Als Communisant im Widerstand

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Stefan Rosinski, August 2013 1 Als Communisant im Widerstand Zu Walter Benjamins Reflexionen über den antifaschistischen Intellektuellen - Vortrag gehalten im Rahmen der MÜNZENBERG-LEKTIONEN 2013 - „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewe- sen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.“ Die Situation Im März 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand verlässt der Literaturwissenschaftler und freischaffende Publizist Walter Benjamin wie viele andere Intellektuelle Berlin, um nach einem Zwischenaufenthalt in Paris nach Ibiza überzusiedeln. An seinen Freund Gershom Scholem schreibt er: Unbezweifelt sind die zahlreichen Fälle, in denen Leute nachts aus ihren Betten ge- holt und misshandelt oder ermordet werden. (...) Der Terror gegen jede Haltung oder Ausdrucksweise, die sich der offiziellen nicht restlos angleicht, hat ein kaum zu über- bietendes Maß angenommen“. 1 Auf Ibiza lebt er in einem Rohbau, finanziert sein bescheidenes Leben vom Verkauf seiner Autographensammlung und gelegentlichen Veröffentlichungen unter Pseudo- nym in deutschen Zeitungen. Die Versuche hingegen, größere Texte in der deut- schen Exilpresse unterzubringen, scheitern. Mehr Hoffnung setzt er in die kommuni- stischen Publikationsorgane. Doch lediglich der erste Teil der Pariser Briefe wird dank der Unterstützung Brechts in der Moskauer Volksfront-Zeitschrift Das Wort ver- öffentlicht (ein Umstand übrigens, der zu seiner sofortigen Ausbürgerung führt). Regelmäßig publizieren indes kann er in der Zeitschrift für Sozialforschung, deren Redaktion (im Wesentlichen Max Horkheimer und Adorno) seit 1934 in New York sitzt. Hier erscheint ein 1933 verfasster Text, der im Zusammenhang mit Benjamins Selbstreflexion von einiger Bedeutung ist: Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standpunkt des französischen Schriftstellers. 1 Bernd Witte: Walter Benjamin. Reinbek: Rowohlt 1985, S. 101. Vgl. auch die von Jean Selz überlieferte Formulierung Benjamins, „...wenn man sich jetzt mit einem Deutschen über Kultur unterhalte, sei es gut, dabei einen Revolver in der Tasche zu haben“. In: was noch begraben lag. Zu Walter Benjamins Exil. Briefe und Dokumente. Hg. v. Geret Luhr. Berlin: Bostelmann und Siebenhaar 2000. S. 69.

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Das Skript zu der Veranstaltung "Als Communisant im Widerstand" im Rahmen der Münzenberg Lektionen. Mehr unter: münzenbergforum.de

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Stefan  Rosinski,  August  2013  

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Als Communisant im Widerstand Zu Walter Benjamins Reflexionen über den antifaschistischen Intellektuellen

- Vortrag gehalten im Rahmen der MÜNZENBERG-LEKTIONEN 2013 -

„Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewe-

sen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung

die Stunde noch nicht gekommen ist.“

Die Situation Im März 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand verlässt der Literaturwissenschaftler

und freischaffende Publizist Walter Benjamin wie viele andere Intellektuelle Berlin,

um nach einem Zwischenaufenthalt in Paris nach Ibiza überzusiedeln. An seinen

Freund Gershom Scholem schreibt er:

„Unbezweifelt sind die zahlreichen Fälle, in denen Leute nachts aus ihren Betten ge-

holt und misshandelt oder ermordet werden. (...) Der Terror gegen jede Haltung oder

Ausdrucksweise, die sich der offiziellen nicht restlos angleicht, hat ein kaum zu über-

bietendes Maß angenommen“.1

Auf Ibiza lebt er in einem Rohbau, finanziert sein bescheidenes Leben vom Verkauf

seiner Autographensammlung und gelegentlichen Veröffentlichungen unter Pseudo-

nym in deutschen Zeitungen. Die Versuche hingegen, größere Texte in der deut-

schen Exilpresse unterzubringen, scheitern. Mehr Hoffnung setzt er in die kommuni-

stischen Publikationsorgane. Doch lediglich der erste Teil der Pariser Briefe wird

dank der Unterstützung Brechts in der Moskauer Volksfront-Zeitschrift Das Wort ver-

öffentlicht (ein Umstand übrigens, der zu seiner sofortigen Ausbürgerung führt).

Regelmäßig publizieren indes kann er in der Zeitschrift für Sozialforschung, deren

Redaktion (im Wesentlichen Max Horkheimer und Adorno) seit 1934 in New York

sitzt. Hier erscheint ein 1933 verfasster Text, der im Zusammenhang mit Benjamins

Selbstreflexion von einiger Bedeutung ist: Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen

Standpunkt des französischen Schriftstellers.

1  Bernd  Witte:  Walter  Benjamin.  Reinbek:  Rowohlt  1985,  S.  101.  Vgl.  auch  die  von  Jean  Selz   überlieferte   Formulierung  Benjamins,   „...wenn  man   sich   jetzt  mit   einem  Deutschen  über  Kultur  unterhalte,  sei  es  gut,  dabei  einen  Revolver  in  der  Tasche  zu  haben“.  In:  „was  noch  begraben  lag“.  Zu  Walter  Benjamins  Exil.  Briefe  und  Dokumente.  Hg.  v.  Geret  Luhr.  Berlin:  Bostelmann  und  Siebenhaar  2000.  S.  69.    

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Da Benjamin vom Institut zwar eine monatliche, allerdings sehr kleine Rente bezieht,

sieht er sich gezwungen, sein Leben an der unteren Grenze des Existenzminimums

zu improvisieren. So lebt er über Monate hinweg und mit einigem Unwillen in der von

seiner geschiedenen Frau geleiteten Pension im italienischen San Remo.

Die Erfahrungen des Exils, von Verarmung und Isolation schlagen sich nieder in ei-

nem Brief an Scholem, in der die durch den Kapitalismus erzeugte und den Fa-

schismus nun verschärft zutage tretende Situation des Intellektuellen beschrieben

wird. Deutlich würde, so Benjamin, dass der Intellektuelle weder - wie er es im Zeital-

ter einer ungefährdeten Herrschaft der Bourgeoisie tat - deren menschlichste Inter-

essen vertrete noch sich völlig dem Proletariat assimilieren könne: „Daher bildete

sich die Fata Morgana eines neuen Emanzipiertseins, einer Freiheit zwischen den

Klassen, will sagen, der des Lumpenproletariats. Der Intellektuelle nimmt die Mi-mikry der proletarischen Existenz an, ohne darum im mindesten der Arbeiterklas-

se verbunden zu sein.“ Dazu schreibt Benjamins Biograph Bernd Witte: „Dieser Be-

fund, in dem Benjamin die eigene gesellschaftliche Situation auf den Begriff bringt, ist

für ihn das sprechende Merkmal einer weltgeschichtlichen Krisensituation, in der

über Rettung oder Untergang der Menschheit entschieden wird. In ihr muss auch

dem Künstler und der Kunst eine neue Funktion zukommen“.2

Ob Benjamin von einer bevorstehenden proletarischen Revolution ausgegangen ist,

wird heute in der Kommentarliteratur unterschiedlich bewertet.3 Mit Brecht war er

sich einig, im Kommunismus das alleinige Mittel zur Überwindung von Unterdrückung

zu sehen4 - ja, die, wie es im Surrealismus-Essay heißt, „Befreiung in jeder Hin-

sicht“.5 Doch stellte für beide der ab 1930 erstarkende Faschismus den erwarteten

geschichtlichen „Selbstlauf“ im Sinne des historischen Materialismus zusehends in-

frage. Mit der Befürchtung, der Faschismus könne siegen und Fortschritt würde zur

Katastrophe, sahen sie sich im Widerspruch zum Zukunftsoptimismus der kommuni-

stischen Bewegung. So äußerte sich Brecht im Gespräch mit Benjamin, er halte das

2  Witte,  Benjamin,  S.  107f.  3  Cf.  Müller-­‐Schöll,  Nikolaus:  Das  Theater  des  „konstruktiven  Defaitismus“.  Frankfurt  am  Main:  Stroemfeld  2002,  S.  29  und  Wizisla,  Erdmut:  Benjamin  und  Brecht.  Die  Geschichte  einer  Freundschaft.  Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp  2004,  S.  143  und  268.  4  Brecht  schreibt  1928,  Marx  sei  der  „einzige  Zuschauer  für  meine  Stücke,  den  ich  je  ge-­‐sehen  hatte.“  Cf.  Wizisla,  Benjamin,    S.  15.  5  GS  II  1,  S.  307.  

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Eintreten einer „geschichtslosen Epoche“ für wahrscheinlicher als den Sieg über den

Faschismus.6 Für Brecht ergaben sich freilich aus diesem Befund andere Konse-

quenzen für die Rolle des Intellektuellen als für Benjamin. Während der Dramatiker

die Führungsfunktion einforderte (und damit seine - wie er sagte - „leninistische

Wende“ einleitete), hielt der Philologe entgegen, dass der Autor als einzelner ein

„Missvergnügter, kein Führer“ sei.7

In diesem Kontext insistiert Benjamin darauf, „ (...) durch die praktikablen Erkenntnis-

se desselben (des Kommunismus - SR) die unfruchtbare Prätension auf Mensch-

heitslösungen abzustellen, ja überhaupt die unbescheidene Perspektive auf „totale“

Systeme aufzugeben (...)“.8 Nicht die Ersetzung einer gesellschaftlichen Epoche

durch die nächste à la Hegel präge die revolutionäre Aktion; vielmehr gelte es, das

„Kontinuum der Weltgeschichte aufzusprengen“.

