Alternative Juli/August 2016

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Herausgegeben von Juli/August 2016 Einzelheft: 2,50 Euro, Abonnement: 17 Euro P.b.b., Verlagspostamt 1040 02 Z 031 242 M, Kd.-Nr: 0 021 012 558 7/8 Brexit: Leave / Remain • Frankreich: Neoliberale Politik ANSTALTEN VERBUND KRANKER Illustration: Lucia Schwarz Unabhängige GewerkschaerInnen im ÖGB

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Monatszeitschrift der Unabhängigen GewerkschafterInnen

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Herausgegeben von

Juli/August 2016

Einzelheft: 2,50 Euro, Abonnement: 17 Euro

P.b.b., Verlagspostamt 1040

02 Z 031 242 M, Kd.-Nr: 0 021 012 558

7/8

Brexit: Leave/Remain • Frankreich: Neoliberale Politik

ANSTALTEN-VERBUND

KRANKER

Illus

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Luc

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UnabhängigeGewerkschaerInnenim ÖGB

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daten&taten

AUTORinnEn DIESER AUSGABE

MARKUSKOzA

Seite 4

KLAUDIA PAIhA

Seite 25

JOSEF PüRMAyR

Seite 22

GERDA PASTyRIK

Seite 20

BEATEnEUnTEUFEL-zEChnER

Seite 21

LUCIA SChWARz

Seite 18

STEFAn TAIBL

Seite 24

CORnELIA STAhL

Seite 30

REInhART SELLnER

Seite 21

SendungsankündigungInterview Elisabeth Steinkellner und Redakteurin Cornelia Stahl Dienstag, 26. Juli, 18Uhr Radio Orange, Literaturfenster Österreich

Jugendbuchautorin Elisabeth Steinkellner, Autorin von „Rabensommer“und 2016 Gewinnerin des Outstanding Artist Award in der SparteKinder- und Jugendliteratur, ist zu Gast im Literaturfenster Österreich. www.o94.at

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LandesversammlungAUGE/UG-Wien Samstag, 15. Oktober, AK-Bildungszentrum, Theresianumgasse 16–18, 1040 Wien

9:30 bis 12:30 Uhr: Workshop zur Wirtschaftsdemokratie mit Prof.Dr. WolfgangWeber (Universität Innsbruck)

13:30 bis 16Uhr: LandesversammlungWichtige Informationen zur AUGE/UG-Landesversammlung: Unter anderem findendie Wahlen statt. Wer gerne interessierte und engagierte MitstreiterIn für eine derfolgenden Funktionen (Funktionsperiode: 2 Jahre) sein möchte, ist herzlichwillkommen und melde sich bis zum 12. August 2016 unter [email protected] an. • LandessprecherIn + StellvertreterIn • FinanzreferentIn • weitere Mitglieder des Landesvorstands • drei Mitglieder für die Landeskontrolle • eine/n Delegierte/n in den erweiterten Bundesvorstand + Ersatz • Delegierte zur AUGE/UG Bundeskonferenz 2017Frist für Anträge: 15. September 2016.Um Anmeldung bis 8. September 2016 wird gebeten.

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AUGE/UGGrundschulungFreitag, 21.Oktober, 16 bis 19UhrSamstag, 22.Oktober, 10 bis 17UhrOrt: AUGE/UG-Büro, Belvederegasse10/1, 1040Wien.Anmeldung bitte unter [email protected]

