als KRIEGER - JAN LINDENAU€¦ · World of Warcraft (WoW). Unser Erfolg aber fühlte sich ungemein...

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hatte er sich auch in der Gilde nie zurückgehal- ten. Und wenn ihn jemand in der virtuellen Welt nervte, konnte er ihn einfach blockieren und hörte nie wieder ein Wort von ihm. Für Holger ein großer Vorteil. Ich erzähle ihm von dem Wochenende mit dem Fischteich und den beiden Männern aus unserer Gilde. „Die beiden Chaoten haben euch wirklich besucht?“, fragt Holger. Er lacht. Nicht das erste Mal, dass sich unsere Gilden- mitglieder im echten Leben trafen. Anke holt das Fotobuch von ihrer Hochzeit heraus. Sie zeigt auf einen jungen Mann, das ist der He- xenmeister, der Ökonomie studiert hat. Und hier, auf der anderen Seite, das ist unser Schweizer Krieger, und daneben unsere Troll- Priesterin. Die beiden haben sich erst in der Gilde kennengelernt, und dann bei der Hoch- zeit von Holger und Anke zum ersten Mal per- sönlich getroffen. Mit Stolz zeigt Anke auf eine kleine Einladungskarte: „Jetzt, nach all den Jahren, heiraten sie endlich.“ W ährenddessen spielen die beiden Töchter mit dem Tablet. Holger hat immer noch keine Festanstellung, er möchte auch keine. Er ist lieber Hausmann, kümmert sich um die Kinder und das Haus sei- ner Eltern, das er ihnen abgekauft hat. Wie re- gelst du den Medienkonsum bei deinen Kindern, frage ich. Schließlich verbrachte er selber oft mehrere Stunden am Tag vor dem Bildschirm. „Noch sind sie brav und nehmen das Tablet erst, wenn wir es ihnen abends mal erlauben“, sagt er. Selbst in den vorprogrammierten Kindermodus gingen sie freiwillig. Ich war da ein anderer Fall, mich bekam man nicht so einfach vom Bildschirm weg. Mein Vater installierte ein Programm, das den Rechner nach einer Stunde herunterfahren sollte. Zum Glück kannte ich mich mit dem Computer besser aus als er; es dauerte nicht einmal eine Stunde, bis ich ein Weg gefunden hatte, um die Sperre zu umgehen. Als mein Vater merkte, dass er so kei- nen Erfolg hatte, zog er einfach das Internetka- bel. Raids, bei denen man in den Abendstunden zuverlässig online sein musste, fielen für mich deswegen flach. Teilweise warteten 19 Leute gleichzeitig darauf, dass ich wieder online kam. In der Gilde war bald vom GBKM die Rede – vom Großen-Bösen-Kabelzieh-Monster. Nun war auch „World of Warcraft“ nicht frei von menschlichen Konflikten. Etwa als Holger seinen Rückzug vom Posten des Gildenmeisters erklärte, und das Getuschel losging, wer denn der Nachfolger werden könnte. Holger hatte schon einen Plan: Er ernannte meinen echten Nachbarn zum Gildenmeister. Ich war gekränkt, in meiner jugendlichen Arroganz war ich mir si- cher gewesen, alles besser machen zu können. Am Essenstisch grinst Holger, als ich ihm das er- zähle. Noch schlimmer: Er erinnert sich kaum. „Ich weiß nur, du warst immer aufmüpfiger, lau- ter. Und der andere besonnener und reifer. Des- wegen die Entscheidung.“ Anke stimmt ihm zu: „Du musstest immer den besseren Witz machen, immer ein wenig lauter lachen.“ Sie hatten natürlich recht. Dass Holger und Anke damals aufhörten, lag am Zeitaufwand – das echte Leben ging bei ih- nen immer vor, sagt Anke – und daran, dass sich die „World of Warcraft“ verändert hatte. Keine richtigen Herausforderungen mehr, das Spielprinzip war verwässert. So endete 2009 die Goldene Ära unserer Gilde: Manche Spieler verkauften ihre Avatare, bekamen dafür gutes Geld auf Ebay, andere froren sie für immer ein. Einer der späteren Gildenmeister, ein Blutelf- Paladin mit dem schönen Namen Gorgeous, soll noch die gemeinsame Gildenbank leerge- räumt haben, bevor er auf Nimmerwiederse- hen verschwand. I ch spielte zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr. Das Leben als 18-Jähriger mit Auto, Alkohol und Abiturstress war aufregend genug, All- tags-Tristesse fand ich plötzlich vor allem in der virtuellen Welt anstatt in der realen. Heute spie- le ich andere Spiele, nicht mehr tagelang am Stück, meist mit alten Freunden aus Schulzeiten. Die WoW-Jahre waren für mich identitätsbil- dend – die virtuelle Gemeinschaft einer Gilde gab mir einen Rahmen, in dem ich mich auspro- bieren konnte. Das half mir, ich entwickelte ein Selbstbewusstsein, sodass ich lieber durch die echte Welt stapfte, die ich jetzt bunter und viel- fältiger wahrnahm als das, was den Spielern und Programmierern einfiel. Und Holger, mein Vorbild von damals? Für ihn ist das Thema noch nicht vorbei. Die Freiheit der virtuellen Welt und ihre Anerkennung, er ver- sucht sie immer noch in seinen Alltag einzubau- en. Für „World of Warcraft“ reiche die Zeit nicht mehr, gerade mit den Kindern. Aber, und da grinst er schelmisch, er habe ja jetzt auch was anderes. Er zückt sein Tablet, zeigt mir das neue Spiel, „Star Wars: Galaxy of Heroes“. Er kommu- niziert jetzt mit Spielern auf der ganzen Welt, mit