Sprengung und Zertrümmerung sind Kategorien, die in den Texten Brechts und Ben-

jamins häufig auftauchen. Erdmut Wizisla schreibt dazu in seinem Buch über die

Freundschaft der beiden Autoren: „Der Verlust an Fortschrittsgläubigkeit, Kontinuität

und Geschlossenheit hatte methodische Konsequenzen. Hier liegen die geschichts-

philosophischen Wurzeln für die Wertschätzung von Kategorien, die für die künstleri-

sche Avantgarde wesentlich sind, wie Unterbrechung, ‚Trennung der Elemente’,

Chok, Zitat, Detail, Fragment, Montage, Experiment“.9

Die Erwartungshaltung an eine kommende Gemeinschaft speist sich weniger aus

dem Reflex auf die offizielle Lesart der Kommunistischen Internationalen, wie und

wann die Revolution zu erwarten sei, als aus einer „philologischen materialistischen

Forschung“ an surrealistischen und anderen literarischen Texten.10

6   Ebd.,   S.   268.   Demgegenüber   fokussierte   die   ab   Herbst   1930   begonnene   Diskussion  über   eine   gemeinsame   Zeitschrift   namens  Krise   und   Kritik   -­‐   deren   „Gesinnung   scharf  nach  links“  gehen  sollte  -­‐  als  Aufgabe,  die  „Krise  festzustellen  oder  herbeizuführen,  und  zwar  mit  den  Mitteln  der  Kritik“,  cf.  S.  130.    7  Ebd.  ,  S.  141.  8  Ebd.,  S.  272.  9  Ebd.,  S.  269f.  10  Cf.  den   in  Folge  der  Ablehnung  des  Baudelaire-­‐Essays  begonnenen  Briefwechsel  mit  Adorno,  in  dem  Benjamin  sein  Konzept  einer  „materialistischen  Philologie“  zu  erörtern  versucht:  „Wenn  Sie  von  einer  ‚staunenden  Darstellung  der  Faktizität’  sprechen,  so  charak-­terisieren  Sie  die  echt  philologische  Haltung“,  GS  I.3,  S.  1103.    

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Der von Benjamin im Zusammenhang seiner Bestimmung des Intellektuellen gewähl-

te Begriff der „Mimikry“ ist abgeleitet von englisch mimicry (= ‚Nachahmung’) und to

mimic: ‚mimen’; entlehnt aus griech. µίµος (mímos) ‚Nachahmer, Imitator‘. Er wird mit

Bedacht gewählt und seine Referenz aufs Theater soll - wie wir sehen werden - nicht

zufällig sein. Dass der Nachahmende im Nachgeahmten sich nur mittelbar fassen

lässt, verkompliziert den ontologischen Status und entwendet ihn - ähnlich wie übri-

gens das „Proletariat“ beim frühen Marx - der Substantiierung durch einen vulgärma-

terialistischen11 Zugriffs: Das „Lumpenproletariat“ bietet weder seine Arbeitskraft als

Ware an noch handelt es im strengen Sinn mit Waren; es hat daher keine direkte

Beziehung zum Kapital. Seine funktionale Stellung in den Produktionsverhältnissen

(als Bedingung der Klassenbildung) ist folglich nur schwer auszumachen. Es fragt

sich daher, wie sich die „Ideologie“ dieser Nichtklasse als (Dys-)Funktion in Bezug

auf die Reproduktion der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmen lie-

ße.12

Die Mimikry des Intellektuellen an die proletarische Existenz jedenfalls - so viel ist

festzuhalten - isoliert nach zwei Seiten. 1930 schreibt Benjamin:

Die linksradikale Schule „(...) mag sich gebärden wie sie will, sie kann niemals die

Tatsache aus der Welt schaffen, dass selbst die Proletarisierung des Intellektuellen

fast nie einen Proletarier schafft. Warum? Weil ihm die Bürgerklasse in Gestalt der

Bildung von Kindheit auf ein Produktionsmittel mitgab, das ihn aufgrund des Bil-

dungsprivilegs mit ihr und, das vielleicht noch mehr, sie mit ihm solidarisch macht.

Diese Solidarität kann sich im Vordergrund verwischen, ja zersetzen; fast immer aber

11   „Unter   ‚Vulgärmaterialismus’  würden  wir  demnach  die   ‚Erklärung’   eines  kulturellen  Phänomens  mittels  einer  direkten,  zweistelligen  Abbildungsrelation  verstehen,  die  das  kulturelle  Phänomen  mit  einem  ökonomischen  Phänomen  verbindet“,  Jürgen  Link  /  Ur-­‐sula  Link-­‐Heer:  Literatur-­soziologisches  Propädeutikum.  München:  Wilhelm  Fink  1980,  S.  21.  Link  /  Link-­‐Heer  machen  geltend,  dass  vulgärmaterialistisch  vor  allem  die  Annahme  der   ‚Monokausalität’  des   ‚Widerspiegelungs-­‐Theorems’  sei.  Letzteres  gründe  auf  einem  Text  Lenins,   ‚Leo  Tolstoi  als  Spiegel  der  russischen  Revolution’,  habe  aber  erst  durch  Lu-­‐kács  seinen  mechanistischen,  weil  hegelianischen  Charakter  bekommen.  Dem  gegenüber  stehe  das  „klassenanalytische  Verfahren“  als  „Aufweis  des  funktionalen  Zusammenhangs  zwischen  kulturellem  Phänomen  und  sozialem  Träger“.    12  Cf.  Walter  Benjamin:  Charles  Baudelaire.  Ein  Lyriker  im  Zeitalter  des  Hochkapitalismus.  GS   I.2,   S.  514:  Der   „conspirateur  de  profession“  als  Künstler  und  der  Künstler  als  Ver-­‐schwörer,  den  „überraschende  Proklamation  und  Geheimniskrämerei,  sprunghafte  Ausfäl-­le  und  undurchdringliche  (!)  Ironie“  kennzeichneten.  Auch  hier  ist  eine  Form  der  Maskie-­‐rung  angedeutet.  

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bleibt sie stark genug, den Intellektuellen von der ständigen Alarmbereitschaft, der

Frontexistenz des wahren Proletariers streng auszuschließen“.13

Es ist dieser Sachverhalt einer klassenmäßigen „Entortung“, einer „verwischten Soli-

darität“, also eines klassenmäßig konstitutiven Mangels des revolutionären Schrift-

stellers, mit dem Benjamin in seiner Kritik ansetzt - und die diametral dem entgegen-

steht, wovon Johannes R. Becher in einem Grundsatzartikel zum Thema „Partei und

Intellektuelle“ 1928 gesprochen hatte: Um revolutionäre Literatur zu schreiben, könne

sich der Intellektuelle durch „alltägliche politische Kleinarbeit und Unterwerfung unter

die Parteidisziplin“ - offenbar umstandslos - zum Proletarier wandeln.

Was „revolutionäre Literatur“ angesichts der Entortung des Autors als Lumpenprole-

tariat und der faschistischen Zuspitzung Anfang der dreißiger Jahre ist oder sein

könnte, ja, ob nicht ein jeder Versuch der intellektuellen Bestimmung des Revolutio-

nären dieses konstitutiv verfehlen muss, darüber hat Walter Benjamin zeit sein Le-

ben im weiten Bogen vom barocken Trauerspiel bis zu Brechts epischen Theater,

von den Texten Baudelaires bis zu denen Franz Kafkas nachgedacht. Hier soll sich

indes mit einem Ausschnitt daraus, einem Textes von 1934, begnügt werden.

Der Autor als Produzent Walter Benjamins Text „Der Autor als Produzent“ erschien postum im Jahr 1966 mit

dem Untertitel „Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am

27.4.1934“. Heute geht man von einem tatsächlich gehaltenen Vortrag aus, wahr-

scheinlich vor dem Publikum der Mitarbeiter des Instituts, das eine Gründung der

Schriftsteller und aktiven Kommunisten Oto Biha und Arthur Koestler (dem Freund

und späteren „Co-Renegaten“ Willi Münzenbergs) war. Koestler berichtet über das

Institut in seiner Autobiographie: „Ich fungierte ein Jahr hindurch als unbezahlter Ge-

schäftsführer des Pariser ‚Instituts zum Studium des Faschismus’. Das war ein Ar-

chiv und Forschungsinstitut, das von Angehörigen der KP betrieben und von der

Komintern kontrolliert, aber nicht finanziert wurde. Zweck und Ziel dieser Einrichtung

war, ein von den massenpropagandistischen Methoden der Münzenberg-

Unternehmen unabhängiges Institut für das ernsthafte Studium des faschistischen

13  Benjamin,  vgl.  auch  GS  II,  2,  S.  700.  

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Regimes zu schaffen. Wir wurden durch Spenden der französischen Gewerkschaften

und aus französischen Intellektuellen- und Akademikerkreisen unterhalten“.

