ausgabe 2014: • Wichtige Urteile zu Betriebsratswahlen, unter anderem

zur Gewerkschaftsliste• Neues zu Gewerkschaftsrechten• Mitbestimmung bei Werkverträgen und Leiharbeit• Arbeitszeit und mobile Arbeit• Neues zur Schicht- und zur Kurzarbeit• Crowdsourcing und Mitbestimmung• Umgang mit Social Media, Facebook und BYOD• Mitbestimmung bei Integrationsvereinbarungen• Betriebliche Umstrukturierungen und

Betriebsübergänge

Ganz nah dran. Bund-Verlag

Im Fokus: Betriebsratswahl 2014

Die Herausgeber:Dr. Wolfgang Däubler, Professor für deutsches und europäisches Arbeitsrecht, Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen.

Dr. Michael Kittner, Professor em. für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Kassel und langjähriger Justitiar der IG Metall.

Dr. Thomas Klebe, Leiter des Hugo Sinz heimer Instituts, zuvor Justitiar der IG Metall.

Dr. Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesellschaft in Frankfurt/M.

Hinweis: »Jedem Betriebsrat steht nach § 40 Abs. 2 BetrVG ein Kommentar zum BetrVG in der neuesten Auflage als unentbehrliches Arbeitsmittel zu.« (BAG vom 26.10.1994, NZA 1995, S. 386)

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sagt NRW-Wissenschafts-ministerin Svenja Schulze. Sie hat sich auf den Weg gemacht, mehr Demokratie und Mitbestimmung in den Hochschulen ihres Bundeslandes zu ermöglichen. Öffentlich finanzierte Hoch-schulen können, so Schulze, nicht wie privatwirtschaftliche Un-ternehmen geführt werden, mit Hochschulräten, die wie Auf-sichtsräte agieren. Ein Hochschulentwicklungsplan, gemeinsam von Hochschulen und Ministerium geschmiedet, das ist die Alter-native. Und das höchste beschlussfassende Organ der Hochschule

soll wieder der Senat wer-den, in dem alle Interes-sengruppen vertreten sind.

Nach wie vor sind Studienplätze ein Privileg von Akademikerkindern. Dass der Weg nach oben möglich ist, zeigt die be-eindruckende Karriere von Rita Meyer, die sich durch viele Widerstände bis zur Professorin an der

Universität Hannover hochgearbeitet hat. Dabei hat ihr nicht nur das Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung geholfen, sondern sie fand Paten, die ihr Selbstvertrauen gaben.

Eine ausreichende Studienfinanzierung und Beratungsangebote für soziale Aufsteiger, darin sieht die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Miethe einen Schlüssel für die soziale Öffnung der Hoch-schulen. Nur, diese Beratungsangebote fehlen.

Nicht besser steht es um den dritten Bildungsweg: ein Studium für Berufserfahrene ohne Abitur. Die Kultus-ministerkonferenz hat die Hochschulen geöffnet, aber es geschieht viel zu wenig. Deshalb hat die Hans-Böckler-Stiftung ein eigenes Projekt „Dritter Bildungsweg. Stu-dieren ohne Abitur“ aufgesetzt. Wie die Stiftung auch Doktoranden unterstützt, die in Promotionskollegs er-folgreich zusammenarbeiten. Es tut sich etwas an den Hochschulen, dem größten nicht organisierten Ausbil-dungsbetrieb Deutschlands mit etwa 2,5 Millionen jun-gen Menschen, eine Herausforderung, die die Gewerk-schaften mit ihrer Studierendenarbeit angenommen haben.

Ein Wort in eigener Sache: Die Hans-Böckler-Stif-tung hat sich aufgemacht, eine neue Kommunikations-strategie zu entwickeln. Wir stellen Produkte und Ak-tivitäten auf den Prüfstein und wollen unser Profil weiterentwickeln – als Stiftung für Arbeit und Mitbe-stimmung. Und dabei mehr Menschen erreichen. Über unseren Magazin-Newsletter können die aktuellen Hefte der Mitbestimmung abonniert werden. Dazu laden wir ein und freuen uns, wenn die Online-Ausgaben des Magazins an Kollegen und Freunde weiterempfohlen werden: www.boeckler.de/104.htm.

Gute Lektüre wünscht

„Bildung ist keine Ware“,

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[email protected]

3Mitbestimmung 4/2014

EDITORIAL

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TITEL Moderne HocHscHule ARBEIT

10

RUBRIKEN

3 EDITORIAL 6 NAchRIchTEN 9 PRO & cONTRA 72 RäTsELhAfTEs fUNDsTücK 73 vORschAU, ImPREssUm 74 mEIN ARBEITsPLATZ Friedrich Stadelmann, Lebensmittel-

kontrolleur

40

40 Wie eine Angstkampagne das Rennen entschied

Was kommt nach den Gewerk-schaftswahlen im VW-Werk Chatta-nooga? Von Chris tof Waldkauf

42  „ Großer schritt nach vorn“ Interview: Industriesoziologe Lowell

Turner zur Wahlniederlage 44 Recht auf Abschalten Mobiles Arbeiten muss geregelt

werden. Von Boewe/Schulten

10 Der Weg nach oben Was entscheidet über den Erfolg von Bildungsaufsteigern? Von Andreas Kraft

16 Eine unglaubliche verschwendung Nachwuchswissenschaftler kämpfen mit widrigen Arbeitsbedingungen. Von Joachim F. Tornau 20  „mehr mitbestimmung ausprobieren“ NRW-Wissenschaftsministerin Svenja Schulze erklärt ihre Hochschulreform 24 studium und hochschule in Zahlen Daten zur aktuellen Lage und zur Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung 26 Gewerkschaften werden akademischer Wie die Industriegewerkschaften im Studentenmilieu Unterstützung bieten.

Von Stefan Scheytt 30 miteinander im Kolleg Die Gemeinschaft zählt: Promovieren im Böckler-Kolleg. Von Carmen Molitor

34 hauptschule, Job – und dann ab zur Uni Wie die Hans-Böckler-Stiftung den dritten Bildungsweg fördert.

Von Jan-Martin Altgeld 38 Die Rückkehr der Asten Baden-Württembergs holpriger Weg zurück zur studentischen Mitbestimmung.

Von Stefan Scheytt

4 Mitbestimmung 4/2014

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58 Zur sache Norbert Kluge über die „Offensive

betriebliche Mitbestimmung“

60 Böckler-Tagungen Hochschulpolitisches Forum Symposium für Nik Simon Rententagung

63 Tipps & Termine

64 Böckler-Nachrichten

66 Die Wissensexperte Altstipendiat Erick Tambo von der

United Nations University in Bonn. Von Andreas Schulte

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66

In der Stahlindustrie arbeiten die „Engeren Mitarbeiter der Arbeits-direktoren“ seit 50 Jahren gemeinsam an einer mitbestimmten Personal- und Sozialpolitik. Ein Blick hinter die Kulissen seite 46

JUBILäUm

mEDIEN

68 Buch & mehr

70 Website-check

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POLITIK WIssEN

46 Trendsetter der Personalarbeit

Die Engeren Mitarbeiter der Arbeits-direktoren sind Impulsgeber der Mon-tanmitbestimmung. Von Dirk Schäfer

50 Werkvertragsnehmer

mit im Boot Der Mindestlohn in der Fleischbranche

gilt auch für ausländische Werkver-tragsnehmer. Von Guntram Doelfs

54 Damals chile, heute die Welt

Die politische Geschichte des Solidaritätsfonds der Hans-Böckler-Stiftung und was er heute leistet. Von Andreas Molitor

Einflussreiches Netzwerk

5Mitbestimmung 4/2014

INhALT

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BIld des MonaTs

Mit einem geschickten Manö-ver reagiert E.ON auf schwin-dende Gewinne: Europas größter Energiekonzern geht kurzzeitig unter die Kunst-händler. 20 Millionen Euro soll die Versteigerung der „Elegant Lady“ im Mai in New York ein-bringen. Das Meisterwerk von Jackson Pollock ist das Prunk-stück der konzerneigenen, 1800 Werke umfassenden Kunstsammlung. Mit dem Ver-kauf soll das Kulturengage-ment des Konzerns für die nächsten Jahre gesichert wer-den. Denn der Strom- und Gasversorger will weiterhin zu den größten Kunstsponsoren Deutschlands zählen. Allein das Düs-seldorfer Museum Kunstpalast unterstützt der Energielieferant jähr-lich mit 750.000 Euro. Außerdem veranstaltet das Unternehmen Ausstellungen im Essener Museum Folkwang.

Doch nicht jeder im Konzern hat Verständnis für das großzügige Kunstengagement. Der Millionenaufwand für die Kulturförderung

müsse firmenintern kommunizierbar bleiben, sagte daher die Kultur-managerin von E.ON, Dorothee Gräfin von Posadowsky-Wehner, anlässlich des Verkaufs von „Elegant Lady“. E.ON steckt schließlich in der Krise. Dem Unternehmen brechen im Zuge der Energiewende Gewinne weg – und Arbeitsplätze. Seit 2011 hat sich die Zahl der Mitarbeiter von rund 80 000 auf 62 000 verringert. ■

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URTEIL

Im Kampf um mehr Arbeitnehmerrechte beim Versandhandelsrie-sen Amazon hat der Betriebsrat am Standort Bad Hersfeld einen wichtigen Sieg errungen. In einem Statusverfahren gab das Land-gericht Frankfurt ihm in der Forderung nach einem paritätisch be-setzten Aufsichtsrat recht. Bislang beriet bei Amazon ein sechsköp-figes Gremium mit nur zwei Arbeitnehmervertretern. Das Gericht befand, dass sich mit einer Beschäftigtenanzahl von rund 3500 Beschäftigten der Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zu

Gericht verpflichtet Amazon zu paritätisch besetztem Aufsichtsratbilden habe, nicht aber nach den Bestimmungen der Satzung von Amazon. Folglich hat sich das Gremium aus je sechs Arbeitnehmer-vertretern und Anteilseignern zu bilden. „Das Urteil kommt nicht überraschend“, erklärt dazu Martin Lemcke, Bereichsleiter Mitbe-stimmung bei ver.di. „Die Rechtslage war klar. Amazon konnte nur verlieren.“ Nun muss der Versandhändler den Aufsichtsrat inner-halb der nächsten Monate neu besetzen. „Dann gibt es für die Ar-beitnehmerseite deutlich mehr Informationen“, sagt Lemcke. ■

6 Mitbestimmung 4/2014

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Pakt für den mindestlohn

USA

Gemeinsam reagierten drei Lokalregierungen in den USA, als Unternehmer dem Landkreis Montgomery im Norden der US-Hauptstadt mit Abwanderung drohten. Ende 2013 hatte Montgomery eine Erhöhung des Mindest-lohns um 59 Prozent beschlossen: Bis 2017 soll der Stun-denlohn von derzeit 7,25 Dollar (das entspricht dem na-tionalen „minimum wage“) stufenweise auf 11,50 Dollar steigen. Im Vorfeld hatten Unternehmer gedroht, in billi-gere Nachbarbezirke abzuwandern, wie der demokrati-sche Abgeordnete Marc Elrich der „New York Times“ er-zählte. „Wirtschaftsvertreter bombardieren uns mit ihrer Klage über zu hohe Steuern und zu großzügige Sozialleis-tungen, dabei sind es ihre niedrigen Löhne, die uns dazu zwingen“, so Elrich; von 7,25 Dollar in der Stunde oder 15.000 Dollar im Jahr könne man so nah an der teuren Hauptstadt nicht leben, die Aufstockung von Niedriglöh-nen durch die öffentliche Hand sei im Grunde eine Sub-vention für die Privatwirtschaft.

Damit sich die Firmen diese „Subventionen“ nicht durch Umzug jenseits der Grenzen von Montgomery County holen, sprach sich Elrich mit Kollegen im Nachbarkreis Prince George und in Washington ab. Auch dort soll der lokale Mindestlohn jetzt stufenweise bis 2016/17 auf 11,50 Dollar steigen. Dieser „seltene Akt regionaler Ko-operation“ („Washington Post“) liegt voll im Trend. Weil der US-Kongress auch in dieser Frage zerstritten ist, hat Präsident Obama im Februar 2014 seine Ankündigung wahr gemacht und per Erlass den Mindestlohn für Auf-tragnehmer des Bundes auf 10,10 Dollar angehoben, auch weil der aktuelle Wert von 7,25 Dollar rund 20 Pro-zent weniger Kaufkraft habe als zu Zeiten Ronald Reagans. Inzwischen haben auch einige Bundesstaaten und Städte ihre eigenen Mindestlöhne erhöht – auch mit Blick auf die Kongresswahlen Ende 2014. ■

Obama unterzeichnet den Erlass für 10,10 Dollar Mindestlohn.

dreI zaHlen, dreI Meldungen

51% aller Internetnutzer in Deutschland waren im vergangenen Jahr mit dem Smartphone oder Tablet online. Damit ist der Anteil

der mobilen Surfer innerhalb eines einzigen Jahres um mehr als zehn Prozentpunkte gestiegen.

4,4% der Vorstandsposten in Deutschlands Top-200-Unternehmen sind derzeit mit Frauen besetzt. In den weitaus meisten

Unternehmen sind Frauen allerdings überhaupt nicht in Vorstand bzw. Geschäftsführung vertreten.

VorsTände BleIBen MännerkluBs200 umsatzstärkste Unternehmen in Deutschland, ohne Banken/Versicherungen

Quelle: Statistisches Bundesamt, März 2014

Quelle: DIW, März 2014

332 000 neue Arbeitsplätze sind seit dem Jahr 2000 in der Alten- und Kranken-

pflege entstanden. Dies entspricht fast einem Drittel aller zusätzlichen Jobs im Gesundheitssektor in Deutschland.

nIe MeHr offlIneVon allen Internetnutzern sind auch unterwegs online

anHalTender Pflege-BooMBeschäftigungszuwachs von 2000 bis 2012

Quelle: Statistisches Bundesamt, März 2014

37 %

2012 2013

51 %

Unternehmen mit Frauen im Vorstand: 17,9 %

Frauenanteil an allen Vorstandsposten: 4,4 %

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Gesundheitswesen insgesamt

in ambulanter/stationärer Pflege

in Praxen

in Krankenhäusern

7Mitbestimmung 4/2014

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von spanien nach Duisburg Werkvertragsarbeiter setzen deutsche Arbeitsverträge durch

streikbereitschaft wächst

Bei ThyssenKrupp in Duisburg haben jetzt 55 spanische Kollegen ihre Arbeit aufgenommen – nach dreimonatigen Sprach- und Integrationskursen. Die überwiegend jungen Ingenieure, Schmelzer und Facharbeiter kommen allesamt aus Sagunto bei Valencia. Dort hat die Thyssen-Tochter Galmed im vergangenen Jahr ein Werk mit 165 Mitarbei-tern geschlossen. Doch weil das Betriebskomitee von ThyssenKrupp Galmed zusammen mit dem europäischen Konzernbetriebsrat und der beratenden spanischen Ge-werkschaft CCOO einen innovativen Sozialplan ausge-handelt hat, erhalten die 55 spanischen ThyssenKrupp-Werker im Konzern einen Ersatzjob. Auslandseinsatz statt Abfindung heißt die Devise.

Rund 150 rumänische und bulgarische Beschäftigte auf der Papen-burger Meyer Werft haben das Bild vom schwachen Werkvertrags-arbeiter korrigiert. Durch einen spontanen zweitägigen Streik konn-ten sie im März Verhandlungen mit ihrem Arbeitgeber, dem Emder Personaldienstleister Dirks, erzwingen. Arbeiter, Betriebsrat und die IG Metall setzten darin den Austausch aller osteuropäischen Ar-beitsverträge durch deutsche durch. Nun erhalten die Arbeiter eine deutsche Krankenversicherung, angemessene Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall und Urlaubsgeld. Zuvor waren viele von ihnen nur mit einer Reisekrankenversicherung ausgestattet. Das hatte bei Arztbesuchen in Deutschland oft zu Schwierigkeiten geführt. Au-ßerdem betrug die Lohnfortzahlung für Langzeitkranke durch ost-europäische Kassen nur rund 200 Euro monatlich.

„Dass die Kollegen aus Rumänien und Bulgarien für ihre Rechte eintreten, ist angesichts ihrer oft schwierigen Arbeits- und Lebens-bedingungen richtig“, sagt Meinhard Geiken, Bezirksleiter der IG Metall Küste. Werkverträge sind im deutschen Schiffsbau weit ver-breitet. Nach Angaben der IG Metall arbeiten in dieser Branche 16 800 Beschäftigte fest, 6500 Menschen für Werkvertragsfirmen, weitere 2700 als Leih arbeiter. Die Gewerkschaft fordert vom Ge-setzgeber, dass Mit bestimmungsrechte des Betriebsrats auch bei Werksvertragseinsätzen gelten müssen. „Für andere Betriebe sollte dieser Streik eine Warnung sein. Wir werden gegen jede Art von Missbrauch bei Werkverträgen vorgehen“, sagt Geiken. ■

2013 haben in Deutschland rund eine Million Menschen gestreikt. Das sind zwar rund 200 000 weniger als im Jahr zuvor, ist aber ein Vielfaches mehr als etwa in den Jahren 2009 bis 2011. Das geht aus der Arbeitskampfbilanz 2013 des WSI der Hans-Böckler-Stiftung hervor. Auch die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage schwankt enorm: 551 000 Ausfalltage standen 2013 zu Buche, und damit 80 000 weniger als 2012, aber dreimal so viele wie beispielsweise 2010. „In den vergangenen zehn Jahren ist kein eindeutiger Trend erkennbar“, sagt Heiner Dribbusch, Arbeitskampfexperte am WSI. Das Institut hat aber festgestellt, dass die Zahl der Konflikte erheb-lich zugenommen hat. „Beschäftigte sind immer weniger bereit, Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen hinzunehmen“, sagt Dribbusch. Freilich liegt Deutschland mit durchschnittlich 16 Streik-tagen pro Tausend Beschäftigten (in den Jahren 2005 bis 2012) auf Rang neun – weit hinter Spitzenreiter Frankreich mit 150 Tagen. ■

THYSSENKRUPP VALENCIA SCHIFFBAU

ARBEITSKäMPFE

Spanische Stahlwerker mit Familien vor der TK-Steel-Verwaltung

Nun stehen die spanischen Kollegen in Deutschland vor einem Neuanfang. Sie haben die Möglichkeit des Sozial-plans genutzt, nach intensiven Integrations- und Sprach-kursen am Konzernstandort in Duisburg weiter zuarbeiten. Teilweise sind ihre Familien mitgekommen, denn die Aus-sichten sind gut. Die neuen Mitarbeiter haben unbefriste-te Verträge erhalten und sind den deutschen Kollegen komplett gleichgestellt. „Alle gehen davon aus, langfris-tig hierzubleiben“, sagt Wolfgang Krause, Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats bei ThyssenKrupp. Er freut sich über die erfolgreichen Verhandlungen. Ausschlagge-bend für die Durchsetzung des Sozialplans sei der hohe Druck gewesen, den die Arbeitnehmerseite mit Demons-trationen in Spanien ausgelöst habe, aber auch die Ko-operationsbereitschaft des Vorstands. „Wir haben ge-zeigt, dass Arbeitsplätze durch eine europäische Perspektive auch in anderen Konzernunternehmen geret-tet werden können, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen.“ ■

8 Mitbestimmung 4/2014

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„Nein. Das Problem sind die miserablen Angebote der Versicherungswirtschaft, die den Vorsorgemarkt be-herrschen. Unverständlich und ineffizient wie sie sind, bergen sie zunächst einmal für den Arbeitnehmer Risiken. Etwa, dass sein mühsam angespartes Kapital später nur zu sehr ungünstigen Bedin-gungen verrentet wird. Da muss er schon sehr alt werden, damit sich das rentiert, was er reingesteckt hat! Und auch der Arbeitgeber trägt ein Risiko. Es kann sein, dass er Geld nachschießen muss, wenn der Finanzdienstleister nicht einmal den Werterhalt der eingezahlten Beträge sichern kann. Viele können heute noch kaum erahnen, wie groß dieses Risiko ist! Die oft angepriesenen günstigen Kosten bei der ‚Betrieblichen‘ sind immer seltener zu finden, und ihre Intrans-parenz ist genauso schlimm wie bei den Riester-Renten. Verbrau-cherschutz? Größtenteils Fehlanzeige. Denn formal ist der Versiche-rungsnehmer ja der Arbeitgeber, und der gilt eben nicht als echter Verbraucher. Konsequenz aus dem Dilemma: Wir brauchen neue Lösungen für die Altersvorsorge, vielleicht ein Altersvorsorgekonto. Erst, wenn die Politik neue Lösungen forciert, kann man über ein Obligatorium nachdenken. Heute würde eine Pflicht zur Betriebs-rente nur den Versicherern helfen.“ ■

„Ja, aber mit einer Opting-out-Regelung, bei der der Arbeitnehmer automatisch einen bestimmten Prozentsatz seines Bruttogehalts in die betriebliche Altersvorsorge einzahlt, wenn er nicht aktiv widerspricht. Wer seinen Lebensstandard im Alter sichern will, muss auf mehr als nur die gesetzliche Rente bauen. Die ergän-zende Betriebsrente ist dafür ein verlässlicher und finanziell attrak-tiver Partner. Bisher verfügen aber nur etwas mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger über eine entsprechende Anwartschaft. Nur etwa vier Prozent der Bezüge im Alter kommen aus betrieblicher Altersvorsorge. Den Vorteil, den dieses System ihnen bringen könn-te, haben viele also noch nicht erkannt.

Ohne Betriebsrente geht es eigentlich nicht. Mit einer Opting-out-Regelung kann die Verwirklichung dieses Grundsatzes gelingen. Damit gäbe es eine Lösung, die gleichzeitig freiwillig und umfassend wirken würde. Bereits jetzt besteht mit § 1a des Betriebsrenten-gesetzes ein rechtlicher Anspruch auf Entgeltumwandlung. Wenn der Arbeitgeber bei einer Opting-out-Regelung zumindest die auf seiner Seite gesparten Sozialversicherungsbeiträge dazulegt, sollte niemand dazu Nein sagen.“

„Sollte es eine Pflicht zur Betriebsrente geben?“

PeTer weIss ist Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

axel kleInleIn ist Vorstandssprecher des Bundes der Versicherten e.V. mit Sitz in Hamburg.

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PRO & cONTRA

Mitbestimmung 4/2014 9

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Meyer: Hilfe vom Freund, von einem Professor und von der Gewerkschaft

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Der Weg nach obenBIldungsaufsTeIger Warum haben manche Leute auch bei schlechten Startchancen Erfolg im Bildungssystem, andere nicht? Wissenschaftler suchen nach Antworten, von denen Pädagogen und Politiker lernen können. Sicher ist: Förderer und Paten spielen eine wichtige Rolle.

Von andreas krafT, Journalist in Bamberg

11Mitbestimmung 4/2014

TITEL

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Als Rita Meyer studieren wollte, sagten ihre Eltern nur: „Ein Studium? Das brauchst du nicht!“ Vater und Mutter waren im Krieg groß geworden. Er hatte einen Abschluss von

der Hauptschule, sie gar keinen. Beim Abitur hatten sie ihre Tochter unterstützt, auch bei der anschließenden Leh-re. Aber als Rita Meyer ihre gut bezahlte Stelle beim Rei-fenhersteller Continental kündigen wollte, um sich an der Uni einzuschreiben, konnten sie es nicht verstehen.

„Meine Mutter redet bis heute nicht darüber“, sagt Meyer. Sie verleugnet quasi den Bildungsaufstieg ihrer Tochter. Dabei hätte sie genug Grund, stolz zu sein. Rita Meyer schloss schließlich nicht nur ihr Magisterstudium in Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Soziologie und Phi-losophie zügig und erfolgreich ab, sondern promovierte anschließend und legte eine Karriere als Wissenschaftlerin hin. Heute ist sie Professorin in Hannover und Mitglied des Kuratoriums der Hans-Böckler-Stiftung.

Ein schwieriges Verhältnis zu den Eltern ist bei Bil-dungsaufsteigern häufig, wie Aladin El-Mafaalani, Politik-Professor an der FH Münster, in seinen Studien gezeigt

hat. Inzwischen hat er mehr als 40 Interviews geführt, hat Lebenswege von Professoren, Richter, Managern oder Politikern recherchiert und sie dann um ein Gespräch gebeten. Es sind Leute in Spitzenpositionen, die aus der Unter- oder aus der Mittelschicht stammen. Bei den Interviews verschweigt El-Mafaa-lani absichtsvoll, dass er die Bedingungen des Bildungsaufstieges erforscht. Denn mit dieser Frage im Hinterkopf, sagt er, werde das eigene Leben anders erzählt: „Die Antworten sind dann vorgeformt von den öffentlichen Debatten.“

Was macht am Ende den Erfolg aus? El-Mafaalani hat beobachtet, dass Bildungsaufsteiger die Motivation für ein Studium selbst entwickeln müssen. Während in Akademikerhaushalten Bildung ein Wert an sich ist, müssen Auf-steiger erst erkennen, dass der Weg sich lohnen kann. Die Eltern reagieren dann oft skeptisch. Den Milieuwechsel ganz allein zu vollziehen sei daher kaum möglich, sagt der Politik-Professor: „Alle Interviewten hatten einen sozialen Paten. Jemanden, der ihnen das Selbstvertrauen gegeben hat, dass sie das auch schaffen können.“ In der Regel seien das reine Zufallsbegegnungen: Eltern von Schulfreunden, Nachbarn, Vorgesetzte, Parteifreunde.

Auch Rita Meyer hatte so einen Paten: Ihr damaliger Freund und späterer Mann hatte studiert und ermutigte sie, an die Uni zu gehen. Später – bei der Promotion – war es ein Professor, der ihr zusprach: Sie solle nicht unter ihren Möglichkeiten bleiben. Auch die Einbindung in die Gewerkschaften half. Während ihrer Ausbildung bei Continental war Meyer Mitglied in der JAV.

Vorlesung (In aacHen), leBen IM sozIalen BrennPunkT (In gIessen): Wer die Leiter erklimmt, bewegt sich nach neuen Codes.

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Ihr Studium finanzierte sie mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung. Auch aus Düsseldorf kam immer wieder Zuspruch.

Entscheidend sei, so ihr Kollege El-Mafaalani, aber auch, dass die jungen Menschen selbst entscheiden, an sich zu arbeiten, sich zu verändern – oft in einer emotionalen Krise. Einen konkreten Masterplan für den sozialen Aufstieg hätten seine Interviewpartner aber nicht gehabt: „Ziel war nicht das Ende der sozialen Leiter, sondern immer die nächste Sprosse.“ Gefragt, ob man für den sozialen Aufstieg auch eine besondere Persönlichkeitsstruktur braucht, ist er vorsichtig. Nach seinen Studien entscheidet nicht unbedingt der Charakter über den Aufstieg – aber der Aufstieg verändert den Charak-ter. Denn zu einem Aufstieg in die Elite braucht man eine „enorme Trennungskompetenz“, wie er feststellt. Um sich in der neuen Schicht behaupten zu können, müssen die Aufstei-ger ihre alten Gewohnheiten, Vorlieben und Ansichten oft aufgeben. Mit dem Bildungsaufstieg verändern sich auch die Interessen: Die Aufsteiger hören plötzlich andere Musik, tra-gen andere Kleidung, mögen andere Filme. Sie passen sich damit auch ihrem neuen Milieu an, legen alten Verhaltensweisen ab – und werden ein Stück weit zu anderen Menschen. Selbst Politiker – wie beispiels-weise Gerhard Schröder –, die mit ihrer einfachen Herkunft nachgerade ko-kettieren, bewegen sich in ihrem neuen Umfeld nach den dort gültigen Codes:

trinken teuren Wein, tragen Designer-Anzüge, überneh-men sogar politische Ideen. „Dass Schröder als Genosse der Bosse galt, war ihm offensichtlich nicht peinlich“, sagt El-Mafaalani. „Er schien sich darin zu gefallen.“ Daran merkte er, dass er oben angekommen war.

leBen zwIscHen den welTen_ Doch die Folgen bleiben nicht aus. Das gilt nicht nur für Schröder, sondern für viele Bildungsaufsteiger. Das alte Umfeld reagiert skeptisch

bis verärgert auf die Veränderungen. Oft wird den Auf-steigern gar Verrat vorgeworfen. Familie und Freunde erkennen den geliebten Menschen einfach nicht mehr wieder. „Für den Aufstieg müssen gerade die extre-

„Ein Studium? Das brauchst du nicht! Meine Mutter redet bis heute nicht darüber.“

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men Bildungsaufsteiger die Loyalität zu ihrem alten Mi-lieu weitgehend aufkündigen“, sagt El-Mafaalani. „Sonst geht es nicht.“ Rita Meyer hat das an sich selbst beobach-tet. Als sie einen Lehrauftrag an der Bundeswehrhoch-schule in Hamburg hatte, kleidete sie sich anders. „Um mich herum waren alle uniformiert“, erinnert sie sich. „Also habe ich mich selbst auch uniformiert und bin nur im Hosenanzug an die Uni.“ Sie wollte sich anpassen. Auch um sich sicher zu fühlen. Heute hält sie ihre Vorle-sungen auch mal in Jeans und T-Shirt.

unsIcHTBare grenzen_ Auch Ingrid Miethe, Bildungs-forscherin an der Universität Gießen, kennt den Anpas-sungsdruck. „Aber man darf das nicht überwerten“, sagt sie. „Natürlich bewegen sich die Aufsteiger in einem neuen Umfeld und müssen sich dem auch anpassen.“ Doch ihnen gelinge es meist, sich in beiden Welten zu bewegen. „Sie switchen die Codes mühelos“, hat Miethe beobachtet. „An der Uni sprechen sie hochdeutsch und zu Hause Dia lekt. Hier trinken sie Wein, dort Bier.“ Für Miethe ist das auch eine Kompetenz: Die Aufsteiger würden sich das Beste aus beiden Welten holen. Ein gewisses Gefühl der Fremdheit sei bei jungen Menschen, die an die Hochschule kommen, vollkommen normal – auch unter Akademikerkindern. „Die meisten ziehen dann zu Hause aus. Zudem bewegen sie sich an der Universität in einer vollkommen neuen Welt.“

Doch scheint es auch unsichtbare Grenzen zu geben, die längst nicht alle überspringen. Laut der jüngsten Sozialerhebung des Deutschen Studentenwer-kes vom Sommer 2013 besuchen von 100 Akademikerkindern 77 eine Hoch-schule. Dagegen nehmen nur 23 von 100 Nicht-Akademikerkindern ein Stu-dium auf. Eine andere Untersuchung der Bildungsexperten Markus Lörz vom HIS-Institut für Hochschulforschung in Hannover und Steffen Schindler von der Universität Mannheim hat zudem gezeigt, dass Kinder von Arbeitern mit Hauptschulabschluss heute zwar öfter Abitur machen, aber trotz Hochschul-zulassung seltener ein Studium aufnehmen als in den 70er Jahren.