Türken, Australiern, Amerikanern, hat Ex- cel-Tabellen angelegt, wann wer welche Mission erledigen soll. Gilden gibt es hier natürlich auch. Und natür- lich, Holger ist wieder der Gildenmeister. In seiner Jugend verbrachte unser Autor viel Zeit vor dem Computer. Jahrelang spielte er online mit Menschen, ohne sie im echten Leben kennenzulernen. Nun hat er sein Vorbild von damals besucht, einen Untoten Mein Leben als KRIEGER Jan Lindenau adaptierte mit 15 Jahren in „World of Warcraft“ einen weibli- chen Tauren- Druiden (l.) und nannte sie Stormmakerin Gildenmeister Holger alias Joseph und seine Frau Anke, damals eine Magierin JAN LINDENAU Das Spiel fraß Monat für Monat ein Drittel mei- nes Taschengelds für die Abo-Gebühren, es kos- tete massig Zeit und ließ meine Noten schlech- ter werden. Aber ich liebte es. Irgendwann wurden Jugendschützer, Journa- listen und – noch schlimmer – meine Eltern da- rauf aufmerksam, dass Teile meiner Generation lieber ihre Tage vor dem Bildschirm verplemper- ten, anstatt jede freie Minute auf dem Bolzplatz zu verbringen und sich die Knie aufzuschlagen. Man warnte: Suchtgefahr. Gesundheitliche Schä- den. Soziale Verwahrlosung. War das nicht das Spiel, bei dem ein chinesischer Junge vor Er- schöpfung ins Koma gefallen war? Es war eine Diskussion, die sich seitdem un- aufhörlich wiederholt, in der Öffentlichkeit und in den Kinderzimmern. Mit der Zeit änderten sich lediglich die neuen WoW-Spieletitel: „Lea- gue of Legends“, „Minecraft“, oder – noch schwieriger zu kontrollieren – Mobile-Games wie „Clash of Clans“ oder „Clash Royale“. Später kam ein befreundetes Ehepaar auf mich zu: Un- ser Jüngster spielt jetzt „Minecraft“, chattet mit fremden Menschen, die haben ihn zu sich einge- laden. Müssen wir uns Sorgen machen? Angesichts der Erfahrungen meines 16-jähri- gen Ichs hätte ich ehrlicherweise sagen müssen: wahrscheinlich schon. Da war dieser eine Sommer, als mich die Män- ner besuchten, vor denen einen die Eltern immer warnen. Wir kannten uns aus der WoW-Welt, jetzt kamen sie tatsächlich in einem alten Polo aus dem Ruhrgebiet nach Süddeutschland. Zwei Typen namens Fidibus und Rizzar, beide Anfang 20 und gerade auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft. Im Gepäck hatten sie silberne Dosen mit Energy-Drinks und einen dicken Beu- tel Marihuana. Wir hatten sie eingeladen, um ein wenig zu zocken und die Spaßvögel mit ihren dreckigen Witzen mal im echten Leben zu sehen. Ihr Plan sah anders aus: Der Dorfjugend zu zeigen, was die Welt jenseits der Autobahn so zu bieten hat. Also fuhren wir zum Haus eines Kumpels, der sturmfrei hatte. An diesem Abend lernte ich, was man mit Gras alles anstellen konnte. Irgend- wann kotzte ich in den Fischteich. Es war ein ganz wunderbares Wochenende. So wurden aus den virtuellen Bekannten Fi- dibus und Rizzar auf einmal real existierende Freunde, die ich nie getroffen hätte – ohne meine Gilde. Das Konzept einer virtuellen Gilde ist ein- fach: Weil es Gegner in WoW gibt, die man nicht alleine besiegen kann, muss man kooperieren. Also schließen sich ein paar Leute zusammen, trommeln noch andere Spieler dazu, dann gibt man dem Ganzen einen fantastischen Namen: Orden des Sargeras, Thanatos Erpetos, Blut- sturm. Gilden sind so etwas wie die Fußballver- eine der virtuellen Welt. Und genauso wie es hier den treuen Platzwart oder den verantwor- tungsbewussten Abteilungsleiter gibt, so muss es auch in einer Gilde jemanden geben, der den virtuellen Alltag strukturiert; der den Flohzir- kus von meist über 50 Menschen überblickt, der gemeinsame Termine ansetzt, der im Ernstfall die Ansagen macht. D er Mensch, der diese patriarchale Auto- rität in unserer virtuellen Familie inne- hatte, war Joseph, unser Gildenmeister, der seinem Avatar lustigerweise den gleichen Namen gegeben hatte, den schon der berühm- teste falsche Vater der Weltgeschichte trug. Wo- her der Name kam? Am Esstisch seines Einfami- lienhauses schaut Holger verwundert ob der Fra- ge. Das sei doch klar, sein Avatar war ein Pries- ter, und wer war damals der Stellvertreter Chris- ti? Papst Benedikt natürlich, Joseph Ratzinger. Eins verstand ich schon damals nicht: Holger hat Biologie studiert, zeigte beim Spielen, dass er was im Kopf hat. Aber anstatt zu arbeiten schmiss er den Haushalt und gab nebenher Nachhilfe, während Anke als Sozialpädagogin ar- beitete. Da blieb für ihn genug Zeit zum Spielen. Und weil viele Mitglieder der Gilde in einem Chatraum rumhingen, verbrachte er seine Frei- zeit mit Menschen, die auch seine Schüler hät- ten sein können. Das habe ihn nie gestört, was habe das mit dem Alter zu tun – vor allem in der virtuellen Welt, wo kaum jemand wusste, wie alt das Gegenüber wirklich war. „Nein, ich wollte nur nichts mit Idioten zu tun haben“, sagt er. „Und ob jemand ein Idiot ist, das hat nichts mit dem Alter zu tun.