Etwas anders klingt es in der Benjamin-Biographie Werner Fulds (1979): „Das Institut

war eine kommunistische Tarnorganisation, von Mitgliedern der KP betrieben und

von der Komintern kontrolliert (...) Es wurde sorgsam alles vermieden, was auf den

kommunistischen Charakter des Unternehmens hätte schließen lassen. Umfängliche

Publikationsserien waren geplant, die kaum verwirklicht wurden, und es ist möglich,

dass man sich gerade linksbürgerliche Schriftsteller wie Benjamin als Alibiautoren

heranzuziehen wünschte“.14

Benjamin hatte ursprünglich beabsichtigt, den Text in der von Klaus Mann herausge-

gebenen Exilzeitschrift Die Sammlung im Amsterdamer Querido-Verlag herauszu-

geben. Hier publizierten von September 1933 an - in insgesamt 24 Ausgaben bis

August 1935 - Autoren wie Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Bert Brecht, André Gi-

de, Ilja Ehrenburg, Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Joseph Roth und natürlich die

Familie Mann. Die redaktionelle Schwierigkeit bestand in der Vorgabe, ein Forum der

Faschismuskritik sein zu sollen, allerdings ohne Rekurs auf tagespolitisches Ge-

schehen. „Gesammelt“ werden sollte hier dasjenige - so verstand es Klaus Mann -

„was den Willen zur menschenwürdigen Zukunft hat, statt den Willen zur Katastro-

phe: (...) für dieses wirkliche Deutschland wollen wir eine Stätte der Sammlung

sein“.15

Vor dem Hintergrund der von Benjamin vertretenden Haltung ist - wie wir sehen wer-

den - die immer wieder geäußerte Irritation der Beiträger darüber, ob es sich hier um

eine „literarische“ oder „politische“ Zeitschrift handelte, nicht ohne Bedeutung.

Die interne Auseinandersetzung über die Publikationspolitik der Sammlung wirft ein

bezeichnendes Licht auf den disparaten intellektuellen Diskurs im Exil der dreißiger

Jahre. So war es einer der bekanntesten Exilanten, Heinrich Mann, der seinem Nef-

fen von einer Veröffentlichung des Benjaminschen Textes abriet. Er regierte damit

auf den von Benjamin selbst formulierten Ansatz, sein Text beschäftige sich ange-

sichts des Faschismus „mit der politischen Analyse gewisser literarischer Gruppie-

rungen, wie sie sich in Deutschland zwischen 1920 und 1930 haben studieren las- 14  Werner  Fuld:  Walter  Benjamin.  Zwischen  den  Stühlen.  Eine  Biographie.  München:  Han-­‐ser  1979,  S.241f.    15  In:  Wikipedia:  Artikel  „Die  Sammlung“.      

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sen. Er sucht insbesondere das Maß an Verantwortung zu bestimmen, die diese

Schulen an der Niederlage der deutschen Intelligenz tragen.“ Und hier richtete Ben-

jamin den Fokus vor allem auf die „linksbürgerliche Intelligenz“. Heinrich Mann unter-

stellte Benjamin - einem „kommunistischen Literaten“ - Führer- und Staatsgläubigkeit

sowie eine „Geistesart wie die Nazi(s)“. Und schloss mit der Warnung, die „emigrierte

Literatur“ dürfe nicht so aussehen, als bestände sie ganz aus den Resten oder Vor-

läufern einer Partei. Benjamin kannte dieses (Fehl-)Urteil und bestand umso mehr

auf der Auseinandersetzung zwischen den im Exil befindlichen Intellektuellen: Sie sei

„eine Frage, die infolge der Niederlage der deutschen Intellektuellen akuter als sie es

je war geworden ist“.

Mit seinen expliziten Angriffen gegen die „linksbürgerliche Intelligenz“ und ihre Litera-

tur vereinsamte der Intellektuelle Benjamin zusehends. Die Bemühungen um eine

Einheitsfront der exilierten Intellektuellen, wie sie Willi Münzenberg ab 1935 in Um-

setzung der inzwischen veränderten Strategie der Komintern unternahm, verschärf-

ten die Situation. Sowohl zum Lutetia-Kreis (Vorsitz: Heinrich Mann) als auch zur

1938 von Münzenberg und Koestler gegründeten Zeitschrift Die Zukunft (deren

Zweck neben Antifaschismus und Antistalinismus die Propagierung der Einheitsfront

war) wurden Autoren zur Mitarbeit aufgefordert, an denen sich Benjamin kritisch ab-

gearbeitet hatte: Heinrich Mann, Alfred Döblin und andere Großschriftsteller16 der

deutschen Sprache. Benjamin hingegen blieb isoliert.17

16  Benjamin  notiert  im  Sommer  1934,  dass  Brecht  gesprächsweise  zwei  „Dichter-­‐Typen“  unterschieden   habe:   die   „Substanzdichter“   als   „Visionäre“,   die   „es   ganz   ernst  meinen“  und  „die  es  wirklich  zu  etwas  bringen“  wie  Gerhard  Hauptmann,  und  die  „Besonnenen“,  die  es  nicht  ganz  ernst  meinten.  Brecht  selbst  habe  sich  letzteren  zugeordnet,  denn  auch  er  denke   „zu   viel   an  Artistisches“.  Das   aber   -­‐   so  der  Dramatiker   -­‐   sei   ausdrücklich   er-­‐laubt“.    17   In   seinem  1933   verfassten  Bericht   zur   Situation   der   in   der  KPD   organisierten   Exil-­‐schriftsteller  wirbt   Johannes  R.  Becher  bereits   für  die  „Einheitsfrontbildung“.  Er  macht  in   diesem  Zusammenhang   auf   die   eminente  Bedeutung   einer  Anwerbung   von  Mitglie-­‐dern  aufmerksam,  die  „als  Schriftsteller  (...)  Autorität“  besitzen.  Der  Schulterschluss  mit  linksbürgerlichen  Autoren  mochte  taktische  Gründe  nach  außen  haben;  nach  innen  führ-­‐te  er  zu  einer  intellektuellen  Konsolidierung,  die  für  Benjamin  nichts  anderes  als  Verrat  an   der   Sache   darstellen   musste.   In:   Heinz   Ludwig   Arnold:   Deutsche   Literatur   im   Exil  1933-­1945.  Band  I:  Dokumente.  Frankfurt  am  Main:  Athenäum  1974,  S.  31.  

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Der Bund proletarisch-revolutionäre Schriftsteller

Isoliert bliebt Benjamin auch gegenüber der wahrscheinlich einflussreichsten Organi-

sation linksintellektueller Autoren, dem „Bund proletarisch-revolutionärer Schrift-steller“. Der Literaturwissenschaftler und Exilforscher Dieter Schiller hat dessen Ar-

beit im Pariser Exil dargestellt18. Er schreibt:

„Im Juli des Jahres 1933 fuhr Johannes R. Becher, der Vorsitzende des Bun-

des proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands (BPRS), im Auftrag

der Leitung der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller (IVRS)

aus Moskau in die westlichen Emigrationszentren. Was dort – und natürlich

auch im Reich – nach dem Schock der Niederlage vom Bund übriggeblieben

und wie die Bundesarbeit tatsächlich weitergeführt worden war, davon hatte er

noch keine genaue Vorstellung.19 (...) Mit Recht hatte Becher in Paris festge-

stellt, dass viele Genossen in den vergangenen Monaten mit der Herstellung

des »Braunbuchs« beschäftigt waren und deshalb für die Bundesarbeit ausfie-

len.20 Aber auch später waren seine engsten und in der Bundesarbeit erfah-

rendsten Freunde mit anderen Aufgaben betraut wie z.B. Otto Biha, der im

Exil als Peter Merin auftrat, beim Aufbau des Instituts zum Studium des Fa-

schismus in Paris. Überhaupt stellte es sich für ihn, aber auch für Anna Seg-

hers und Kurt Kläber je länger je mehr als ein Problem für den Bund heraus,

dass fast alle fähigen Genossen – wie Kläber21 sarkastisch sagte – »bei Mün-

zenberg in Amt und Brot« waren, in dessen Verlagsunternehmen und Komi-

tees angestrengt und nützlich arbeiteten, aber eben deshalb auch deren Inter-

essen verfolgten. Zu alledem glaubte Becher feststellen zu müssen, dass sich

»politische Bauchschmerzen in die literarische Diskussion« hineinschöben

und dass sich hier hemmungslos austobe, was in der Arbeit der Parteiinstitu-

tionen nicht ausgesprochen werden könne oder – wenn ausgesprochen – zum

Parteiausschluss führe.

18   Dieter   Schiller:   Zur   Arbeit   des   Bundes   proletarisch-­‐   revolutionärer   Schriftsteller   im  Pariser  Exil.  In:  UTOPIE  kreativ,  H.  102  (April)  1999,  S.  57-­‐63.  19  Becher  schätzt  die  Zahl  der  Mitglieder  des  Bundes  in  Paris  auf  „ca.  30  Genossen“.    20  Becher  moniert  dazu  in  seinem  Bericht:  „Die  theoretische  Unklarheit  kommt  ebenfalls  in  dem  Kulturteil  des  Braunbuchs  zum  Ausdruck,  wo  ziemlich  unterschiedlos  (sic!)  alle  verbrannten  und  verbannten  Schriftsteller  behandelt  werden“,  Arnold,  Exil,  S.  36.  21  Kläber  brach  1938  mit  der  KPD.  

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Worum es sich bei solchen Ketzereien handelte, verrät Bechers Bericht über

seinen Pariser Aufenthalt. Die »Emigrationspanik« – heißt es darin – habe

sich »in der Form trotzkistischer Fragestellung« sublimiert, was wohl heißen

soll, dass über den Anteil der KPD an der Niederlage diskutiert wurde und

dass überhaupt von einer Niederlage die Rede war. Solche Abweichungen

von der offiziellen Parteilinie der KPD nicht verhindert zu haben, war ihm Be-

weis, dass die Leitung der Parteifraktion »außerordentlich schwach« sei.22 (...)