Hier zeigt sich, wie stark soziale Milieus wirken können. „Den Aufsteigern fehlen oft die Ansprechpartner für den Bildungsaufstieg“, sagt auch Miethe. Die Akademikerkinder könnten einfach ihre Eltern fragen, die Aufsteiger müssten vieles mit sich selbst ausmachen. Immer wieder drehen sie dann die gleichen Gedanken um, denken, sie seien nicht gut genug, um an der Uni Erfolg zu haben. Und wenn etwas nicht richtig läuft, suchen sie die Fehler meist bei sich selbst. „Es ist unter Aufsteigern sehr verbreitet, dass sie gar nicht merken, dass andere schlechter sind.“ Es sei daher wichtig, dass ihnen jemand – quasi als Elternersatz – die Selbstzweifel nehme.

MacHT der PolITIk_ Ohne diese Hilfe hängt es auch vom Zufall ab, ob der soziale Aufstieg gelingt. „Es herrscht ein Mangel an Beratungsangeboten“, sagt Miethe. Es gebe nur die normale Studienberatung, die dabei hilft, das Studium zu organisieren, und die psychologische Beratung, an die man sich beispielsweise mit chronischer Prüfungsangst oder Depressionen wenden kön-ne. Bildungsaufsteigern biete die Uni dagegen wenig an. Projekte wie arbei-terkind.de begrüßt die Professorin daher ausdrücklich. In einem Projekt für

aufsTIegsforscHer el-MafaalanI: „Es sind die feinen Unterschiede, die den Ausschlag geben.“

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14 Mitbestimmung 4/2014

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die Hans-Böckler-Stiftung hat sie das Portal unter die Lupe genommen und festgestellt: Es hilft wirklich beim Aufstieg. Beim Diversity-Management an den Hochschulen werde die soziale Schicht meist nicht mitgedacht. In erster Linie gehe es dort immer nur um Geschlecht, Migrationshintergrund, Behin-derung. Für die spezifischen Schwierigkeiten der Aufsteiger fehle das Prob-lemverständnis. Auch El-Mafaalani hält Mentorenprogramme für einen Weg, um Bildungsaufsteigern dabei zu helfen, einen sozialen Paten zu finden, und das nicht allein dem Zufall zu überlassen. In ihrer Forschung hat sich Ingrid Miethe mit den Bildungsaufstiegen in beiden deutschen Staaten befasst. In den 50er Jahren förderte das DDR-Regime, dass Kinder aus einfachen Verhältnissen ein Studium aufnahmen, um eine neue sozialistische Elite zu schaffen. Und in den 70er Jahren öffnete die Bundesrepublik die Hoch-schulen. Für Miethe sind das „zwei Wellen“, die Auf-steiger an die Hochschulen spülten. So unterschiedlich die Bildungsreformen und die gesellschaftlichen Syste-me waren, so zeigte sich doch, wie stark der Staat Ein-fluss nehmen kann auf Bildungschancen. Beide Reformen führten dazu, dass es Gruppen von Bildungsaufsteigern gab, denen mit staatlicher Hilfe der Weg geebnet wurde. In dem Bewusstsein, ein Stück Weltgeschichte zu schreiben, sei ein Gemeinschaftsgefühl entstanden. „Die Arbeiterkinder in der DDR wussten damals, dass sie keine Einzelkämpfer sind“, sagt Miethe. „Sie konn-ten sich outen, sich so erkennen und sich über ihre Erfahrungen in dieser fremden Welt Hochschule austauschen.“

Unter ganz anderen Vorzeichen veränderte sich auch in der Bundesrepub-lik die akademische Welt. Sie wurde offener. Nicht nur Talar und Perücke verschwanden, auch die studentische Selbstverwaltung kam dazu und 1971 das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das Bildungsreserven mobilisieren und Bildungschancen gerechter verteilen sollte. „Etwa die Hälfte der Studie-renden sind heute die Ersten in ihrer Familie, die einen Hochschulabschluss machen“, sagt die Bildungsforscherin Miethe. So gesehen sind Bildungsauf-steiger keine Minderheit an deutschen Hochschulen, sondern es gibt sie in relativ hoher Zahl. „Aber man registriert diese junge Leute aus Nicht-Akade-mikerfamilien nicht als Welle, meint Miehte. Sie plädiert entschieden dafür, die Defizitperspektive auf diese Gruppe endlich aufzugeben. „Diejenigen, die es an die Universität schaffen, sind eine mehrfach positiv selektierte Gruppe“, meint Miethe. „Weil die Eltern nicht helfen können, haben sie es alleine dahin geschafft. Sie haben viel Kampfgeist und Ausdauer.“ Daher würden sie an der Hochschule in der Regel auch nicht scheitern. Niemand muss sich in der akademischen Welt fremd fühlen, der zu einer so großen Gruppe gehört.

der aufsTIeg HaT seInen PreIs_ Aladin El-Mafaalani schlägt vor, früher anzusetzen, um die vorhandenen Aufstiegspotenziale wirklich auszuschöpfen. In der Schule müsse es „verstärkt auch um Erziehung gehen“, fordert er. Es seien oft die feinen Unterschiede, die den Ausschlag geben. Da sei schon viel gewonnen, wenn Kinder etwa auch in der Schule essen und mit bürgerlichen Tischgewohnheiten vertraut gemacht werden. In Skandinavien sei es zudem üblich, dass Lehrer Arbeitsgemeinschaften anbieten. Den Schülern bringen sie dort meist ihr Hobby nah. „Die Kinder lernen den Lehrer so als Menschen

kennen“, sagt der Politik-Professor. „Und dabei bekom-men sie Einblick in das Leben eines Akademikers.“ In der Schule könnten so Barrieren zwischen sozialen Schichten abgebaut werden.

Doch der Weg nach oben hat seinen Preis. Das hat El-Mafaalani immer wieder beobachtet: „Dass der Auf-stieg psychisch und mental einen Preis fordert, erkennt man bei allen.“ Die Kindheit und Jugend, sagt er, würden – gemessen an den neuen Codes und Maßstäben – teilweise

entwertet. Zudem müssten sich die Aufsteiger permanent selbst kontrollieren, damit sie nicht in alte Gewohnheiten und Muster zurückfallen. Auch sei das Verhältnis zu den Eltern oft belastet. Doch den Aufstieg, sagt er, wolle kei-ner der Interviewten rückgängig machen. Die Vorteile scheinen klar zu überwiegen.

Das sieht auch Rita Meyer so – trotz allem. Da ist das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter, eine gescheiter-te Ehe, der Verzicht auf eigene Kinder. Ob es sich trotzdem für sie gelohnt hat? „Auf jeden Fall“, sagt die 47-Jährige. Sie liebt ihre Arbeit – vor allem die Autonomie, die sie als Professorin hat. Derzeit untersucht sie in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt Bedingungen für den Bildungsaufstieg über den dritten Bildungsweg in naturwissenschaftlichen und technischen Berufen. In einer Nachwuchsforschergruppe, die ebenfalls von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wird, betreut sie nun selbst junge Bildungsaufsteigerinnen bei der Promotion: „Als ich sie gefragt habe, ob sie eine Doktorarbeit schreiben wollen, waren sie vollkommen von den Socken“, sagt Meyer schmunzelnd. Sie ist selbst zur sozialen Patin ge-worden. Eine Sache aber freut sie besonders: Die Familien ihrer Doktorandinnen sind unheimlich stolz auf ihre Töch-ter. Vielleicht ist das oft schwierige Verhältnis zu den El-tern, das El-Mafaalani häufig bei Aufsteigern beobachtet hat, doch kein Naturgesetz. ■

„Es ist gut, wenn die Schüler möglichst früh einen Einblick in das Leben eines Akademikers erhalten.“

ALADIN EL-mAfAALANI

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Eine unglaubliche verschwendungnacHwucHswIssenscHafTler An den Hochschulen sind befristete Verträge die Regel, die Karrierewege sind oft unsicher. Talentierte junge Menschen haben etwas Besseres verdient. Die Gewerkschaften ver.di und GEW machen deshalb Druck.

Von joacHIM f. Tornau, Journalist in Kassel

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Langenbrinck, hätten immer noch Vorbehalte, sich als Arbeitnehmer wahrzunehmen und für ihre Interessen zu kämpfen. „Das hat wohl auch mit Standesdünkel zu tun“, meint die 29-jährige Doktorandin. „Manche haben Angst, als Wissenschaftler, der sich immer so dif-ferenziert ausdrückt, auch mal etwas Politisches zu sagen.“ Langen-brinck sieht das anders. Sie ist Gewerkschaftsmitglied, engagiert sich in der ver.di-Betriebsgruppe und gehört nun auch zu den Akti-ven des Projekts „Fairspektive“, das die Dienstleistungsgewerkschaft an der HU und sechs weiteren deutschen Hochschulen betreibt.

Ziel des Projekts: Die wissenschaftlichen Mitarbeiter, traditionell nicht eben eine Stammklientel der Gewerkschaften, sollen sich orga-nisieren. „Wir wollen, dass mit ihnen geredet wird, nicht über sie“, sagt Britta Hamann, die sich bei ver.di zusammen mit einem weiteren Kollegen um „Fairspektive“ kümmert. „Aber warum sollte ein Ar-beitgeber mit ihnen verhandeln, wenn sie alleine auftreten?“ Ver-handlungsbedarf gibt es nicht bloß, wenn, wie jetzt in Berlin, Spar-maßnahmen und Stellenstreichungen abzuwehren sind. „Es geht“, erklärt Hamann, „um faire Behandlung und faire Perspektiven fürs Berufsleben.“ Ganz grundsätzlich. Und da liegt einiges im Argen.

fasT 90 ProzenT BefrIsTeTe joBs_ „Absurd“, dieses Wort fällt immer wieder, wenn Anne Krüger von den Arbeitsbedingungen an der Hochschule erzählt. Die promovierte Soziologin, aktives

Wenn der Akademische Senat der Berliner Humboldt-Universität dieser Tage zu seinen Sitzungen zusam-mentritt, stößt er nicht nur, wie so oft, auf protes-tierende Studenten. Er muss sich auch mit

wütenden Wissenschaftlern auseinandersetzen, mit Angehörigen des akademischen Mittelbaus. Mehrfach schon haben Doktoranden und Postdocs den Weg der Senatsmitglieder zum Sitzungssaal mit großen Sprechblasen gepflastert. Von Stellen, die auslaufen und nicht ver-längert werden, war darin die Rede. Es folgten schlichte, drängende Fragen: Wie soll ich meine Dissertation abschließen? Oder: Wer soll jetzt die Raumvergabe übernehmen?

Der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin, die sich Exzellenz-universität nennen darf, ist das Geld ausgegangen. Die Haushalts-Chefin der Hochschule machte dafür Tarif- und Besoldungserhö-hungen, Pensionslasten, gestiegene Energiepreise und die Inflation verantwortlich, die durch die Hochschulfinanzierung des Landes nicht ausgeglichen worden seien – aber auch über Managementfeh-ler wird spekuliert. Egal ob die Uni zu kurz gehalten wird oder sich schlicht verrechnet hat: Im Januar sickerte durch, dass deshalb in den nächsten Jahren auch Stellen von wissenschaftlichen Mitarbei-tern eingespart werden sollen.

Diese Nachricht hat auch die Beschäftigten mobilisiert – jeden-falls einige von ihnen. Viele Kollegen, sagt die Historikerin Johanna

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lesung (In HaMBurg),

Ver.dI-BuTTon: „Ich bin eine halbe Stelle.“

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oder ihre Universitätskarriere beerdigen müssen. Bei Promotions- und Habilitationsstellen, verlangte die Bundesregierung, sollte sich die Befristungsdauer an der Zeit orientieren, die für den Abschluss einer solchen Qualifikationsarbeit erforderlich ist, und bei Drittmit-telstellen am gesamten Projektzeitraum. Und schließlich sollten die

Hochschulen sich endlich auch mal um Personal-planung und Personalentwicklung kümmern. All das sind Punkte, die sich seit Langem auch in den Forderungskatalogen von GEW und ver.di zum aka-demischen Mittelbau finden.

Also: Problem erkannt, Problem gebannt? Kei-neswegs. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundes-regierung enthält, obschon er „Handlungsbedarf“

feststellt, zu alledem wenig Konkretes. Sehr allgemein wird eine „Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes“ angekündigt. Was das heißt, bleibt offen. Ob etwa, was den Gewerkschaften be-sonders am Herzen liegt und die SPD als Oppositionspartei noch gefordert hatte, die sogenannte Tarifsperre, gestrichen wird. Es ist bisher nicht möglich, die laxen Befristungsvorschriften des Gesetzes durch strengere tarifvertragliche Regelungen zu ersetzen. „Wenn die Tarifsperre fällt, werden wir das Thema sofort in unsere Tarifver-handlungen aufnehmen“, sagt der Berliner ver.di-Sekretär Matthias Neis.

Was ver.di und die GEW für die wissenschaftlichen Mitarbeiter erreichen wollen, geht über die vagen Versprechungen der Bundes-regierung weit hinaus: Teilzeit soll nur noch begründete Ausnahme sein. Wer eine Promotionsstelle hat, soll seine Dissertation auch wirklich während der bezahlten Arbeitszeit schreiben können – und nicht mehr, wie bisher zumeist, mit anderen Tätigkeiten überhäuft werden. Und für Daueraufgaben sollten grundsätzlich Dauerstellen

Mitglied der Gewerkschaft GEW, ist ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HU – und hat kürzlich eine Stelle ergattert, wie es sie, so sagt sie, „eigentlich nicht mehr gibt“. Befristet zwar, aber immerhin auf sechs Jahre. Und Vollzeit. „Alle in der Wissenschaft beneiden mich darum“, sagt die 32-Jährige. „Aber wenn ich außer-halb der Uni darüber spreche, schaue ich in verständnislose Gesich-ter.“ Es ist ja auch schwer zu begreifen

Denn anders als in der freien Wirtschaft können Wissenschaftler bis zu zwölf Jahre lang befristet beschäftigt werden, für jeweils sechs Jahre vor und nach der Doktorarbeit. In beliebig vielen und beliebig kurzen Teilstücken. Und wer es danach nicht auf einen der raren Professorenposten schafft, muss gehen. Trotz aller Erfahrung und aller erworbenen Meriten. Einzige Alternative: Jobs in Forschungs-projekten, die durch Drittmittel finanziert werden, etwa von Stif-tungen. Dann sind sogar noch weitere Kettenbefristungen erlaubt, im Prinzip endlos. „Absurd“, sagt Anne Krüger.

sPäTe enTscHeIdung ÜBer Professuren_ Die Auswirkungen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, das im Jahr 2007 von der damaligen Großen Koalition beschlossen wurde, hat das HIS-Insti-tut für Hochschulforschung bereits vor drei Jahren im Auftrag der Bundesregierung evaluiert. Das Ergebnis war erschreckend: Jeder zweite Doktorand und Postdoc hatte demnach einen Arbeitsvertrag, der kürzer lief als zwölf Monate. Im vergangenen Jahr legte der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, ebenfalls für das Bundesbildungsministerium verfasst, mit weiteren alarmierenden

Zahlen nach: Der Anteil der wissenschaftlichen Mitarbeiter, die nur befristet eingestellt sind, ist mittlerweile auf nahezu 90 Prozent ge-stiegen. Fast die Hälfte davon hat überdies bloß eine Teilzeitstelle.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung sprach danach zwar immer noch davon, dass sich das Wissenschaftszeitvertragsgesetz „grund-sätzlich bewährt“ habe. Doch dass an den Hochschulen alles super läuft, wollte auch sie nicht mehr behaupten. Der wissenschaftliche Nachwuchs brauche „planbare, verlässliche und transparente Kar-rierewege“, erklärte das damals wie heute von Johanna Wanka (CDU) geführte Bundesbildungsministerium, sah aber vor allem die Länder und die Hochschulen selbst in der Pflicht. So seien das Ver-hältnis zwischen befristeten und unbefristeten Stellen „zu überprü-fen“ und Modelle auszubauen, in denen wissenschaftlichen Mitar-beitern zu Beginn ihrer Laufbahn der weitere Aufstieg und die Entfristung verbindlich zugesagt werden, wenn sie die vereinbarten Leistungen erbringen. Derzeit sind Wissenschaftler zumeist im fünf-ten Lebensjahrzehnt, ehe sich herausstellt, ob sie Professor werden

Draußen, in der nicht-akademischen Welt, würden die Arbeitsverträge, die deutsche Hochschulen ihrem wissenschaftlichen Personal anbieten, von kaum jeman-dem leichten Herzens unterschrieben.

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unlIeBsaMe zuarBeITen_ Konkurrenzdenken und Selbstaufwer-tung, die im wissenschaftlichen Feld belohnt werden, fänden sich besonders bei Mittelbau-Angehörigen mit akademischem Eltern-haus, schreiben die Sozialwissenschaftlerinnen. Dagegen würden Bildungsaufsteiger eher die „unliebsamen Zuarbeiten“ erledigen. „Sie arrangieren sich vergleichsweise genügsam mit den gegebenen Bedingungen und stellen auch sehr viel stärker ihre eigenen Interes-sen zurück.“ Für die Gewerkschaften sind dicke Bretter zu bohren an den Universitäten. Sie hoffen deshalb nicht allein auf den Gesetz-geber, sondern drängen auch auf verbindliche Regelungen an den einzelnen Hochschulen.

Einen Kodex „Gute Arbeit in der Wissenschaft“, auf den sich die Universitäten verpflichten sollen, schlägt die GEW vor – und will, dass Bund und Länder nur noch Hochschulen fördern, die sich ein solches Regelwerk gegeben haben. „Es braucht einen Kultur-wandel an den Hochschulen“, sagt ver.di-Sekretär Neis. „Dazu muss man sie zwingen.“ Nicht zuletzt natürlich mit Druck von unten. Über Informationsveranstaltungen, Unterschriftensammlungen oder Mailings versuchen die beiden Gewerkschaften, wissenschaftliche Mitarbeiter zu erreichen und zu kollektivem Engagement zu bewe-gen. Damit eines Tages vielleicht möglich wird, was heute noch undenkbar scheint: Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe.

„Das ist ein gletscherhaft langsamer Prozess“, räumt Neis ein. Erfolge aber gibt es schon jetzt: An der Universität Halle-Witten-berg – einer der Hochschulen, die sich ver.di im Rahmen des Projekts „Fairspektive“ vorgenommen hat – ist eine Dienstvereinbarung über bessere Arbeitsbedingungen für den Mittelbau auf dem Weg. Vie-lerorts sind gewerkschaftliche Hochschulgruppen entstanden oder wiederbelebt worden. Und das „Templiner Manifest“, mit dem die GEW 2010 ihre Kampagne für eine Reform von Berufswegen in der Wissenschaft startete, hat mittlerweile mehr als 10 000 Unterzeich-ner gefunden. „Wir haben gemerkt, dass wir damit einen Nerv ge-troffen haben“, sagt GEW-Vize Keller. „Es scheinen viele nur darauf gewartet zu haben.“ ■

eingerichtet werden. „Zeitverträge“, sagt der stellvertretende GEW-Vorsitzende Andreas Keller, „haben bei grundständiger Lehre, in Wissenschaftsmanagement und Verwaltung nichts verloren.“ Un-befristete Jobs im akademischen Mittelbau braucht es nach Ansicht der Gewerkschaften aber auch, um dem wissenschaftlichen Nach-wuchs langfristige Alternativen zur Professur bieten zu können.

„Die Entscheidung, ob jemand an der Hochschule bleiben kann oder nicht, muss wesentlich früher fallen als heute“, sagt Keller. Doch solche Regelungen sind in Deutschland, von gelegentlichen Entfris-tungszusagen bei Juniorprofessoren abgesehen, äußerst rar gesät. Als erste deutsche Hochschule führte 2012 die TU München ein solches Modell nach US-amerikanischem Vorbild ein: Postdocs steigen dort jetzt innerhalb von sechs Jahren verlässlich vom „Assistant Professor“ zunächst zum „Associate Professor“ und schließlich zum „Full Pro-fessor“ auf – positive Evaluierungen vorausgesetzt. Die Exzellenz-universität hatte Sorge, sonst keine herausragenden Forscher mehr binden zu können.

dIe BesTen Verlassen deuTscHland_ Dass die Arbeitsbedin-gungen für Wissenschaftler hierzulande eher abstoßend wirken, hat kürzlich auch die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) in ihrem jährlichen Gutachten für die Bundesregierung bestä-tigt: „Deutschland verliert die besten Wissenschaftler durch Abwan-derung“, heißt es in dem Ende Februar veröffentlichten Papier. „Insbesondere für die Besten scheint das deutsche Forschungssystem nicht attraktiv genug zu sein.“ Für die Berliner Soziologin Anne Krüger ist die Verschwendung, die sich die Hochschulen mit dem derzeitigen System des „Hire and fire“ leisten, ein weiterer Fall für die Bewertung „absurd“.

Statt auch gute Leute nach spätestens zwölf Jahren aus dem Sys-tem zu kicken, müsste doch eigentlich alles dafür getan werden, sie zu halten. „Der hohe Personaldurchlauf tut den Universitäten nicht gut“, meint sie. „Forschung besteht nicht nur aus einem Geistesblitz pro Monat, sondern ist ein längerer Prozess.“ Auch die 32-Jährige weiß nicht, was aus ihr nach dem Auslaufen ihrer Sechsjahresstelle wird – trotz der Habilitation, über die sie dann wohl verfügen wird. „Die unsichere Zukunftsperspektive ist das größte Problem“, sagt ein Doktorand, der namentlich nicht genannt sein will. „An schlech-ten Tagen macht mir das massiv Angst.“ Rund 160 000 wissen-schaftliche Mitarbeiter gibt es in Deutschland, aber nur gut 600 Professuren werden im Durchschnitt jedes Jahr neu besetzt. Wer da nicht von vornherein aufgeben will, muss alles tun, um sich zu pro-filieren. Möglichst viele Publikationen, Tagungen, Auslandsaufent-halte, Preise. „Man muss eine wahnsinnige Sichtbarkeit erzeugen“, sagt der 37-jährige Soziologe. Bei diesem Wettrennen bleiben be-sonders oft Frauen auf der Strecke. Je höher die Karrierestufe in der Wissenschaft, desto geringer der Frauenanteil. Aber auch die sozi-ale Herkunft spielt eine Rolle, wie Andrea Lange-Vester und Chris-tel Teiwes-Kügler in einer von ver.di in Auftrag gegebenen Studie mit dem Titel „Zwischen W 3 und Hartz IV“ (W 3 ist die Besol-dungsstufe eines Lehrstuhlinhabers) herausgearbeitet haben.

Andrea Lange-Vester/Christel Teiwes-Kügler: zwIscHen w 3

und HarTz IV. Arbeitssituation und Perspektiven wissenschaft-licher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Opladen, Verlag Barbara Budrich 2013. 213 Seiten, 28 Euro

ver.di-Projekt „Fairspektive“: www.fairspektive.de

Das „Templiner Manifest“ der GEW: www.gew.de/Templiner_Manifest.html

Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs:www.buwin.de

mehr informationen

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InTerVIew NRW-Wissenschaftsministerin Svenja Schulze über ihre Pläne für mehr Trans-parenz und Demokratie an den Hochschulen – und den erbitterten Widerstand der Rektoren

Das Gespräch führten kay MeIners und carMen MolITor.

„Mehr Mitbestimmung ausprobieren“

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Frau Ministerin, mit einem „Hochschulzukunfts­gesetz“ wollen Sie die Universitäten und Fachhoch­schulen zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung

verpflichten. Warum ist das aus Ihrer Sicht notwendig?Das aktuelle Gesetz meines Vorgängers Andreas Pinkwart von der FDP, das so genannte Hochschulfreiheitsgesetz, besagt: Wenn 37 Hochschulen für sich selbst planen, kommt am Ende das Beste für das Landesinteresse heraus. Das ist aber nicht so! Deswegen wollen wir zu einem gemeinsamen Planungsprozess mit den Hochschulen kommen. Wir wollen mit dem Parlament Eckpunkte für eine Lan-desplanung beschließen.

Was wollen Sie in NRW ändern?Wir wollen unsere Lehrer selbst ausbilden, kleine Studienfächer er-halten und Frauen fördern. Gleichzeitig entwickeln die Hochschulen ihr eigenes Profil, prüfen die Pläne auf Umsetzbarkeit und konkre-tisieren sie. Dann gehen diese zurück an das Ministerium, und wir erstellen gemeinsam mit ihnen einen Hochschulentwicklungsplan. Dieses Prozedere nennt man im Management Gegenstromverfahren.

Jetzt bekommen Sie erst einmal Gegenwind: Die Hochschulrekto­ren kritisieren, dass Sie de facto die Fachaufsicht wieder einführen und damit den Standort NRW schwächen, statt Innovationen zu fördern.

Ja, aber das stimmt einfach nicht! NRW wird auch nach dieser Reform noch das freiheitlichste Hochschulgesetz in Deutschland haben. Aber es muss doch Regeln geben, die für alle gelten. Die Regeln, die wir wieder einführen wollen, betreffen Wirtschafts- und Personalfragen. Das sind die Bereiche, wo das Land früher über Erlasse oder Verordnungen steuernd eingreifen konnte. Das geht heute nicht mehr, weil die Hochschulen – anders als übrigens in den 15 anderen Bundesländern – kein Teil der Landesverwaltung mehr sind.

Sie wollen wieder mehr Einfluss ausüben, weil Sie sich am Leitbild der „unternehmerischen Hochschule“ Ihres Vorgängers stören? Bildung ist keine Ware. Das hat die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft in ihrer Regierungserklärung klar gesagt. Deswegen haben wir auch als Erstes in NRW die Studiengebühren abgeschafft. Die SPD und die Grünen sind mit der Ansage in ihre Wahlkämpfe ge-gangen, dass sie dieses Gesetz verändern, mehr Demokratie ermög-lichen und klarere Strukturen für die Hochschulen in NRW herstel-len wollen.

Was treibt Sie an?Wir müssen ein Anwalt der Steuerzahler sein. In die Wissenschaft geht sehr viel Geld. Es gibt in NRW einen Etat von 7,9 Milliarden Euro für Wissenschaft und Forschung. Das sind 13 Prozent des

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Haushaltes. Wir müssen transparent machen, warum das gut inves-tiertes Geld ist. Gerade bei den Drittmitteln gibt es immer wieder öffentliche Kritik. Im letzten Jahr hatten wir eine Debatte über die Frage, wie viel militärische Forschung es an den Hochschulen gibt und ob das nun richtig oder falsch ist. Da hilft nur Transparenz. Dann sähe man klar, dass militärische Auftragsforschung aus den USA nur ein ganz winziger Teil der Gelder ist, die einer Hochschule zur Verfügung stehen.

Sie erklären öffentlich, dass es unter Ihrem Vorgänger zu Fehlent­wicklungen an den Hochschulen gekommen sei. Allerdings sagen Sie nie genau, welche das sind. Es geht mir ja nicht um die Vergangenheit, sondern darum, die Zukunft zu gestalten. Die Hochschulen sind gerade in einer schwie-rigen Situation, sie müssen den doppelten Abiturjahrgang in NRW meistern – und das tun sie auch gut. Ich habe gar kein Interesse, öffentlich schlecht über unsere Hochschulen zu reden.

Vorsitzender des Hochschulrates der Universität Köln war mehrere Jahre ein Vorstandsmitglied der Bayer AG. Gehört es zu den Fehl­entwicklungen, dass Vertreter der Wirtschaft in den Hochschulrä­ten sitzen?Das kommt auf die Rolle dieser Gremien an. Wenn sie vor allem eine beratende Funktion haben und sich um das Budget kümmern, also klassisches Controlling machen, dann kann auch jemand aus der Leitungsebene eines großen Konzerns interessante Erfahrungen einbringen.

Sie wollen die Macht der Hochschulräte beschränken, indem Sie den gewählten Senat stärken? Ja. Der Senat – mit Vertretern der Hochschullehrer, der anderen Mitarbeiter und der Studierenden – soll künftig das Gremium sein,

das über die maßgeblichen Linien in der Hochschule entscheidet. Er ist anders zusammengesetzt als der Hochschulrat. Es gibt dann wieder eine Vertretung aller Interessengruppen, die je nach Hoch-schule etwas unterschiedlich sein wird.

Auch an anderen Stellen im Gesetzentwurf stärken Sie partizipa­tive Elemente. Erhalten Sie dafür genug Unterstützung aus der Gesellschaft?Hochschulen müssen Schulen der Demokratie sein – Orte, wo man mehr Mitbestimmung ausprobieren sollte. Wir führen dafür neue Instrumente ein, etwa eine Art Mitgliederbegehren, damit Gruppen

wichtige Themen anstoßen können. Solche Prozesse wollen wir stär-ken. Erstmals soll es eine eigene Interessenvertretung für die Grup-pe der studentischen Hilfskräfte und für Studierende mit Behinde-rung oder chronischer Erkrankung geben. Mitbestimmung an der Hochschule war schon immer schwieriger als in einem Industriebe-trieb. Die Unterstützung könnte größer sein. Trotzdem ist es den Versuch wert.

Woher kommt der massive Widerstand gegen Ihren Gesetzesentwurf zum jetzigen Zeitpunkt? Schließlich reden Sie seit zweieinhalb Jahren mit allen Beteiligten. Mit dem Referentenentwurf wurden die unterschiedlichen Interessen deutlich. Die Hochschulleitungen möchten offenbar nicht so gerne, dass sich etwas ändert – auf der anderen Seite sind viele Menschen aus den Hochschulen dafür, dass sich etwas tut. Sie sind aber in den Medien nicht so präsent. Es gab auch viele Missverständnisse über Formulierungen, beispielsweise was die Drittmittel angeht. Im Ent-wurf steht nicht: Unternehmen, bitte forscht nicht mit unseren Hoch-schulen! Es geht nur darum, dass die Zuwendungen an die Hoch-schulen transparent gemacht werden. Wir haben da im Gesetzentwurf eine Präzisierung auf den Weg gebracht.

Zählen die „NachDenkSeiten“ noch zu Ihren Lieblingsadressen im Netz?Ja, ich bin da Leserin der ersten Stunde. Ich finde, dass man diese kritischen Diskurse braucht, auch wenn das, was dort steht, für mich und andere nicht immer bequem ist.

Trotzdem haben Sie sich sehr deutlich distanziert, als diese Web­site kürzlich Listen mit den Rektorengehältern veröffentlicht hat. Irgendjemand hat sie den Machern zugespielt. Ich habe mich darüber sehr geärgert. Das geltende Gesetz ist, dass

die Rektoren ihre Gehälter mit den Hochschulleitungen verhandeln und die Höhe nicht veröffentlicht werden muss. Man kann gerne darüber diskutieren, was Hoch-schulleitungen verdienen. Aber ich finde, man muss den legalen Weg einhalten, und der Weg müsste sein: Wir ändern das Gesetz. Aber einfach Personaldaten nach draußen spielen? Nein, das geht nicht.

Es gibt den Verdacht, dass die Liste aus Ihrem Haus stammt, weil Sie die fraglichen Daten wegen einer Kleinen Anfrage im Parlament eingeholt hatten. Haben Sie einen Maulwurf?Wir wissen nicht, wo das herkam. Wir haben im Haus ermittelt und auch die Staatsanwaltschaft gebeten, zu ermitteln. Die ist jetzt am Zuge.