“ In „World of Warcraft“ konnte Holger einfach Joseph sein: Er musste sich weniger verstellen und hatte genug Menschen um sich, die seine Art so akzeptierten, wie er war. Mit seiner Meinung JAKOB HOFF; BLIZZARD ENTERTAINMENT N ie werde ich diesen Moment vergessen, als wir den blöden Jäger mit seinem Pferd um- gebracht hatten. Unzählige Male waren wir an ihm ge- scheitert: Er hatte uns totge- prügelt, sein Pferd hatte uns zertrampelt, am Ende waren wir immer auf dem Friedhof gelandet. Nun aber lag er endlich am Boden, von Schwertern zerstochen, von Feuer- bällen versengt. Gut so. Er war der erste Computergegner in diesem verfluchten Schloss, viele sollten folgen, aber wir zehn mutigen Kämpfer fühlten uns, als hät- ten wir gerade den Mond erobert. Wir versam- melten uns zum Gruppenbild: Ich verwandelte meinen Avatar, Stormmakerin, in eine dicke Bä- rin und drängte gleich in den Vordergrund. Hin- ter mir stand der Mann, der das alles erst ermög- licht hatte, ein Untoter mit Buckel in einem scharlachroten Kleid – namens Joseph. Das Bild besitze ich noch heute. Alles passierte virtuell, im Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ (WoW). Unser Erfolg aber fühlte sich ungemein real an. Wir zehn hatten zu- sammen etwas geschafft, wir waren eine Gruppe, eine Gemeinschaft. Wir waren der „Orden des Sargeras“, so hatten wir uns getauft. Heute, mehr als zehn Jahre später, öffnet Joseph die Tür zu seinem Einfamilienhaus in der Nähe von Aachen. Ich zögere. Dieser Mann in der Tür, das ist nicht der Joseph, den ich kenne. Seinen virtuellen Avatar habe ich noch gut vor Augen, aber die Person da- hinter sehe ich heute zum ersten Mal. Und die heißt gar nicht Joseph, sondern Holger. Der virtuelle Joseph war dürr, ziemlich klein, trug bunte Priestergewänder und hatte keinen Unterkiefer. Der echte Holger ist 43 Jahre alt, kräftig gebaut, trägt Brille, ein T-Shirt mit Drachenaufdruck und einen Bart wie Hulk Ho- gan. Irgendwas passt da nicht zusammen. Nur seine Stimme hatte ich schon beim Telefonieren wiedererkannt – zu WoW-Zeiten kommunizier- ten wir oft über unsere Headsets. Die Stimme ist ein wacher, rheinischer Singsang und eben nicht tief, behäbig, brummig, wie man es bei seiner Statur erwarten würde. Holger bittet zu Tisch, wir essen einen Fleischeintopf mit Baguette. Auch für ihn, der 15 Jahre älter ist als ich, ist die ganze Situation selt- sam. Er sagt, „ich kann dir Wasser und Apfelsaft anbieten. Bier haben wir nicht da“. Am Ende des Abends werden wir Honigschnaps und Pfeffer- minzlikör trinken. Die ersten Minuten reden wir über gemeinsa- me virtuelle Bekannte. Dann, als es um Server- wechsel und Spielmechanismen geht, wechselt Holger vom Reden auf einmal ins Dozieren. Na also, den Oberlehrer Joseph von damals, da er- kenne ich ihn wieder. Übers Headset erklärte er en détail, welche Taktik hier, welche Ausrüstung dort notwendig war. Am Tisch an seiner Seite sitzt Anke, 35 Jahre alt, auch ihre Stimme kenne ich: Sie war eine Magierin in der „World of Warcraft“ und schon damals mit Holger zusammen. Zwischen den beiden: Zwei Mädchen, drei und sechs Jahre alt, die große Augen machen. „Mama, stimmt das, dass du eine Zauberin warst?“ „Ja, ich war eine Eis-Magierin.“ „Oh, wie Elsa?“ Ehrlich gesagt: Nicht ganz so lieb und nett wie die Eiskönigin von Disney. Die Magierin von An- ke war eine Trollfrau mit Hauern im Maul, die gerne mit Untoten rumhing und Menschen zu Eiszapfen gefrieren ließ. Da sitzt die Familie am Tisch, Vater Holger verteilt die Getränke fürsorglich an seine Damen – eine liebevolle Geste, so ähnlich wie damals, als er stundenlang virtuelle Kräuter für Anke sammelte. In der „World of Warcraft“ war Jo- seph für mich ein Vorbild. Seine rationale Art, sein Organisationstalent, seine trockenen, aber geistreichen Witze: All das, was ich als Jugend- licher noch nicht auf die Reihe bekam. A ls ich in den Nullerjahren in die Pubertät kam, wussten viele Menschen gar nicht, was das bedeutet, ein anderes Leben zu führen, ein virtuelles. Dann kam „World of War- craft“ 2005 nach Deutschland, das Spiel war schnell der Renner; in seinen Hochzeiten hatten weltweit gut zwölf Millionen Spieler virtuelle Avatare. So etwas Gigantisches wie die „World of Warcraft“, das kannte damals kaum jemand. Auch ich nicht. Mein Avatar durchwanderte eine riesige Welt, in der er tun und lassen konnte, worauf ich Lust hatte. Ich. Heldenhaft einen Drachen bezwin- gen? Rund um die Uhr möglich. Als Mitglied der Horde andere Spieler ins Jenseits schicken? Kein Problem, hier war ich der Stärkere. Stundenlang in der Hauptstadt rumstehen und mein virtuel- les Geld verpulvern? Ohne schlechtes Gewissen. Diese Freiheit unterschied sich doch stark von dem, was das Städtchen Öhringen in Baden- Württemberg einem Jugendlichen zu bieten hat- te. Und deswegen investierte ich verdammt viel: VON JAN LINDENAU WELT AM SONNTAG NR. 6 11. FEBRUAR 2018 16 LEBEN