Fraktionsleitung hieß sie, weil sie zugleich die Leitung der Parteifraktion der

KPD im Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland23 bildete. (...)

Noch zu Jahresbeginn 1934 forderte Becher von seinen Freunden im Westen

angesichts der »starken oppositionellen Strömungen in unseren Reihen«, die

»alleinige Schuld der Sozialfaschisten (d.h. der Sozialdemokratie - D. S.) am

Kommen des Faschismus« zu betonen und – ein groteskes Argument – den

Kampf gegen den Sozialfaschismus nicht den Nationalsozialisten zu überlas-

sen. (...)

Ganz umsonst waren die Beratungen Bechers mit den Pariser Freunden nicht,

im Herbst setzte unverkennbar eine Belebung der Bundesarbeit ein und der

Briefwechsel zwischen Paris und Moskau verdichtete sich zusehends. Gustav

Regler berichtete Anfang Dezember, der Bund arbeite wieder voll, und verwies

auf gelungene Kritikabende, Arbeitsgemeinschaften, Schulungszirkel und öf-

fentliche Veranstaltungen. In vielen Informationen und Berichten aus dem

Kreis der Pariser Bundesmitglieder wird dieser Teil der Bundesarbeit ausführ-

lich erläutert, mit unverhohlenem und berechtigtem Stolz über das Geleistete.

Nicht so zufrieden zeigten sich die ehemals zentralen Funktionäre des Bun-

22  Mit   „Parteifraktion“  war   hier   die   Pariser   Gruppe   des  BPRS   unter   Leitung   von  Anna  Seghers  gemeint.    23  Wikipedia:  „Der  Schutzverband  deutscher  Schriftsteller  (SDS)  wurde  1909  gegründet  und   sollte   Rechtsschutz   gegen   staatliche   Eingriffe   in   das   Literaturschaffen   gewähren.  Der  SDS  wurde  nach  der  Machtübernahme  der  NSDAP  am  31.   Juli  1933   in  den  Reichs-­verband   deutscher   Schriftsteller   überführt.   In   Paris   gründeten   Schriftsteller,   die   aus  Deutschland   emigriert   waren,   in   Antwort   auf   die   Bücherverbrennungen   1933   in  Deutschland  am  30.  Oktober  1933  den  Schutzverband  deutscher  Schriftsteller  im  Ausland.  Der  Exilverband  verfolgte  eine  Volksfront-­‐Politik  gegen  die  nationalsozialistische  Dikta-­‐tur.  In  New  York  City  wurde  1939  ein  Landesverband  für  die  USA  gegründet,  Ehrenvor-­‐sitzender  war  Thomas  Mann,  Vorsitzender  Oskar  Maria  Graf.  Antistalinistische  Literaten  und   Journalisten   gründeten   nach   innerverbandlichen   Konflikten   am   7.   Juli   1937   den  Bund  Freie  Presse  und  Literatur.  Becher  schätzt  1933,  dass  der  Schutzverband   in  Paris  etwa  150  Mitglieder  habe“.  

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des, die freilich nicht unmittelbar an der Bundesarbeit beteiligt waren. Für Kurt

Kläber waren die Abendveranstaltungen nur Anhäufungen von Menschen, die

sich gegenseitig Referate halten; von positiver Arbeit habe er nichts gesehen.

Das korrespondiert mit Peter Merins (Oto Biha) Urteil, die Bilanz der Schrift-

steller-Emigration sei katastrophal, weil sie weder eine ernste Analyse des Fa-

schismus auf ihrem Gebiet noch irgendeinen hörbaren Appell an die Intellek-

tuellen der Welt zur Solidarität hervorgebracht habe.“

Das insgesamt angespannte Verhältnis mag durch folgende Anekdote vom „Kon-

gress der antifaschistischen Schriftsteller zur Rettung der Kultur“ im Juni 1935 in Pa-

ris angedeutet sein: Als Gustav Regler zum Thema „Schöpferische Fragen und Wür-

de des Geistes“ „(...) eine inspirierte Rede hielt, an deren Ende sich das Publikum

spontan erhob und die Internationale sang, erschien diese solidarische Demonstrati-

on den kommunistischen Organisatoren zu verräterisch: Becher nannte Regler einen

Saboteur, und in einer eigens anberaumten Sitzung wurde er gerügt, da nicht er es

zu bestimmen habe, wann die Internationale gesungen würde. Als Regler entgegne-

te, es sei spontan gesungen worden, warf sein Parteivertreter Abusch, später Kultur-

beauftragter in der DDR, ihm eben dies vor: ‚Revolutionen haben nicht spontan zu

sein’.“24

Mitte 1934 begann sich die offizielle Parteilinie zur Exilpolitik zu ändern:

„Die Mitteilung, Heinrich Mann habe für die Zeitung des SDS »Der Schriftstel-

ler« einen Leitartikel geschrieben, wertet Becher enthusiastisch als »entschei-

denden Durchbruch in der Einheitsfrontbewegung«25. Ein – etwa gleichzeitig

geschriebener – Diskussionsbrief aus Moskau gibt die Orientierung, zu versu-

chen, alle die Schriftsteller zu gewinnen, die ehrlich gegen den Hitler-

Faschismus kämpfen, nicht um sie auszunutzen, sondern um ‚sie kamerad-

schaftlich in unseren Kampf einzureihen’ (Becher). Eins der stärksten Über-

zeugungselemente für die bürgerlich radikalen Schriftsteller sei »unsere litera-

rische Praxis«. Das ist ein neuer Ton, vor allem eine tiefgreifend veränderte

Wertung der künstlerischen Produktion. Seit dieser Zeit, so scheint es mir, hat

24  Fuld,  Benjamin,  S.  249.  25  „Einheitsfront“  hieß  nicht,  dass  es  nicht  auch  Ausgrenzungen  gegeben  hätte.  Mitarbei-­‐ter  der  -­‐  vom  „Trotzkisten“  Willi  Schlamm  geleiteten  -­‐  Weltbühne  zum  Beispiel  waren  nicht  ohne  weiteres  erwünscht.    

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Stefan  Rosinski,  August  2013  

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es eine eigenständige Tätigkeit der Pariser Gruppe des BPRS nicht mehr ge-

geben. Im Zeichen der »breiten Einheitsfront-Taktik« wurde der Schutzver-

band deutscher Schriftsteller im Exil das eigentliche Wirkungsfeld der Bun-

desmitglieder.“26

Festzuhalten ist hier - meine ich - zum einen die Kritik Bihas, eine ernste Analyse des

Faschismus habe die Gruppe der Schriftsteller-Exilanten „auf ihrem Gebiet“ bisher

nicht hervorgebracht; zum anderen die durchaus merkwürdige Vorstellung Bechers,

eines der stärksten Überzeugungselemente für die „bürgerlich radikalen Schriftstel-

ler“ sei die „literarische Praxis“ der im BPRS organisierten Autoren - ohne dass diese

näher von ihm definiert würde.27

Im Spannungsfeld dieser Selbst- und Enttäuschungen hält Benjamin seinen Vortrag

Der Autor als Produzent. Er will explizit beides: die literarische Praxis der revolutionä-

ren Schriftsteller beleuchten, und dies mit dem Anspruch, damit zur Analyse des Fa-

schismus beizutragen. Die Mitarbeiter des Pariser Instituts (unter ihnen sehr wahr-

scheinlich auch Oto Biha) werden ihm zugehört haben, aber haben sie auch hinge-

hört? Eine Publikation des Textes jedenfalls erfolgte ebenso wenig wie eine Auffor-

derung zur weiteren Mitarbeit.

Erst in den 60er Jahren und vor dem Hintergrund der westdeutschen Studentenbe-

wegung bildete die Veröffentlichung von Der Autor als Produzent (In: Versuche über

Brecht) den Auftakt zu einer Rekonstruktion der historisch-materialistischen Literatur-

theorie Benjamins und damit zu einer Diskussion antifaschistischer Literatur, die ins-

besondere auch den Positionen Brechts Raum gab.

Während der weiteren Exilzeit jedenfalls hatte dieser Diskurs kein Forum gefunden,

sondern war seit 1937 durch die anders gelagerte, in der Moskauer Exilzeitschrift

Das Wort ausgetragene „Expressionismusdebatte“ mit ihren Protagonisten Lukács,

26  Schiller,  Zur  Arbeit  des  BPRS.  27  Eine  Minimaldefinition  findet  sich  in  den  Statuten  des  sowjetischen  Schriftstellerver-­‐bands  von  1934:  „Der  sozialistische  Realismus,  der  die  Hauptmethode  der  sowjetischen  schönen  Literatur  darstellt,  fordert  vom  Künstler  wahrheitsgetreue,  historische  konkre-­‐te  Darstellung  der  Wirklichkeit  in  ihrer  revolutionären  Entwicklung“.    

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Stefan  Rosinski,  August  2013  

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Brecht, Bloch28 und Kurella überdeckt worden.29 Vor allem Brecht hat sich in dieser -

zur Problematik des literarischen Erbes und dem Begriff des Realismus gehenden -

Debatte gegen Lukács und dessen Konzeption positioniert; verzichtete aber be-

zeichnender Weise auf den Abdruck seiner Ausführungen, die erst mit seinem Nach-

lass veröffentlicht wurden.