Die Gewerkschaften unterstützen Ihre Reformpläne, sind aber auch nicht mit allem zufrieden. So wurde gefordert, dass die rund 122 000 Hochschulbeschäftigten in NRW wieder Landesbeschäftigte sein sollen. Warum findet sich das im Gesetzesentwurf nicht wieder?

„Viele Menschen in den Hochschulen wollen, dass sich etwas ändert. Sie sind aber in den Medien nicht so präsent.“

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Wir haben das geprüft. Aber eine Körperschaft des öffentlichen Rechts wieder rückabzuwickeln hätte so viele Brüche bedeutet, dass es für die Beschäftigten nicht besser, sondern eher schlechter gewor-den wäre. Die Hochschulen müssen attraktive Arbeitgeber sein. Wir reden deshalb mit den Unis und Fachhochschulen über einen soge-nannten Rahmenkodex für gute Beschäftigungsbedingungen. Diesen Kodex wollen wir als Ministerium mit den Arbeitnehmervertretern und den Arbeitgebern festlegen und im Gesetz verankern. Es geht um einen faireren Umgang mit Befristung und Teilzeit und beispiels-weise ein effektives Gesundheitsmanagement.

Die Zunahme der Befristungen bekommen Sie durch einen Kodex kaum in den Griff, wenn ein Bundesgesetz die Ursache ist. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, auf das Sie anspielen, ist die eine Ursache für die Befristungen. Die zweite Ursache ist, dass es immer mehr zeitlich befristete Mittel gibt. Das Verhältnis von Grundfinanzierung und zeitlich befristeter Finanzierung hat sich an den Hochschulen verändert. Da der Bund und die EU immer stärker in die Projektfinanzierung einsteigen und nicht dauerhaft finanzieren dürfen, gibt es immer mehr flexible Mittel und, daraus folgend, viele befristete Stellen.

Aus den Gewerkschaften wurde kritisiert, dass weiter zwischen wissenschaftlichem und technischem Personal getrennt wird. Wir haben zwei verschiedene Landesvertretungskonferenzen: eine für wissenschaftliches Personal und eine für technisches und Ver-waltungspersonal. Darüber gab es große Diskussionen. Ein Teil der Gewerkschaften war dafür, das zusammenzulegen, ein anderer nicht. Man ist zu keiner einheitlichen Position gekommen. Deshalb lassen wir es lieber so, wie es ist. Die beiden Vertretungen sollen koope-rieren.

Ihr Ministerium will, dass die Hochschulen ein „Diversity­Ma­nagement“ betreiben. Was genau haben Sie vor? Wir orientieren uns an den Kategorien des Allgemeinen Gleichbe-handlungsgesetzes: Geschlecht, Behinderung, Herkunft, Weltan-schauung und Alter. Die Studierendenschaft ist deutlich heterogener geworden. Wir haben heute Leute ohne Abitur, die studieren, Leu-te, die mit 17 direkt von der Schule an die Hochschule kommen, und auch Ältere, die sich weiterqualifizieren. Dafür braucht man neue Antworten. Wir wollen zum Beispiel mehr Teilzeitstudien er-möglichen, Anrechnungen erleichtern und Regeln für die Anwesen-heitspflicht endlich einheitlich fassen.

Das Deutsche Studentenwerk hat ermittelt, dass von 100 Akade­mikerkindern 77 studieren, von Nicht­Akademikerkindern nur 23.Welches Zahlenverhältnis wäre aus Ihrer Sicht gerecht?Auf diese Frage gibt es keine arithmetische Lösung. Aber der heu-tige Zustand ist definitiv ungerecht! Wir wollen jedem, der das Po-tenzial und das Talent zum Studium hat, auch ein Studium ermög-lichen – auch denen, die nicht mit einer Bibliothek aufwachsen. Das ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit – es ist auch eine Notwen-digkeit, wenn man daran denkt, dass es in Zukunft weniger junge Menschen geben wird. Die Abschaffung der Studiengebühren war deswegen ein wichtiger Schritt. Aber weitere werden folgen: Wir haben zum Beispiel in Gelsenkirchen einen Talentscout, der nach verborgenen Studienbegabungen sucht. Auch solche kleinen Schrit-te sind wichtig, denn einen einfachen, großen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit gibt es nicht. ■

zur Person

sVenja scHulze, 1968 in Düsseldorf geboren, ist seit 2010 Ministerin für Innovation, Wissenschaft und For-schung in NRW. Sie gehört dem Präsidium des SPD- Landesvorstands an. Ihr Büromaskottchen ist ein roter Engel, der einen Frosch wachküsst. Schulze machte ihren Magister in Germanistik und Politik an der Ruhr-Uni Bochum und war als Mitglied des Sozialistischen Hoch-schulbundes AStA-Vorsitzende. Mit 20 trat sie in die SPD ein und engagierte sich von 1993 bis 1997 als Landes-vorsitzende der Jusos. Schulze ist Mitglied der IG BCE. Sie war freiberuflich in der Werbe- und PR-Branche tätig. Ebenso arbeitete sie als Unternehmensberaterin im öf-fentlichen Sektor, zuletzt bei Booz Allen Hamilton, wo sie ohne Bezüge freigestellt ist. Sie war von 1997 bis 2000 und ist seit 2004 Mitglied des Landtags NRW. Die Minis-terin lebt in Münster und ist ledig.

23Mitbestimmung 4/2014

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MeHr als 600 000 HocHscHularBeITsPläTzeBeschäftigte deutscher Hochschulen und Hochschulkliniken, absolute Zahlen

eIn sTudIuM zaHlT sIcH ausDas durchschnittliche Lebenseinkommen eines Akademikers beträgt rund 2,3 Millionen Euro. Fachhochschulabsolventen erreichen 2 Millionen Euro. Menschen, die nach dem Abitur eine Arbeit aufnehmen, erzielen 1,6 Millionen Euro, Ungelernte 1 Million Euro.

sTudIuM und HocHscHule In zaHlenAktuelle Situation in Deutschland

davon 337 000 als künstlerisches und wissen-schaftliches Personal

davon eIn VIerTelüber Drittmittel finanziert

Quelle: Statistisches Bundesamt 2013

619 000Personen

rund 2,5 MIllIonen sTudenTenAn deutschen Hochschulen eingeschriebene Personen, absolute Zahlen

Quelle: Statistisches Bundesamt 2013

2002 2012

1,9 MIo.

2,5 MIo.

jeder zweITe sTudenT aus nIcHT-akadeMIker-faMIlIenHöchster beruflicher Abschluss eines Elternteils von Studenten

Quelle: 20. Sozialerhebung des DSW

36%Uni/Kunsthochschule

14%Fachhochschule

21%Meister-, Schul-, Technikerabschluss

27%

2%

Lehre/Facharbeiterabschluss

Keine Berufsausbildung

Quelle: 20. Sozialerhebung des DSW

leBen MIT wenIger als 900 euroRund 864 Euro hatte ein Normalstudent im Sommer 2012 für den Lebensunterhalt zur Verfügung. Die Rechtsprechung geht von einem Unterhaltsbedarf von 670 Euro aus, zuzüglich Kranken- und Pflegeversicherung sowie Studiengebühren.

670 eurUnterhaltsbedarf864 eur

verfügbares Geld,2012

kInder aus akadeMIkerfaMIlIen sTudIeren HäufIgerStudienaufnahme in Prozent nach Bildungsstatus der Eltern

77% 23%Kinder von

AkademikernKinder von Nicht-

Akademikern

2,3 MIo.2 MIo.

1,6 MIo.

1 MIo.

Akademiker Fachhochschul-absolvent

Mit Abitur-abschluss, ohne Studium

Ungelernte

Quelle: IAB 2013

Quelle: 20. Sozialerhebung des DSW

24 Mitbestimmung 4/2014

Page 25: ALprI 4/2014 Mitbestimmung 4/2014 Mitbestimmung · Altstipendiat Erick Tambo von der United Nations University in Bonn. Von Andreas Schulte AUs DER sTIfTUNG 66

Die Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung

Zusammengestellt von kay MeIners.

16%

gesellscHafTlIcH engagIerTBetätigungen von Böckler-Stipendiaten(Mehrfachnennungen waren möglich)

Gewerkschaft

12%

8%

Hochschulpolitik

Verein (Musik, Sport etc.)

9%

8%

Jugendarbeit

Studenteninitiative

8%

5%

4%

Soziale Initiative

Partei/Jugendorganisation

Antifa/Antirassismus

MeHrHeITlIcH HocHscHulferner HInTergrundHöchster beruflicher Abschluss eines Elternteils von Böckler-Stipendiaten, in Prozent

36% 39%

Hochschul-abschluss

Zwei Drittel der Böckler-Stipendiaten kommen damit aus Elternhäusern, in denen niemand aus der Vorgängergeneration studiert hat.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

MeHr als 2600 Personen In fÖrderungIm Berichtszeitraum von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Personen, absolute Zahlen

2010/20112006/2007 2008/2009 2012/20132004/2005

1730

2666

1799

2239

2446

Zum Vergleich: Seit dem Bestehen der Studienförderung haben rund 14 000 Menschen von dieser profitiert.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

der Bund nIMMT MeHr geld In dIe Hand Bundesmittel für die Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung, in Millionen Euro

201320112007 20092005

10,5

17,0

20,8

10,3

22,8

Zum Vergleich: Insgesamt stellte der Bund im Jahr 2013 rund 198 Millionen Euro für die Begabtenförderung zur Verfügung.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

Lehre oder Facharbeiter-

abschluss

18%6%

Meister, Fach-schule oder Techniker

kein Berufs-abschluss

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25Mitbestimmung 4/2014

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Nischenthema sind“, sagt Susanne Braun, politische Referentin für Studierendenarbeit beim DGB. Derzeit sind weniger als ein Prozent der in DGB-Gewerkschaften Organisierten aktive Studenten. Trotz-dem oder gerade deshalb, erklärt Braun, sei die Studierendenarbeit „eine Kernaufgabe für die Zukunftssicherung der Gewerkschaften“. Denn: „Heute geht die Hälfte eines Altersjahrgangs studieren, Hoch-schulen sind der größte nicht organisierte Ausbildungsbetrieb Deutschlands mit etwa 2,5 Millionen jungen Menschen.“

Und die meisten von ihnen sind gleichzeitig auch Arbeitnehmer – als studentische Hilfskraft an der Uni, als (Ferien)-Jobber, Werkstu-dent oder Praktikant. „Wenn wir Studierende gut beraten und un-terstützen bei arbeitsrechtlichen Problemen, beim Berufseinstieg und bei branchenspezifischen Fragen und wenn wir uns gleichzeitig als hochschulpolitische Akteure aufstellen, die sich für eine gesicherte studentische Mitbestimmung und gute Studienbedingungen einset-zen, dann können wir als Gewerkschaft punkten“, ist Susanne Braun überzeugt. Aktuelle politische Themen rund ums Studium sind für die DGB-Jugend neben anderem die Verbesserung des BAföG und – angesichts steigender Studierendenzahlen – die Bereitstellung be-zahlbaren Wohnraums.

Sehr erfolgreich macht das die IG Metall, die seit zehn Jahren aktiv Studierendenarbeit betreibt und seit zwei Jahren eigens dafür zwölf Projektsekretäre in den Bezirken abstellt: Innerhalb der ver-gangenen fünf Jahre hat sich die Zahl der studentischen Mitglieder auf rund 22 000 mehr als verdoppelt, mit 3000 Neuaufnahmen allein im vergangenen Jahr. Dabei sprechen die Gewerkschafter die Studie-renden nicht nur an der Hochschule an, sondern auch in den Betrie-ben, wo sie als Praktikanten, Werkstudenten und dual Studie-

Gewerkschaften werden akademischersTudIerendenarBeIT Je stärker die Akademisierung vieler Belegschaften, umso wichtiger werden die Hochschulen auch für die Industriegewerkschaften. Duale Studiengänge und der Zugang über den Betrieb spielen strategisch die Schlüsselrolle.

Von sTefan scHeyTT, Journalist bei Tübingen

Es ist 5.30 Uhr, die ersten Vögel zwitschern, als an einem Donnerstag im März vor dem Mannheimer Gewerk-schaftshaus 15 Studenten mit kleinen Augen in einen Bus der IG Metall steigen; darin dösen bereits ein gutes Dutzend

Kommilitonen, die um 3 Uhr in Stuttgart und um 4.30 Uhr in Karls-ruhe eingestiegen sind. Ganz vorne sitzt IG-Metall-Sekretär Simon Goldenstein und sagt: „Wir wollen zeigen, dass die IG Metall ein hilfreiches Netzwerk ist.“ Deshalb ist die Reisegruppe, allesamt Stu-dierende technisch-naturwissenschaftlicher Fächer aus Baden-Würt-temberg, an diesem frühen Morgen auf dem Weg zu einem erlebnis-reichen Tag auf der CeBIT in Hannover, inklusive des Vortrags eines IG-Metallers über die Verdienstmöglichkeiten für Berufseinsteiger.

In der Reihe hinter Simon Goldenstein sitzt Manuel Graff, 21. Er studiert im dritten Semester an der Dualen Hochschule Mannheim Elektrotechnik und hatte bei seinem Ausbildungsunternehmen, dem Anlagenbauer Alstom, schon Kontakt zum Betriebsrat; aber erst nach einem Gespräch mit IG-Metall-Sekretär Goldenstein ist er vor Kurzem Gewerkschaftsmitglied geworden. Als solches fährt Manu-el Graff jetzt nicht nur kostenlos zur weltgrößten Computermesse; er ist überzeugt, dass sein Beitritt auch deshalb richtig war, weil die Gewerkschaft für höhere Löhne kämpfe – „und das wird mir später im Beruf einmal zugutekommen.“

ausBIldungsBeTrIeB HocHscHule_ 49 000 Studierende sind der-zeit in den Mitgliedsgewerkschaften des DGB organisiert, seit 2010 steigt ihre Zahl zuletzt um 14,5 Prozent. „Ein beträchtlicher Erfolg, wenn man bedenkt, dass Studierende noch nicht so lange auf dem Gewerkschaftsradar und für viele Gewerkschaften noch eher ein

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ceBIT-BesucH MIT der Ig MeTall: „Der Beitritt wird mir später im Beruf einmal zugute kommen.“

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27Mitbestimmung 4/2014

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rende arbeiten, berichtet Stefanie Geyer, Projektkoordinatorin beim Vorstand der IG Metall. Angesichts der zunehmenden Akademisie-rung der Belegschaften – in der Metall- und Elektroindustrie sind bereits 15 Prozent der Azubis dual Studierende – ist der Schritt auf die Campusse und in die Betriebe zwingend, wo die IG Metall be-triebliche Regelungen und Tarifverträge für dual Studierende mitge-staltet. Oder diese zur Qualität ihrer betrieblichen Praxisphasen befragt. „Wer sich den Studierenden dort als kompetenter Partner zeigt, wird auch später im Betrieb als ein Akteur ernst genommen, der die Arbeitswelt mitgestalten kann“, sagt Stefanie Geyer. Das Angebot der IG Metall – oft in Verbindung mit dem DGB – reicht inzwischen von den Beratungsklassikern (BAföG, Nebenjob, Prak-tikum) und Betriebsexkursionen bis zu Ausstellungen, Filmvorfüh-rungen und Ringvorlesungen mit Referenten aus Wissenschaft, Wirt-schaft und Gewerkschaften (Themen u.a. Innovationstechnologie, „Der Ingenieur zwischen Vernunft und Renditewahn“). „Wir haben über die Jahre Strukturen aufgebaut, die uns jetzt als lebendige und attraktive Gewerkschaft zeigen; wir sind präsent“, sagt Stefanie Gey-er. Ausweis dafür sind aktive Hochschulgruppen von Aachen bis Berlin und Magdeburg, die sich auch (hochschul)-politisch engagie-ren, etwa gegen „Mietenwahnsinn“ oder Studiengebühren.

zIel karrIereneTzwerke_ Auch bei der IG BCE ist die Zahl der studentischen Mitglieder seit dem Jahr 2000 von 2300 auf fast 4000 gestiegen – und das, obwohl die Studierendenarbeit ohne eigene Pro-jektstelle und ohne Hauptamtliche in den Bezirken geleistet wird. „In einem ersten Schritt wollen wir mit kleiner Flamme möglichst viel Hitze erzeugen“, sagt Oliver Hecker, der beim Vorstand für diese Zielgruppe verantwortlich ist. Die gezielte Ansprache einschlä-giger Fachschaften an ausgewählten Hochschulen sei für die IG BCE der „Schlüssel“ zum Campus. Dort bietet die Gewerkschaft Veran-staltungsreihen zu populären Themen an wie Berufseinstieg, Kar-rierewege oder Entgelterwartungen, in der Regel referieren ein Per-

sonaler aus einem Unternehmen und Oliver Hecker. Die erste Hochschule, die der IG BCE verbundene ehemalige Bergbauschule TFH Georg Agricola zu Bochum, sei ein „Heimspiel“ gewesen, be-richtet Hecker, während er an der Uni Hannover zunächst auf Ab-lehnung stieß. „Gewerkschaften? Das sind später doch unsere Fein-de“, meinte ein Jungakademiker zu Hecker. Doch der blieb hartnäckig, aus Überzeugung: „Es darf nicht sein, dass Studenten keinen Ton von den Gewerkschaften hören, aber wenn sie dann einen festen Job haben, kommen wir und sagen: ‚Ihr braucht uns.‘ In Han-nover folgten der Einladung der Gewerkschaft 140 Studierende, im

High-Tech Campus Großhadern der Uni München waren es Anfang dieses Jahres 110. Uni für Uni, Fachschaft für Fachschaft will die IG BCE ihren Radius vergrößern, neben Info-Veranstaltungen auch Be-triebsexkursionen anbieten und so auf Dauer Karrierenetzwerke aus Studierenden und betrieblichen Akteuren mit initiieren. Oliver He-cker: „Das wäre ein klarer Benefit für die Studierenden, von dem auch wir als Gewerkschaft profitieren würden.“

Wie wichtig dabei einzelne Ehrenamtliche sind, zeigt das Beispiel von Martin Weiß, 26, der an der Leibniz Universität in Hannover auf den Master in analytischer Chemie zusteuert, vielleicht sogar einmal promovieren wird. Weiß kommt aus dem Ruhrpott, lernte Chemielaborant, bevor er auf die Uni ging – der erste Akademiker in der Familie. Gewerkschaften gehörten für den Böckler-Stipendi-

aten schon immer zum Arbeitsleben, als Azubi trat er der IG BCE bei, aber an der Uni, wo er sich in seiner Fachschaft auch gewerkschaftlich engagiert, begegnet ihm viel Unwissen: „Viele Kommilitonen denken, Ge-werkschaften wären für Arbeiter zuständig, aber nicht für Studierende oder Akademiker in Unternehmen. Da müssen die Gewerkschaften noch viel Aufklärungsar-beit leisten“, meint Weiß. Dazu trägt er trotz Studien-

Stress bei, so gut er kann. „Ein bis zwei Veranstaltungen pro Semes-ter haben wir bisher immer hinbekommen.“ Ob sich seine wenigen Mitstreiter ähnlich einsetzen, wenn er die Uni in absehbarer Zeit verlassen wird, ist schwer zu sagen. „Die Gewerkschaften müssten sich einfach noch mehr engagieren“, wünscht sich Weiß.

MeHr Präsenz_ Ein Mittwochabend im AStA-Büro am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Hier trifft sich regelmäßig die Ge-werkschaftliche Studierendengruppe Karlsruhe (GSKa), deren har-ter Kern fünf, sechs Frauen und Männer sind, die Mitglied bei ver.

„Hochschulen sind der größte nicht organisierte Ausbildungsbetrieb mit rund 2,5 Millionen jungen Menschen.“

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28 Mitbestimmung 4/2014

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di, der GEW oder der IG Metall sind, unter ihnen zwei Böckler-Stipendiatinnen. Auch Constanze Krätsch, Projekt sekretärin der IG Metall, ist regelmäßig dabei. Man habe in der Vergangenheit einiges bewegt durch diverse Veranstaltungen und Aktionen, man habe auch manche von der Wichtigkeit gewerkschaftlichen Engagements überzeugt, sagen die vier. Und doch sei die Hochschule schwieriges Terrain. „Viele Studierende stammen aus akademischen Familien, die kaum Bezug zur Gewerkschaft haben“, meint Moritz Kühner. Erschwerend komme hinzu, findet Sebastian Müller, dass die Ba-chelor- und Masterstudiengänge kaum noch Zeit ließen für ehren-amtliches Engagement. „Viele Studienanfänger sind heute 17, 18 Jahre alt, nicht mehr 20, 21 wie früher“, sagt Irina Glasner. „Viele haben keinerlei Erfahrung mit der Arbeitswelt und deshalb keinen blassen Schimmer von Gewerkschaften.“ Und wenn sie dann ins Studium eintauchen, sind viele bald überzeugt, „dass sie sowieso einmal Führungskräfte werden“. Gleichzeitig hinterfragen sie, wenn sie ein Praktikum machen oder als studentische Hilfskraft arbeiten, „kaum die Arbeitsbedingungen“, sagt Sabine Mann: „Viele sehen es komischerweise als normal an, dass man als Praktikant kein oder fast kein Geld bekommt, oder wundern sich, dass man als Hiwi Urlaubsanspruch und ein Recht auf Lohnfortzahlung im Krank-heitsfall hat.“

Nach ihren Wünschen gefragt, sagen alle vier GSKa-Mitglieder einhellig: „Die Gewerkschaften müssten noch viel präsenter sein an den Hochschulen, dann würde noch viel mehr gehen.“ Sabine Mann, die schon Betriebsrätin war und jetzt am KIT auf ihren Master in Geodäsie und Geoinformatik zusteuert, sagt: „Schon als ich vor Jahren als Jugendvertreterin zu IG-Metall-Konferenzen ging, hat man dort über die Notwendigkeit für aktive Studierendenarbeit gesprochen. Aber es hat Jahre gebraucht, bis daraus wirklich ein Projekt wurde. Auch wenn studentische Mitglieder relativ wenig

Beitragsgeld bringen, lohnt sich das für die Gewerkschaft: In Karls-ruhe sind mehr als 40 000 Studenten eingeschrieben, allein am KIT 25 000, dazu fast 10 000 Beschäftigte, das ist ein riesiges Potenzial“, sagt Sabine Mann.

Dabei setzen die IG Metall und ver.di auf ehrenamtliches Enga-gement. „Studierende sind für uns sehr wichtig, wir schauen vor Ort, welche Themen sich mit gewerkschaftlicher Arbeit verknüpfen lassen, und setzen dabei maßgeblich auf Ehrenamtliche“, sagt Jan Bleckert, ver.di-Sekretär in Stuttgart im Fachbereich Bildung, Wis-senschaft und Forschung.

FERNZIEL TARIFVERTRAG_ In Tübingen, wo der Berliner Bleckert nach zwei Berufsausbildungen mit einem Böckler-Stipendium So-ziologie studierte, initiierte er vor zwei Jahren mit einer ver.di-Personalrätin der Universität und mithilfe der GEW eine studenti-sche Hilfskraftinitiative, die sich für anständige Arbeitsbedingungen der Hiwis einsetzt. Obwohl ein Generationswechsel die Gruppe derzeit etwas ausdünnt, sei sie mit ihrem Beratungsangebot durch geschulte Ehrenamtliche „sehr gut etabliert an der Uni“, sagt Jan Bleckert. Ihr Fernziel: ein Tarifvertrag für studentische Beschäftig-te, wie ihn ÖTV und GEW 1979 in Berlin als bislang einzigem Bundesland erstreiten konnten und der zuletzt 2003 erneuert wur-de. Für Jugendreferentin Susanne Braun vom DGB war das damals das „Aha-Erlebnis“: „Ich bin Gewerkschaftsmitglied geworden, als ich als studentische Mitarbeiterin an der Uni zu arbeiten anfing. Ich profitierte von dem Tarifvertrag und hatte Freunde, die für weit weniger Geld in Brandenburg als Hiwis arbeiteten. Das hat mir die Augen geöffnet, welche praktische Relevanz Gewerkschaftsarbeit und das eigene Engagement haben.“ ■

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kARLsRuhE: „Ein riesiges Potenzial“

29Mitbestimmung 4/2014

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Maximilian Stockhausen will Ungleichheit messen. Dabei ist es nicht nur die unterschiedliche Höhe von Einkünften, die den jungen Volkswirt beschäf-tigt. Stockhausen arbeitet an einem Index, der die

Chancenungleichheit von Kindern facettenreich abbildet. Neben dem Teil des Haushaltseinkommens, das für die Mädchen und Jun-gen aufgewendet wird, will er darin unter anderem die Zeit abbilden, die sie mit ihren Eltern verbringen können, die Unterschiede je nach Familientyp analysieren und einrechnen, wie sich staatliche Bil-dungs- und Kinderbetreuungsangebote auswirken. Der Doktorand untersucht auch, inwieweit Einkommensvor- oder -nachteile von der Eltern- zur Kindergeneration über mehrere Jahrzehnte weiter-gegeben werden und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Gibt es eine Beziehung zwischen dem, was die Eltern verdienen, und dem, was ihr Nachwuchs später verdient?

Stockhausens Forschungsprojekt gehört zu den sechs Dissertati-onsthemen, die Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung im Promo-tionskolleg „Steuer- und Sozialpolitik bei wachsender Ungleichheit“ an der Freien Universität Berlin bearbeiten. Auf unterschiedliche Weise gehen hier Promovenden unter der Leitung von Professor Giacomo Corneo der ökonomischen Ungleichheit auf den Grund: Es gibt junge Wissenschaftler, die wie Maximilian Stockhausen die Dimensionen der Ungleichheit konkret abzubilden versuchen. An-dere erforschen, welche Maßnahmen der Staat ergreifen könnte, um der Ungleichheit entgegenzuwirken. Stockhausen ist seit Juli 2013 dabei und fühlt sich wohl im Kolleg: „Die Struktur bietet nur Vor-teile, weil man seine Dissertation hier mit Leuten beginnt, die zu einem ähnlichen Thema forschen, und man sich so gegenseitig sehr

gut unterstützen kann“, sagt er. „Wir besuchen gemeinsam Veran-staltungen, tauschen uns regelmäßig aus. Für Leute, die promovie-ren, ist das Miteinander im Kolleg ein großer Vorteil. Keiner schreibt allein im stillen Kämmerchen.“

Den Austausch und die gegenseitige Unterstützung der jungen Wissenschaftler zu stärken ist seit dem Beginn der Förderung 1993 ein wichtiges Ziel der Promotionskollegs der Hans-Böckler-Stiftung: „So ein Kolleg ist eine soziale Erfindung und nicht nur ein Wissen-schaftsbetrieb im engeren Sinne“, betont Werner Fiedler, der bei der Hans-Böckler-Stiftung zuständig für die Promotionsförderung ist. „Dadurch, dass alle an einer Hochschule sind, entsteht auch sowas wie ein Dorfbrunneneffekt. Man ist eine Art Schicksalsgemeinschaft, begegnet sich täglich, man redet, geht gemeinsam in die Mensa, kooperiert und unterstützt sich.“ In der Regel bestehen die Promo-tionskollegs aus acht Promovenden, die alle eine individuelle Pro-motionsförderung der Stiftung erhalten. Darüber hinaus bekommt das Kolleg auch noch eine Forschungspauschale, mit der es Work-shops, Veranstaltungen, Tagungen, Publikationen und die Einladung von Gastreferenten finanzieren kann.

Die Erfahrungen seien gut, sagt Fiedler: „Die Promovenden in den Kollegs sind etwas schneller in ihren Abschlüssen, sie publizieren mehr, sie halten im Verlaufe ihrer Promotionsphase mehr Vorträge, und dadurch, dass sie stärker in einem wissenschaftlichen Kontext promovieren, ist die Orientierung auf eine Berufsperspektive in der Wissenschaft stärker ausgeprägt als bei denen, die mit einem einzel-nen Stipendium promovieren“, fasst er die Ergebnisse einer aktuellen Evaluation der letzten zehn geförderten Absolventenjahrgänge zu-sammen. Dass die Promovenden mit ihrem gesellschaftspolitisch

miteinander im KollegdIsserTaTIonen Die Hans-Böckler-Stiftung fördert 16 Promotionskollegs. Wer hier seinen Doktor macht, ist vor der Vereinsamung im Kämmerchen geschützt. Die gesellschaftspolitische Relevanz der Forschungsthemen setzt besondere Akzente.

Von carMen MolITor, Journalistin in Köln

30 Mitbestimmung 4/2014

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„Die Kollegs bieten viele Vorteile, weil man sich gegenseitig sehr gut unterstützen kann.“

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engagierten Profil der Wissenschaft dauerhaft er-halten bleiben, ist ein Ziel der Förderung. Ebenso will die Hans-Böckler-Stiftung Forschungsthemen einen breiteren Raum geben, die gesellschaftspoli-tische Relevanz haben und nahe an der Arbeitswelt sind. Man wolle Brücken zwischen akademischer Welt und der Praxis schlagen, betont Fiedler.

In der Regel sind es Professoren, die die Themen der Kollegs vorschlagen. An der Technischen Uni-versität Berlin war das 2007 anders. Damals mach-ten sich Ex-Studenten für den Schwerpunkt Mik-roenergiesysteme zur Energieversorgung stark, ein Thema, das vor allem in Entwicklungsländern von Bedeutung ist, berichtet die Professorin Martina Schäfer vom Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin. Inzwischen gibt es bereits die zwei-te Gruppe des Promotionskollegs an der TU, die sich mit Forschungen zu diesem Thema beschäftigt, diesmal vor allem am Beispiel Tansania. Martina Schäfer ist die Sprecherin. Mikroenergiesysteme, wie kleine Solaranlagen für den Hausgebrauch, sind eine Antwort auf ein drängendes Problem: In vielen Entwicklungsländern lebt der Großteil der Bevölkerung auf dem Land ohne Anschluss an ein zentrales Energienetz oder kann sich den Zugang nicht leisten. „Der Kern des Kollegs ist es, die ver-schiedenen Systeme wie Biogas-, Wasserkraft- oder Solaranlagen aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren“, sagt Schäfer. Die Promovenden entwickeln Konzepte, mit denen die dezentrale Energieversorgung durch wartungsarme, einfach zu reparierende und nach Gebrauch leicht zu ent-sorgende Mikroenergiesysteme im Kontext ländli-cher Räume dauerhaft funktionieren kann. Die Wissenschaftler kümmern sich um technische Fra-gen, aber auch darum, wie die Systeme die Bedürf-nisse der Nutzer erfüllen und finanzierbar sein können. Studenten des ersten Kollegs haben eine eigene Mikroenergie-Firma gegründet.