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  • hatte er sich auch in der Gilde nie zurückgehal-ten. Und wenn ihn jemand in der virtuellen Weltnervte, konnte er ihn einfach blockieren undhörte nie wieder ein Wort von ihm. Für Holgerein großer Vorteil.

    Ich erzähle ihm von dem Wochenende mitdem Fischteich und den beiden Männern ausunserer Gilde. „Die beiden Chaoten habeneuch wirklich besucht?“, fragt Holger. Er lacht.Nicht das erste Mal, dass sich unsere Gilden-mitglieder im echten Leben trafen. Anke holtdas Fotobuch von ihrer Hochzeit heraus. Siezeigt auf einen jungen Mann, das ist der He-xenmeister, der Ökonomie studiert hat. Undhier, auf der anderen Seite, das ist unserSchweizer Krieger, und daneben unsere Troll-Priesterin. Die beiden haben sich erst in derGilde kennengelernt, und dann bei der Hoch-zeit von Holger und Anke zum ersten Mal per-sönlich getroffen. Mit Stolz zeigt Anke auf einekleine Einladungskarte: „Jetzt, nach all denJahren, heiraten sie endlich.“W ährenddessen spielen die beidenTöchter mit dem Tablet. Holger hatimmer noch keine Festanstellung, ermöchte auch keine. Er ist lieber Hausmann,kümmert sich um die Kinder und das Haus sei-ner Eltern, das er ihnen abgekauft hat. Wie re-gelst du den Medienkonsum bei deinen Kindern,frage ich. Schließlich verbrachte er selber oftmehrere Stunden am Tag vor dem Bildschirm.„Noch sind sie brav und nehmen das Tablet erst,wenn wir es ihnen abends mal erlauben“, sagt er.Selbst in den vorprogrammierten Kindermodusgingen sie freiwillig.