Ideologisch verortet wurde das kommunistische Literaturmagazin Das Wort durch

Alfred Kurella und Johannes R. Becher, den beiden führenden Kulturpolitiker der

KPD in Moskau; operativ geleitet durch Fritz Erpenbeck. Sowohl Kurella als auch

Erpenbeck übernahmen gegen Brecht die Position von Lukács: „Erpenbeck bekämp-

fet noch in der DDR Brechts Konzept vom epischen Theater auf schärfste mit dem

Argument der ‚volksfremden Dekadenz’ und nahm dabei Lukács klassischen Stand-

punkt, die Forderung nach aristotelischen Regeln der Dramatik, ein. Erst Ende der

fünfziger Jahre unterzog Erpenbeck seine Position einer Selbstkritik“.30

1938 zeichnet Walter Benjamin in diesem Zusammenhang folgendes Gespräch mit

Brecht auf: „Brecht liest mir mehrere polemische Auseinandersetzungen mit Lukács

vor, Studien zu einem Aufsatz, den er in Das Wort veröffentlichen soll. Es sind ge-

tarnte aber vehemente Angriffe. Brecht fragt mich, was ihre Publikation angeht, um

Rat. Da er mir gleichzeitig erzählt, Lukács habe derzeit ‚drüben’ eine große Stellung,

so sage ich ihm, ich könne ihm keinen Rat geben. ‚Hier handelt es sich um Machtfra-

gen. Dazu müsste sich jemand von drüben äußern. Sie haben doch Freunde dort.’

Brecht: ‚Eigentlich habe ich dort keine Freunde. Und die Moskauer selber haben

auch keine - wie die Toten’.“

28  Vgl.  die  Sonderrolle  Blochs,  der  von  einem  „Tendenz-­‐Latenz-­‐Überschuss“  des  Materi-­‐als  sprach,  der  über  die  Faktizität  der  Wirklichkeit  hinausgelange.  Cf.  Ernst  Bloch:  Erb-­‐schaft  dieser  Zeit,  1935.  29  Der  Expressionismus  wurde  von  den  Faschisten  als   „entartet“;   von  den  Kommuni-­‐sten   in  Hinsicht   auf   seine   „Brauchbarkeit“   im  Klassenkampf   als   „dekadent“   abgelehnt.  Die  Diskussion  entzündete  sich  an  Gottfried  Benns  Parteinahme  für  den  Nazismus  und  kehrte   zu   Lenins   Forderung  der  Anknüpfung   an   die   „schöne   Literatur“,   als  Modell   für  sozialistische   Literatur,   zurück.   Aktueller   Bezugspunkt   blieb   die   Volksfrontbewegung  und  die  Vorstellung  von  Literatur  „als  Waffe“  (H.  Mann,  Der  Weg  der  deutschen  Arbeiter,  1936).  W.   Pieck   sprach   demgemäß   von   einer   „Volksfrontliteratur“,   deren  wesentliche  Kategorie   ein   erzieherischer   Realismus   zu   sein   habe.   Cf.   Hans-­‐Jürgen   Schmitt:  Die   Ex-­pressionismusdebatte.  Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp  1978.  30  Schmitt,  Expressionismusdebatte,  S.  24f.  

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In der DDR sah die Intelligenzija sich weiterhin in der Tradition der Volksfrontbewe-

gung und rezipierte daher auch die Expressionismusdebatte als wesentliches Ele-

ment dieses Erbes (1968 erscheint ein Reprint von Das Wort). Kurella hatte 1938 in

einem sogenannten „Schlusswort“ die Realismus-Debatte und deren Ergebnis für

eine „sozialistische Literatur“ rückblickend bewertet; im Wiederabdruck 1961 (dies-

mal unter dem Titel: „Zwischendurch“), führt er dazu aus: „Damals schon rief meine

Identifizierung des Geistes, der Gottfried Benn die Feder führte, und des ‚Geistes’

der Naziideologie lebhaften Protest hervor. Ich habe die spitzen, ja überspitzten

Formulierungen von damals stehen lassen. Soll sich auch heute noch einmal der

Streit an ihnen entzünden! Dass nicht so viele deutsche Intellektuelle dem Nazismus

zum Opfer gefallen wären, wenn sie nicht durch die Auflösung aller humanistischen

Werte (! - SR) durch Leute wie Benn und durch den dekadenten Grundzug des gan-

zen Expressionismus geistig und moralisch entwaffnet worden wären, ist heute noch

meine Überzeugung. Und man sehe einmal zu, wo alle Expressionisten (mit Aus-

nahme derer, die aufhörten, es zu sein und sich zu neuen sozialistischen Positionen

durchrangen) heute gelandet sind, wem ihr Werk heute dient!“.31

In Ostdeutschland kam es 1970 durch Gerhard Seidel zu einer Publikation ausge-

wählter Schriften Benjamins unter dem Titel „Lesezeichen“. Darin schrieb der Her-

ausgeber: „Die im Sommer 1924 auf Capri eingeleitete Wendung zum Marxismus hat

Benjamin nie rückgängig gemacht. Ausgedehnte Studien der klassischen und zeit-

genössischen marxistischen Literatur und - seit 1929 - der freundschaftliche Umgang

mit Bertolt Brecht haben Benjamins Denken vollends in den hellen Mittag materiali-

stischer Erkenntnis geführt.“

Wenige Jahre zuvor jedoch hatte Seidel in einem internen Gutachten für den Aufbau-

Verlag zur Übernahme der in Westdeutschland 1966 veröffentlichen Sammlung Ver-

suche über Brecht (darin auch Der Autor als Produzent) mit folgenden Worten davon

abgeraten, die Svendborger Gespräche zwischen Benjamin und Brecht mit zu über-

nehmen: „Zahlreiche der in diesen Gesprächen nur angerissenen Probleme, vor die

sich die progressiven Schriftsteller in den ersten Exiljahren gestellt sahen - man den-

ke an bestimmte Erscheinungen in Politik und Kulturpolitik der Sowjetunion im Zei-

chen des wachsenden Personenkults -, würden jedoch hier und heute einen sehr

ausführlichen historischen und ideologischen Kommentar verlangen, der unsere

31  Schmitt,  Expressionismusdebatte,  S.  24.  

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(Benjamin-)Ausgabe zu stark belastete. Die marxistische Literaturwissenschaft hat

diese Texte keineswegs zu scheuen; von ihrer Veröffentlichung in extenso in einer

Ausgabe des Aufbau-Verlags soll jedoch abgeraten werden“.32

Der Text

Benjamin beginnt seinen Text vom Autor als Produzenten mit der Feststellung, dass

die Zeitumstände des herrschenden Faschismus jeden Künstler und Intellektuellen -

ob sie wollten oder nicht - zu einer „Entscheidung“ nötigten: zu der Entscheidung, in

wessen „Dienst“ man seine Aktivität stelle. In einer solchen historischen Situation

kann es keine Entscheidungslosigkeit geben, denn jede Form der Publikation ist per-

formativ: Handlung im Kontext der mörderischen Frage von Affirmation oder Konfron-

tation. Das „Existenzrecht“ des Dichters ist angesichts der nazistischen Verfolgungs-

politik zweifach in Frage gestellt: als nacktes Leben und in dem Anspruch auf die

Autonomie der Kunst und des Denkens. Ein „fortgeschrittener Autor“ wird sich des-

halb, so Benjamin, „auf die Seite des Proletariats“ stellen und die Autonomie durch

die „Tendenz“ ersetzen.

An dieser Stelle setzt Benjamin seinen Hebel an: Die Tendenzdebatte sei bisher

unglücklich gelaufen, weil sie den Zusammenhang von Tendenz (also dem auf den

Klassenkampf bezogenen Denken) und literarischer Qualität nicht plausibel machen

könne. Insofern sei der alleinige Begriff der „Tendenz“ ein vollkommen untaugliches

Instrument der politischen Literaturkritik. Dagegen formuliert er seine These: Ein

Werk, das die richtige Tendenz zeige, müsse notwendig auch jede sonstige (soll

heißen: literarische) Qualität aufweisen. Dies wolle er im Folgenden „beweisen“ und

damit das Studium des Faschismus befördern.

Wenn ein Werk „richtiger Tendenz“ notwendig auch literarische Qualität zeigt, kann

im Umkehrschluss literarische Qualität (die freilich noch zu definieren wäre) ein Indi-

kator richtiger politischer Tendenz sein, ohne dass unter Umständen deren politi-

scher Gehalt als Gesinnung explizit würde. Benjamin hält jedenfalls fest: „Die Ten-

denz einer Dichtung kann politisch nur dann stimmen, wenn sie auch literarisch

32  Wizisla,  S.  44.  

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stimmt“. Auch wenn "im Zentrum der Philosophie der Klassenkampf" stehen müsse,

versichert er, dass "Kritik in der Sprache der Artisten reden muss".