Für Japhet Johnstone beginnt gerade der End-spurt. Der US-Amerikaner aus Seattle will im Sep-tember seine Dissertation abgeben. Er ist Dokto-

„Wir sehen uns das Forschungs-thema aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an.“

mARTINA schäfER

32 Mitbestimmung 4/2014

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rand im Promotionskolleg „Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, dem ersten litera-turwissenschaftlichen Kolleg, das die Hans-Böck-ler-Stiftung fördert. Dort sehen die Forscher Lite-ratur auch als Seismografen für gesellschaftliche Entwicklungen. Japhet Johnstone befasst sich mit den Bildern von gesellschaftlichen Außenseitern und von verkehrten Welten in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Er analysiert Texte von Autoren wie Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und Gottfried Keller und von Sexualwissenschaftlern wie Sig-mund Freud und Karl Heinrich Ulrichs und arbei-tet auf, wie sich der Begriff „queer“ (verkehrt) in der Geschichte entwickelt hat. „Ich will die Ver-bindung zwischen ‚queer‘ als Bezeichnung für ‚ver-kehrt‘, für gleichgeschlechtliche Liebe und für das Anormale und Perverse aufzeigen. Und ich möch-te zeigen, wie man diesen Begriff historisch weiter-denken muss“, sagt er. Johnstone findet es anre-gend, dass das Kolleg sowohl wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Fragen stellt. „Wir diskutie-ren, wo Grenzen sind und wie man sie überschrei-ten kann“, bilanziert er. „Dazu gibt es viele ver-schiedene Ansätze im Kolleg.“ Gelegenheiten, sich intensiv auszutauschen, haben er und seine Mit-streiter genug: in Arbeitsgruppen, Kolloquien, Pro-jektgruppen – oder beim Kaffee im Büro. ■

„Wir diskutieren, wo Grenzen sind und wie man sie überschreiten kann.“

JAPhET JOhNsTONE

Wolfgang Böttcher/Johannes Wiesweg: Pro-

MoVIeren MIT sTIPendIuM. Eine Befra-gung der Absolventinnen und Absolventen der Promotionsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. Edition der Hans-Böckler-Stiftung 228, Düsseldorf 2013. Bestellnummer 13228

Wolfgang Böttcher/Heinz-Hermann-Krüger: eValuaTIon der QualITäT der ProMoTI-

onskollegs der Hans-BÖckler-sTIf-

Tung. Eine quantitative und qualitative Stu-die. Eine explorative Studie. Edition der Hans-Böckler-Stiftung 234, Düsseldorf 2009. Bestellnummer 13243

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33Mitbestimmung 4/2014

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Wie stark sich Boris Veszely mit seiner Arbeit im Krankenhaus identifiziert, wird durch den sorgfäl-tigen Blick klar, den er sich über die Jahre angeeig-net hat. Fast beiläufig entfernt er ein winziges Stück

Papier vom Boden, wenn über den Flur des Bonner Universitätskli-nikums geht – oder er macht einen Kollegen auf dessen unvollstän-dige Arbeitskleidung aufmerksam. „Ich mag die Stationsarbeit wirklich gern“, sagt Veszely, der hier als Gesundheits- und Kran-kenpfleger arbeitet. Ab Oktober ist damit erst mal Schluss. Dann beginnt der 30-Jährige ein Studium des Health-Care-Managements an der Hochschule Niederrhein in Krefeld – obwohl der einzige formale Schulabschluss, den Veszely vorweisen kann, ein Haupt-schulabschluss ist.

Bereits im März 2009 hat die Kultusministerkonferenz den Hoch-schulzugang ohne Abitur vereinfacht. In allen Bundesländern werden Studienwillige seitdem nach einer abgeschlossenen zwei- bis drei-einhalbjährigen Berufsausbildung und drei weiteren Jahren im Job zum Studium zugelassen. In manchen Bundesländern kommt zudem eine fachliche Eignungsprüfung auf die Bewerber zu. Mit dieser weitgehenden Vereinheitlichung, so die Hoffnung, würden sich mehr Studienanwärter für den dritten Bildungsweg interessieren. Die Zah-len sprechen jedoch eine andere Sprache. Im Jahr 2011 lag die Zahl der Studenten, die ohne Abitur an Hoch- und Fachhochschulen eingeschrieben waren, nach Berechnungen des Centrums für Hoch-

hauptschule, Job – und dann ab zur Uni

drITTer BIldungsweg Nicht allein das Abitur berechtigt zum Studium – auch eine Ausbildung und Erfahrung im Beruf können die Tür zum Hörsaal öffnen. Die Hans-Böckler-Stiftung kooperiert jetzt direkt mit zwei Hochschulen, um das Studium ohne Abi zu fördern.

Von jan-MarTIn alTgeld, Journalist in Meerbusch

schulentwicklung (CHE) bundesweit bei rund 44 000 – das sind rund zwei Prozent.

Dass er den Schritt weg vom sicheren Job im Krankenhaus in den Hörsaal riskiert, hat er dem Modellprojekt „Dritter Bildungs-weg – Studieren ohne Abitur“ der Hans-Böckler-Stiftung zu verdan-ken: „Ohne dieses Angebot wären mir die Aussichten wahrscheinlich zu schlecht“, sagt Veszely. Ihm ist bewusst, dass der Lebensstandard eines Vollzeitstudenten nicht derselbe sein kann wie bisher. Mit dem Böckler-Stipendium ist sein Auskommen aber zumindest gesichert. „Der monatliche Zuschuss ist an den vollen BAföG-Satz angelehnt und liegt bei 670 Euro. Dazu gibt es 300 Euro Büchergeld“, sagt Bärbel Friedrich, wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt. Wer allerdings zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Antrag stellt, über eigenes Vermögen aus seiner früheren Berufstätigkeit verfügt, der bekommt entsprechend weniger.

Veszely, der sechs Jahre lang den JAV-Vorsitz an seiner Arbeits-stelle innehatte und Ersatzmitglied im Personalrat der Bonner Uni-Klinik war, bringt eine wichtige Voraussetzung für das Böckler-Stipendium mit: gewerkschaftliches Engagement. „Alternativ können Bewerber sich auch gesellschaftspolitisch engagieren“, sagt Bärbel Friedrich. Das verlangen die Förderrichtlinien der Stiftung. Auch bisher konnten sich schon junge Menschen ohne Abitur um ein Stipendium bewerben. Neu ist, dass die Stiftung jetzt gezielt daran arbeitet, den Übergang vom Beruf ins Studium zu erleich-

35Mitbestimmung 4/2014

TITEL

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tern – und dabei unmittelbar mit den Hochschulen zusammenar-beitet. Bisher zählen sieben Studiengänge der Ingenieurswissenschaf-ten an der Uni Duisburg-Essen zum Programm (darunter Maschinenbau sowie Elektro- und Informationstechnik) sowie zwei gesundheitswissenschaftliche Studiengänge der Hochschule Nieder-rhein.

Neben der finanziellen Förderung bildet die fachliche Vorberei-tung den Hauptpfeiler des Programms. Ziel ist es, Lücken beim Schulwissen frühzeitig zu schließen – zum Beispiel durch einen vier-wöchigen Vorbereitungskurs im Vorfeld des Studiums. Auch Kran-kenpfleger Boris Veszely wird bald studienrelevantes Wissen aus Mathematik, Physik, Biologie sowie Deutsch und Englisch aufar-beiten. Dafür bekommen die Hochschulen finanzielle Mittel von der Stiftung. „Besonders wenn die Schulzeit länger zurückliegt, ist es manchmal schwierig, sich wieder ans Lernen zu gewöhnen“, sagt Friedrich. Auch aus diesem Grund stellt das Böckler-Programm den Stipendiaten an ihren Hochschulen wissenschaftliche Mitarbeiter zur Seite. Das sei wichtig, meint die Projektkoordinatorin.

Denn manchmal, so weiß sie, gibt es Signale der Lehrenden, die durch die Blume sagten: Eigentlich wollen wir euch nicht. Dabei bringen die Männer und Frauen, die sich für den dritten Bildungsweg entscheiden, oft wertvolle Praxiserfahrungen aus verwandten Berei-chen mit. Das sieht auch Jessica Heibült, Forscherin vom Zentrum für Arbeit und Politik der Uni Bremen, so. Sie beschäftigt sich mit der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bil-dung. Sie sagt: „Ich finde es wichtig, beruflich Qualifizierte nicht als Sondergruppe zu begreifen und ihre Studierfähigkeit nicht infrage

zu stellen. Beruflich Qualifizierte können die Hochschulen mit ihren Berufserfahrungen bereichern, und auch andere Studierende können von ihnen profitieren.“

VorBereITung auf dIe wIssenscHafT_ Zusätzlich zum Vorbe-reitungskurs, der das Schulwissen auffrischen soll, bietet das Böck-ler-Programm „Studieren ohne Abitur“ drei Wochenendseminare an, die alle vor dem Studium besucht werden müssen. Boris Vesze-ly hat sie schon hinter sich. „Da geht es um das Einstellen aufs Studium: Lernmethoden, wissenschaftliches Arbeiten“, sagt er. „Das nimmt einem schon ein bisschen die Angst vor dem, was später kommt.“ Einer, der das erste Semester im dritten Bildungsweg bereits hinter sich hat, ist Cornelius Forstmann. An der Leibniz Universität Hannover studiert der 25-Jährige Wirtschaftswissenschaften. Dass der gelernte Speditionskaufmann einen fest bezahlten sowie unbe-fristeten Job für ein Vollzeitstudium aufgab, sei wohl nur durch seinen Bildungshunger zu erklären, sagt er.

Die formalen Zulassungsbedingungen zum Studium ohne Abitur recherchierte Forstmann zum Teil selbst, fand aber auch Unterstüt-zung in der Servicestelle der Offenen Hochschule Niedersachsen. „Die haben mir erzählt, dass es einen Vorbereitungskurs gibt“, sagt Forstmann. Sinnigerweise heißt der Kurs „uni:fit“. Drei Wochen vor Semesterbeginn werden dort die künftigen Studierenden auf die ho-hen mathematischen Anforderungen vorbereitet. Allerdings richtet sich dieses Angebot an alle Studenten, nicht etwa speziell an solche, die nach der zehnten Klasse die Schule verlassen haben. Das kann, wie Forstmann berichtet, zu Problemen führen: „Die Leute, die aus dem Abi kommen, haben ein Grundwissen – über bestimmte Ablei-tungen zum Beispiel. Dieses Wissen habe ich als Realschüler nicht. Es wird aber vorausgesetzt.“

Neben dem Damoklesschwert mit Namen Mathematik sieht Veszely aber auch die Vorteile, die seine berufliche Biografie zu bie-ten hat: „Ich hatte vorher faktisch eine 50-Stunden-Woche. Ich bin also einiges an Zeitaufwand gewöhnt. Das bringe ich jetzt ins Stu-dium ein.“ Die Ausdauer, glaubt er, werde ihm helfen, durchzuhal-ten, wenn es mal etwas härter wird. Viele Menschen mit ähnlichen Qualifikationen wissen derweil nicht einmal, dass ihnen überhaupt die Möglichkeit für ein Studium offensteht. Da viele Hochschulen nur dürftig über den dritten Bildungsweg informierten, erklärt Fried-rich, würden die Informationen viele Kandidaten gar nicht erst er-reichen: „Selbst manche Professoren glauben noch, dass ausschließ-lich das Abitur die Tür zur Uni öffnet.“ ■

Informationen Böckler-Programm „drITTer BIldungsweg“:

www.boeckler.de/40936_41143.htm

Online-Studienführer für beruflich Qualifizierte: www.studieren-ohne-abitur.de

MeHr InforMaTIonen

ProjekTleITerIn frIedrIcH (r., MIT kollegIn): „Wenn die Schulzeit länger zurückliegt, ist es manchmal schwierig, sich ans Lernen zu gewöhnen.“

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Etwa ein Jahr, bevor Hans Filbinger 1978 wegen seiner braunen Vergangenheit vom Amt des baden-württember-gischen Ministerpräsidenten zurücktrat, schafften er und seine CDU die Verfasste Studierendenschaft im Ländle

ab. Den Konservativen galt die studentische Interessenvertretung und Selbstverwaltung als „Sympathisantensumpf des Terrorismus“,

Die Rückkehr der AstenMITBesTIMMung In Baden-Württemberg dürfen Studenten nach 35 Jahren wieder in der Hochschulpolitik mitmischen. Trotzdem sind sie unzufrieden.

Von sTefan scHeyTT, Journalist in Rottenburg am Neckar

im „Deutschen Herbst“ schien die Gelegenheit günstig, der aufrüh-rerischen linken Jugend an den Hochschulen die Mitbestimmungs-rechte zu nehmen. Zwar gab es auch danach noch Allgemeine Stu-dierendenausschüsse (AStA), doch das war Etikettenschwindel: Die ASten waren nur noch eine Art Verwaltungsanhängsel und durften sich weder in die Debatten über die Bologna-Reform oder BAföG

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sTudIerendenraTs-MITglIed VÖlker (In TÜBIngen): „Wir dürfen keinen direkten Kontakt zur Verwaltung aufnehmen.“

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einmischen noch selbstständig Verträge schließen. Der „kastrierte“ AStA („kAStrA“) war zwangsreduziert auf Themen wie Hochschul-chor, Uni-Fußball oder Partys. „Mundtot seit 1977“ – so protestier-ten Generationen von Studierenden im Südwesten, auch Ende 2010 in Freiburg bei einem Besuch des damaligen CDU-Ministerpräsi-denten Stefan Mappus im Audimax. Eineinhalb Jahre später wurde er von Grün-Rot aus dem Amt gefegt, und bald darauf führte das einst tiefschwarze Land Mitte 2012 die Verfasste Studierendenschaft wieder ein, nach 35 Jahren. Das Wissenschaftsministerium rühmte sich dabei des frühen Dialogs mit den Studierenden und des „ersten internetgestützten Gesetzgebungsverfahrens“ im Land: Auf einer Webseite gaben Tausende ihre Kommentare ab, das Internetverfah-ren habe viele wichtige Anregungen für das Gesetz geliefert.

MancHe unIs BreMsen IMMer nocH_ Ist jetzt also alles wieder gut? Überhaupt nicht, antworten Sonja Völker und Christin Gum-binger, beide Studentinnen an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen und Mitglieder des im Wintersemester 2013/14 erstmals gewählten neuen Studierendenrats (StuRA), wie der AStA hier heißt. Gerne würden sie endlich ihre neuen Möglichkeiten nutzen für in-haltliche Themen wie Wohnraumknappheit oder Semesterticket – und werden, so erzählen sie, von der Uni fortwährend ausgebremst. Zuerst zerpflückte das Rektorat den studentischen Satzungsentwurf, der hohe Transparenz und viel Partizipation vorsah. „Was bei uns satzungsrechtlich nicht ging, ging seltsamerweise in Freiburg oder Heidelberg, und das Ministerium zog sich wie so oft darauf zurück, keine wirklichen Antworten zu geben“, sagt Christin Gumbinger, die bei der Gewerkschaft ver.di organisiert ist.

Um beim Neuaufbau eigener Selbstverwaltungsstrukturen keine Fehler zu machen, die anschließend wieder von der Uni-Leitung kassiert werden, etwa beim Finanzplan oder der Beitragsordnung, brauchen die Studentenvertreter den Rat der Uni-Verwaltung. „Aber jede Anfrage muss hier übers Rektorat laufen. Wir dürfen keinen direkten Kontakt zur Verwaltung aufnehmen, um juristische oder verwaltungstechnische Fragen zu klären“, sagt Sonja Völker. Sie warteten wochen-, sogar monatelang auf Antworten. Noch Mitte März, fast zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, habe der StuRa keine Zugangsdaten für seine neue eigene Homepage auf dem Uni-Server. Ja, sagen die Frauen, „wir sind jetzt offiziell Studieren-denvertreter, haben neue Rechte, keiner kann mehr sagen: ‚Wer sind Sie denn? Mit Ihnen müssen wir keine Gespräche führen!‘ Aber mal sehen, was daraus wird.“ Mancher Streit, sagen sie, müsse wohl bald juristisch ausgetragen werden.

kreTscHMann anTworTeT nIcHT_ Mögen die Tübinger Uni-Chefs auch ungewöhnlich heftig quertreiben (andere unterstützen ihre neuen Studierendenschaften nach Kräften), offenbart sich darin ein grundlegendes Problem: „Das Ministerium hat es sich leicht ge-macht, indem es die Rechtsaufsicht an die Hochschulen delegierte. Jetzt kann jede Uni-Leitung ihre Rechtsauffassung durchdrücken“,

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kritisiert Jörg Willburger, 30, BWL-Student im Master an der Hoch-schule Offenburg und Sprecher der LandesAStenKonferenz (LAK). Auch sonst machen die Studierendenvertreter nicht die besten Er-fahrungen: Anfragen ans Wissenschaftsministerium würden, wenn überhaupt, oft erst nach mehrmaligem Nachhaken beantwortet; von den geplanten Änderungen an den Musikhochschulen des Landes – es geht um drastische Einsparungen und Studienplatzabbau – habe man aus der Presse erfahren. Auf einen Brief an die grüne Ministe-rin habe die LAK dann keine Antwort erhalten, ebenso wenig vom daraufhin angeschriebenen Ministerpräsidenten Kretschmann.

„Wir vertreten über 300 000 Studierende. Aber in der Hoch-schulpolitik kann man wirklich nicht von einer ‚Politik des Gehört-Werdens‘ sprechen, wie Grün-Rot das immer behauptet“, ärgert sich Willburger; er höre jetzt öfter den Kommentar: Die Grünen sind wie die Schwarzen, nur mit einer anderen Farbe. Und weil die Landesstudierendenvertretung nicht rechtsfähig ist, darf sie keine Demos anmelden, keine Beiträge verwalten, kein Girokonto führen, kein Rechtsgutachten in Auftrag geben. „So können wir kein Dienst-leister für kleinere Studierendenschaften sein, die wenig Geld haben. Das wäre ein solidarischer Ansatz, aber das Land möchte offenbar keine starke Landesstudierendenvertretung, sondern sieht unsere Funktion bloß als eine koordinierende.“

Im Jahr 2014, 34 Jahre nach Filbingers Rücktritt, sind das keine guten Nachrichten für eine grün-rote Landesregierung, die sich viel-leicht einmal als natürlicher Verbündeter der Studierenden sah. Doch Willburger lässt sich nicht entmutigen: „Mein Eindruck ist: Seit es die Verfasste Studierendenschaft wieder gibt, gibt es wieder mehr Studierende, die sich interessieren, engagieren, die mitreden und mitbestimmen wollen. Wenn sich die Dinge bald eingespielt haben, geht’s richtig los. Wir sind auf einem gutem Weg.“ ■

sTudenTenVerTreTer wIllBurger (l.), guMBInger: „Von einer ‚Politik des Gehört-Werdens‘ kann man nicht sprechen.“

39Mitbestimmung 4/2014

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erfolg der anTIgewerkscHafTs-loBBy_ In diesen Wochen hat in Frank-furt und Detroit und im VW-Betriebsratsbüro in Wolfsburg die Aufarbeitung begonnen. Es fehlten nur 44 Stimmen. Eine skrupellose Antigewerkschafts-Lobby aus konservativen Südstaatenpolitikern und Wirtschaftslobbyisten hat das Rennen in letzter Minute gedreht. Gegen Lügen und schmutzige Tricks hatten wir keine Chance, sagen US-Gewerkschafter. „So etwas habe ich in meiner Laufbahn noch nicht erlebt“, sagt Frank Patta, Generalsekretär des VW-Weltkonzernbetriebsrates. Die Beschäftigten und ihre Familien seien mas-siv eingeschüchert worden. „Die Angst hat die Wahl gewonnen.“

Tatsächlich spielten die UAW-Gegner eine wichtige Rolle, ein Metaller spricht von einer „fein ausgetüftelten Choreografie“ in den Tagen unmittelbar vor der dreitägigen Abstimmung im VW-Werk. Im Mittelpunkt steht der re-publikanische Senator des Bundesstaates Tennessee, Bob Corker, der schon in den Monaten vor der Wahl als Wortführer der Antigewerkschafts-Lobby agierte. Er sieht durch die UAW das Geschäftsmodell der Südstaaten gefährdet, die mit niedrigen Löhnen für Industrieansiedlungen werben. Am ersten Wahl-tag behauptete Corker: „Ich hatte heute Gespräche, auf deren Basis bin ich sicher: Sollten die Arbeiter gegen die UAW stimmen, dann wird Volkswagen in den kommenden Wochen verkünden, dass es seinen neuen Geländewagen hier in Chattanooga produzieren wird.“

Eine Quelle nannte Corker nicht, und nach der Wahl ruderte er zurück. Die Botschaft jedoch blieb hängen: Eine neue Produktlinie gibt es nur ohne Gewerkschaft. Als VW-Werkschef Frank Fischer Corkers Äußerungen

In Deutschland war es vier Uhr morgens an einem Samstag im Februar, als ein paar entsetzte Mails, SMS und Telefonate zwischen Gewerkschaftern den Atlantik überquerten. 712 Nein-Stimmen, 626 Ja-

Stimmen. Fest stand nun: Die United Auto Workers (UAW) haben die Gewerkschaftswahlen im VW-Werk in Chattanooga im US-Bundesstaat Tennessee verloren. Da-mit hatten die UAW, ihre Schwestergewerkschaft IG Me-tall und auch der VW-Gesamtbetriebsrat und dessen Vorsitzender Bernd Osterloh nicht gerechnet.

Dabei war der Ansatz dieses ambitionierten transat-lantischen Gewerkschaftsprojektes vielversprechend: Das US-Zweigwerk von VW sollte einen Betriebsrat nach deut-schem Vorbild bekommen und die UAW in einem der Autowerke ausländischer Hersteller in den gewerkschafts-feindlichen, konservativen Südstaaten Fuß fassen. Chat-tanooga ist das einzige VW-Werk weltweit, das noch keine Arbeitnehmervertretung hat. Internationale Solida-rität unter Gewerkschaftern sollte in Chattanooga einen greifbaren Erfolg erringen, statt sich in Konferenzen, Stra-tegiepapieren und gegenseitigen Solidaritätsbekundungen zu erschöpfen. Zwei Jahre Arbeit hatten die UAW, die IG Metall und der Volkswagen-Gesamtbetriebsrat investiert.

Wie eine Angstkampagne das Rennen entschied

cHaTTanooga Nach der sehr knapp verlorenen Abstimmung bei den Gewerkschaftswahlen im VW-Werk im US-Bundesstaat Tennessee sondiert die amerikanische Autogewerkschaft UAW mit IG Metall und VW-Betriebsrat die Lage.

Von cHrIsTof waldkauf, Journalist in Köln, und anne graef, Journalistin in Berlin

40 Mitbestimmung 4/2014

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Vw-werkscHef fIscHer (l.), uaw-VorsITzender kIng (r.) BeI der

BekannTgaBe des waHlergeBnIsses aM 14. feBruar; PassaT-Pro-

dukTIon IM Vw-werk cHaTTanooga: Gibt es einen zweiten Anlauf?

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InTerVIew

„Ein großer schritt nach vorn“Lowell Turner, Us-Industriesoziologe an der cornell University und Kooperationspartner der hans-Böckler-stiftung, über Gewerkschaftsfresser und seinen Optimismus, dass vW chattanooga bald einen Betriebsrat bekommt

hart dementierte, konterte Corker: „Glauben Sie mir, Ent-scheidungen über die Expansion von VW werden nicht vom Management im Werk in Chattanooga getroffen.“

UAW und IG Metall wussten, dass der Widerstand heftig und unberechenbar sein würde. Dennoch waren beide bis zuletzt optimistisch. Eine Mehrheit der Arbeiter hatte sich schon vor der Abstimmung zur UAW bekannt und Gewerkschaftskarten unterschrieben. Eigentlich hät-ten diese Karten gereicht, um bei der obersten US-Arbeits-behörde, dem National Labor Relations Board (NLRB), einen sogenannten Card-Check zu beantragen, also eine Zählung der Karten, und damit eine Anerkennung der Mehrheit in Chattanooga zu erreichen.

Trotzdem hatten sich VW-Betriebsrat und die Unter-nehmensleitung darauf geeinigt, dass eine Wahl stattfinden sollte. Ein positives Wahlergebnis sollte die aggressiven Gegner zum Verstummen bringen und das Projekt Be-

Professor Turner, wIe konnTe es zu der nIederscHMeT-

Ternden nIederlage Von cHaTTanooga koMMen? Es war keine niederschmetternde Niederlage. Das war ein knappes Ren-nen. Immerhin haben sich 47 Prozent der VW-Beschäftigten für die United Auto Workers ausgesprochen – und das in einer sehr un-freundlichen Umgebung. Lassen Sie es uns doch einmal andersher-um betrachten: Es war ein großer Schritt nach vorn.

wIrklIcH? Ja. Am Ende fehlten 44 Stimmen. US-Gewerkschaften brauchen oft einen zweiten Versuch, um ein Werk zu erobern. Es wird irgendwann eine neue Wahl bei VW in Chattanooga geben.

nacH aMerIkanIscHeM recHT gIlT: Verloren IsT Verloren.

dIe gewerkscHafT BleIBT VorersT draussen. Ja, das ist ein Makel unseres Winner-takes-all-Prinzips. Schauen Sie: In Deutsch-land gibt es viele Betriebe, in denen der Organisationsgrad geringer ist als 47 Prozent. Trotzdem gibt es dort gut funktionierende Be-triebsräte, und die Firmen fallen unter einen Tarifvertrag. Wenn Sie das auf VW in Chattanooga übertragen, heißt das: 47 Prozent ha-ben sich für eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft entschieden. Nur gibt es mit diesen 47 Prozent bei uns in Amerika eben keine

gewerkschaftliche Vertretung und keinen Betriebsrat.

wer IsT VeranTworTlIcH

fÜr dIe nIederlage? Es gab in Chattanooga eine massive Kampagne von rechten Grup-pierungen. Die waren finanzi-ell so gut ausgestattet, da konnte die UAW nicht mithalten. Überall in der Stadt hingen große Plakatwände. Die UAW wurde als Jobkiller diffamiert, der Niedergang Detroits wurde ihr in die Schuhe gescho-ben. Absurd! Und dann haben sich konservative Politiker einge-mischt und gedroht, VW würde Subventionen verlieren, wenn die UAW die Gewerkschaftswahlen gewinnt. Senator Bob Corker sagte, Chatta nooga werde eine neue Produktlinie bekommen, wenn die UAW die Wahl verliert. Angesichts solch unglaublicher Einmischun-gen sind 47 Prozent Ja-Stimmen doch ein erstaunliches Ergebnis.

dIe konserVaTIVen PolITIker In den sÜdsTaaTen Tragen dIe

scHuld – MacHen sIe es sIcH da nIcHT eTwas zu leIcHT? Noch einmal: Das Ausmaß der Kampagnen war riesig, so etwas haben wir

triebsrat mit der nötigen Legitimität ausstatten. Monatelang verhandelte VW mit der UAW, am Ende stand ein 22-seitiges Abkommen, das „Pre-Election-Agreement“. Danach sollten bei künftigen Tarifvereinbarungen „die Erhaltung und wenn möglich der Ausbau von Kostenvorteilen und anderen Wettbewerbs-vorteilen“ von VW in Nordamerika Berücksichtigung finden. Auch erklärte sich die UAW bereit, vor der Wahl auf Hausbesuche bei den VW-Arbeitern zu verzichten. Sie gab damit ein Organisierungsinstrument aus der Hand, das in den USA üblich ist, um der Agitation der Gegenseite etwas entgegenzusetzen.

War dieses „Pre-Election-Agreement“ zu deutsch gedacht? Der UAW-Vor-sitzende Bob King machte die Mitbestimmung zum Vorbild für die schlingern-de amerikanische Gewerkschaftsbewegung. In öffentlichen Debatten betonte er immer wieder, wie wegweisend das „neue Model“ von Chattanooga sein könne, um arbeitenden Menschen in Amerika wieder eine Stimme zu geben.

cHancen fÜr eInen zweITen anlauf_ Das Projekt Chattanooga liegt nun erst einmal auf Eis. „Zur Zeit müssen wir feststellen, dass keine demokratische Macht der Welt gegen diese autoritären Strukturen in den Südstaaten an-

Lowell Turner

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noch nicht gesehen. Vor den Wahlen hatte die UAW bereits 800 unterschriebene Gewerkschaftskarten eingesammelt. Mit Ja ge-stimmt haben dann nur etwas über 600 der VW-Arbeiter. Wo sind die 200 Stimmen geblieben? Wir alle kennen die Antwort: Kräfte von außen beeinflussten die Wahl, sie machten den Menschen Angst.

kann sIcH dIe uaw Von dIeser nIederlage erHolen? Natür-lich. Hat sich die IG Metall von der Streikniederlage in Ostdeutsch-land erholt? Das hat sie, und sie ist heute eine starke Gewerkschaft.

dIe uaw HaT grosse Hoffnungen In IHre kaMPagne BeI Vw

gesTeckT. eIn sIeg sollTe der sTarTscHuss seIn fÜr weITere

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Ten. dIe uaw BleIBT nun eIne gewerkscHafT des nordens,

HeIssT es. Auch das ist ein Ammenmärchen der Gewerkschaftsfres-ser. Sie wollen die UAW stigmatisieren als Gewerkschaft aus dem Norden, als fremde, auswärtige Macht. Dabei hat die UAW schon etliche Werke im Süden der USA erobert. Sie ist bei Ford in Atlanta vertreten und hat das Werk von General Motors in Spring Hill orga-nisiert, nicht weit entfernt von Chattanooga. Und wenn Sie zum Beispiel mal mit UAW-Regionaldirektor Gary Casteel sprechen, der die Kampagne in Chattonooga organisiert hat, merken Sie sofort: Der Mann ist so etwas von einem Südstaatler, mehr geht gar nicht.

also alles ProPaganda? Es wird viel Unsinn erzählt über die UAW. Zum Beispiel haben die rechten Gruppen argumentiert: Wir haben gar nichts gegen Gewerkschaften, aber die UAW, die ist nun mal ganz, ganz schlimm. Das ist doch eine dreiste Lüge. Diese Leu-

te würden genauso wettern, wenn es um eine andere Gewerkschaft ginge. Sie wollen prinzipiell keine Gewerkschaften. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Darum geht es, und um nichts sonst.

was HalTen sIe Von der Idee, TroTz der waHlnIederlage

eIne arT BeTrIeBsraT nacH deuTscHeM VorBIld zu InsTal-

lIeren? Das halte ich für keine gute Idee. Das amerikanische Ge-setz setzt hier ohnehin enge Grenzen. Mit einem Betriebsrat ohne gewerkschaftliche Anbindung würde man der Idee einer unabhän-gigen Repräsentierung der Arbeitnehmer keinen Gefallen tun. Wir wissen doch aus Deutschland: Betriebsräte sind nur stark, wenn eine starke Gewerkschaft hinter ihnen steht. Ansonsten verwandeln sich die Betriebsräte schnell in Unternehmensgewerkschaften.

gäBe es eIne alTernaTIVe zur uaw? Nein. Das wäre so, als wür-de man in Deutschland sagen: Opel soll nicht von der IG Metall organisiert werden, wir suchen uns da jetzt mal eine Alternative. Die UAW organisiert die Autoindustrie in den USA. So ist das nun mal, sie ist die zuständige Gewerkschaft.

was Muss dIe uaw nun Tun? Es ist wichtig, dass sich die UAW nun nicht einfach aus Chattanooga zurückzieht. Das Wahlergebnis zeigt, dass viele VW-Beschäftigte eine gewerkschaftliche Vertre-tung wollen. Diese Solidarität vor Ort muss erhalten werden. Au-ßerdem muss die UAW eine Strategie entwickeln, wie sie auf die Angstkampagnen der Gegenseite antworten kann.