    Ich war da ein anderer Fall, mich bekam mannicht so einfach vom Bildschirm weg. Mein Vaterinstallierte ein Programm, das den Rechner nacheiner Stunde herunterfahren sollte. Zum Glückkannte ich mich mit dem Computer besser ausals er; es dauerte nicht einmal eine Stunde, bisich ein Weg gefunden hatte, um die Sperre zuumgehen. Als mein Vater merkte, dass er so kei-nen Erfolg hatte, zog er einfach das Internetka-bel. Raids, bei denen man in den Abendstundenzuverlässig online sein musste, fielen für michdeswegen flach. Teilweise warteten 19 Leutegleichzeitig darauf, dass ich wieder online kam.In der Gilde war bald vom GBKM die Rede – vomGroßen-Bösen-Kabelzieh-Monster.

    Nun war auch „World of Warcraft“ nicht freivon menschlichen Konflikten. Etwa als Holgerseinen Rückzug vom Posten des Gildenmeisterserklärte, und das Getuschel losging, wer dennder Nachfolger werden könnte. Holger hatteschon einen Plan: Er ernannte meinen echtenNachbarn zum Gildenmeister. Ich war gekränkt,in meiner jugendlichen Arroganz war ich mir si-cher gewesen, alles besser machen zu können.Am Essenstisch grinst Holger, als ich ihm das er-zähle. Noch schlimmer: Er erinnert sich kaum.„Ich weiß nur, du warst immer aufmüpfiger, lau-ter. Und der andere besonnener und reifer. Des-wegen die Entscheidung.“ Anke stimmt ihm zu:„Du musstest immer den besseren Witz machen,immer ein wenig lauter lachen.“

    Sie hatten natürlich recht.Dass Holger und Anke damals aufhörten, lag

    am Zeitaufwand – das echte Leben ging bei ih-nen immer vor, sagt Anke – und daran, dasssich die „World of Warcraft“ verändert hatte.Keine richtigen Herausforderungen mehr, dasSpielprinzip war verwässert. So endete 2009die Goldene Ära unserer Gilde: Manche Spielerverkauften ihre Avatare, bekamen dafür gutesGeld auf Ebay, andere froren sie für immer ein.Einer der späteren Gildenmeister, ein Blutelf-Paladin mit dem schönen Namen Gorgeous,soll noch die gemeinsame Gildenbank leerge-räumt haben, bevor er auf Nimmerwiederse-hen verschwand.I ch spielte zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr.Das Leben als 18-Jähriger mit Auto, Alkoholund Abiturstress war aufregend genug, All-tags-Tristesse fand ich plötzlich vor allem in dervirtuellen Welt anstatt in der realen. Heute spie-le ich andere Spiele, nicht mehr tagelang amStück, meist mit alten Freunden aus Schulzeiten.