Damit reicht das Parteibuch eines Autors ebenso wenig wie seine zu Markte getra-

gene „fortschrittliche“ Gesinnung als Ausweis der richtigen politischen Tendenz sei-

ner Werke. Denn erst die „literarische Tendenz“ erzeuge deren - politisch notwendige

- Qualität. Benjamin denkt also eine „literaturtheoretisch begründete moderne Autor-

schaft und die Verantwortung des Intellektuellen zusammen“, eine avancierte Äs-thetik als antifaschistische Literaturpraxis.33

Dies ist zunächst eine Absage an sozialistische Trivialliteratur, wie sie als Gut- und

Richtiggemeintes zuhauf publiziert wurde. Diese sei - egal wie revolutionär und poli-

tisch nonkonformistisch sie sich gebe - „ästhetischer Verrat“, so Benjamin. Die „so-

zialistische Romanform“ etwa sei eher ein Rückzugsgefecht bürgerlicher Belletristik

als ein Vorstoß proletarischer und daher ästhetischer Konformismus von Schwarz-

Weiß-Zeichnungen.34

Den Konformismus-Begriff verwendet Benjamin indes auch in einem anderen Zu-

sammenhang: Faschismus sei Konformismus, hervorgegangen aus der tödlichen

Mendelung von Nihilismus mit Idealismus35. Konformismus als Teil einer Funktions-

weise der Technokratie werde von dieser erzeugt; als das Einverstandensein mit

ihren Verfahren, ohne dass deren Ergebnisse aushandelbar wären.36 Über den Kon-

formismusbegriff rückt Benjamin sozialistische Tendenzliteratur, soweit sie reine Ge-

sinnungsliteratur ist, in den Umkreis eines faschistischen Denkens.

Um seinen Begriff der literarischen Tendenz genauer bestimmen zu können, zieht

Benjamin die Kategorie der Produktionsverhältnisse heran. Nicht die Frage, wie

ein Werk zu diesen Verhältnissen stehe (das wäre Gesinnung), sei entscheidend,

sondern wie es in ihnen stehe. Diese Frage, so Benjamin, ziele „unmittelbar auf die

schriftstellerische Technik“. Erst die Technik eines Werkes gebe Aufschluss darüber,

33  C.  Kambas,  Positionierung  der  Linksintellektuellen  im  Exil.  In:  Benjamin  Handbuch.  34  Vgl.  Zum  gegenwärtigen  Standpunkt  des  französischen  Schriftstellers.  35  Bert  Brecht:  „Die  Durchführung  dieses  gigantischen  Programms  in  seinen  drei  Teilen  erforderte  selbstverständlich  die  ungeheuerlichsten  Anstrengungen  des  gesamten  Vol-­‐kes  und  jenen  eingangs  erwähnten  Idealismus.  Ohne  einen  solchen  Idealismus  können  Programme  solcher  Art  nicht  durchgeführt  werden“.  Schriften  2.1,  S.  13.  36  Cf.  Walter  Benjamin:  Theorien  des  deutschen  Faschismus.  In:  GS  III,  S.  238.  

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ob die literarische Tendenz in einem Fort- oder Rückschritt liege. An ihr erkenne

man, welche Funktion ein Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsver-

hältnisse einer Zeit habe. (Selbstverständlich beschreibt das Technische einen

grundlegend anderen Sachverhalt als das Technokratische.)

Den Begriff der Funktion verbindet Benjamin mit einem Ausdruck des russischen

Schriftstellers (und Brecht-Freundes) Tretjakows: dem vom „operierenden“ Schrift-

steller im Unterschied zum „informierenden“. Der fortschrittliche, operierende Schrift-

steller „greift ein“, indem er die Formen der Literatur verändert. Formveränderung ist

hier im Kontext eines historischen Bewusstseins gedacht, das sich selbst in einem

„gewaltigen Umschmelzungsprozess“ reflektiert. Dieses Bewusstsein des Umbruchs

war kein Alleinstellungsmerkmal der Linken, sondern erfasste das gesamte Spektrum

des politischen Denkens der Zwanziger und Dreißiger Jahre.

Umgeschmolzen werden müssen mit den Formen auch die Funktionen und damit die

Produktionsverhältnisse: Wer ist zukünftig Schreibender, wer Lesender, wer ist Spie-

lender, wer Zuschauer? Ja, mehr: die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum

selbst beginne sich aufzulösen. Ein Aspekt, den Benjamin in seinen Arbeiten zum

epischen Theater intensiv weiterverfolgen wird und der für Brechts „Maßnahme“ fun-

damental ist.

Mit dem breiten Zugriff der Werktätigen auf die Medien - Benjamin exemplifiziert hier

am Beispiel der Sowjetunion - sei jeder „Lesende jederzeit bereit, ein Schreibender

zu werden“. Die „Arbeit selbst komme zu Wort“, und man könne nicht weniger als die

„Literarisierung der Lebensverhältnisse“ beobachten. Schauplatz dieses Vorgangs

seien die Zeitungen, Schauplatz einer „hemmungslosen Erniedrigung des Wortes“.

Freilich: dies gelte nur für die Sowjetunion, denn woanders seien diese Medien keine

geeigneten Instrumente des politischen Fortschritts, weil sie nach wie vor im Eigen-

tum der Kapitalisten stünden.

Folglich gilt für den Autor im Kapitalismus eine andere Aufgabenstellung als in einem

Land, wo der Schriftsteller aufgefordert ist, unmittelbar in die Produktion oder wie

Tretjakow in die Kollektivierung einzugreifen. Hier kann Literatur als Produktionsmit-

tel sozialisiert werden, indem Bildung nicht länger ein Privileg von Intellektuellen ist.

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Anders im Kapitalismus: Ist der Autor imstande, die eigene Arbeit, ihr Verhältnis zu

den Produktionsmitteln, d.h. den Stand ihrer Technik wirklich revolutionär zu durch-

denken?

Benjamin wählt die Beispiele des Aktivismus und der Neuen Sachlichkeit als zwei

literarische Strömungen, die sich gesellschaftskritisch geben. Sind sie es nur der Ge-

sinnung nach, oder übt der Autor seine Solidarität mit dem Proletariat auch als Pro-

duzent? Wird die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozess kritisch reflektiert?

Benjamins Kritik an den Konzepten von Vertretern dieser Strömungen, explizit Alfred

Döblin und Heinrich Mann, fällt vernichtend aus. Hier werde ein „Begriff des Geisti-

gen“ ohne Rücksicht auf die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozess vertre-

ten. An die Stelle der materialistischen Dialektik sei im Aktivismus das Prinzip des

„gesunden Menschenverstandes“ getreten; der Begriff des Sozialismus ein reaktio-

närer. Benjamin zitiert hierzu Döblin: Sozialismus sei „Freiheit, spontaner Zusam-

menschluss, Ablehnung jedes Zwanges, Empörung gegen Unrecht und Zwang,

Menschlichkeit, Toleranz, friedliche Gesinnung“. Diesem „Aktivismus“ als „geistiger

Erneuerung“, so Benjamin abschließend, gehe jede Analysefähigkeit und kritische

Selbstwahrnehmung ab.

Dem Aufbruch der Autoren in der Sowjetunion zum Verwechseln ähnlich sehen mag

die Literatur der sogenannten Neuen Sachlichkeit. Sie habe die Reportage literatur-

fähig gemacht, integriere Elemente der Illustrierten, des Radios, der Photomontage.

Sie wolle das Elend zeigen - und erniedrige es doch zum Gegenstand des Konsums.

Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Walter Mehring - so der Befund - verwandelten den

politischen Kampf aus einem „Zwang zur Entscheidung“ in einen Konsumartikel.

Benjamin bescheinigt dem Großteil der linken Literatur, dass sie „der politischen Si-

tuation immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen“ vermö-

gen. Der „revolutionäre Routinier“ beliefere ohne zu verändern (auch mit „revolutio-

nären“ Themen) und bediene damit den bürgerlichen Produktionsapparat, der er-

staunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren könne, ohne seine Be-

stand (und den seiner besitzenden Klasse) ernstlich zu gefährden. Dabei könne es

doch nur um eines gehen: den (literarischen) „Produktionsapparat durch Verbesse-

rungen der herrschenden Klasse zu entfremden“.

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Benjamin zitiert zustimmend Brecht (und integriert Teile eigener Aufsätze zum Epi-

schen Theater), dass es um „Umfunktionierung“ ginge: Umfunktionierung der Pro-

duktionsformen im Sinne einer dem Klassenkampf dienlichen (statt: dienenden) Intel-

ligenz. Am Beispiel des Theaters dokumentierten Brechts Arbeiten, dass der Produk-

tionsapparat so beliefert werden könne, dass er im Sinne des Sozialismus gleichzei-

tig verändert werde. Künstlerische Arbeiten sollen - so fordere Brecht - „nicht mehr

so sehr individuelle Erlebnisse sein, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung)

bestimmter Institute“ gerichtet werden. Nicht geistige Erneuerung, wie sie die Faschi-

sten proklamieren, sei wünschenswert, sondern technische. Vom politisch aufgeklär-

ten Künstler müsse man erwarten dürfen, dass er den Produktionsapparat dem mo-

dischen Verschleiß entreiße und ihm den revolutionären Gebrauchswert zurückgebe:

Die Arbeit des modernen Autors „wird niemals nur die Arbeit an Produkten, sondern

stets zugleich die an den Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seine

Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion

besitzen. Und keineswegs hat ihre organisatorische Verwertbarkeit sich auf ihre pro-

pagandistische zu beschränken. Die Tendenz allein tut es nicht. “

An dieser Stelle soll zumindest angedeutet werden, dass Benjamins Ansatz eine ge-

wisse Verwandtschaft mit den Arbeiten der russischen Formalisten in den zwanzi-

ger Jahren zeigt. Ich zitiere Hans Günther aus seinem Vorwort zu dem Band Mar-

xismus und Formalismus von 1973: „Bei den Formalisten herrschte durchaus das

Bewusstsein, dass sie als Revolutionäre auf dem Gebiet der Erforschung der Litera-

tur innerhalb ihres Bereichs, d.h. als Literaturwissenschaftler und Kritiker der literari-

schen Entwicklung, an der totalen Umgestaltung der Gesellschaft teilnahmen. Aller-

dings setzten sie sich gegen eine voreilige Synthese mit dem Marxismus, gegen das

oberflächliche Engagement zur Wehr. Die Position der Identität von gesellschaftlicher