IHr fazIT? Das Rennen ist noch nicht gelaufen. ■

kommt“, sagt Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall, vor Wirt-schaftsjournalisten. Wenn sich die Wogen geglättet haben, werde man einen neuen Versuch unternehmen. Im Süden der USA arbeiten immerhin rund 100 000 Beschäftigte bei deutschen Metall-Unternehmen. Die meisten nicht bei Autokonzernen wie VW, BMW und Daimler, sondern bei Zulieferern wie Bosch, Schaeffler, ZF Friedrichshafen oder auch bei Siemens.

Vom Tisch ist der Kampf um die Arbeitnehmerbeteiligung in den US-Süd-staaten nicht. „Wir geben nicht auf“, sagt VW-Mann Patta. Die UAW hat Einspruch bei den Behörden erhoben wegen der Einmischung von Senator Corker. Die Erfolgsaussichten sind ungewiss, im besten Falle lässt das NLRB die Wahl wiederholen. Aus eigenem Antrieb kann die US-Gewerkschaft neue Wahlen frühestens nach zwölf Monaten anstreben. UAW und VW-Betriebsrat sind weiter in Kontakt, Ende März besuchte Bob King den VW-Betriebsrats-chef Bernd Osterloh in Wolfsburg.

Die UAW hat vorerst ohnehin mit anderen Problemen zu kämpfen. Weni-ge Wochen nach der verlorenen Wahl verkündete die Gewerkschaftsführung, dass sie die Mitgliedsbeiträge erhöhen möchte – um einen halben Stundenlohn

im Monat. Bislang zahlen UAW-Mitglieder 1,15 Prozent ihres Einkommens als Beitrag, künftig würden es dann rund 1,45 Prozent sein.

Der Streikfonds der Autogewerkschaft ist seit 2006 von 930 Millionen auf 627 Millionen Dollar geschmolzen. Für Kampagnen wie die bei VW zweigte die Gewerkschaft mit Billigung ihrer Basis in den vergangenen Jahren Geld aus dem Streikfonds ab. Dies will die Führung nun stop-pen, um die Kampffähigkeit der Gewerkschaft zu erhalten. Bob Kings designierter Nachfolger Dennis Williams tourt gerade von Local, den örtlichen Gewerkschaftsbezirken, zu Local. Als Hauptkassierer der UAW erläutert er den Mitgliedern die Finanzsituation. Die UAW tut das mit erstaunlicher Offenheit. Alle Zahlen liegen offen, auch die Verdienste der Gewerkschaftsoberen.

Das zeigt: Das Klischee von der alten UAW, die krum-me Deals in Hinterzimmern abschließt, ist passé. ■

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Als ihr altes Diensthandy vor einem Jahr beinahe ausei-nanderfiel, nahm Katja M. das Angebot ihres Arbeit-gebers an und tauschte es gegen ein iPhone 5 aus. „Ich habe das zunächst als befreiend empfunden“, sagt die

40-Jährige, die in der Forschungsabteilung eines großen deutschen Chemieunternehmens tätig ist. „Du kannst schneller reagieren, es wurde Druck aus dem dichten Arbeitsalltag genommen.“ Bald be-arbeitete sie jeden Abend Mails. Dass sie selbst nicht mehr abschal-ten konnte, fiel ihr erst auf, als wegen einer Sicherheitslücke im Apple-Betriebssystem sämtliche Firmengeräte ein Software-Update bekamen. Weil dabei technisch etwas schiefging, waren die iPhones des Unternehmens plötzlich auf unbekannte Zeit außer Betrieb. „Wenn ich die Firma verlasse, bin ich jetzt wieder offline“, sagt die Pharmakologin. „Seit zwei Wochen weiß ich wieder, wie sich Feier-abend anfühlt.“

das zeITregIMe der arBeIT lÖsT sIcH auf_ Der Einsatz mobiler Endgeräte ist nur die Spitze des Eisbergs, meint der Sozialforscher und Arbeitsrechtler Gerd Nies. „Mindestens genauso wichtig ist die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen selber. Die orts-gebundene Produktion hat sich aufgelöst, heute wird arbeitsteiliger gefertigt, an verschiedenen Orten“, sagt Nies, der lange im Vorstand von IG Medien und ver.di tätig war. Damit löse sich auch das feste Zeitregime der Arbeit auf.

Dem DGB-Index „Gute Arbeit“ von 2011 zufolge müssen 27 Prozent der Beschäftigten „sehr häufig oder oft auch außerhalb ih-rer Arbeitszeit für betriebliche Belange erreichbar sein“. Am gravie-rendsten ist die Situation im Dienstleistungssektor. In Pflege, Bildung und Forschung müssen über 40 Prozent der Beschäftigten regelmä-ßig außerhalb ihrer Arbeitszeit verfügbar sein, heißt es in einer Ana-lyse von ver.di. Eine aktuelle Expertise der Bundesanstalt für Ar-beitsschutz und Arbeitsmedizin kommt zu dem Schluss, „dass man für die Mehrheit der deutschen Beschäftigten von einer erweiterten arbeitsbezogenen Erreichbarkeit sprechen kann“. Das hat gesund-heitliche Folgen: „Je mehr Arbeitsangelegenheiten ins Privatleben

Recht auf Abschalten arBeITsgesTalTung Durch das mobile Internet sind Arbeitsaufgaben auch in Freizeitphasen ständig präsent. Bis heute gibt es kaum Betriebsvereinbarungen, die der modernen Arbeit gerecht werden, befindet eine aktuelle Böckler-Studie. Bei Evonik, BMW, VW werden Regelungen erprobt.

Von jÖrn Boewe und joHannes scHulTen, Journalisten in Berlin

Einzug halten, desto größer sind arbeitsbedingte Befindensbeein-trächtigungen (Burn-out, Stress, Nicht-Abschalten, Schuldgefühle).“

Dass Handlungsbedarf besteht, haben Gewerkschaften, Betriebs-räte und mittlerweile auch viele Unternehmen erkannt. Doch die neuen Herausforderungen können mit den herkömmlichen Instru-mentarien nur unzureichend bewältigt werden. Gerade hat Nies gemeinsam mit der Arbeitssoziologin Gerlinde Vogl im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung rund 100 betriebliche Vereinbarungen zum Umgang mit mobiler Arbeit untersucht. Das Ergebnis war ernüch-ternd: „Es gibt kaum Regelungen, die der modernen Arbeit in ihrer Komplexität gerecht werden.“

grenzen BeTrIeBlIcHer regelungen_ Eine halbe Stunde nach Ende der Gleitzeit wird bei Volkswagen die Mailsynchronisierung für die 1100 Firmen-Blackberrys abgeschaltet. Die 2011 durchge-setzte Betriebsvereinbarung wurde zunächst überwiegend positiv aufgenommen. Doch mittlerweile mehren sich kritische Stimmen. „Die Regelung löst das Problem nicht wirklich, sie reduziert ja nicht den Arbeitsumfang“, sagt Nies. „Die Mails, die die Leute abends nicht mehr lesen, haben sie dann morgens geballt.“ Für erfolgver-sprechender hält er den Weg, den man bei BMW geht: Mitarbeiter können die Mobilarbeit in ihre Arbeitszeitkonten eintragen und als Freizeit ausgleichen. Dies sei „spannend, weil man damit nicht ver-sucht, Menschen, die mobil arbeiten, in ein Zeitkorsett zu stecken“, so der Forscher.

Derart weitgehende Betriebsvereinbarungen gibt es in der Chemie- und Pharmaindustrie bislang nicht. Allerdings will die IG BCE ihren Betriebsräten den Rücken stärken, „damit sie das Thema frühzeitig erkennen und handlungsfähiger werden“, sagt Sören Tuleweit, der beim IG-BCE-Vorstand für „gute Arbeit“ zuständig ist. Für beispiel-haft hält er das Konzept „Always on“, das seit Anfang 2013 bei der Essener Evonik Industries verfolgt wird: Führungskräfte werden geschult, um einen bewussteren Umgang mit mobilen Endgeräten zu erreichen. Es gibt die klare Vorgabe, den Mailverkehr außerhalb der Arbeitszeit auf Notfälle zu begrenzen. Eine Kontrollsoftware misst

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Gerlinde Vogl/Gerd Nies: MoBIle arBeIT. Betriebs- und Dienstvereinbarungen – Analyse und Handlungsempfehlun-gen. Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung. Frankfurt am Main, Bund-Verlag 2013

mehr informationen

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monatlich die Aktivität der einzelnen Endgeräte, aufgeschlüsselt nach Tageszeiten und Wochentagen. Auf diese Weise soll ein „er-höhtes Bewusstsein über alle Ebenen hinweg“ entstehen, sagt der Projektverantwortliche Frank Lelke. Auch wenn es sich dabei um eine „Top-down“-Handlungsanweisung des Unternehmens han-dele, könne das Konzept richtungweisend für künftige Betriebs-vereinbarungen sein, meint Tuleweit.

Tarifpolitisch geht ver.di das Thema bei der Deutschen Tele-kom an. Seit Herbst verhandelt die Gewerkschaft über einen „Tarifvertrag zur Identifikation und Auflösung betrieblicher Überlastungssituationen“. Was etwas sperrig klingt, ist als Hand-habe für Betriebsräte gedacht, konkrete Gefährdungsanalysen und Abhilfemaßnahmen zu entwickeln. Nach den Vorstellungen der Gewerkschaft sollen für jeden Bereich Indikatoren vereinbart werden, mit denen die Belastungssituation gemessen und in einem „Ampelmodell“ abgebildet wird. Geraten Mitarbeiter in den „gelben“ oder „roten“ Bereich, stellen die Betriebsparteien einen verbindlichen Maßnahmen- und Zeitplan auf. Kommt keine ein-vernehmliche Lösung zustande, wäre eine Entscheidung vor der Einigungsstelle erzwingbar.

recHT auf nIcHTerreIcHBarkeIT_ Letztlich sei das Problem zu komplex, um es allein auf betrieblicher oder tarifpolitischer Ebene zu lösen, gibt ver.di-Bundesvorstandsmitglied Lothar Schröder zu bedenken. „Über zwei Jahrzehnte hinweg hat man, gesteuert durch Benchmarks, den Menschen in den Betrieben weisgemacht: Leute, ihr seid zu langsam, ihr seid zu ineffektiv, wir sind mit zu viel Personal unterwegs. Das hat zu kulturellen Verwerfungen geführt, die man nicht dadurch repariert, dass man nach 18 Uhr einen Mailserver abschaltet.“ Schröder plädiert für mehr betriebliche Gefährdungsanalysen, für Tarifverträge, die die Arbeitsbelastung begrenzen, und für ein gesetzlich verbrieftes „Recht auf Nichterreichbarkeit“, wie es die Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ 2013 in ihrem Bericht for-derte. Anliegen, die auch der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wet-zel kürzlich bekräftigte.

Nötig sei letztlich eine Überarbeitung der Mitbestimmungs-rechte, insistiert Arbeitsrechtler Nies. Das Betriebsverfassungsge-setz bilde die neuen Anforderungen mobiler Arbeit nicht hinrei-chend ab. Betriebsräte bräuchten „ein Mitbestimmungsrecht zur Mitgestaltung mobiler Arbeit“, so Nies. „Ich sage das bewusst so pauschal, weil wir es nicht mit Einzelaspekten zu tun haben.“ ■

arBeITssozIologen gerlInde Vogl; gerd nIes; das

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MoBIler endgeräTe: Wieder wissen, wie sich Feierabend anfühlt

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ARBEIT

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leITungsausscHuss der engeren MITarBeITer*: Koordinatoren für ein Netzwerk von rund 100 Personen.

Trendsetter der PersonalarbeitMonTanMITBesTIMMung Seit 50 Jahren sorgen die Engeren Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren Stahl für Impulse. Blick in ein Netzwerk, das hinter den Kulissen agiert

Von dIrk scHäfer, Journalist in Dortmund

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* Auf dem Foto (v. l.): Jörg Disteldorf (Dillinger Hüttenwerke), Michael Maas (Arcelor-Mittal Duisburg), Sabine Vogel (Georgsmarienhütte Holding), Jens Loock (Hüttenwerke Krupp Mannesmann), Ute Dreher (DEW Karriere werkstatt), Marc Schlette (Thyssen-Krupp), Florian Löbermann (Salzgitter); nicht im Bild: Jürgen Brakensiek (Salzgitter Mannesmann Präzisrohr), Thomas Kalle (ThyssenKrupp Steel Europe)

arBeITsdIrekTor scHarTau: Die Montanmitbestim-mung um neue Themenfelder erweitert

zu offenen Auseinandersetzungen. „Die Engeren Mitarbei-ter sind Kompromissfinder“, so Klein-Schneider. „Sozial-politisches Laboratorium“ hat der Dortmunder Soziologe und Historiker Karl Lauschke die Montanmitbestimmung mit ihren personellen Beziehungsgeflechten einmal ge-nannt. Die Engeren Mitarbeiter suchen als „Fachlabo-ranten“ zwischen sozialen und wirtschaftlichen Anforde-rungen in der betrieblichen Praxis zu vermitteln. Der Leitungsausschuss koordiniert die Arbeit und streckt Füh-ler auch zu Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden aus, und Fachausschüsse entwickeln Rezepturen für die sozia-le Personalarbeit. Dutzende Publikationen haben die En-geren Mitarbeiter hervorgebracht, von Arbeitsschutz bis Qualifikationsplanung. Im Zweifel wurde auch mal nicht veröffentlicht. So blieb ein Papier zu immateriellen betrieb-lichen Leistungen in den 80er Jahren unter Verschluss, um Controllern keinen Streichkatalog an die Hand zu geben.

wIe alles anfIng_ Obgleich das Netzwerk in diesem Jahr seit fünf Jahrzehnten existiert, war die Vollkonferenz keine Jubiläumsfeier, es ging sachlich zu. „Unsere Branche kämpft mit großen Problemen“, so Jörg Disteldorf. Le-diglich ein Vortrag von Klaus-Peter Otto erinnerte daran, dass die Arbeitsgemeinschaft ein halbes Jahrhundert exis-tiert. Als Personaler bei der Dillinger Hütte gehörte Otto selbst der Arbeitsgemeinschaft seit 1980 an, von 2002 bis 2011 war er ihr Sprecher. Seit drei Jahren ist er im Ruhe-stand. Mehrere Wochen hat sich Otto seither durch das Archiv der Hans-Böckler-Stiftung gewühlt, sich durch Berge von Protokollen der Konferenzen und Fachaus-schüsse gegraben und die Geschichte der Engeren Mitar-beiter erkundet, so weit er sie nicht selbst schon kannte. Herausgekommen ist nicht nur der Vortrag auf der dies-jährigen Konferenz, sondern auch ein 190 Seiten

örg Disteldorf fasst sich kurz. Der Personaler der Dillinger Hütte ist gerade erneut zum Mitglied des Leitungsausschusses eines Netzwerks gewählt worden, das seit inzwischen fünf Jahrzehnten wesentlich die Geschicke der Belegschaften in den großen Stahlwerken Deutschlands mitbestimmt. „Arbeitsgemeinschaft Engere Mitarbeiter der Arbeitsdi-

rektoren Stahl“ nennt es sich. Für historische Rückblicke aber hat Disteldorf, bisher Sprecher des Gremiums, jetzt wenig Zeit. „Man kann wohl sagen, dass sich die Engeren Mitarbeiter bei sozialverträglichen Personalanpassungen in der Vergangenheit einige Lorbeeren verdienen und die Montanmitbestimmung um neue Felder erweitern konnten“, zieht er ein kurzes Fazit. „Heute aber sind wir noch weit mehr gefordert“, setzt Disteldorf nach. Dann muss er erst mal weiter.

Unter dem Thema „Mitbestimmung und Personalarbeit in Europa“ traf sich das Netzwerk Ende März zur jährlichen Vollkonferenz, die traditionell in Bochum stattfindet. Nicht nur, um Wahlen abzuhalten; die Konferenz ist ein wichtiger Treffpunkt – auch für Arbeitsdirektoren wie Oliver Burkhard von ThyssenKrupp oder Harald Schartau von der Georgsmarienhütte Holding, für Betriebsräte wie den stellvertretenden GBR-Vorsitzenden von Outokompu, Ralf Heppenstiel, und für IG-Metaller wie Jörg Hofmann, den Zweiten Vor-sitzenden der IG Metall.

Dabei ist die Arbeitsgemeinschaft kein formaler Bestandteil der Montanmit-bestimmung. Der Kreis ist informell, die Mitarbeit freiwillig. Doch die Mitglie-der haben erheblichen Einfluss. Ernannt von ihren Arbeitsdirektoren, agieren die Engeren Mitarbeiter nahe am Konzernvorstand – und weitgehend im Stillen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit jedoch sind offen sichtbar. Arbeitsgestaltung, Aus- und Weiterbildung, Entgelte, Arbeits- und Gesundheitsschutz oder Altersvor-sorge – was an Regelungen im Personalbereich Eingang findet in Tarifverträge, in Betriebsvereinbarungen oder auch in Gesetze, wird von den Engeren Mitar-beitern in Zusammenarbeit mit den Belegschaften, Vertrauensleuten, Betriebs-räten, Arbeitnehmervertretern in Aufsichtsräten und Arbeitsdirektoren vorbe-reitet, geprüft oder erdacht. Das nicht allein in der Stahlindustrie, andere Branchen haben Arbeitsergebnisse des Netzwerks übernommen. „Die Engeren Mitarbeiter sind Trendsetter der Personalarbeit“, bringt es Harald Schartau, der Sprecher der Arbeitsdirektoren Stahl, in Bochum auf den Punkt.

sozIalPolITIscHes laBoraTorIuM_ Rund 100 Köpfe zählt das Netzwerk aktuell, einige wenige Frauen sind darunter. Jeder bewegt sich in einem Span-nungsfeld. „Es sind Gewerkschafter, das ist Bedingung. Keiner wäre außerdem in dem Kreis, würde er nicht die Mitbestimmung als hohes Gut betrachten“, sagt Hartmut Klein-Schneider, der die Arbeitsgemeinschaft als Kontaktmann bei der Hans-Böckler-Stiftung mehr als 20 Jahre lang begleitete.

Konfliktfrei ist die Rolle der Engeren Mitarbeiter deshalb nicht, denn als Personaler sind sie auch dem Unternehmen verpflichtet. „Es gehört durchaus dazu, dass die Engeren Mitarbeiter gegenüber Arbeitnehmervertretern auf Konfrontationskurs gehen“, sagt Klein-Schneider. Nur selten aber komme es

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POLITIK

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starkes Werk, das die 50-jährige Historie der Arbeitsge-meinschaft erfasst und sie in den jeweiligen gewerkschafts- und zeitpolitischen Hintergrund einbettet. „Leider ohne Bilder“, sagt Otto. Denn auf Fotos ist er bei seiner Re-cherche nicht gestoßen.

Begonnen hat alles im Spätsommer 1964 auf der Ho-hensyburg in Dortmund. Auf Initiative des Düsseldorfer Zweigbüros der IG Metall und der Hans-Böckler-Gesell-schaft kamen 36 Personaler zusammen, um die Arbeits-gemeinschaft aus der Taufe zu heben. Die Welt von Eisen und Stahl schien noch in Ordnung. Es herrschte Vollbe-schäftigung, die deutschen Stahlkocher übertrafen regel-mäßig die Produktionsrekorde der Vorjahre. Die Mon-tanmitbestimmung war institutionalisierter Bestandteil dieser Welt. „Eine feste Vereinigung von Arbeitsdirektoren untereinander und mit der IG Metall war in den 50er Jahren gescheitert“, berichtet Klaus-Peter Otto.

Hier setzte die Arbeitsgemeinschaft an, um zwischen Arbeits direktoren, IG Metall und Hans-Böckler-Gesell-schaft einen innerbetrieblichen sowie branchenweiten In-formationsfluss in Gang zu bringen. Zugleich wollte man das damals recht bürokratisch geprägte Personalwesen professionalisieren und die Montanmitbestimmung in Be-reichen wie Bildung, Arbeitsgestaltung oder Arbeitsschutz mit Leben füllen. Ein weiteres Ziel war das Rekrutieren von Personalchefs aus dem Kreis. „Arbeitsdirektoren müs-sen Stallgeruch haben und sollen keine unbeschriebenen Blätter sein. Bei uns wurde man daher regelmäßig fündig“, sagt Otto. Aber einen Automatismus gebe es nicht, fügt er hinzu.

MassIVen aderlass BewälTIgen_ Lange Jahre sahen sich die Engeren Mitarbeiter vor allem mit einer Aufgabe konfrontiert: den massiven Stellenab-bau in der Branche sozialverträglich über die Bühne zu bringen. Hatten die deutschen Stahlhersteller 1964 rund 402 000 Beschäftigte, schrumpfte die Zahl bis zur Jahrtausendwende um dramatische 300 000 auf insgesamt etwa 100 000. Danach verlangsamte sich der Aderlass etwas, heute arbeiten etwa 88 000 Menschen im Stahl. „Natürlich kommt man da auch mal an eine Frustgrenze. Aber wir waren immer weit mehr als nur Verwalter des Stellenab-baus“, sagt Otto.

1965 war die Boomphase der Nachkriegsära vorbei, die Stahlkonjunktur rutschte ab. Neue Produktionstechniken wurden eingeführt, Kapazitäten ab-gebaut. 1966 prognostizierte die Arbeitsgemeinschaft, dass der Schrumpfungs-prozess bis 1970 jährlich 17 000 Stellen kosten werde. „Eine Größenordnung, die gezielte Maßnahmen zur Umsetzung, Umschulung und vorzeitigen Pensi-onierung erforderlich macht“, konstatierte damals der Fachausschuss Beschäf-tigungspolitik.

Zwei Jahrzehnte ließ sich der sozialverträgliche Stellenabbau per Vorruhe-stand, Versetzung und Abfindung durchhalten, dann gerieten die Instrumente ins Wanken. Die Betroffenen schieden immer jünger aus, die systematische Frühverrentung belastete zunehmend die Unternehmen und auch die öffent-lichen Kassen. Obendrein gab es in den von Fusionen, Kapazitätsanpassungen und Auslagerungen geprägten Stahlkonzernen immer weniger Möglichkeiten, Beschäftigte anderswo unterzubringen.

Neue Ideen waren gefragt. Eine war die 1987 gegründete Stahlstiftung Saar-land. Mit ihr initiierten der damalige Dillinger Arbeitsdirektor Peter Hartz und seine Engeren Mitarbeiter die erste Beschäftigungsgesellschaft. „Das war etwas völlig Neues“, so Klaus-Peter Otto. Öffentliche Gelder flossen nicht direkt in den klammen Stahlkonzern, sondern in die Stiftung. Die unterstützte die frei-gesetzten Stahlarbeiter finanziell, doch das war nicht alles: Ehemalige Stahlwer-ker wurden über die Stiftung weiterqualifiziert und umgeschult und erhielten

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eine „moralische Rückfahrkarte“. „Als wenig später die Stahlkonjunktur im Saarland wieder anzog, konnten etliche sie einlösen“, blickt Otto zurück.

In rHeInHausen PlaTzT der kessel_ Qualifizieren statt entlassen – das sollte bald auch im Ruhrgebiet zum Tragen kommen, wo Thyssen, Krupp, Hoesch und andere Stahlfirmen sich 1987 von Zehntausenden Mitarbeitern trennen wollten. Eine von der IG Metall vorgeschlagene branchenweite Be-schäftigungsgesellschaft Ruhr scheiterte am Widerstand der Arbeitgeber. Doch einigten sich beide Seiten im Sommer 1987 in der sogenannten Frankfurter Vereinbarung darauf, betriebsbedingte Kündigungen auszuschließen und un-ter Beteiligung der Unternehmen Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Kurz darauf kam es zum Bruch und nicht nur aus Sicht der Engeren Mitarbeiter zum GAU. Trotz der vorherigen Zusage, das Krupp-Stahlwerk in Duisburgs Stadtteil Rheinhausen erhalten zu wollen, verkündete der Vorstand im November das Aus für die Hütte. „Bis dahin war es immer gelungen, Konsens herzustellen“, kommentiert Marcus Mogk, damals Personaler bei Krupp und lange Jahre Mitglied des Leitungsausschusses der Arbeitsgemeinschaft. Man habe die Freigesetzten immer komfortabel betten können, so Mogk. Mitunter sahen sich die Engeren Mitarbeiter deshalb von Betriebsräten mit dem Vorwurf konfrontiert, nichts weiter zu sein als ein Ventil, das Dampf aus dem Kessel nimmt. In Rheinhausen platzte er.

Mit den Rheinhausener Kruppianern waren keine Kompromisse zu machen. Bis zum Frühjahr 1988 kämpften sie – auch gegen den Willen der IG-Metall-Spitze – gegen die Stilllegung. Es half bekanntlich nicht, das Werk wurde geschlossen. Das allerdings zeitlich gestreckt bis 1993. Nach dem Vorbild aus dem Saarland wurden Qualifizierungs- und später Transfergesellschaften ge-gründet, die in anderer Form zum Teil heute noch existieren. Wenigstens einem Teil der Beschäftigten wurde so eine neue berufliche Perspektive geboten oder ein gleitender Übergang in den Vorruhestand ermöglicht. Nach der Wende übertrugen die Engeren Mitarbeiter die gemachten Erfahrungen auf die dar-

benden Stahlkombinate in Ostdeutschland, etwa auf Eko Stahl. Auch die Fusion von Krupp und Hoesch und später die von Thyssen und Krupp begleiteten sie mit vergleich-baren Instrumenten. Der Personalabbau war danach je-doch keineswegs vorbei, doch wurde Ende der 1990er Jahre auch Beschäftigungssicherung zu einem Baustein. „Wir konnten die Personalarbeit aktiver gestalten und aufzeigen, dass der Weg zu höherer Wettbewerbsfähigkeit nicht allein über Entlassungen führt“, sagt Klaus-Peter Otto – über neue Instrumente wie Gruppenarbeit, Ergeb-nisverbesserungsprogramme unter Beteiligung von Be-triebsräten und Beschäftigten sowie die Sicherung durch Arbeitszeitkonten.

werTorIenTIerTe PersonalarBeIT_ Heute sieht man sich mit neuen Problemen konfrontiert. Der Einsatz von Fremdfirmen ist ausgeufert, trotz hoher Ausbildungsquo-ten muss dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden, die Belegschaften sind stark gealtert. „Es geht jetzt darum, die Belegschaften zu halten, ihr Wissen zu erweitern und den Wissenstransfer zu organisieren, um wettbewerbsfä-hig zu bleiben“, sagt Jörg Disteldorf.

Er umreißt damit ein neues Selbstverständnis: Die En-geren Mitarbeiter sehen sich längst als Dienstleister, die mit mitbestimmungsorientierten Personalstrategien zum Un-ternehmenserfolg beitragen. Ein Balanceakt, zumal unter dem Schlagwort „Human Ressource Management“ neue Konzepte die Personalabteilungen erobert haben, die der Mitbestimmung ihren Platz streitig machen wollen. Danach sind Mitarbeiter zwar nicht mehr nur Kostenfaktor, es zäh-len auch weiche Werte wie Qualifikation, Arbeitssicherheit oder Motivation. Die gilt es zu steigern – dies allerdings ausschließlich im kurzfristigen Aktionärsinteresse und ohne Mitbestimmung. „Wenn es uns auch in 50 Jahren noch geben soll, müssen wir die mitbestimmungsorientierte Per-sonalpolitik noch weit stärker vertreten und wieder Trends setzen“, fordert Jörg Disteldorf zum Abschluss der Bochu-mer Konferenz. Der Spagat wird weitergehen. ■

Klaus-Peter Otto: MonTanMITBesTIMMTe Perso-

nalarBeIT. 50 Jahre Arbeitsgemeinschaft Engere Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren Stahl. HBS-Arbeits-papier Nr. 299, Düsseldorf 2014, 190 Seiten, 28 Euro. Bestellnummer 11299 per Mail bei [email protected]. Kostenloser Download unter: http://bit.ly/1ebu1nt

Eine Dokumentation der Voll-Konferenz mit den Referaten finden Sie auf unserer Website unter http://boeckler.de/28733_45809.htm

mehr informationen

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BeseTzung In rHeInHausen

1987: „Weit mehr als Verwalter des Stellenabbaus“

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IM kÜHlHaus des fleIscH-

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MannHeIM: Branche öffentlich unter Beschuss geraten

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Werkvertragsnehmer mit im BootTarIfPolITIk Der angekündigte gesetzliche Mindestlohn zeigt in der bislang weitgehend tarifvertragsfreien Fleischindustrie Wirkung: Jetzt haben sich die Tarifvertragsparteien auf einen Branchenmindestlohn geeinigt. Der gilt – über das Entsendegesetz – auch für die ausländischen Beschäftigten mit Werkverträgen.

Von gunTraM doelfs, Journalist in Berlin

Wohl kaum eine Branche ist in den vergangenen Jah-ren wegen ihrer oft skandalösen Arbeitsbedingun-gen so unter Beschuss geraten wie die deutsche Fleischindustrie. Seit vielen Jahren werden dort

durch Missbrauch von Werkverträgen besonders osteuropäische Arbeitnehmer zu menschenunwürdigen Konditionen beschäftigt: reale Stundenlöhne von teilweise drei Euro, Unterbringung in völlig überbelegten und heruntergekommenen Unterkünften, fehlende Ge-sundheitsversorgung und Subunternehmerketten, die in einigen Fäl-len eine bedenkliche Nähe zum organisierten Verbrechen aufweisen.

Lange Zeit rannte die Gewerkschaft NGG vergeblich gegen die Tatenlosigkeit von Politik und Wirtschaft an, um diese Zustände endlich zu beenden. Nun zeigen die schlechten Schlagzeilen offenbar Wirkung: Ab dem 1. Juli 2014 kann der Mitte Januar vereinbarte tarifliche Mindestlohn für alle rund 80 000 Arbeitnehmer in Kraft treten. Die Grundlage dafür, dass er auch für die ausländischen Beschäftigten mit Werkverträgen gilt, schuf die Bundesregierung am 26. Februar – mit einem Gesetz zur Aufnahme der Fleischindustrie in das Entsendegesetz. So kann der Mindestlohn auch für die in Subunternehmerketten beschäftigten Werkvertragsarbeitnehmer – trotz der weitgehenden Tariffreiheit der Branche – schnell für allge-meinverbindlich erklärt werden.

HolPrIge VerHandlungen_ Für den NGG-Vizevorsitzenden Claus-Harald Güster bedeutet der Tarifvertrag über den Mindest-lohn zwar „keine Zeitenwende für die Branche, aber immerhin ist er ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Güster, der auch Ver-handlungsführer der Gewerkschaft war. Er hofft darauf, dass nun in der bislang weitgehend tarifvertragsfreien Fleischindustrie auch der Weg hin zu einem Flächentarifvertrag gegangen werden kann. Auch Arbeitgeber-Verhandlungsführerin Valerie Holsboer, Ge-schäftsführerin der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss e.V. (ANG), zeigte sich nach dem Abschluss zufrieden, weil dieser die Akzeptanz der Unternehmen habe, so Holsboer im ZDF.