    Die WoW-Jahre waren für mich identitätsbil-dend – die virtuelle Gemeinschaft einer Gildegab mir einen Rahmen, in dem ich mich auspro-bieren konnte. Das half mir, ich entwickelte einSelbstbewusstsein, sodass ich lieber durch dieechte Welt stapfte, die ich jetzt bunter und viel-fältiger wahrnahm als das, was den Spielern undProgrammierern einfiel.

    Und Holger, mein Vorbild von damals? Für ihnist das Thema noch nicht vorbei. Die Freiheit dervirtuellen Welt und ihre Anerkennung, er ver-sucht sie immer noch in seinen Alltag einzubau-en. Für „World of Warcraft“ reiche die Zeit nichtmehr, gerade mit den Kindern. Aber, und dagrinst er schelmisch, er habe ja jetzt auch wasanderes. Er zückt sein Tablet, zeigt mir das neueSpiel, „Star Wars: Galaxy of Heroes“. Er kommu-niziert jetzt mit Spielern auf der ganzen Welt,mit Türken, Australiern, Amerikanern, hat Ex-cel-Tabellen angelegt, wann wer welche Missionerledigen soll.

    Gilden gibt es hier natürlich auch. Und natür-lich, Holger ist wieder der Gildenmeister.

    In seiner Jugendverbrachte unser Autorviel Zeit vor demComputer. Jahrelangspielte er online mit Menschen, ohnesie im echten Lebenkennenzulernen. Nun hat er sein Vorbildvon damals besucht,einen Untoten

    Mein Lebenals KRIEGER

    Jan Lindenauadaptierte

    mit 15 Jahren in „World of

    Warcraft“einen weibli-

    chen Tauren-Druiden (l.)

    und nannte sieStormmakerin

    Gildenmeister Holger alias Joseph undseine Frau Anke, damals eine Magierin

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    Das Spiel fraß Monat für Monat ein Drittel mei-nes Taschengelds für die Abo-Gebühren, es kos-tete massig Zeit und ließ meine Noten schlech-ter werden. Aber ich liebte es.

    Irgendwann wurden Jugendschützer, Journa-listen und – noch schlimmer – meine Eltern da-rauf aufmerksam, dass Teile meiner Generationlieber ihre Tage vor dem Bildschirm verplemper-ten, anstatt jede freie Minute auf dem Bolzplatzzu verbringen und sich die Knie aufzuschlagen.Man warnte: Suchtgefahr. Gesundheitliche Schä-den. Soziale Verwahrlosung. War das nicht dasSpiel, bei dem ein chinesischer Junge vor Er-schöpfung ins Koma gefallen war?

    Es war eine Diskussion, die sich seitdem un-aufhörlich wiederholt, in der Öffentlichkeit undin den Kinderzimmern. Mit der Zeit ändertensich lediglich die neuen WoW-Spieletitel: „Lea-gue of Legends“, „Minecraft“, oder – nochschwieriger zu kontrollieren – Mobile-Gameswie „Clash of Clans“ oder „Clash Royale“. Späterkam ein befreundetes Ehepaar auf mich zu: Un-ser Jüngster spielt jetzt „Minecraft“, chattet mitfremden Menschen, die haben ihn zu sich einge-laden. Müssen wir uns Sorgen machen?

    Angesichts der Erfahrungen meines 16-jähri-gen Ichs hätte ich ehrlicherweise sagen müssen:wahrscheinlich schon.

    Da war dieser eine Sommer, als mich die Män-ner besuchten, vor denen einen die Eltern immerwarnen. Wir kannten uns aus der WoW-Welt,jetzt kamen sie tatsächlich in einem alten Poloaus dem Ruhrgebiet nach Süddeutschland. ZweiTypen namens Fidibus und Rizzar, beide Anfang20 und gerade auf der Suche nach ihrem Platz inder Gesellschaft. Im Gepäck hatten sie silberneDosen mit Energy-Drinks und einen dicken Beu-tel Marihuana.