Revolution und Revolution in der Kultur und Wissenschaft vertrat mit überschwängli-

chem Pathos Osip Brik, der im OPOJAZ (= Gesellschaft zur Erforschung der dichte-

rischen Sprache) den besten Erzieher für die junge proletarische Literatur sah

(1923): ‚Der OPOJAZ hilft den Genossen Prolet-Schriftstellern, die Traditionen der

bürgerlichen Literatur zu überwinden (...) Der OPOJAZ hilft dem proletarischen

Schaffen nicht mit nebulösen Phrasen von ‚proletarischem Geist’ und ‚kommunisti-

schem Bewusstsein’, sondern mit exaktem technischen Wissen über die Verfah-

rensweisen des modernen dichterischen Schaffens. Der OPOJAZ ist der Totengrä-

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ber des poetischen Idealismus’“. - Dieses Wissen ist spätestens 1930 verloren ge-

gangen, als die russische Formale Schule „den mit wachsender Schärfe geführten

dogmatischen Angriffen und dem immer stärker werdenden administrativen Druck“

schlussendlich erlag. Mit Lunatscharskis Unterscheidung von „ideologischer“, gesell-

schaftlich aktiver und wertvoller und „formaler“, d.h. ideenloser, dekadenter Kunst

„wurde ‚Formalismus’ von den 30er Jahren an zum Schimpfwort, das (....) vor allem

gegen moderne Gestaltungsverfahren in der Kunst gerichtet war“.

Für Walter Benjamin war die wesentliche Bezugsgröße denn auch nicht der russi-

sche Formalismus, sondern der französische Surrealismus. Dies ist im wichtigen

„Sürrealismus“-Aufsatz von 1929 ausgeführt; aber auch in dem 1934 in der Zeitschrift

für Sozialforschung publizierten Artikel „Zum gesellschaftlichen Standort des franzö-

sischen Schriftstellers“. Hierin heißt es zum Ende: „So haben (die Surrealisten) den

Intellektuellen als Techniker an seinen Platz gestellt, indem sie über seine Technik

dem Proletariat Verfügung zuerkannten, weil nur dieses auf ihren fortgeschrittensten

Stand angewiesen ist. Mit einem Wort - und das ist ausschlaggebend - sie haben

das, was sie erreichten, kompromisslos, auf Grund der ständigen Kontrolle ihres ei-

genen Standortes erreicht. Sie haben es als Intellektuelle erreicht - und das heißt auf

dem weitesten Wege. Denn der Weg des Intellektuellen zur radikalen Kritik der ge-

sellschaftlichen Ordnung ist der weiteste wie der des Proletariers der kürzeste. Dar-

um der Kampf, den sie Barbusse und allen denen ansagten, die im Zeichen der „Ge-

sinnung“ bestrebt sind, diesen Weg abzukürzen. Darum gibt es für sie unter den Ar-

me-Leute-Schilderer keinen Platz.“37

Benjamins Verständnis eines die Verhältnisse neu organisierenden technischen Ver-

fahrens wird vom ihm nicht inhaltlich gefasst. Tatsächlich kommt es weniger auf die

ästhetische Konkretion an, als auf die Haltung, die damit „vorgemacht“ wird. Eine

Tendenz haben heißt: eine Haltung vormachen, „in der man ihr nachzukommen hat“:

„Und diese Haltung kann der Schriftsteller nur da vormachen, wo er überhaupt etwas

macht: nämlich schreibend“. Im Schreiben zeigt der Autor Tendenz als Haltung: als

technisches, „unterweisendes Verhalten“. Hier zitiert er Brecht: „Ein Autor, der die

Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden“. Und er fährt fort:

37  Benjamin,  GS,  II  2,  S.  802.  

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„Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten

erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur

Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat umso besser, je mehr er

Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwir-

kende zu machen imstande ist. Wir besitzen bereits ein derartiges Modell (...). Es ist

das epische Theater von Brecht“.

Benjamin zu Brecht Um im Folgenden diese „organisierende Funktion“, dieses „Modell“ genauer zu be-

schreiben, bezieht sich Benjamin auf seine eigenen Untersuchungen zum Epischen

Theater, wie er sie bereits in verschiedenen Texten ausgeführt hatte.38

Brecht, so Benjamin, habe den Funktionszusammenhang zwischen Podium und Pu-

blikum verändert. Die Elemente der Wirklichkeit würden im Sinne einer Versuchsan-

ordnung behandelt. Das Theater wird zu einem dramatischen Laboratorium, das den

Zuschauer „durch Denken den Zuständen entfremdet“, in denen er lebt. Dies ge-

schieht dadurch, dass das epische Theater konsequent das Verfahren der Montage

verwendet, d.h. montierend die Handlung unterbricht und dadurch „Zustände ent-

deckt“: „das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchen es montiert

ist“.39 Zustände werden also nicht „wiedergegeben“, sondern tatsächlich entdeckt.

Benjamin hat in diesem Kontext auch von einer „Dialektik im Stillstand“ gesprochen:

das Bild friert ein und erlaubt auf diese Weise einen Blick auf die „gewohnteren Sze-

nen des heutigen Daseins“, der dem „eines Fremden“ gleicht. Das Verfahren der

Montage von Zuständen unterbricht, wirkt damit der Illusion entgegen und zwingt zur

Stellungnahme. Aus dem Bekannten kann ein Erkanntes werden. Die Unterbrechung

hat „eine organisierende Funktion“.

Kritik der Kritik Die Aufgabe des fortschrittlichen Intellektuellen ist Kritik an den Verhältnissen durch

ein Durchdenken der Stellung der eigenen Technik in ihnen. Der Modellcharakter

liegt im „unterweisenden Verhalten“, mit dem der Autor sein Schreiben technisch or-

38  „Was  ist  das  epische  Theater?“  (1),  1931.  Benjamin  hat  in  einem  Brief  an  Adorno  sei-­‐nen  Text  Der  Autor  als  Produzent  als  „Gegenstück“  zum  ersten  Brecht-­‐Essays  bezeichnet.  39  Benjamin,  GS  II  2,  S.  697.  

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ganisiert. Dabei geht es - wie wir gehört haben - um „Umformung“, eine Verbesse-

rung des Apparates.

Indem Benjamin in seinem Text die Techniken des epischen Theaters nicht nur be-

schreibt, sondern sie in dieser Beschreibung auch anwendet, sie als Mittel seiner

eigenen Beschreibung verwendet, werden sie ihrerseits einer Kritik unterzogen.

Demzufolge ginge es Benjamin nicht so sehr um das lehrhafte Modell des epischen

Theaters als vielmehr um die Funktion von „Kritik“ in Bezug auf dieses Modell der

Kritik (wie auch auf ein jedes andere Modell der Kritik): um eine Kritik der Kritik also.

Es soll auch für die Beschreibung von Brechts Modell gelten, was es für sich in An-

spruch nimmt: einen Blick auf die gewohnten Szenen des heutigen Daseins zu wer-

fen, der der eines Fremden ist. Benjamin montiert folglich seinerseits die Elemente

des epischen Theaters Brechts in einer verändernden Weise, dass es nun selbst im

Sinne einer Versuchsanordnung behandelt wird. Er unterbricht den politisch fort-

schrittlichen Diskurs Brechts und gewinnt dadurch gleichfalls „Zustände“ dieses

Theatermodells - Zustände, die den vermeintlich konsistenten Entwurf eines aufge-

klärten Theaters von sich selbst entfremden.

An einem einfachen Beispiel wird dies sinnfällig. Die Ausführungen zum epischen

Theater in Benjamins Text sind zum großen Teil als direktes Zitat aus dem von ihm

verfassten Essay „Was ist das epische Theater?“ (1) entnommen. Dort heißt es: „In

dem Augenblick, da die Masse in Debatten, in verantwortlichen Entschließungen, in

Versuchen begründeter Stellungnahme sich differenziert, in dem Augenblick, da die

falsche, verschleiernde Totalität „Publikum“ sich zu zersetzen beginnt, um in ihrem

Schoß den Parteiungen Raum zu geben, welche den wirklichen Verhältnissen ent-

sprechen - in diesem Augenblick stößt der Kritik das doppelte Missgeschick zu, ihren

Agentencharakter aufgedeckt und zugleich außer Kurs geraten zu sehen (...) Mit die-

sem Verhalten des Publikums kommen ‚Neuerungen’ zur Geltung, die jedes andere

Denken als das in der Gesellschaft realisierbare ausschließen und damit in Gegen-

satz zu allen ‚Erneuerungen’ treten“.

Was hier als einfacher Gegensatz zwischen Reform („Erneuerung“) und Revolution

(„Neuerung“) erscheint, löst sich bei genauerem Hinsehen durch die semantische

Doppeldeutigkeit der Sprache auf. Während es bei Brecht noch deutlich heißt: „zu

zertrümmern sei jedes andere denken als das in einer gesellschaft realisierbare“,

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ergeben sich in Benjamins scheinbarer Wiederholung zwei Auslegungsmöglichkei-

ten, je nachdem, wie man betont: Ist es jedes andere Denken außer dem realisierba-

ren, das auszuschließen ist - oder ist, ganz im Gegenteil, womöglich das realisierba-

re Denken auszuschließen, weil es das einer „falschen“ Gesellschaft ist?