Für die schnelle Einführung eines tariflichen Mindestlohnes war die NGG zu Konzessionen bereit. So startet der tarifliche Mindest-lohn im Juli 2014 mit einer Höhe von 7,75 Euro, um dann sukzes-sive bis auf 8,75 Euro ab dem 1. Dezember 2016 zu steigen. Er liegt damit zu Beginn deutlich unter dem geplanten gesetzlichen Min-destlohn von 8,50 Euro und überschreitet dessen Höhe erst ab Ok-tober 2015. Andererseits gibt es keine unterschiedlichen Mindest-löhne in Ost und West.

Der einheitliche Mindestlohn ist für die NGG ein zentraler Punkt der Einigung. „Wir wollten unbedingt Einheitlichkeit erreichen, auch wenn das intern in der NGG für Diskussionen gesorgt hat. In

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POLITIK

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InTerVIew

„Die marktbedingungen sind dann für alle gleich“

wesTfleIscH wIll werkVer-

TragsarBeITneHMer zukÜnfTIg

dIrekT BescHäfTIgen. aB wann

wIrd das der fall seIn? Wir ha-ben seit Anfang März für die kom-mende Grillsaison 143 rumänische Mitarbeiter fest angestellt, zunächst befristet für ein halbes Jahr. Insge-samt gehen wir von rund 200 rumä-nischen Beschäftigten aus, die direkt bei einer Konzerntochter beschäf-tigt sein werden. Diese Mitarbeiter stellen wir übrigens zu einem Stun-denlohn von 8,50 Euro ein.

waruM HaBen sIe sIcH jeTzT zu dIeseM scHrITT enTscHlos-

sen? war der ÖffenTlIcHe druck zu gross? Westfleisch ver-sucht bereits seit 2007, bestimmte Standards auch im Bereich der Subunternehmer durchzusetzen. Wir haben schon 2007 einen Min-destlohn von 7,50 Euro für Werkvertragsarbeitnehmer festgelegt. Jeder Subunternehmer, der mit uns einen Vertrag abschließen woll-te, musste garantieren, dass er seinen Mitarbeitern 7,50 Euro brut-to pro Stunde zahlt. Zudem musste er zustimmen, dies von exter-nen Wirtschaftsprüfern prüfen zu lassen.

HaBen dIese konTrollen TaTsäcHlIcH sTaTTgefunden? Ja, haben sie. Es gab auch Abweichungen, die zum Teil zu empfindli-chen Geldstrafen geführt haben. Wir haben den Werkvertragspart-nern vorher gesagt: Wenn ihr euch nicht daran haltet, müsst ihr mit einem Bußgeld von bis zu 25.000 Euro rechnen. Bußgelder in dieser Höhe haben wir insgesamt vier oder fünf Mal ausgesprochen. Hin-zu kamen weitere Bußgelder, die sich auf rund 10.000 Euro sum-mierten. Das kassierte Geld haben wir den Betriebsräten zur Verfü-gung gestellt, die damit karitative Zwecke unterstützten.

sIe sTIMMen sIcH In dIeser frage eng MIT deM BeTrIeBsraT

aB? Es läuft nur in Absprache mit den Betriebsräten. Unser Selbst-bild bei Westfleisch ist von dem Anspruch geprägt, qualitativ hoch-wertige Produkte zu erzeugen, mit den Tieren schonend umzuge-hen und der Verantwortung allen Mitarbeitern gegenüber gerecht zu werden. Bei uns als genossenschaftlich geführtem Unternehmen

zählen solche Werte vielleicht mehr als in einem inhabergeführten Unternehmen.

IsT dIe fesTansTellung der ruMänIscHen MITarBeITer fÜr

eIn HalBes jaHr nur eIn TesTlauf? Das hängt davon ab, wie sich das Projekt entwickelt und wie erfolgreich es tatsächlich ist. Im Gegensatz zu deutschen Mitarbeitern, die die Sprache beherrschen und lokal vernetzt sind, ist die Anstellung von 200 nicht deutsch-sprachigen Arbeitnehmern eine Herausforderung. Wir haben des-halb extra eine Rumänin eingestellt, die seit mehreren Jahren in Deutschland lebt und die sich nun um die administrative Begleitung der Mitarbeiter kümmert. Sie übersetzt, geht mit den Mitarbeitern auf ämter. Wir müssen nun schauen, wie sich dieses Umfeld insge-samt entwickelt – und natürlich müssen wir darauf achten, wie die-se Aktion in der lokalen Öffentlichkeit aufgenommen wird. Wir Deutschen sind nicht immer gastfreundlich.

sIe sTellen dIe ruMänIscHen arBeITerneHMer nIcHT nur

dIrekT an, sondern geHen aucH sonsT andere wege als

IHre konkurrenz – eTwa BeI der BescHaffung Von woH-

nungen. Richtig. Wir koordinieren und helfen den Mitarbeitern bei der Wohnungssuche. Wir sprechen dazu Vermieter an, wir vermie-ten aber nicht selbst – und es gibt auch keine Abzüge vom Entgelt. Für die Mitarbeiter wird es damit leichter, eine Wohnung zu finden. Etwas ähnliches machen wir beim Transport der Mitarbeiter.

was MeInT das konkreT? Wir bieten einen Bustransfer an. Der Mitarbeiter kann das Angebot annehmen, muss aber nicht. Wenn er es macht, sind Preise und Konditionen fix. Es ist ein Angebot, keine Verpflichtung mit Entgeltabzug. Die Leute nutzen das gerne.

wIrd der nun VereInBarTe MIndesTloHn In der BrancHe

IHreM unTerneHMen wIrTscHafTlIcHe ProBleMe BereITen?

Nein, davon gehen wir nicht aus.

erwarTen sIe also eInen PosITIVen effekT durcH den MIn-

desTloHn? Zumindest in der Hinsicht, dass die Marktbedingungen dann für alle gleich sind. Inwiefern die Branche die dadurch insge-samt gestiegenen Kosten gegenüber den Kunden im Einzelhandel wird durchsetzen können, ist allerdings eine andere Frage. ■

Die Fragen stellte gunTraM doelfs.

Westfleisch-Personalchef Oliver Reich über die Integration von 200 rumänischen Beschäftigten in seinem Unternehmen und die veränderungen, die der vereinbarte mindestlohn für die Branche bedeutet

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VerzIcHT auf werkVerTräge?_ Inzwischen fordern Betroffene und NGG, Werkvertragsarbeitnehmer direkt bei den Unternehmen anzustellen und damit den Missbrauch durch Subunternehmerketten zu verhindern. Noch sind viele Arbeitgeber kategorisch dagegen, aber die Front bröckelt. Bernd Stange, Geschäftsführer von Vion Food Deutschland, plädierte im „Berliner Tagesspiegel“ bereits im Oktober 2013 dafür, sich vom „Modell der Werkverträge zu verab-schieden“. Bei Westfleisch, immerhin Nummer drei der Branche, sind für die diesjährige Grillsaison seit März rund 200 rumänische Werkvertragsarbeiternehmer erstmals direkt bei einer Konzerntoch-ter angestellt.

Der ostwestfälische Großschlächter hatte auf Wandel gesetzt, nachdem er 2005/2006 selbst in die Schlagzeilen geraten war und Ermittlungen gegen Subunternehmer und Westfleisch-Manager nur gegen eine Zahlung von 100.000 Euro und eine Nachzahlung von 2,4 Millionen Euro Sozialbeiträgen eingestellt worden waren. 2007 schloss man mit der NGG Tarifverträge und führte zudem einen internen Mindestlohnlohn von 7,50 Euro ein. Neben der jüngst beschlossenen Übernahme von Werkvertragsarbeitern unterstützt Westfleisch die Rumänen auch bei der Wohnungssuche und organi-siert auch einen Transport zum Betrieb – ohne dafür horrende Kos-ten vom Arbeitslohn abzuziehen.

Für die NGG bleibt Westfleisch in puncto Beschäftigung von Werkvertragsarbeitnehmern ein positives Beispiel dafür, wie man es besser machen kann – wenn man nur will. Auch das Management von Westfleisch sucht inzwischen den normalen sozialpartnerschaft-lichen Dialog mit der Gewerkschaft. „Das sture Schalten auf Kon-frontation hilft keiner Seite“, sagt Westfleisch-Personalchef Oliver Reich. ■

einem hohen solidarischen Akt stimmten unsere Westkollegen jedoch zu, auch im Westen für kurze Zeit unter 8,50 Euro zu bleiben, wenn wir damit einen einheitlichen Mindestlohn hinbekommen“, so Güster.

Wie heikel die Tarifverhandlungen waren, zeigt deren Verlauf. Schon vor Weihnachten wurden die im Oktober gestarteten Ver-handlungen abrupt wieder beendet, als der regionale Arbeitgeber-verband VDEW (Verband der Ernährungswirtschaft), der sie zu-nächst führte, diese ohne Nennung eines neuen Termins abbrach. Die Arbeitgeber wollten laut Güster eine Höhe von 8,50 Euro nicht akzeptieren und strebten dazu noch eine Laufzeit bis 2018 an. Wo-mit der VDEW offenbar nicht gerechnet hatte, war der Frust und der zunehmende Druck auch von Arbeitgebern außerhalb der Fleischwirtschaft, eine Einigung mit der NGG zu erzielen – und so die Branche endlich aus den Negativschlagzeilen zu bekommen. Laut „FAZ“ intervenierte sogar BDA-Präsident Ingo Kramer und sorgte dafür, dass der ANG als Bundesverband der Branche die Verhandlungen auf Arbeitgeberseite übernahm.

arBeITsBedIngungen weITer VerBesserungswÜrdIg_ Bei der NGG bleibt man gleichwohl skeptisch, denn der beste Mindestlohn „taugt nichts, wenn er nicht konsequent kontrolliert wird“, sagt Matthias Brümmer, Geschäftsführer der NGG-Region Oldenburg/Ostfriesland, wo ein Großteil der deutschen Fleischfabriken ihren Sitz hat. Brümmer spricht aus leidvoller eigener Erfahrung. Der Zoll hat bislang nicht nur viel zu wenig Personal für Kontrollen. Ihm wird auch regelmäßig von politischer Seite die Kontrollarbeit er-schwert, wie Ende 2012 ein Zollverantwortlicher eindrucksvoll auf einer von Brümmer organisierten Veranstaltung im oldenburgischen Essen schilderte. Schließlich ist die Fleischindustrie einer der größten Arbeitgeber in der Region. NGG, aber auch regionale Politiker wie der niedersächsische Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) fordern deshalb, umgehend die offenen Stellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu besetzen und die Staatsanwaltschaften auszubau-en. Etwa durch „Bildung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft“, wie Matthias Brümmer vorschlägt. Auch hier muss der Bund han-deln, denn als Abteilung des Zolls wird die Finanzkontrolle Schwarz-arbeit durch den Bund finanziert.

Zudem wird mit dem Mindestlohn und seiner Aufnahme in das Entsendegesetz nur ein Aspekt geregelt. Viele weitere Punkte der Arbeitsbedingungen müssen entweder tarifvertraglich, gesetzlich oder schlicht durch eigentlich selbstverständliches Handeln der Ar-beitgeber verbessert werden. Dazu zählen menschenwürdige Unter-künfte und ein kostenloser Transport zum Arbeitsplatz. Bislang nehmen nämlich viele Subunternehmer ihren rumänischen oder bulgarischen Arbeitern durch hohe Mieten oder zusätzliche Trans-portkosten einen erheblichen Teil des ohnehin kargen Salärs gleich wieder ab. Auch andere wichtige Punkte wie die Einhaltung von Arbeitszeiten oder die Frage von Urlaubsgeld sind weiterhin unge-klärt.

wesTfleIscH

Die Westfleisch-Gruppe ist mit einem Jahresumsatz von rund 2,5 Milliarden Euro (2013) die Nummer drei der deutschen Fleischindustrie, nach Tönnies und Vion und vor Danish Crown. Die 1928 gegründete Genossenschaft mit Hauptsitz in Münster zählt rund 4000 Mitglieder, überwiegend Land-wirte, und beschäftigt nach eigenen Angaben derzeit rund 2000 Mitarbeiter fest. Hinzu kommen vor allem saisonal rund 2000 Vertragsarbeitnehmer. Westfleisch schließt seit 2007 Tarifverträge mit der NGG; zudem gibt es einen Betriebsrat.

Genossenschaft mit Betriebsrat

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POLITIK

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Damals chile, heute die WeltsolIdarITäT Als 1973 die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allende gestürzt wurde, wurde ein Solidaritätsfonds für Verfolgte gegründet, an dem sich Böckler-Stipendiaten finanziell beteiligten. Bis heute leistet er Hilfe über alle Grenzen hinweg.

Von andreas MolITor, Journalist in Berlin

cHronIsTIn eIssenBerger:

„Das waren verängstigte, entwurzelte Menschen.“

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lung nicht mehr gemeldet. Wie soll man unter solchen Voraussetzungen einen Zuschuss bewilligen?

aM anfang war PInocHeT_ „So ähnlich lief das Ver-fahren auch vor 40 Jahren“, erinnert sich Gabriele Eis-senberger, eine der Pionierinnen des Soli-Fonds. Am Schreibtisch ihrer kleinen Mietwohnung in Berlin-Kreuz-berg entstand ein Buch über die ersten zwei Jahrzehnte.* Wer der geistige Vater des Fonds war? Aus der Küche, wo Eissenberger gerade einen Tee aufbrüht, klingt ein kurzes, bellendes Lachen herüber. „Augusto Pinochet!“ Die Ge-schichte des Fonds ist untrennbar mit den Ereignissen nach dem Militärputsch am 11. September 1973 gegen die Re-gierung Allende verbunden. „Im Fernsehen sahen wir die Panzer und die Inhaftierten“, erzählt Eissenberger, damals Aktivistin bei Amnesty International.

„Wir kannten die Berichte von Folterungen und Hin-richtungen, und wir wussten, dass die Gewerkschaftsbe-wegung völlig plattgemacht worden war.“ In vielen Städ-ten gründeten sich damals Chile-Komitees. Auch bei den Stipendiaten der Stiftung begann nach dem Putsch eine Diskussion über Solidarität mit den verfolgten Chilenen. Aus dem Kreis der Stipendiaten und Vertrauensdozenten entsprang die Idee für einen Spendenfonds, der geflohenen chilenischen Studenten ein Studium in Deutschland finan-zieren sollte. Am 5. Februar 1974 beschloss der Vorstand der Stiftung die Gründung eines Chile-Solidaritätsfonds.

In den ersten Jahren nach dem Putsch finanzierte er vorrangig Stipendien und Sprachkurse für Chilenen, die geflüchtet waren oder deren Gefängnisstrafe in ein Zwangsexil umgewandelt worden war. „Das waren ver-ängstigte, entwurzelte Menschen, die zum Teil unvor-

ochen Fuchs, Juraprofessor an der Hochschule Madgeburg-Stendal, ist ein Mensch, der das Unkonventionelle wie eine Fahne vor sich herträgt. Zu Konferenzen, die andere im Anzug besuchen, kommt er in Lederhose oder mit T-Shirt, auf dem steht: „Gib Nazis keine Chan-ce“. Aber er ist auch ein Schwabe, einer, der sich freut, wenn „in einem

Projektantrag mit Gebrauchtrechnern statt mit Neuware kalkuliert wird“. Fuchs ist Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Ver-gabekommission des Solidaritätsfonds. Dreimal im Jahr berät das Gremium darüber, welche Projekte, Initiativen und Kampagnen der Solidaritätsfonds mit maximal 5000 Euro fördert.

Auch im 40. Jahr seines Bestehens sind die 2000 Böckler-Stipendiaten aufgerufen, ein Prozent ihres Stipendiums zu spenden; die Stiftung stockt den Beitrag um die gleiche Summe auf. Die Vertrauensdozenten wiederum ver-zichten ganz oder teilweise auf ihre Aufwandsentschädigungen. Allein von Anfang Oktober 2012 bis Ende September 2013 kamen so gut 100.000 Euro zusammen. Die Anträge können von den Projekten selbst, aber auch von Stipendiaten, Altstipendiaten, Gewerkschaftern und Betriebsräten eingereicht werden. In der Vergabekommission gilt das Einstimmigkeitsprinzip: Alle müs-sen hinter dem Antrag stehen.

Bei der Oktober-Tagung fand unter anderem die Reise eines bolivianischen Theaterensembles nach Deutschland und sein Stück über den Kampf um die Ressource Wasser einhelligen Zuspruch. Auch eine Zeitungsbeilage zur Situ-ation rund um das Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf, eine Broschüre zur Lage von Roma in Serbien, eine Kampagne gegen die polizeiliche Praxis des „racial profiling“ und Gedenkstättenfahrten im Rahmen einer „antifa-schistischen Geschichtsvermittlung“ überzeugten die Jury.

In einigen Fällen war die Kostenkalkulation nicht nachvollziehbar, in an-deren war auch bei großem Wohlwollen kein politischer Impact zu erwarten. Da hilft auch gestelzte Antragsprosa nicht. „Was ist denn ‚körperliche Deko-lonisierung, die sich an Brechts episches Theater anlehnt‘?“, fragte ein Kom-missionsmitglied genervt. Die Initiatoren einer Werkstatt für missbrauchte Frauen im Kongo hatten sich auf die Bitte um eine detaillierte Kostenaufstel-

VerHafTung Von allende-anHängern (1973), TexTIlarBeIT MIT folTer-szene: „Im Fernsehen sahen wir die Panzer und die Inhaftierten.“

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InTerVIew

„menschenrechte stehen an erster stelle“

wo soll der solI-fonds HIlfe leIsTen?

Wir fördern nationale und internationale Solidaritätsarbeit, die einen „emanzipatori-schen“ Ansatz aufweist – mit den Schwer-punkten Bildung, Unterstützung demokrati-scher Strukturen und gewerkschaftlicher Aktivitäten. Für uns muss erkennbar sein, dass wir damit politisch Verfolgten helfen und eklatante Verstöße gegen Menschen-rechte verhindern oder mildern, etwa gegen Frauen- und Minderheitenrechte oder ge-gen Gewerkschaftsrechte. Die gibt es in Demokratien und Diktaturen. Jeder kann Anträge stellen, und jeder Antrag wird geprüft.

waruM wIrd klassIscHe enTwIcklungsHIlfe nIcHT gefÖr-

derT? Weil jedes Projekt eine politische oder gewerkschaftspolitische Dimension haben sollte. Zudem achten wir darauf, dass die Projekte nicht schon andere staatliche oder suprastaatliche Hilfe erfahren. Rund 60 Prozent der Anträge lehnen wir ab.

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recHTs BÖse. TrägT dIeser gegensaTz nocH? Die Frage der Men-schenrechte und der Menschenwürde steht an erste Stelle, von daher ist die politische Ausrichtung eines Projektes sekundär. Traditionell ha-ben wir überwiegend Projekte aus dem linken Spektrum gefördert – so in Deutschland sehr viele antirassistische und antifaschistische Projekte. Hier besteht Korrekturbedarf. Internationale Projekte sollten fortan stärker im Fokus stehen. Auch jemand, der in China freie, staatsferne Gewerkschaften gründen will oder in einem islamischen Land die Frauen emanzipation fördert, muss mit unserer Hilfe rechnen können.

wIe VIele leuTe MacHen MIT? Bei den Vertrauensdozenten sind es weit über 50 Prozent, die sich finanziell am Soli-Fonds beteiligen. Bei den Stipendiaten sind die Spenden, gemessen am Volumen der ausgezahlten Stipendien, rückläufig.

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sollTe? Wir helfen nicht nur anderen. Der Solidaritätsfonds ist auch Teil der stipendiatischen Selbstverwaltung. Hier kann man sich auspro-bieren und erfahren, wie man die Welt im Kleinen verändern kann. Mehr Gestaltungsspielraum geht kaum. ■

Die Fragen stellte kay MeIners.

Jens Becker, in der stiftung zuständig für den soli-fonds, über dessen selbstverständnis und die chancen von Antragstellern

stellbare Qualen und Erniedrigungen erlitten hatten“, erinnert sich Gabriele Eissenberger. Geschickt nutzte die Stiftung ihren kurzen Draht zu etlichen Arbeitsdirektoren, vor allem in Montanunternehmen. Sie setzten sich dafür ein, dass einige der Exil-Chilenen einen Job bekamen. Oft gelang es, besonders bedrohte Menschen dem Zugriff der Repression zu entziehen.

Später, als der Terror allmählich nachließ, unterstützte der Soli-Fonds die in der Halblegalität wieder aufkeimen-de Gewerkschaftsbewegung. „Meist ging es um ganz ba-nale Dinge“, erzählt Gabriele Eissenberger, die in jenen Jahren etliche Male nach Chile reiste. „Wir mieteten Bus-se, damit sie zu Demos fahren konnten, oder kauften Pa-pier und Matrizen, damit sie Unterlagen drucken konn-ten.“ Gewährsleute vor Ort oder Stipendiaten, die nach Chile reisten, versorgten die Stiftung mit Einschätzungen über die Antragsteller. Kommunisten sollten bei den Pro-jekten nicht in vorderster Front stehen; damit hatte der DGB-Vertreter in der Vergabekommission wiederholt Probleme. Insgesamt spendete der Chile-Soli-Fonds in 20 Jahren mehr als 1,5 Millionen Euro.

neue aufgaBen_ Mit der Rückkehr Chiles zu demokra-tischen Verhältnissen Anfang der 90er Jahre stellte sich die Frage nach der Zukunft des Fonds. Die meisten Chile-Gruppen lösten sich auf. „Pinochet war weg“, erinnert sich Gabriele Eissenberger, „und damit war die Sonder-stellung Chiles nicht mehr zu rechtfertigen.“ Es gab Län-der, in denen Gewerkschaften und politische Opposition weit rücksichtsloser verfolgt wurden als in Chile. Außer-dem formierte sich im wiedervereinigten Deutschland der rassistische Mob. Der Gedanke solidarischer Unterstüt-zung wurde nun in neue Bahnen gelenkt. Der Fonds öff-nete sich für Projekte aus dem In- und Ausland. So ist es bis heute geblieben.

Immer wieder aber kommt es in der Vergabekommis-sion zu Diskussionen, was im Einzelfall unter förderungs-würdiger politisch-emanzipatorischer Arbeit zu verstehen ist. Kein Wunder, schließlich vereint das Gremium Men-schen zwischen Anfang 20 und Anfang 60. Die einen wurden in den frühen 70er Jahren politisch sozialisiert, für die anderen klingen schon die Erzählungen vom Kampf um die 35-Stunden-Woche altväterlich. Der eine oder an-dere Vertreter der Stipendiaten hat ein gerüttelt Maß an Sympathie für fantasievolle Sponti-Aktionen, hart am Rande der Legalität oder auch darüber hinaus, was die Vertrauensdozenten nur schwer nachvollziehen können.

Gleichzeitig ist man sich aber einig, Projekte ohne eine politische Komponente nicht zu fördern. Eine Gratwan-derung für alle Beteiligten. Meist aber gelingt der Brü-ckenschlag. Wer einfach nur irgendwo einen Brunnen

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bauen will, der hat keine Chance. Wenn aber eine „gewerkschaftlich-indigene Basisorganisation“ in den bolivianischen Anden einem abgelegenen Dorf Zu-gang zur knappen Ressource Wasser verschaffen will, sind sich alle einig, das Vorhaben zu unterstützen.

Jede geförderte Initiative muss einen Rechenschaftsbericht über die Ver-wendung der Mittel abgeben, „aber letzten Endes“, sagt Jens Becker, der in der Hans-Böckler-Stiftung für den Solidaritätsfonds zuständig ist, „muss man sich auf seine Konfidenten verlassen können“. Eine solide Evaluation ist im Ausland oft schwer möglich. Im vergangenen September besuchte Vertrau-ensdozent Jochen Fuchs auf eigene Initiative Projekte in Togo und Benin. Sein Fazit fiel, gelinde gesagt, zwiespältig aus. So war die Ausbildung von Schnei-dern, Friseurinnen und Webern zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen; das schwarz-rot-gold angestrichene Ausbildungsgebäude lag verwaist da.

Auch der Elan der Frauengruppen, die Flächen für den Anbau von Nutz-pflanzen gerodet hatten, war deutlich verebbt. Fuchs’ Fazit: „Es handelt sich um reine Charity-Maßnahmen, die keinen unmittelbaren Einfluss auf die po-litische Situation des Dorfes gehabt haben.“ Das passt ihm nicht: „Zunehmend werden Mittel nicht mehr nur für die Unterstützung des ‚harten‘ politischen Kampfes beantragt“, kritisiert Fuchs in einem Zeitungsbeitrag über den Soli-Fonds, „sondern für Projekte, die entweder in der Grauzone zwischen Politik und Alternativkultur angesiedelt sind oder aber gar ‚reine‘ sozialpädagogische Fördermaßnahmen für ‚Mühselige und Beladene‘ darstellen.“

Manches gutwillig bezuschusste Projekt mit politischem Anspruch wäre ob seiner Breitenwirkung durchaus einer Diskussion würdig – die aber nicht immer geführt wird. Zum Beispiel die „Massenzeitung“ gegen einen Neonazi-Auf-marsch, die während der Sitzung der Kommission herumgereicht wird. Schon beim Lesen der ersten Zeilen wird klar, dass das im Agitprop-Jargon verfasste Blatt nur für das Häuflein Insider genießbar ist, die eh zur Gegen demo kommen. „Ach kommt, Kinders, Zeitung ist doch gut“, sagt schließlich einer aus der Runde. Der Zuschuss wird bewilligt. Viele Kampagnen und Projekte werden durch die Anschubfinanzierung des Soli-Fonds erst ermöglicht. 1000 Euro mö-

gen keine weltbewegende Summe sein, für eine lokale Ini-tiative kann ein solcher Betrag entscheidend sein. Der Fonds unterstützte unter anderem ein Straßentheaterprojekt einer Gewerkschaftsorganisation im südindischen Bundesstaat Karnataka. Doch gibt es solche politisch fundierten, aus-sichtsreichen Auslandsprojekte, zumal mit gewerkschaftli-chem Bezug, nicht im Übermaß. So hat sich auf dem Fest-geldkonto des Fonds ein stattlicher Betrag angesammelt. Zwar absolvieren immer mehr Studenten Auslandssemester, doch gibt es keine nennenswerte international ausgerichte-te Soli-Szene mehr, die Kontakt zu lokalen Initiativen hält. Schon gibt es Diskussionen über das Geld. Stimmen, die kritisch fragen, „ob der Soli-Fonds das Geld weiter dem Finanzmarktkapitalismus, der Spekulation zur Verfügung stellen soll“, wie es ein Stipendiatenvertreter formulierte. Jochen Fuchs teilt diese Bedenken nicht. „Momentan ist nun mal keine revolutionäre Situation erkennbar“, sagt er halb im Scherz, „da ist es doch besser, das Geld zurückzu-legen als Tanzkurse in Kinshasa zu fördern. Es könnte ja sein, dass es mal drauf ankommt. Und dann ist es doch von Vorteil, wenn man richtig klotzen kann.“ ■

Gabriele Eissenberger: nIcHT nur eIn sTÜck ge-

scHIcHTe cHIles. Solidaritäts-Arbeit der Hans-Böck-ler-Stiftung und ihrer Stipendiaten für die chilenische Gewerkschafts- und Menschenrechtsbewegung 1973–1992. Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung. Verlag Westfälisches Dampfboot 2014. 24,90 Euro

Der Soli-Fonds im Netz: www.boeckler.de/98.htm

mehr informationen

gefÖrderTes sTrassenTHeaTer In IndIen, VergaBekoMMIssIons-MITglIed jocHen fucHs (In Marokko): Politisch fundierte Auslandsprojekte gibt es nicht im Übermaß.

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ZUR sAchE

Mehr als 200 000 Betriebsratsgremien sind das Salz in der Suppe lebendiger Demokratie. Sie stehen dafür, dass die Demokratie vor den Werkstoren nicht aufhört. Sie setzen sich für gute Arbeit ein und für ein besseres Leben – und das in Europäischen Betriebsräten und auf globaler Ebene zunehmend auch über die Grenzen Deutsch-lands hinaus. Betriebsräte bilden auch die Basis für gewerkschaftli-che Gestaltung der Arbeitswelt im Zusammenspiel von Tarifvertrag und betrieblicher Mitbestimmung.

In diesen Wochen stehen Betriebsratswahlen auf der Tagesord-nung, wie alle vier Jahre zwischen März und Mai. Sie werden erneut die hohe Anerkennung und Wertschätzung für Betriebsräte ausdrü-cken. Wie in den Vorjahren deutet sich schon jetzt an, dass die Wahlbeteiligung um etliches höher liegen wird als bei allen anderen Wahlen.

Grundlage für die Arbeit von Betriebsräten ist das Betriebsver-fassungsgesetz. Wirksam wird es allerdings erst, wenn es Tag für Tag pfiffig und sachkundig angewendet wird. Dabei zeigen sich Stärken, aber auch Schwächen der gesetzlichen Grundlagen. Die Expertinnen und Experten der Hans-Böckler-Stiftung wissen um die gute Arbeit von Betriebsräten, die oft Weichen für wichtige gesell-schaftspolitische Maßnahmen stellen – etwa bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder wenn sie in Betriebsvereinbarungen den Rahmen für mobile Arbeit abstecken und sie damit erst ermöglichen. So ist auch der Schutz von Bürgerrechten durch verbesserten Da-tenschutz auf der Agenda von Betriebsräten gelandet. Gesammelt, dokumentiert und ausgewertet werden diese Zeugnisse betrieblicher Aushandlung übrigens seit über zehn Jahren im „Archiv Betriebliche Vereinbarungen“ der Stiftung. Hier ist ein Wissensschatz herange-

wachsen, der die Entwicklung der betrieblichen Mitbestimmung im Ringen um gute Lösungen praxisnah widerspiegelt.

Die Stiftungsexpertinnen und -experten kennen sich durch ihre Beratungsarbeit aber auch gut darin aus, wo Betriebsräte der Schuh drückt und wo das Betriebsverfassungsgesetz an die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts angepasst werden muss. Wie kann mehr direkte Beteiligung am Arbeitsplatz gefördert werden, ohne gemeinsame Schutzstandards für Gesundheitsschutz oder Arbeitszeit zu unter-laufen? Wie kann eine effektive Interessenvertretung organisiert werden, wenn das Unternehmen immer häufiger in formalrechtlich selbstständige, aber praktisch miteinander verbundene Betriebe zer-gliedert wird? Wie kann die Präsenz im mitbestimmten Aufsichtsrat dafür genutzt werden, dem Taktgeber Finanzmarkt bei Investitionen in die Zukunft auch die Wertschätzung für Arbeit zählbar einzu-pflanzen?

In der jüngst erschienenen Broschüre „Offensive betriebliche Mitbestimmung – Für gute Arbeit im nachhaltigen Unternehmen“ haben die Mitbestimmungsexperten der Stiftung ihr Wissen über die betriebliche Praxis der Mitbestimmung zusammengetragen und zu einer Standortbestimmung über Betriebsräte im Jahr 2014 ver-dichtet. Wir laden ein zu einer breiten Diskussion, wie Praxis und gesetzliche Grundlagen der Mitbestimmung für die Zukunft verbes-sert werden sollen.