    Wir hatten sie eingeladen, um ein wenig zuzocken und die Spaßvögel mit ihren dreckigenWitzen mal im echten Leben zu sehen. Ihr Plansah anders aus: Der Dorfjugend zu zeigen, wasdie Welt jenseits der Autobahn so zu bieten hat.Also fuhren wir zum Haus eines Kumpels, dersturmfrei hatte. An diesem Abend lernte ich, wasman mit Gras alles anstellen konnte. Irgend-wann kotzte ich in den Fischteich. Es war einganz wunderbares Wochenende.

    So wurden aus den virtuellen Bekannten Fi-dibus und Rizzar auf einmal real existierende

    Freunde, die ich nie getroffen hätte – ohnemeine Gilde.

    Das Konzept einer virtuellen Gilde ist ein-fach: Weil es Gegner in WoW gibt, die man nichtalleine besiegen kann, muss man kooperieren.Also schließen sich ein paar Leute zusammen,trommeln noch andere Spieler dazu, dann gibtman dem Ganzen einen fantastischen Namen:Orden des Sargeras, Thanatos Erpetos, Blut-sturm. Gilden sind so etwas wie die Fußballver-eine der virtuellen Welt. Und genauso wie eshier den treuen Platzwart oder den verantwor-tungsbewussten Abteilungsleiter gibt, so musses auch in einer Gilde jemanden geben, der denvirtuellen Alltag strukturiert; der den Flohzir-kus von meist über 50 Menschen überblickt, dergemeinsame Termine ansetzt, der im Ernstfalldie Ansagen macht.D er Mensch, der diese patriarchale Auto-rität in unserer virtuellen Familie inne-hatte, war Joseph, unser Gildenmeister,der seinem Avatar lustigerweise den gleichenNamen gegeben hatte, den schon der berühm-teste falsche Vater der Weltgeschichte trug. Wo-her der Name kam? Am Esstisch seines Einfami-lienhauses schaut Holger verwundert ob der Fra-ge. Das sei doch klar, sein Avatar war ein Pries-ter, und wer war damals der Stellvertreter Chris-ti? Papst Benedikt natürlich, Joseph Ratzinger.

    Eins verstand ich schon damals nicht: Holgerhat Biologie studiert, zeigte beim Spielen, dasser was im Kopf hat. Aber anstatt zu arbeitenschmiss er den Haushalt und gab nebenherNachhilfe, während Anke als Sozialpädagogin ar-beitete. Da blieb für ihn genug Zeit zum Spielen.Und weil viele Mitglieder der Gilde in einemChatraum rumhingen, verbrachte er seine Frei-zeit mit Menschen, die auch seine Schüler hät-ten sein können.

    Das habe ihn nie gestört, was habe das mit demAlter zu tun – vor allem in der virtuellen Welt, wokaum jemand wusste, wie alt das Gegenüberwirklich war. „Nein, ich wollte nur nichts mitIdioten zu tun haben“, sagt er. „Und ob jemandein Idiot ist, das hat nichts mit dem Alter zu tun.“

    In „World of Warcraft“ konnte Holger einfachJoseph sein: Er musste sich weniger verstellenund hatte genug Menschen um sich, die seine Artso akzeptierten, wie er war. Mit seiner Meinung

    JAKO

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    N ie werde ich diesen Momentvergessen, als wir den blödenJäger mit seinem Pferd um-gebracht hatten. UnzähligeMale waren wir an ihm ge-scheitert: Er hatte uns totge-prügelt, sein Pferd hatte unszertrampelt, am Ende waren wir immer auf demFriedhof gelandet. Nun aber lag er endlich amBoden, von Schwertern zerstochen, von Feuer-bällen versengt. Gut so.

    Er war der erste Computergegner in diesemverfluchten Schloss, viele sollten folgen, aberwir zehn mutigen Kämpfer fühlten uns, als hät-ten wir gerade den Mond erobert. Wir versam-melten uns zum Gruppenbild: Ich verwandeltemeinen Avatar, Stormmakerin, in eine dicke Bä-rin und drängte gleich in den Vordergrund. Hin-ter mir stand der Mann, der das alles erst ermög-licht hatte, ein Untoter mit Buckel in einemscharlachroten Kleid – namens Joseph. Das Bildbesitze ich noch heute.

    Alles passierte virtuell, im Online-Rollenspiel„World of Warcraft“ (WoW). Unser Erfolg aberfühlte sich ungemein real an. Wir zehn hatten zu-sammen etwas geschafft, wir waren eine Gruppe,eine Gemeinschaft. Wir waren der „Orden desSargeras“, so hatten wir uns getauft.