Benjamin zitiert Brecht und verfremdet ihn gleichzeitig. Die semantische Irritation hat

hier eine unterbrechende Funktion - als Kritik am Modell des Brechtschen Theater-

entwurfs, das es in seinen Mitteln auf sich selbst anwendet. Sie zeigt nämlich, dass

die wesentliche Referenz dieses Entwurfs, die vorgebliche „Realität“ in Sachen der

Revolution die strittigste ist.

Einig sind sich Brecht und Benjamin darin, einen Idealismus abzulehnen, der der

Realität eine realitätsfremde Utopie entgegenstellt.40 Brechts Verweis auf die not-

wendige Realisierbarkeit des Denkens erteilt scheinbar allen idealistischen Kategori-

en eine Absage - und führt doch einen transzendentalen Begriff der Realität ein. Der

Dramatiker verwendet die Begriffe von Realität und Gesellschaft als der Erfahrungs-

erkenntnis vorgelagert, sie erst ermöglichend. „Realität“ wäre bei Brecht Bedingen-

des statt Bedingtes (bedingt etwa durch unsere Kognitionsmatrix oder durch die

Sprache etc.). Benjamins verändernde Verwendung des Zitats kritisiert, dass Brechts

theoretische (und dem Konzept des historischen Materialismus folgende) Forderung

der „Erkennbarkeit des Realisierbaren“ eine von Zweideutigkeit freie Sprache vor-

aussetzen würde. Zweideutigkeit aber ist das Prinzip des Gestischen, wie Brecht es

selbst formuliert hatte.

„Damit steht das gesamte Brechtsche Unternehmen auf dem Spiel. Zur kritischen

Unterscheidung von gut und böse, Wahrheit und Meinung, revolutionär und reaktio-

när bedürfte es eben dessen, was Brecht als ‚Realisierbarkeit’ bezeichnen möchte.

Ohne diesen Prüfstein der „Realisierbarkeit des Denkens“ (...) schlüge der Anspruch

um in totalitären Dogmatismus“.41

Hier, so mag der mitwirkende Leser schließen, liegen die Aporien und unüberwindba-

ren Widersprüche der Texte Benjamins, liegt aber auch die Politik des revolutionären

Autors. Dass sie sich heftig am Werk Brechts entzündeten, dokumentiert ein Brief,

den Benjamin 1935 an Adorno schrieb, der die größten Bedenken gegen den Ein-

40  Vgl.  Nikolaus  Müller-­‐Schöll,  Theater  des  konstruktiven  Defaitismus.  41  Müller-­‐Schöll,  Defaitismus.  

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fluss des Dramatikers hegte. Brecht, so Benjamin beschwichtigend, habe seiner Ar-

beit nie „Direktiven“ beschert - wohl aber „Aporien“.42

Benjamin geht es nicht darum aufzuzeigen, wie die Stellung des fortschrittlichen Au-

tors im Produktionsprozess zu sein habe. Letzteres würde auf ein Inhalts- oder: Ge-

sinnungsmodell hinauslaufen, das lediglich die normative Ästhetik der aristotelischen

Dramaturgie durch die der epischen ablösen würde. Genau dagegen hatte Benjamin

polemisiert. Die einzige Forderung, die er erhebt, lautet: „die Forderung nachzuden-

ken, seine Stellung im Produktionsprozess sich zu überlegen“. Dieses Nachdenken

ist ein kritisches, wo es die „falsche Totalität ‚Publikum’“ zersetzt, um den „Parteiun-

gen Raum“ zu geben. Genau darin werden der Zuschauer und der Leser „Mitwirken-

de“.

Ich komme zurück auf das Geschehen beim „Kongress der antifaschistischen

Schriftsteller zur Rettung der Kultur“ im Juni 1935. Die Äußerung von Abusch, Revo-

lutionen hätten nicht spontan zu sein, ist - seinerseits spontan - im Bewusstsein des

vermeintlich sicheren Wissens darüber getan, wie Gesellschaft, Realität und Revolu-

tion funktionieren. Darin gibt sie ihren dogmatischen, ja totalitären Charakter zu er-

kennen. Andererseits jedoch, jenseits der performativen Wirkung der Aussage, wird

hier etwas zweites berührt: ein Vortrag, der das spontane Absingen der Internationa-

le bewirkt, ist mitnichten das Ergebnis einer kritischen Intervention wie sie von Ben-

jamin am Beispiel des epischen Dramatikers beschrieben wird: „Er sieht es weniger

darauf ab, das Publikum mit Gefühlen, und seien es auch die des Aufruhrs (!), zu

erfüllen, als es auf nachhaltige Art, durch Denken, den Zuständen zu entfremden, in

denen es lebt“. So ließe sich der Hinweis des Parteifunktionärs auf die wenig will-

kommene spontane Geste durchaus im Sinn des fortschrittlichen Autors als Produ-

zenten und seiner potentiell nicht abschließbaren Kritik, wie sie sich erst dem Den-

ken erschließt, verteidigen.

Coda.

Walter Benjamin versteht die „Rolle“ des Intellektuellen durchaus im Sinn der damit

angesprochenen Theatermetapher. So wie der epische Schauspieler spielt und sein

42  Wizisla,  S.  22.  

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Spielen gleichzeitig zeigt, so besteht auch die kritische Haltung des Intellektuellen in

einer doppelten Maßnahme zur Sicherstellung der Distanzierung vom Gegenstand.

Im Schreiben des revolutionären Autors fallen Zeigen und Gezeigtes auseinander,

und zwar so, dass der Lesende zum Mitwirkenden wird: Ihm erschließt sich ein Text

mit „literarischer Tendenz“ als ein organisierender, der jede Partei zersetzend aus

ihrer Konkursmasse Parteiungen über seine Auslegung erzeugt. So wie „der Blick

des epischen Dramatikers verfremdet“, tut es auch der des Kritikers, der des revolu-

tionären Autors, des Autors als Produzenten. In diesem Sinn dürfte Benjamins Satz

gegen Brecht zu verstehen sein, dass der Begriff der „revolutionären Intelligenz“ an

sich schon ein konterrevolutionärer sei. Benjamins Antifaschismus ist immer auch ein

Antitotalitarismus gegen jegliche Form des Dogmatismus.

Der Autor wird als Ingenieur gedacht, der die Vergesellschaftung der geistigen Pro-

duktionsmittel voranbringt. Er arbeitet als Techniker, als Spezialist an der Umfunktio-

nierung der Formen und im Namen einer Revolution, deren genaue Inhalte er nicht

kennt: „Je vollkommener er seine Aktivität auf diese Aufgabe auszurichten vermag,

desto richtiger die Tendenz, desto höher notwendigerweise auch die technische

Qualität seiner Arbeit“.

Dass der Intellektuelle darüber zum Verräter an seiner „Ursprungsklasse“ wird, be-

zahlt er mit einer Strafe, die Einsamkeit heißt. Einsamkeit ist seine Armut, die - para-

dox genug - gleichwohl auch sein „Kapital“ darstellt: „Es handelt sich aber darum: die

Erkenntnis, wie arm der Schriftsteller ist, und wie arm er zu sein hat, um von vorn

beginnen zu können“.

Postskriptum

2004 hat Boris Buden, der kroatische, in Berlin lebende Philosoph, der die Signatu-

ren der „postkommunistischen Gesellschaften“ erforscht, einen Text veröffentlicht mit

dem Titel: Benjamins ‚Der Autor als Produzent’. Eine Re-Lektüre im postkommunisti-

schen Osten. Darin macht er folgenden Gedanken geltend: Kann es eine Antwort auf

die Frage geben, welche Position ein Kunstwerk in den Produktionsverhältnissen

UNSERER Zeit einnimmt, wenn die Frage nicht mehr zur Verfügung steht?

Soll heißen: „Können wir heute diese selbe Frage wiederholen? Haben wir heute et-

was wie die kritische Methode des dialektischen Materialismus zur Verfügung für un-

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sere Reflexionen? Die Antwort lautet - un/glücklicherweise nein! (...) Denn diese Fra-

ge ist heute in sich zu einer Antwort ohne ihre eigentliche Frage geworden. Es ist die

allgemeine Frage nach den materiellen Bedingungen künstlerischer Produktion, die

unter den gegebenen ideologischen Bedingungen ihre gesamte Bedeutung einge-

büßt hat“.

Damit wird von Boris Buden der für einen Linken schmerzliche Aspekt berührt, dass

wir heute in einem historischen Raum leben, der jeglichen explizit politischen Bezug

zu linken Erfahrungen abgeschnitten hat. Ein solcher Bezug aber war es, in dem

Benjamin arbeitete und dachte: Benjamin benützt „reflexive Methoden wie den dia-

lektischen Materialismus, die nicht nur Möglichkeiten kritischer Philosophie oder intel-

lektueller Kritik sind, sondern funktionierende Instrumente - um nicht Waffen zu sa-

gen - einer wirklichen, zu dieser (seiner) Zeit sehr starken internationalen, politischen

Bewegung und einer existierenden sozialen Organisation und Institution, nämlich des

sowjetischen Staats“.

Der Text Benjamins wäre danach auf gewisse Weise referenzlos geworden. Und so

schließt Buden seinen Text mit einem Appell, der selbst leer bleiben muss: „Es gibt

deshalb keine neuen Antworten auf Benjamins alte Fragen. Was wir stattdessen

brauchen, sind neue Fragen, hervorgerufen von seiner alten Antwort“.

Mit dieser Frage nach den Fragen schließen auch meine Ausführungen, die notabe-

ne mit einem Fragezeichen enden müssen.

sr