In diesem Zusammenhang beschäftigen Gewerkschaften gegen-wärtig vor allem die weißen Flecken nicht existierender Betriebsräte und die Umwandlung von Arbeitsverträgen in Werkverträge, die der Mitbestimmung im Prinzip nicht unterliegen. Zu den dringlichs-ten gesetzlichen Veränderungen gehört deshalb aus Sicht von Ge-

„Wir laden ein zu einer breiten Diskussion, wie Praxis und gesetzliche Grundlagen der

Mitbestimmung verbessert werden können.“

Norbert Kluge überdie „Offensive betriebliche Mitbestimmung“

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Norbert Kluge leitet die Abteilung Mitbestimmungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung.

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Sie stellen brisante Fragen: Wie wirkt sich die Krisenpolitik in Europa aus? Oder: Wie beeinflussen Änderungen in der Steuergesetzgebung das Wirt-schaftswachstum? Mit Simulationen anhand von ökonometrischen Model-len errechnen sie ihre Antworten. „Eine Reduktion von Staatsausgaben ohne nachteilige Auswirkungen auf Konjunktur und Beschäftigung ist nicht möglich“, sagt Katja Rietzler. „Jetzt ist uns der Nachweis gelungen“, er-gänzt Sebastian Gechert. Beide Ökonomen arbeiten seit 2012 im IMK. Während Gechert bislang an seiner Doktorarbeit über Fiskalpolitik schrieb, die er gerade eingereicht hat, ist die promovierte Ökonomin Rietzler auch in die IMK-Prognose eingebunden. Auch ist ihre Expertise in der Politik ge-fragt – wie jüngst bei einer Expertenanhörung im Düsseldorfer Landtag. ■

Die Finanzexperten

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werkschaften, dass arbeitnehmerähnliche Per-sonen in den Mitbestimmungskanon für Betriebsräte einbezogen werden. Damit würde das Prinzip gestärkt, den Schutzstandard für das Normalarbeitsverhältnis auch für schon be-kannte oder neue Arbeitsverhältnisse anzuwen-den. Und weiterhin: Wenn es, wie vom Europä-ischen Parlament im Januar 2013 mit großer Mehrheit beschlossen, Aufgabe der Mitbestim-mung sein soll, notwendige strukturelle Verän-derungen in Unternehmen vorwegzunehmen und nicht nur die sozialen Folgen von Unter-nehmensentscheidungen zu kitten, dann muss der Betriebsrat auch Mitwirkungsrechte in wirt-schaftlichen Angelegenheiten bekommen. Le-diglich im Wirtschaftsausschuss über wirt-schaftliche Vorgänge informiert zu werden, das reicht dann nicht mehr aus. ■

Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): offensIVe

BeTrIeBlIcHe MITBesTIMMung – fÜr

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referaTsleITerIn sTeuer- und fInanzPolITIk aM IMk

Katja Rietzler, Telefon: 02 11/77 78-576, [email protected]

wIssenscHafTlIcHer MITarBeITer

Sebastian Gechert, Telefon: 02 11/77 78-306, [email protected]

59Mitbestimmung 4/2014

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HocHscHulPolITIscHes foruM Wie kann man mehr Hochschulzugänge schaffen? Wie die Akade-misierung mit der Berufsrealität in den Betrieben verknüpfen? – Das war Thema des 6. Hochschulpoli-tischen Forums „Normalstudent ade“? von Hans-Böckler-Stiftung und DGB Ende Februar in Berlin.

Wenig vielfalt an hochschulen

Als „zu schlicht“ bezeichnete Elke Hannack, Vize-DGB-Vorsitzen-de, den Ruf nach immer mehr Akademisierung. Statt eines Gegen-einanders von dualer Ausbildung und Hochschulstudium plädierte sie dafür, beide Wege als gleichwertig anzuerkennen und besser miteinander zu verzahnen. Gegenwärtig hält sich in Deutschland die Zahl der Erstsemester erstmals die Waage mit denjenigen, die nach der Schule einen Azubi-Vertrag unterschreiben.

Das bedeutet aber keineswegs, dass dadurch auch die Vielfalt an den Hochschulen zunimmt. Im Gegenteil, wie Andrä Wolter von der Humboldt-Universität ausführte: Nach wie vor sind Akademi-kerkinder 2,5-mal überrepräsentiert. Studienanfänger, die erst nach einer Ausbildung den Weg in den Hörsaal finden, machen gerade einmal drei Prozent aus. Auch der Ausländeranteil stagniert, studie-rende Eltern sind gegenwärtig sogar noch seltener anzutreffen als früher, und auch der Anteil Teilzeitstudierender schrumpft. „More of the same statt größere Vielfalt“, fasst Wolter zusammen. Wer daran etwas ändern wolle, solle einen Blick nach Großbritannien werfen, empfiehlt Ingrid Miethe, Professorin an der Uni Gießen. Dort wird die Zahlung bestimmter Zuschüsse davon abhängig ge-macht, dass die Studierendenschaft vielfältig zusammengesetzt ist.

Eine Verbindung von Theorie und beruflicher Praxis bieten du-ale Studiengänge. Wer sich an solch einer Hochschule einschreibt,

ist ordentlicher Student und hat zugleich einen Arbeitsvertrag mit einer Firma. Gelingt es einer Hochschule, hier clevere Angebote zu machen, kann das die Wirtschaftsstruktur einer ganzen Region po-sitiv beeinflussen, wie der Vortrag von Anita Röhm von der staat-lichen TH Mittelhessen verdeutlichte. Die Hochschule hat nicht nur Standorte in Friedberg, Wetzlar und Gießen, sondern betreibt auch vier Außenstellen – zum Beispiel in Biedenkopf mit nicht einmal 14 000 Einwohnern.

50 Studiengänge sind hier inzwischen im Angebot, 585 Unter-nehmen beteiligen sich. Die Firmen melden ihren strategischen Be-darf an – beispielsweise Logistiker, Kälte- oder Nanotechniker –, und die Hochschule organisiert dann das Curriculum und akkredi-tiert die Studiengänge. Theorie und Praxisphasen wechseln sich ab, die Studierenden bekommen von beiden Seiten einen Mentor. Ihr Verdienst bewegt sich auf BAföG-Niveau, zusätzlich überweisen die Unternehmen monatlich 250 bis 330 Euro an die Hochschule. „Wir gehen regelmäßig in die Schulen und informieren, dass man bei uns auch ohne großartige finanzielle Unterstützung durch die Eltern studieren kann“, berichtete Röhm. Und ein Großteil der Studieren-den bleibt längerfristig in der Region, die ansonsten mit massiven Schrumpfungsprozessen zu kämpfen hat. Die rund 200 Professoren sind regelmäßig vor Ort in den Betrieben. „Das ist auch für uns Weiterbildung pur“, beschrieb Röhm die Win-win-Situation. 450 Erstsemester haben im vergangenen Wintersemester neu an der TH Mittelhessen angefangen, gestartet war man vor zwölf Jahren mit 34 Studierenden.

Wer dagegen berufsbegleitend einen Bachelor erwerben möchte, hat in ganz Deutschland nur wenig Auswahl. Gerade einmal 36 Universitäts- und 215 Fachhochschulstudiengänge sind im Angebot, der überwiegende Teil von Privaten, fasste Bernd Kaßebaum von der IG Metall zusammen. Inhaltliche Schwerpunkte sind Wirt-schaftswissenschaften, Ingenieur- und Naturwissenschaften sowie Gesundheit und Pflege. Für ein berufsbegleitendes Studium an einer privaten Fachhochschule werden durchschnittlich 13.070 Euro fäl-lig, bei staatlichen FHs sind es 3540 Euro. ■

Von anneTTe jensen, Journalistin in Berlin

Videos von Vorträgen, Skripte und Präsentationen der Referate als PDF sowie Fotos der Veranstaltung im Internet unter http://boeckler.de/28733_44867.htm

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Hannack (u.): Dual ist gut für die Region.

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ruHesTand Nach 16 Jahren als Sprecher der Geschäftsführung schied Nikolaus Simon zum Jahres-ende aus der Stiftung aus. Freunde und Weggefährten würdigten ihn mit einem Symposion in Berlin.

Emotionen und Positionen

„Impulse für eine gute Arbeitswelt in schwie-rigen Zeiten“ versprach der DGB-Vorsitzende Michael Sommer den rund 120 Gästen des Symposions Ende Februar. Er nutzte seine „letzte offizielle Rede für die Stiftung“ für eine Positionsbestimmung dieser „Stiftung der mitbestimmten Arbeit“, wie er sie nannte. Die vergangenen 16 Jahre, die Nikolaus Simon maßgeblich die Geschicke dieser Stiftung lenkte, beschrieb er als „eine Erfolgsgeschich-te“. An Simon gewandt, stellte er fest, sich an keine Sitzung zu erinnern, „wo wir nicht ziem-lich schnell handlungsfähig wurden“.

Damit hatte der Vorsitzende des Stiftungs-vorstands die Tonlage vorgegeben. In allen Beiträgen und – fast mehr noch – in den launig erinnerten Anekdoten ging es immer auch um eine Facette von Nikolaus Simons Persönlich-keit. So gab es von Jutta Allmendinger, WZB-Direktorin, Arbeitswissenschaftlerin und Mit-glied des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung, Lob für den „Frauenversteher“: „Es gibt wenige Männer, die so frauenfreundlich sind wie Nik“, schick-te sie ihrer Präsentation über veränderte weibliche Lebensentwürfe und -verläufe voraus. Lowell Turner, Direktor des Worker Institute an der Cornell University im US-Bundesstaat New York, brachte einen Hauch von akademischer Gelassenheit mit nach Berlin, wie sie die Welt der Ivy-League-Unis an der amerikanischen Ostküste prägt.

Er unterstrich die Bedeutung des transatlantischen sozialen Di-alogs zwischen seinem Institut, dem EGI und der Stiftung und erin-nerte vergnügt an den tiefen Eindruck, den der stets korrekt geklei-dete Anzugträger Simon bei der ersten Begegnung vor 14 Jahren bei den universitären Jeansträgern von Cornell hinterlassen hatte.

Auf drei Jahrzehnte, in denen sich ihre Wege immer wieder ge-kreuzt haben, blickten dann Reiner Hoffmann, der designierte DGB-Vorsitzende, und Nikolaus Simon in einem Gespräch zurück. Ihre gemeinsame Mission: den deutschen Gewerkschaften den Weg nach Europa zu ebnen und die Vorbehalte der europäischen Gewerkschaf-ten gegenüber der Mitbestimmung zu entideologisieren. Beiden ist ihre erste Begegnung noch präsent – 1984 auf einem Kulturfest der DGB-Jugend in Dortmund. Besonders präzise erinnerte sich Simon: „Die Veranstaltung diente der Nicaragua-Solidarität. Gegen die amerikanischen Aggressoren. Während die vollzogene sowjetische

Invasion Afghanistans die Gewerkschaftsjugend nicht kümmerte.“ Damals hatte Nikolaus Simon nach einem Pädagogikstudium zu-nächst als Dozent in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit an der DGB-Bundesschule in Oberursel begonnen, die er ab 1984 leitete – ehe er 1989 als Leiter der Grundsatzabteilung zur ÖTV wechselte. Es waren prägende Jahre mit wichtigen Begegnungen. Daran erin-nerte in Berlin Dan Diner, Antisemitismusforscher und Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig: In ihrer Auseinandersetzung mit dem linken Antisemitismus und dem Verhältnis der deutschen Linken zu Israel liegen die Wurzeln ihrer lebenslangen Freundschaft.

Überhaupt: Oberursel, immer wieder Oberursel. Auch Margret Mönig-Raane, die ehemalige ver.di-Vize und Vorstandsmitglied der Stiftung, reflektierte in ihrer Laudatio für Nikolaus Simon selbst-kritisch die damalige „Härte der Linienkämpfe“ voller Verurteilun-gen, Vorurteile und Schubladendenken: „Manchmal wünsche ich, wir könnten die Debatten von damals mit der heutigen Erfahrung noch mal führen.“ Im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung scheint diese Versöhnungsleistung in den vergangenen 16 Jahren geglückt. ■

Von MargareTe Hasel, Redakteurin

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wecHsel an der sPITze: Nik Simon (2.v.l.) neben Michael Guggemos, seit Januar Sprecher der Geschäftsführung (l.), Vorstandschef Sommer mit designiertem Nachfolger Reiner Hoffmann (r.)

61Mitbestimmung 4/2014

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renTenTagung Kombi-Rentenmodelle sind ge-nauso gefragt, wie es Lösungen geben muss für belastende Berufe – der „flexible Rentenübergang“ bleibt ein Topthema.

forscHer Bäcker, Blancke, BMas, PersonalerIn geuss, BrussIg VoM IaQ und Br-VorsITzender sengewald (V.l.): Aus Hartz IV in Rente

Eigentliche Gestaltungsaufgabe

Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) führt die Rentendebatte be-reits in einem weiteren Kontext. Anfang März sagte sie in einem „Spiegel“-Interview, dass es „die eigentliche Gestaltungsaufgabe“ sei, dass „künftig möglichst jeder gemäß seiner Leistungsfähigkeit gleitend in Rente gehen kann“. Damit nimmt die Ministerin jene Diskussion auf, die in den Gewerkschaften schon länger geführt wird, kürzlich Titelgeschichte des Magazins (1+2/2014) war und Ende Januar auch Thema einer Fachtagung der Hans-Böckler-Stif-tung in Hannover.

Auf der zweitägigen Veranstaltung diskutierten rund 300 Ge-werkschafter, Betriebsräte, Wissenschaftler, Politiker sowie Perso-nalverantwortliche von großen Firmen aktuelle Übergangsinstru-mente in die Rente sowie die Gestaltung möglichst flexibler Lösungen – selbst in schwierigen Branchen. Während am ersten Tag der Status quo beim Rentenübergang und die aktuellen tarifpoliti-schen Gestaltungsmöglichkeiten im Vordergrund standen, widmete sich der zweite Tag der Praxis. Martin Brussig, Forschungsleiter am Institut für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen (IAQ), stellte aktuelle Forschungsdaten zum Rentenübergang vor. Danach steigt zwar seit einigen Jahren das durchschnittliche Erwerbsaus-trittsalter von Arbeitnehmern, aber „nur ein Drittel der Neueintritte in die Rente erfolgt aus sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-gung“, skizzierte der Sozialwissenschaftler. Beispielhaft führte er Zahlen aus unterschiedlichen Berufszweigen vor, wo bis zu 37 Pro-zent der Bauarbeiter, Gärtnerinnen, des Reinigungspersonals oder der Hilfsarbeiter aus Hartz IV in die Rente gehen. Er hinterfragte

damit auch die „Erfolgszahlen“ der früheren Arbeitsministerin Ur-sula von der Leyen (CDU).

In zeitgleichen Foren diskutierten die Teilnehmer aktuelle Mo-delle des Rentenübergangs in der Praxis (siehe auch www.magazin-mitbestimmung 1+2/2014). Besonders kritisch ist die Lage in belas-tenden Branchen wie dem Bauhandwerk und generell in kleinen und mittelgroßen Handwerksbetrieben. So schilderte Thomas Senge-wald, Betriebsratsvorsitzender des Bremer Malerbetriebs Aug. Hes-penheide, dass dort Beschäftigte das Renteneintrittsalter von 65 Jahren ganz selten erreichen wegen der starken gesundheitlichen Belastung. „Die ewige Kletterei auf Leitern und an Fassaden sowie die gesundheitlichen Schäden durch Weichmacher und Dämpfe in der Fassadenfarbe wird völlig unterschätzt“, sagte der BR-Vorsit-zende. Mangels anderer Auffangtätigkeiten im Betrieb bleibt den Betroffenen meist nur der Ausstieg aus dem Job.

Kritische Töne bestimmten die Diskussion. Petra Geuß, Perso-nalverantwortliche bei der Einzelhandelskette Rewe, bezeichnete es als ein „Unding, die Mütterrente aus Mitteln der Sozialversicherung zu bezahlen“. Die Personalerin mahnte einen dringenden Ausbau von Kombirentenmodellen an. Gerhard Bäcker vom IAQ plädierte hingegen für ein „ganzheitliches Konzept“ zum Rentenübergang für Beschäftigte mit niedrigem Einkommen und/oder hoher gesundheit-licher Belastung. „Dazu gehört unter anderem auch ein Rechtsan-spruch auf Teilzeitarbeit in kleineren und mittleren Betrieben“, so der Sozialwissenschaftler. Susanne Blancke, Abteilungsleiterin für Sozialpolitik im Bundesarbeitsministerium, wies erwartungsgemäß grundsätzliche Kritik an der bisherigen Politik der Bundesregierung beim Rentenübergang zurück, räumte aber immerhin ein, „dass die Teilrente nicht optimal organisiert“ sei. Das sorgte dann doch für Gelächter im Publikum, weil gerade die Fachtagung aufgezeigt hat-te, dass die Teilrente in ihrer jetzigen Form gescheitert ist. ■

Von gunTraM doelfs, Journalist in Berlin

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TIPPs & TerMIne

PoTsdaMer foruM Auf dem 12. Potsdamer Forum für Führungskräfte im öffentlichen Dienst geht es um Ressourcen und Finanzierungsgrundlagen öffent-licher Aufgaben. Veranstalter sind die Hans-Böckler-Stiftung in Ko-operation mit ver.di und der Landeshauptstadt.

Hans-Böckler-StiftungElisabeth BernhardtTelefon: 02 11/77 [email protected]

Hans-Böckler-Stiftung, im Netz unter: www.boeckler.de/17065.htm;kostenlos über Setzkasten,Mail: [email protected] Fax: 02 11/4 08 00 90-40

Tagung

VoM 6. BIs 7. MaI

In PoTsdaM

* Weitere Veranstaltungstipps unter www.boeckler.de und Fachtagungen für Aufsichtsräte unter www.boeckler.de/29843.htm

sTraTegIen fÜr guTe arBeIT Vereinbarkeit, prekäre und entgrenzte Arbeit und gewerkschaftliche Strategien werden auf dieser Tagung im deutsch-dänischen Ver-gleich erörtert, wobei es auch um grenzüberschreitende Probleme geht. Veranstalter sind Hans-Böckler-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stif-tung, DGB und SPD.

daTenkarTe IM TascHenforMaT Wie viele Beschäftigte werden in Deutschland nach Tarifvertrag be-zahlt, wie viele von einem Betriebsrat vertreten? Viele Fakten zu Wirtschaft, Arbeitswelt und Mitbestimmung findet man in der ak-tualisierten Datenkarte der Hans-Böckler-Stiftung.

euroPa Vor der waHl Auf dem 10. Workshop zur europäischen Tarifpolitik argumentieren profilierte Referenten für einen Kurswechsel in Europa – statt Sparzwang, Lohnbremse und autoritärem Wettbewerbsregime. Veran-stalter sind das WSI in der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit ver.di.

ver.di, Ressort 2Stefanie LiebeTelefon: 0 30/69 56 11 12 [email protected]

Hans-Böckler-StiftungRegina WeberTelefon: 02 11/77 [email protected]

Tagung VoM 2. BIs 4.

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Universität Kassel Harald Krö[email protected] www.uni-kassel.de/go/ sommerakademie

InTernaTIonale kasseler soMMerakadeMIe Wer sich eine Woche lang mit dem Thema „Globalisierung fair ge-stalten“ auseinandersetzen und dabei etwas dazulernen will über weltwirtschaftliche Zusammenhänge, für den haben Uni Kassel, Hans-Böckler- und Friedrich-Ebert-Stiftung diese Sommerakademie organisiert. Es kann Bildungsurlaub beantragt werden.

VeransTalTung

VoM 16. BIs 20. junI,

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In BerlIn

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mediziner besuchen Israel und Westjordanland

WsI summer school: Bewerbungen bis 18. April

STUDIENFÖRDERUNG

WSI

„Probleme und Perspektiven der europäischen Integration“ werden die 30 Teilnehmer der Summer School des WSI erörtern, wenn sie vom 22. bis 26. September im Hotel Müggelsee in Berlin zusam-menkommen. Angelegt ist eine interdisziplinäre Perspektive, ein besonderer Fokus liegt auf der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der EU. Die Summer School, organisiert von WSI-Wissenschaftlern un-

Der Machpela-Komplex in Hebron war schon vieles: Synagoge, Kreuzfahrerkirche, Moschee. Heute ist er drei Weltreligionen heilig. Eine Reisegruppe von 16 Stipendiatinnen und Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung hat Anfang März eine Woche lang Israel und das Westjordanland besucht und dabei auch die Abrahamsmoschee in dem Komplex besichtigt.

Ziel der Stipendiaten war es, sich einen Eindruck von der Ge-sundheitsversorgung in Israel und in den besetzten Gebieten sowie vom israelisch-palästinensischen Konflikt zu verschaffen, denn die Mehrheit der Stipendiaten sind angehende Mediziner. Die Reise

ter Leitung von Direktorin Brigitte Unger, wendet sich an junge Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler – Ökonomen, Juristen und Politologen (Studenten und Doktoranden) – aus verschiedenen Ländern. „Working language“ ist Englisch. Ein Beitrag von 50 Euro wird erhoben, die Reisekosten bezahlen die Teilnehmer selbst. ■

Infos und Bewerbungen bis 18. April an: [email protected]

wurde zusammen mit der deutschen Botschaft, der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy Brandt Center in Jerusalem organisiert. Jens Becker (auf dem Bild links), der als Referatsleiter in der Studienför-derung die Gruppe begleitete, sagt, die Stipendiaten nehmen neben Eindrücken aus Krankenhäusern und Flüchtlingscamps auch einen tiefen Eindruck von dem Konflikt mit nach Hause: „Wir haben Men-schen getroffen, die nicht mehr an einen Frieden glauben.“ Die Reisegruppe will sich weiter engagieren und sucht nach einem Pro-jekt, das durch den Solidaritätsfonds der Stiftung unterstützt wer-den kann. ■

Böckler-Reisegruppe vor der Abrahamsmoschee

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melband basiert auf Vorträgen auf zwei Fachkonferenzen in Berlin und Washington im vergangenen Jahr, bei denen die Hans-Böckler-Stiftung Mitveranstalter war. Beide Konferenzen widmeten sich der Frage, wie vor dem Hintergrund der kontroversen Debatte um ein transatlantisches Freihandelsabkommen zukünftig eine Wirtschafts-politik gestaltet werden kann, die sowohl in den USA wie auch in Europa mehr Wohlstand schafft. Der Sammelband wird so auch zu einer Abrechnung mit TINA („There is no alternative“), jener be-rühmten Doktrin von Margaret Thatcher, nach der es zu neoklassi-schen Wirtschaftskonzepten keine Alternative gebe. „Statt TINA

muss es jetzt TIAA heißen: The-re is an alternative“, so Thomas Palley. Der Sammelband in eng-lischer Sprache ist als Buchfas-sung für 5,52 Euro im Buchhan-del erhältlich. Als kostenloses PDF kann das Buch auf der Blogseite von Thomas Palley (www.thomaspalley.com) her-untergeladen werden. ■

fotografien nachtschwarzer Romantik

michael sommer stellt ImK-sammelband vor

ALTSTIPENDIATEN

IMK

„Ich finde die Arbeiten großartig“, sagt der Galerist, der Olaf Röß-lers nachtschwarze Landschaftsfotografien in Düsseldorf ausstell-te – zusammen mit Schneebergen eines zweiten Künstlers. Beides menschenleere Natur. In einem Katalog der OSTRALE war er auf die ausgezeichnete Fotoserie „Black as pitch“ aufmerksam geworden, die Röß-ler in seiner ostsächsischen Heimat um Zittau gemacht hat. Wo er nachts mit der Digitalkamera loszieht und im Su-cher nichts sieht, selbst wenn ein wol-kenverhangener Vollmond „das beste Licht“ abgibt, wie Rößler erzählt. Der 37-Jährige, der mit Stipendien der Hans-Böckler-Stiftung und des DAAD bis 2012 in Bielefeld und London Fotografie stu-dierte, macht seitdem in einer dichten Folge von Ausstellungen auf sich auf-

Für DGB-Chef und IGB-Präsident Michael Sommer war die Sache klar. „Dies könnte ein neues Standardwerk des Keynesianismus werden – und das alles mit transatlantischer Perspektive“, schwärm-te der DGB-Vorsitzende am 27. März in Berlin. Sommer ließ es sich nicht nehmen, das jüngste Buch von IMK-Direktor Gustav Horn persönlich vorzustellen. Gemeinsam mit Thomas Palley, Cheföko-nom des amerikanischen Gewerkschaftsbundes AFL-CIO, hat Horn den Sammelband „Restoring Shared Prosperity. A Policy Agenda from Leading Keynesian Economists“ mit 22 Beiträgen von deut-schen und amerikanischen Ökonomen herausgebracht. Der Sam-

merksam – demnächst in Hannover. Rößler, im Hauptberuf Fotograf in Hamburg, stellt sich bewusst in die Tradition deutscher Romantik mit seinen wie in schwarzes Licht getauchten Landschaftsbildern. ■

Mehr Infos unter www.olafroessler.de

Altstipendiat und Fotokünstler Olaf Rößler, ein Bild der Serie „Black as pitch“

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IGB-Präsident Sommer bei der Buchvorstellung, Autoren Palley, Horn (v.l.), HBS-Pressesprecher Jung (l.)

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der Vereinten Nationen in Bonn. Seine Aufgabe: herauszufinden, wie sich mithilfe neuer Medien der Wissenstransfer zwischen ausgewanderten afrikanischen Wissenschaftlern und For-schungseinrichtungen auf dem Heimatkontinent verbessern lässt. Der Missstand, dass qualifizierte Afrikaner weiterhin ab-wandern, treibe ihn bei seiner Arbeit an, sagt er. Denn noch immer verlassen Intellektuelle mangels Perspektive scharenwei-se den Kontinent. Vor Ort fehlt dann das Know-how.

„Wir Afrikaner müssen jetzt damit klarkommen, dass viele unserer Intellektuellen auswandern und nicht zurückkehren. Deshalb müssen wir Lösungen finden, wie wir ihr Wissen trotz-dem nutzen können.“ An welchen Stellen sich dazu neue Medien eignen, weiß niemand besser als er: Nach seinem Informatikstu-dium an der TU Dortmund hat er in seiner Dissertation an der Fern-Uni Hagen 2010 dargelegt, dass mithilfe von E-Learning erfolgreich virtuelle Seminare zum Beispiel in Kamerun stattfin-den können. Erst kürzlich bewies er es auch in der Praxis, als er mithalf, die Zuständigen für die Wasserversorgung in der Haupt-stadt Yaounde via E-Learning für den Umgang mit Wasser zu sensibilisieren.

Anders als viele Kollegen wird Tambo sein eigenes Wissen nach Afrika zurückbringen – in persona. In drei Jahren will er

Wenn Erick Tambo im 28. Stockwerk des Ge-bäudes der Vereinten Nationen aus seinem Bürofenster sieht, blickt er auf fremdes Land: das Panorama von Bonn, das Siebengebirge,

der Rhein zu seinen Füßen. Dieser Heimatblick, der jeden Rhein-länder entzückt, lässt Tambo eher kalt. Dabei hat er fast die Hälfte seines Lebens in Deutschland verbracht. Seit 1998 ist er hier. Doch das Land konnte ihn nicht ganz in seinen Bann schla-gen. „Ich denke zuerst panafrikanisch, dann national und dann global“, sagt der 33-Jährige.

Tambo, in Kamerun geboren, ist Wissenschaftler an der Uni-ted Nations University, dem akademischen Zweig am Campus

zurück nach Kamerun. „In Deutschland bin ich wesentlich ent-behrlicher als in Afrika“, argumentiert er. Außerdem sieht er in Afrika vielfältigere Möglichkeiten für sein spezielles Themenge-biet. „Für afrikanische Forschungsfelder gibt es hier kaum Pro-fessuren.“ Wer sie besetzen will, brauche Verbindungen oder eine starke Lobby, was Migranten in der Regel nicht besäßen. Sein Plan: „Ich will in Yaounde ein eigenes Forschungsinstitut aufbauen, eine Art Thinktank.“

Deutsche und afrikanische Wissenschaftler sollen gemeinsam Lösungen für lokale Probleme mit globaler Bedeutung erarbei-ten, etwa für den Klimawandel. Der Gang nach Kamerun ist dabei nur der erste Schritt. Tambo träumt von einem Netzwerk mit mehreren Institutionen in vielen afrikanischen Staaten.

Auch das nur ein Zwischenschritt: „Man sieht an der EU, was Zusammenhalt bewirken kann. Die afrikanischen Staaten finden allein kein Gehör. Ich hoffe daher auf einen geeinten af-rikanischen Staat.“ Durch ein Afrika mit verbesserter Infrastruk-tur versucht Tambo, die Chancen einheimischer Akademiker zu erhöhen. „Viele würden dortbleiben, wenn die Universitäten in Afrika besser ausgestattet wären und es aussichtsreichere Job-Perspektiven gäbe.“

Das Engagement für andere und der Drang, Brücken zu schla-gen, prägte schon seine Studienzeit, die 1999 begann. Als Infor-matikstudent setzte er sich an der TU Dortmund im Verein Afrikanischer Studierender für die Interessen seiner Kommilito-nen ein. Dafür erhielt er vom Deutschen Akademischen Aus-tauschdienst (DAAD) eine Auszeichnung für sein gesellschaftli-ches Engagement. Er arbeitete als Integrationsreferent im Bundesverband ausländischer Studierender, und schließlich entstand auch seine Doktorarbeit als deutsch-afrikanische Ko-produktion. Gefördert hat sie die Hans-Böckler-Stiftung, veröf-fentlich hat er sie 2010 an der Fern-Uni Hagen. Die Doktorwür-de war von jeher sein Wunsch gewesen.

Die Promotionsförderung der Stiftung, glaubt er, habe ihn weniger wegen seiner sehr guten Noten als wegen seines politi-schen Profils ausgewählt: „Ich bin ein politischer Mensch, auch wenn ich keiner Partei oder Gewerkschaft angehöre.“ Stattdes-sen ist Tambo ein echter Vereinsmeier: Im African Network Germany unterstützt er unter anderem die beiden afrikanisch-stämmigen Abgeordneten Karamba Diaby und Charles Huber bei ihrer Arbeit für den Deutschen Bundestag. Im African Good Governance Network versucht er, Richtlinien für gute Regie-rungsarbeit zu entwickeln. Außerdem sitzt er im Aufsichtsrat des Afrikanischen Dachverbandes Nordrhein-Westfalen.

Der Tanz auf vielen Hochzeiten – für Tambo ist er auch eine Revanche. „Wenn man die Chance hatte, eine Hochschullauf-bahn in Deutschland einzuschlagen, und sieht, dass zum Beispiel Migrantenkinder schlechtere Bildungschancen haben als andere, dann wächst der innere Druck, solche Dinge zu verbessern.“ ■

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Von andreas scHulTe, Journalist in Köln

Der WissensexpertePorTräT Erick Tambo kam vor 16 Jahren zum Studieren von Kamerun nach Deutschland. Demnächst will er in Afrika einen Thinktank gründen.