    Heute, mehr als zehn Jahre später, öffnetJoseph die Tür zu seinem Einfamilienhaus inder Nähe von Aachen. Ich zögere. DieserMann in der Tür, das ist nicht der Joseph,den ich kenne. Seinen virtuellen Avatar habeich noch gut vor Augen, aber die Person da-hinter sehe ich heute zum ersten Mal. Unddie heißt gar nicht Joseph, sondern Holger.

    Der virtuelle Joseph war dürr, ziemlichklein, trug bunte Priestergewänder und hattekeinen Unterkiefer. Der echte Holger ist 43 Jahrealt, kräftig gebaut, trägt Brille, ein T-Shirt mitDrachenaufdruck und einen Bart wie Hulk Ho-gan. Irgendwas passt da nicht zusammen. Nurseine Stimme hatte ich schon beim Telefonierenwiedererkannt – zu WoW-Zeiten kommunizier-ten wir oft über unsere Headsets. Die Stimme istein wacher, rheinischer Singsang und eben nichttief, behäbig, brummig, wie man es bei seinerStatur erwarten würde.

    Holger bittet zu Tisch, wir essen einenFleischeintopf mit Baguette. Auch für ihn, der 15Jahre älter ist als ich, ist die ganze Situation selt-sam. Er sagt, „ich kann dir Wasser und Apfelsaftanbieten. Bier haben wir nicht da“. Am Ende desAbends werden wir Honigschnaps und Pfeffer-minzlikör trinken.

    Die ersten Minuten reden wir über gemeinsa-me virtuelle Bekannte. Dann, als es um Server-wechsel und Spielmechanismen geht, wechseltHolger vom Reden auf einmal ins Dozieren. Naalso, den Oberlehrer Joseph von damals, da er-kenne ich ihn wieder. Übers Headset erklärte eren détail, welche Taktik hier, welche Ausrüstungdort notwendig war.

    Am Tisch an seiner Seite sitzt Anke, 35 Jahrealt, auch ihre Stimme kenne ich: Sie war eineMagierin in der „World of Warcraft“ und schondamals mit Holger zusammen. Zwischen denbeiden: Zwei Mädchen, drei und sechs Jahre alt,die große Augen machen.

    „Mama, stimmt das, dass du eine Zauberinwarst?“

    „Ja, ich war eine Eis-Magierin.“„Oh, wie Elsa?“Ehrlich gesagt: Nicht ganz so lieb und nett wie

    die Eiskönigin von Disney. Die Magierin von An-ke war eine Trollfrau mit Hauern im Maul, diegerne mit Untoten rumhing und Menschen zuEiszapfen gefrieren ließ.

    Da sitzt die Familie am Tisch, Vater Holgerverteilt die Getränke fürsorglich an seine Damen– eine liebevolle Geste, so ähnlich wie damals,als er stundenlang virtuelle Kräuter für Ankesammelte. In der „World of Warcraft“ war Jo-seph für mich ein Vorbild. Seine rationale Art,sein Organisationstalent, seine trockenen, abergeistreichen Witze: All das, was ich als Jugend-licher noch nicht auf die Reihe bekam.A ls ich in den Nullerjahren in die Pubertätkam, wussten viele Menschen gar nicht,was das bedeutet, ein anderes Leben zuführen, ein virtuelles. Dann kam „World of War-craft“ 2005 nach Deutschland, das Spiel warschnell der Renner; in seinen Hochzeiten hattenweltweit gut zwölf Millionen Spieler virtuelleAvatare. So etwas Gigantisches wie die „World ofWarcraft“, das kannte damals kaum jemand.Auch ich nicht.

    Mein Avatar durchwanderte eine riesige Welt,in der er tun und lassen konnte, worauf ich Lusthatte. Ich. Heldenhaft einen Drachen bezwin-gen? Rund um die Uhr möglich. Als Mitglied derHorde andere Spieler ins Jenseits schicken? KeinProblem, hier war ich der Stärkere. Stundenlangin der Hauptstadt rumstehen und mein virtuel-les Geld verpulvern? Ohne schlechtes Gewissen.

    Diese Freiheit unterschied sich doch stark vondem, was das Städtchen Öhringen in Baden-Württemberg einem Jugendlichen zu bieten hat-te. Und deswegen investierte ich verdammt viel:

    VON JAN LINDENAU

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