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67Mitbestimmung 4/2014

Page 68: ALprI 4/2014 Mitbestimmung 4/2014 Mitbestimmung · Altstipendiat Erick Tambo von der United Nations University in Bonn. Von Andreas Schulte AUs DER sTIfTUNG 66

Man kann sich das grundlegende Mitglieder- und Rekrutierungsproblem, das sich einer Massenor-ganisation wie der IG Metall stellt, einfach vor Augen führen, wenn man bedenkt, dass die Orga-nisation, soll sie nicht schrumpfen, jährlich 100 000 neue Mitglieder gewinnen muss. In der Vergangen-heit haben Gewerkschaftsfunktionäre einem gleich-sam naturwüchsigen Prozess vertraut, demzufolge die in den Arbeitsmarkt neu eintretenden Arbeit-nehmer die ausscheidenden Kollegen auch als Ge-werkschaftsmitglieder ersetzen. Dafür sorgten vornehmlich die Betriebsräte, die die Neueingestell-ten zum gewerkschaftlichen Beitritt motivierten.

Die wirtschaftlichen Verwerfungen der letzten Dekaden, hervorgerufen durch europäische Integ-ration, globalisierten Wettbewerb und die außer Fugen geratenen Finanzmärkte, haben, wie so vie-les, auch diesen Prozess außer Kraft gesetzt. Eine wirtschaftlich veränderte Umwelt mit ihren neuen Industrien und atypischen Beschäftigungsverhält-nissen ließen die Gewerkschaften alt aussehen. In-sofern ist Organizing eine Antwort auf die neuen Probleme; sie zeigt, dass Gewerkschaften auch lern- und strategiefähige Organisationen sind.

„German Organizing“ nimmt den Betrieb als stra-tegischen Ansatzpunkt ins Visier, greift Konflikte auf und initiiert die Beteiligung und Aktivierung der Mitglieder, etwa in Gestalt von „Aktivenkrei-sen“.

Besonders in neu entstehenden Wirtschaftszwei-gen und Unternehmen bietet sich diese Strategie an, um gewerkschaftliche Präsenz zu schaffen und par-tizipative Strukturen aufzubauen. Als exemplarisch dafür steht in dem Buch der expandierende Sektor des Windanlagenbaus. Allein drei Beiträge befassen sich mit diesem Sektor, in dem die IG Metall eine umfangreiche Organizing-Kampagne durchgeführt hat – mit bemerkenswertem Erfolg. ■

Die TrendwendegewerkscHafTen Mit unorthodoxen Methoden und verstärktem Einsatz ist es der IG Metall geglückt, die Mitgliederverluste zu stoppen. Der von Detlef Wetzel herausgegebene Band „Organizing“ versammelt Analysen, Erfahrungsberichte und Praxisbeispiele.

Von walTHer MÜller-jenTscH, emeritierter Professor für Industriesoziologie an der Universität Bochum

Der Erfolg ist nicht spektakulär, aber immerhin: Die IG Metall und vier weitere Gewerkschaften im DGB haben den langjährigen Trend eines Mitglie-derverlusts gebremst, ja in bescheidenem Maße umgekehrt. Seit drei Jahren kann die IG Metall wieder einen Zuwachs ihrer Mitgliederzahlen ver-zeichnen: Sie hat seither 26 000 Mitglieder netto hinzugewonnen. Ist dies dem neuen Strategiekon-zept des „Organizing“ zu verdanken?

„Organizing“ lautet das Zauberwort, das die deutschen Gewerkschaften, allen voran IG Metall und ver.di, aus den USA und Großbritannien im-portiert haben. Bezeichnet wird damit eine Strate-gie offensiver Mitgliedergewinnung im Rahmen gewerkschaftlicher Erneuerung. Zu den Bestand-teilen dieser Strategie gehören nicht nur innovative Methoden zur Rekrutierung neuer Mitglieder, son-dern auch die interne Mobilisierung der Basis zur Unterstützung dieses Ziels, hinzu kommt das Ein-gehen von Koalitionen und Bündnissen mit sozia-len Bewegungen und anderen politischen Akteuren, zum Beispiel mit Kirchen und Nichtregierungsor-ganisationen.

Als „mitgliederorientierte Offensivstrategie“ be-zeichnet der Erste Vorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, das „German Organizing“. Bereits als Be-zirksleiter von Nordrhein-Westfalen und – bis vor Kurzem – als Zweiter Vorsitzender der IG Metall hat sich Wetzel um verstärkte und unorthodoxe Mitgliederwerbung verdient gemacht. Nun legt er als Herausgeber einen Band vor, der einen bunten Strauß von analytischen Beiträgen, Erfahrungsbe-richten und Praxisbeispielen über diese Strategie bündelt. Verständlicherweise stammen sie vorwie-gend aus dem Organisationsbereich der IG Metall, daneben liefern ver.di und IG BAU weiteres An-schauungsmaterial. Des weiteren gibt es Beispiele aus Skandinavien, Österreich und der Schweiz.

Detlef Wetzel (Hrsg.): organIzIng. Die Veränderung der gewerkschaft-lichen Praxis durch das Prinzip Be-teiligung. Hamburg, VSA-Verlag 2013. 320 Seiten, 19,80 Euro. Mit Praxistipps aus dem Methoden-handbuch der IG Metall auf CD

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dreI fragen an …

MIkrokredITe Holen MenscHen aus der arMuT, sa-

gen dIe eInen. sIe sagen: sIe VerscHaffen nur der

fInanzIndusTrIe rendITe. geHT es aucH anders?

Theoretisch ja: Sie könnten in einem Dorf mit vielen Milch-bauern dafür sorgen, dass die Milch pasteurisiert und in die Stadt gebracht wird. Sie könnten Kooperationen fördern und darüber Arbeitsplätze schaffen – etwa mit einer Genossen-schaft. Stattdessen bekommen 50 einzelne Bauern 100 Kre-dite, und jeder kauft eine Kuh. So werden aus Menschen Schuldner und Konkurrenten. Und jeder allein wird von der Bank abhängig. Die überprüft den wirtschaftlichen Nutzen der Kredite nicht, das würde Kosten verursachen. Nur mit Massen von Kleinstkrediten sind, wie in Indien, fast 40 Pro-zent Jahresrendite möglich.

es MacHen aBer nIcHT nur Banken, sondern aucH

enTwIcklungsHIlfeorganIsaTIonen MIT. Ja – weil sie wissen, dass all die Strukturanpassungsprogramme der 90er Jahre von IWF und Weltbank gescheitert sind. Bevor sie die Menschen mit den katastrophalen Folgen der Privatisierung alleinlassen, bieten sie die Lösung auf Pump an: Wasser, Bil-dung – das kann man doch alles kaufen! Die Gerechtigkeit bleibt außen vor.

sIe weHren sIcH gegen dIe eInseITIge darsTellung

glÜcklIcHer kleInBauern. wIe VIele MIkrokredIT-

BefÜrworTer kaMen denn BeI IHrer jÜngsTen Ta-

gung zu worT? Nicht viele. Aber bei 100 Jubel-Konferen-zen braucht es auch mal eine skeptische Sicht. In Medien und Forschung ist die Kritik angekommen; in der Praxis regiert oft leider noch die Fabelwelt. ■

Die Fragen stellte jeanneTTe goddar.

… PHIlIP Mader, Soziologe an der Universität Basel, der mit dem Journalisten Gerhard Klas eine grundlegende Kritik an Mikrokrediten publiziert hat

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Im Zuge der weltweiten Finanz-krise haben die wichtigsten Noten-banken die Finanzmärkte mit Geld überflutet. Muss dieses Gelddru-cken nicht zwangsläufig zu einer Hyperinflation führen? Auch der rasche Anstieg der Staatsverschul-dung lässt viele Menschen be-fürchten, dass nur eine „Weg-In-flationierung“ der Schulden der letztendliche Ausweg aus der Schuldenmacherei sein wird.

Der „Zeit“-Journalist Mark Schieritz setzt mit seinem Buch einen klaren Kontrapunkt. Er legt

mit fundierten Argumenten dar, dass es keinen Automatismus gibt, wonach allein die Ausweitung der Geldmenge zu einer In-flation führt. Dafür wären zusätzliche Begleitumstände – wie eine boomende Wirtschaft mit Angebotsengpässen auf den Güter- und Arbeitsmärkten beziehungsweise weit verbreitete Inflations-erwartungen notwendig. Diese lassen sich jedoch gegenwärtig weder in den USA noch im krisengeplagten Europa finden.

Warum ist aber allenthalben so viel von Inflationsgefahren die Rede? Schieritz vertritt zwei ebenso provokante wie beden-kenswerte Thesen: Erstens sieht er Panikmacher am Werk, die ihren Vorteil daraus ziehen, Inflationsängste zu schüren. Für Immobilienmakler sei Inflation ein Geschäftsmodell, an dem sie gut verdienen. Politiker nutzten sie als vorgeschobenes Argument für die Rückführung des Staatseinflusses. Und in den Medien verkauften sich die simplen Inflationsstorys einfach gut. Zweitens wendet sich der Autor gegen die Ansicht, dass Inflation vor allem die sozial Schwachen trifft. Anhand der Ereignisse der Hyperin-flation der 1920er Jahre zeigt er, dass nicht die Arbeiter, sondern die reichen (Geld-)Vermögensbesitzer die eigentlichen Verlierer der Inflation waren. Ins kollektive Gedächtnis der Deutschen sei diese Episode vor allem deswegen eingegangen, weil das Bildungs-bürgertum von der Inflation getroffen wurde.

Das schmale Bändchen ist, wie man dies von einem guten Journalisten erhoffen darf, auch für Nicht-Experten gut nach-vollziehbar geschrieben. Die Grundlagen unseres Geldsystems werden knapp und leicht verständlich erläutert. Indem auch auf die Grundzüge der Eurokrise eingegangen wird, bettet der Autor die Inflationsthematik in den aktuellen Zusammenhang ein. ■

Von Hagen kräMer, VWL-Professor an der Hochschule Karlsruhe

Panikmacher am WerkMark Schieritz: dIe InflaTIonslÜge. Wie uns die Angst ums Geld ruiniert und wer daran verdient. München, Knaur-Verlag 2013. 141 Seiten, 7,00 Euro

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Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat die EU nachhaltig verändert. Zwar gebührt dem europäischen Einigungsprojekt weiterhin das historische Verdienst der Befrie-dung des Kontinents. Bei der Schaffung eines dauerhaften und gemeinsamen Wohlstands in der Union sowie der Etablierung einer Kultur der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ist die europä-ische Integration aber – zumindest vorläufig – gescheitert. Die vor

dem Ausbruch der Krise nicht für möglich gehaltene massive Absenkung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten in Griechenland oder Irland legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Anlässlich der bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Par-lament haben nun Ernst Hillebrand und Anna Maria Kellner vom Referat Internationale Politikanalyse der FES einen Sam-melband mit dem programmatischen Titel „Für ein anderes Eu-ropa“ herausgegeben. Das Buch enthält die Beiträge von Auto-rinnen und Autoren aus zehn europäischen Ländern. „Wir alle wollen“, so Herausgeber Hillebrand im Vorwort, „ein Europa, welches den arbeitenden Menschen dieses Kontinents und den sozial Schwachen wirklich nützt und nicht schadet.“

Um dieses Ziel zu erreichen, so der Tenor aller Beiträge dieses Bandes, ist ein sehr weitgehender Kurswechsel erforderlich. Die EU müsste dazu anerkennen, dass es sich bei der Sozialstaatlich-keit um eine „zivilisatorische Errungenschaft Europas“ handelt, wie der ungarische Volkswirtschaftler Zoltán Pogátsa schreibt. Sozialpolitik dürfte somit auch nicht mehr als der Politik der Marktintegration nachrangig angesehen werden, sondern als ein schützenswertes europäisches Kulturgut. Für den tschechischen Hochschullehrer Petr Drulák ergibt sich hieraus die Konsequenz, dass die „europäische Marktintegration mit einem System der europäischen Umverteilung“ einhergehen muss. Die unlängst auch vom IWF vorgeschlagene Etablierung einer europäischen Arbeitslosenversicherung weist in diese Richtung.

Angesichts des allenthalben befürchteten Erstarkens der po-pulistischen und nationalistischen Kräfte im nächsten Europäi-schen Parlament stellt der hier besprochene Titel einen bedeut-samen Debattenbeitrag dar, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist. ■

Von dIrk ManTen, ver.di-Bildungsreferent in Bielefeld

Nationalen Ressentiments, die in den Mitgliedstaaten der EU derzeit wiederaufleben, könnte das Wasser abgegraben wer-den, gäbe es für die Bürger mehr und direktere Informatio-nen. Die Webseite www.eurotopics.net setzt genau an die-sem Punkt an. Das Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung bietet eine europäische Presseschau im Netz. Täglich durchforsten Journalisten die wichtigsten Zeitungen, Maga-zine und Blogs aus 30 europäischen Ländern (EU plus Schweiz und Türkei) und wählen Kommentare, Essays und andere Hintergrundberichte aus dem jeweiligen EU-Land aus. Sie fas-sen den Tenor der Artikel in Deutsch zusammen und ordnen diese in den aktuellen Stand der Debatte ein. Auf den Origi-naltext führt dann ein Link. Das Themenspektrum ist weit ge-fächert – von Politik, Kultur und Wirtschaft über Essays bis zu Geschichten mit lokalem Kolorit. Außer auf Deutsch gibt es die Nachrichtenschau auch auf Englisch und Französisch. Die Seite konzentriert sich auf Inhalte, auf Videos, Pod casts oder Fotostrecken wird überwiegend verzichtet. Das erleichtert die schnelle Navigation. Wer Beiträge diskutieren möchte, kann dies über Facebook und Twitter tun.

fazit: Lesenswerter Blick über den nationalen horizont hinaus. Täglich aktualisiert.

wIr TesTen …

www.eurotopics.net

InTerneT

Von gunTraM doelfs, Journalist in Berlin

Europa ja, aber andersErnst Hillebrand/Anna Maria Kellner (Hrsg.): fÜr eIn anderes euroPa . Beiträge zu einer notwendigen Debatte. Bonn, Dietz Verlag 2014. 191 Seiten, 16,80 Euro

70 Mitbestimmung 4/2014

Page 71: ALprI 4/2014 Mitbestimmung 4/2014 Mitbestimmung · Altstipendiat Erick Tambo von der United Nations University in Bonn. Von Andreas Schulte AUs DER sTIfTUNG 66

BucHTIPPs

Veröffentlichungen mit Bestellnummer sind nicht im Buchhandel erhältlich, sondern ausschließlich über seTzkasTen gMBH, Düsseldorf, Telefon: 02 11/408 00 90-0, Fax: 02 11/408 00 90-40, [email protected] oder über www.boeckler.de. Hier sind auch alle Arbeitspapiere der Hans-Böckler-Stiftung kostenlos herunterzuladen.

Tarifpolitik Das statistische Taschen-buch 2014 des WSI-Tarifarchivs enthält 130 Tabellen, Übersichten und Schaubil-der zu den Themen Tarifbindung, Lohn und Gehalt, Arbeitszeit, Tarifbewegun-gen und Arbeitskämpfe sowie Tarifrege-lungen in 50 Branchen.

sTaTIsTIscHes TascHenBucH TarIfPolITIk. Bearbeitet von Reinhard Bispinck und dem WSI-Tarifarchiv. Düsseldorf 2014. Kostenlos zu beziehen unter Bestell-Nr. 30424 oder Download unter: www.boeckler.de

städtebau Der sachkundige, reich illustrierte Sammelband erzählt den Werdegang von Halle-Neustadt – die Geschichte vom Prototyp der geplant expandierenden sozialistischen Stadt in der DDR zur ungeplant schrumpfenden Stadt in Ostdeutschland.

50 jaHre sTreITfall Halle-neusTadT.

Idee und Experiment. Lebensort und Provoka-tion. Von Peer Pasternack u.a. Halle an der Saale, Mitteldeutscher Verlag 2014. 608 Seiten, 19,95 Euro

Grundsicherung Im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Regie-rung verpflichtet, den Hartz-IV-Regelsatz neu zu bestimmen. Das Gutachten unter-sucht, warum die Erhöhung nach der Re-vision so gering ausfiel, indem das Re-chenverfahren kritisch hinterfragt wird.

das grundsIcHerungsnIVeau: ergeBnIs

der VerTeIlungsenTwIcklung und

norMaTIVer seTzungen. Von Irene Becker und Reinhard Schüssler. Arbeitspapier Nr. 298 der Hans-Böckler-Stiftung. 22,80 Euro. Bestell-Nr. 11298 oder Download unter: www.boeckler.de

Der Russe Sosim Katajew vertreibt radioaktives Holz in Deutschland, Österreich und Italien. Die Bäume der Wälder um Tschernobyl ver-wandeln sich in Gartenhäuschen und Pellets für gemütliche Kamin-feuer. Der Inder Sunil Banerjee liefert Organe von Landsleuten, die niemand vermisst, an italieni-sche Kliniken. Dort verkauft sein Mafia-Freund Giuseppe Cruciani die indischen Nieren und Herzen an betuchte Europäer. Dafür, dass

der Geldfluss zwischen den „Geschäftsleuten“ nicht auffällt und sich wundersam vermehrt, sorgt die Schweizerin Inez Theiler, die in einer Züricher Bank die Millionen der feinen Gesellschaft hin und her schiebt. Die vier sympathischen Freunde nennen sich „Dromos-Gang“, nach ihrer Lieblingsbar in Leeds. Dort haben sie sich an der Elite-Uni kennengelernt. Im Krimi „Die Marseille-Connection“ symbolisieren sie die neue Form des internationalen Wirtschaftsverbrechens, das eine optimale Arbeitsteilung auf den globalisierten Finanzmärkten gefunden hat.

Die Kulisse des Krimis ist die französische Hafenstadt Mar-seille, die der Autor als düstere Metropole des Verbrechens be-schreibt, dort lässt er auch die kettenrauchende Kommissarin Bernadette Bourdet ermitteln – gegen Drogenkartelle, Immobi-lienspekulanten und Gewohnheitskriminelle. Der Autor der Mar-seille Connection, der Italiener Massimo Carlotto, geboren 1956 in Padua, kennt die Szene. Der einstige Linksaktivist saß selbst sechs Jahre unschuldig wegen Mordes mit Gewaltverbrechern und Mafiosi im Gefängnis. Fünf Jahre lang war er auf der Flucht. Seit seiner Begnadigung im Jahr 1993 schreibt er Krimis – und dies mit internationalem Erfolg. Die meisten sind auf Deutsch bei Klett-Cotta erschienen.

In „Die Marseille-Connection“ beschreibt der Autor eine Welt, in der normale Arbeit nicht mehr existiert. Arbeiter tauchen nur als wertloses Menschenmaterial und die Armen der Slums als rechtlose Organlieferanten auf. Es ist eine Welt, die man ei-gentlich nicht kennenlernen möchte. Sie rückt aber immer näher, und Carlotto gebraucht eine brutale Sprache. Vielleicht zu brutal, manchmal, und mit zu vielen Handlungssträngen. Dennoch bie-tet das Buch das, was einen guten Krimi auszeichnet: Es ist span-nend bis zum Schluss. ■

Von MIcHaela naMuTH, Journalistin in Rom

hochpolitischer KrimiMassimo Carlotto: dIe MarseIlle-connecTIon. Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Stuttgart, Klett-Cotta-Verlag 2013. 239 Sei-ten, 18,95 Euro

71Mitbestimmung 4/2014

mEDIEN

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räTselfragen

■ Wie hieß die maßgeblich von William Morris und John Ruskin begründete künstlerische Bewegung, der auch Walter Crane zugerechnet wird?

■ In welcher Stadt erschien 1848 das „Kommunis-tische Manifest“?

■ Welche sozialistische Frauenrechtlerin verließ 1882 wegen des „Sozialistengesetzes“ Deutschland und ging in die Schweiz, später nach Frankreich?

Alle richtigen Einsendungen, die bis zum 30. April 2014 bei uns eingehen, nehmen an einer Auslosung teil.

PreIse

1. Preis: Gutschein der Büchergilde Gutenberg, Wert 50 Euro, 2.– 4. Preis: Gutschein der Büchergilde Guten-berg, Wert 30 Euro

scHIcken sIe uns dIe lÖsung

Redaktion Mitbestimmung, Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf, E-Mail: [email protected]: 0211/77 78-225

Pilote – Castrop-Rauxel – 1995Den 1. Preis hat Rita Job aus Schwerin gewonnen. Je einen 30-Euro-Gutschein erhalten Albert Rozsai aus Düsseldorf, Benedikt Engelmeier aus Münster und Mario Strammiello aus Walldorf.

auflÖsung der räTselfragen 3/2014

Zum 1. Mai 1891 führt eine Frau mit Fackel und phrygischer Mütze auf diesem Gedenkblatt den Festzug an. Es sei eine Allegorie der Freiheit.

„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ heißt es auf einem Banner, auf einem anderen: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Die Losung der Französischen Revolution haben sich die Arbeiter ebenso zu eigen gemacht wie das „Kommu-nistische Manifest“. Das Blatt stammt von dem englischen Illustrator Walter Crane – Sozialist und Vertreter einer Bewegung, die Kunst und Kunsthandwerk wieder vereinen soll. Das opulente Blatt, das an Renaissance-Holzschnitte erinnert, feiert die Einheit von Bauern, Arbeitern und Künstlern. Von der Realität der Industriearbeit zeigt das pathetische Blatt, das in mehreren Sprachvarianten ver-trieben wird, jedoch nichts.

Die Maifeier ist ebenso jung wie umkämpft. Erst 1890 haben Arbeiter weltweit zum ersten Mal den 1. Mai begangen und vehement den Acht-Stunden-Tag ge-fordert. Rund 100 000 Männer und Frauen haben allein in Deutschland demons-triert, sind in den Streik getreten oder haben auf „Maispaziergängen“ flaniert.

Die Gewerkschaften unterstützen solche Aktionen. Die Arbeitgeber hingegen schüchtern ihre Arbeiter mit Aussperrungen und Entlassungen ein und versuchen, sie von den Mai-Aktivitäten fernzuhalten. Der Eintrag „Entlassen am 2. Mai“ prangt in den Arbeitsbüchern vieler engagierter Arbeiter. Auch die Sozialdemo-kraten raten zur Mäßigung – denn in Deutschland bedroht Bismarcks „Sozialis-tengesetz“ die Arbeiterpartei.

Wie kommt man überhaupt auf das Datum, den 1. Mai? Der Grund liegt jenseits des Atlantiks. In den USA dient dieser Tag traditionell als „Moving Day“, als Tag, an dem Arbeitsverträge beendet und neu geschlossen werden. Schon 1886 haben dort bereits Zigtausende Arbeiter am 1. Mai für den Acht-Stunden-Tag gekämpft. Die internationalen Mai-Aktionen von 1890 sollten ursprünglich ein einmaliges Ereignis sein. Doch die Arbeiter lassen sich seitdem ihren „Feier-tag“ nicht mehr nehmen. ■

Marc Von lÜPke

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72 Mitbestimmung 4/2014

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0211/[email protected]

der draHT zur redakTIon

TITELTHEMA 5/2014

Am 25. Mai werden die Bürgerinnen und Bürger Euro-pas bei den Wahlen zum Europaparlament auch über die weiteren Geschicke des Kontinents abstimmen. Im Ge-denkjahr 2014, ein Jahrhundert nach Beginn des Ersten Weltkrieges, ist die Gefahr nicht von der Hand zu wei-sen, dass erstmals in der Geschichte dieser jungen Insti-tution die Europaskeptiker und -gegner eine Mehrheit erreichen. Das würde die weitere Demokratisierung Eu-ropas von innen aushöhlen, statt sie zu stärken.

Im Vorfeld dieser Wahl wollen wir zum DGB-Bundes-kongress Konzepte zu einem Europa vorstellen, das demokratischer und sozialer aus der nach wie vor nicht überwundenen Krise hervorgeht. Wir berichten über Alternativen zur Austeritätspolitik, zum Abbau von Arbeitnehmerrechten und über die notwendige Neu-justierung einer europäischen Industriepolitik, wie sie von den Gewerkschaften gefordert wird. Und wir befra-gen unter anderem die Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker und Martin Schulz zu ihren Vorstellungen.

Europawahl 2014

Was auf dem Spiel steht

IMPressuM

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SCC-13

HerausgeBer: Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmungs-,

Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB,

Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf

VeranTworTlIcHer gescHäfTsfÜHrer: Wolfgang Jäger

redakTIon:

Cornelia Girndt (verantwortlich), Telefon: 0211/77 78-149

Margarete Hasel, Telefon: 0211/77 78-192

Kay Meiners, Telefon: 02 11/77 78-139

konzePTIon des TITelTHeMas: Kay Meiners

co-redakTIon dIeser ausgaBe: Hasel/Girndt

redakTIonsassIsTenz: Astrid Grunewald

Telefon: 0211/77 78-147

fax: 0211/77 78-225

e-MaIl: [email protected]

MITglIeder des redakTIonsBeIraTs: Jens Becker, Melanie Dier-

mann, Wolfgang Jäger, Rainer Jung, Birgit Kraemer, Manuela Maschke,

Sabine Nemitz, Susanne Schedel, Sebastian Sick

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TITelgesTalTung:

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Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. Dies gilt auch

für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Newsletter.

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Gibt es in Ihrem Betrieb etwas, über das wir unbedingt einmal berichten sollten? Etwas, das richtig gut läuft, oder etwas, über das Sie sich ärgern? Vermissen Sie ein Thema im Magazin? Dann schreiben Sie uns oder rufen Sie uns an.

73Mitbestimmung 4/2014

vORschAU

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frIedrIcH sTadelMann, 49, ist einer von 17 Lebensmittelkont-rolleuren der Stadt Stuttgart.

Text: sTefan scHeyTT

Foto: cIra Moro

Stuttgart, Hauptstätter Straße 58 „Im Innenstadtbezirk kontrolliere ich rund 1200 Betriebe – vom Döner-Stand bis zur Sterne-Gastronomie, Schulkantinen, Metzgereien, die Markt-halle, Diskotheken, den Weihnachtsmarkt. Ich bin zu Fuß, im Auto und oft mit der Straßenbahn unter-wegs, meist alleine. Nur bei größeren Betrieben, bei Kontrollen nach 19 Uhr oder wenn ein Betrieb eine schwierige Historie hat, ist ein Kollege dabei. Wir kommen grundsätzlich unangemeldet und kontrollie-ren vor allem die Hygiene, die Lagerung und den Frischezustand der Lebensmittel, die Personalhygiene, die Einhaltung von Kennzeichnungspflichten und ob die Mitarbeiter vorschriftsmäßig geschult werden. Je besser ein Betrieb abschneidet, umso länger werden die Intervalle zwischen den Kontrollen.

Wir gehen auch Beschwerden nach, dabei werden wir manchmal von Leuten benutzt, die sich rächen wollen oder neidisch sind. Döner-Betriebe sind definitiv nicht das Hauptproblem, die sind ja für den Kunden ganz gut einsehbar. Ich hatte auch schon Restaurants der gehobenen Klasse, wo vorne alles schön eingedeckt war, und in der Küche herrschte Chaos; ein anderer klebte Rinderfiletspitzen zusammen, um sie teurer als Filetstücke verkaufen zu können. Wir sind nicht unbedingt gern gesehen, werden auch mal beschimpft, schließlich zeigen wir den Leuten ihre Fehler auf.

Man darf sich nicht provozieren lassen, muss den richtigen Ton finden, ob Hoteldirektor oder Chef eines China-Restaurants. Manche sind auch dankbar für unsere Hinweise. Ein Kontrolleur muss selbst-bewusst auftreten, aber sich auch ständig hinterfragen, schließlich haben wir eine gewisse Macht. Auch bei harten Sanktionen wie der Waren-Vernichtung oder der vorübergehenden Schließung versuche ich immer, dass der Betreiber das aus Einsicht freiwillig macht. Derzeit sind wir nur 17 Kollegen, wir müssten mehr sein, damit unsere Arbeit nachhaltig wirkt. Durch Vorgaben der Untersuchungsämter müssen wir jährlich etwa 3300 Proben nehmen, vom Olivenöl bis zum Deostift. Sinnvoller wäre, mehr Proben in der Frischegastronomie zu nehmen als zum x-ten Mal die Milch im Supermarkt zu überprüfen.“ ■

74 Mitbestimmung 4/2014

mEIN ARBEITsPLATZ

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Ganz nah dran. Bund-Verlag

Däubler / Kittner / Klebe / Wedde (Hrsg.)BetrVG – Betriebsverfassungsgesetzmit Wahlordnung und EBR-GesetzKommentar für die Praxis14., überarbeitete Auflage2014. 2.887 Seiten, gebundenSubskriptionspreis bis 30. April 2014: € 89,– Danach: € 98,–ISBN 978-3-7663-6320-6

Fundiert und verständlich erläutert der Kommentar das gesamte Betriebsverfassungsrecht. Die Autoren –allesamt anerkannte Experten mit umfassender Praxiserfahrung – bieten einen vollständigen Überblick über die neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsge-richts und der Instanzgerichte sowie über den Stand der Fachdiskussion. Für Konfliktfälle, die noch nicht gericht-lich entschieden sind, entwickeln sie eigenständige und innovative Lösungen. Diese haben vor allem eine faire Beachtung von Arbeitnehmerrechten im Blick.

Der Kommentar ist für alle Betriebsratsgremien und für Anwälte mit Schwerpunkt Arbeitsrecht eine wertvolle In-formationsquelle. Das Werk bietet konkrete Anregungen für die tägliche Praxis. Das übersichtliche Layout gewähr-leistet komfortables Arbeiten. Die Neuauflage verarbeitet Gesetzgebung und Rechts prechung bis einschließlich Oktober 2013.

Die Schwerpunkte der Ausgabe 2014: • Wichtige Urteile zu Betriebsratswahlen, unter anderem

zur Gewerkschaftsliste• Neues zu Gewerkschaftsrechten• Mitbestimmung bei Werkverträgen und Leiharbeit• Arbeitszeit und mobile Arbeit• Neues zur Schicht- und zur Kurzarbeit• Crowdsourcing und Mitbestimmung• Umgang mit Social Media, Facebook und BYOD• Mitbestimmung bei Integrationsvereinbarungen• Betriebliche Umstrukturierungen und

Betriebsübergänge

Ganz nah dran. Bund-Verlag

Im Fokus: Betriebsratswahl 2014

Die Herausgeber:Dr. Wolfgang Däubler, Professor für deutsches und europäisches Arbeitsrecht, Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen.

Dr. Michael Kittner, Professor em. für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Kassel und langjähriger Justitiar der IG Metall.

Dr. Thomas Klebe, Leiter des Hugo Sinz heimer Instituts, zuvor Justitiar der IG Metall.

Dr. Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesellschaft in Frankfurt/M.

Hinweis: »Jedem Betriebsrat steht nach § 40 Abs. 2 BetrVG ein Kommentar zum BetrVG in der neuesten Auflage als unentbehrliches Arbeitsmittel zu.« (BAG vom 26.10.1994, NZA 1995, S. 386)

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Noch Fragen?

www.uni-kassel.de/go/sommerakademieHarald Kröck, [email protected] für Mitbestimmungs-Leser: 1. Mai 2014

Über Globalisierung, Institutionen der Fünf Tage Dialog zwischen den Ländern

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des Nordens und des Südens.

Vom 16. bis 20. Juni in Hofgeismar. M

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