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Editorial von Renate Vodnek

Impressum medieninhaber, Verleger: Alternative und Grüne Gewerk schafter -Innen (AUGE/UG) Herausgeberin: Unabhängige Gewerkschafter Innen im ÖGB(UG/ÖGB) redaktion: Renate Vodnek. Layout: Franz Wohl könig. Alle: 1040 Wien, Belvederegasse 10/1, Telefon: (01) 505 19 52-0, Fax: (01) 505 19 52-22,E-Mail für Abonnement: [email protected], Redaktion: [email protected],Internet: www.ug-oegb.at, Bankverbindung: (14000) Kto.-nr. 00 110 228 775, BIC: BAWAATWW, IBAn: AT301400000110228775.Dass namentlich gezeichnete Beiträge nicht unbedingt der Meinung der Redaktionoder des herausgebers entsprechen müssen, versteht sich von selbst. Titel undzwischentitel fallen in die Verantwortung der Redaktion, Cartoons in die Freiheit derKunst. Text nach druck mit Quellenangabe gestattet, das Copyright der Much-Cartoonsliegt beim Künstler.

DVR 05 57 021. ISSn 1023-2702

International

BREXIT (I): Wer, Warum, Wie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 4BREXIT (II): „Rechtes“ Leave „Linkes“ Remain . . . . . . Seite 7Frankreich (I): „Neoliberale“ Krisenpolitik . . . . . . . . . . Seite 10Frankreich (II): Interview mit Guillaume Paoli . . . . . . Seite 12

Magazin

Bundespräsidenten-Wahl: VDB – mehr denn je . . . . . Seite 15

Gewerkschaft & Betrieb

KIV/UG: Kranker Anstaltenverbund . . . . . . . . . . . . . . . Seite 18Arbeitszeit: Offener Brief an Georg Kapsch. . . . . . . . . Seite 20GÖD: Ein Jahr parteiunabhängige Arbeit. . . . . . . . . . . Seite 21

Thema: Bedarfsorientierte Mindestsicherung

Wo bleibt die Bedarfsorientierung? . . . . . . . . . . . . . . . Seite 22Reformbedürftig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 24AUGE/UG: Mindestsicherung, Arbeitslosengeld. . . . . Seite 25

Buch

Vier Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 26Rückblick auf die KRILIT 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 30

Much

Cartoon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 16

Auf ein neues!

Der Verfassungsgerichtshof hat dieBundespräsidenten-stichwahl wegenformaler fehler aufgehoben. Aber erhat auch klar gestellt: es gab KeineWahlmanipulationen und KeinenWahlbetrug. Die stichwahl wird am2.Oktober wiederholt. Zuletzt haben55Prozent der GewerkschaftsmitgliederVan der Bellen gewählt. im Herbst wer-den es mehr sein. Dafür müssen wirlaufen. Weil wir einen Bundespräsiden-ten wollen, dem die Rechte von Arbeit-nehmerinnen und ihrer interessenver-tretung ein wichtiges Anliegen sind.

starke interessenvertretung ist auchnötig, um gegen Verschlechterungen imsozialsystem aufzutreten. Wie zumBeispiel der Vorstoß von innenministersobotka, die Mindestsicherung amdeutschen Hartz iV-system zu orientie-ren und Arbeitszwang für Mindest -sicherungsbezieherinnen einzuführen.Hartz iV hat den Arbeitsmarkt tiefgespalten und einen niedriglohnsektorgeschaffen, in dem heute über zwanzigProzent der deutschen Beschäftigtenarbeiten. es ist ein Programm der Ver-festigung von Armut, Langzeitarbeits-losigkeit und Perspektivenlosigkeit. esbraucht das genaue Gegenteil – eineVerbesserung der Mindestsicherung,und gleichzeitig eine gerechtere Vertei-lung von (bezahlter und unbezahlter)Arbeit, einkommen und Vermögen.

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International

m 23. Juni 2016 haben sich 51,9Prozent der britischenWählerInnen (rund 17,4Millionen) für den Austri

Großbritanniens aus der EU aus gesprochen. 16,1 Mil-lionen (48,1Prozent) stimmten für den Verbleib

Großbritanniens in der Europäischen Union. Die Wahlbe-teiligung lag bei 72,1Prozent und damit deutlich über jenerder letzten Unterhauswahlen (66,1 Prozent).

Die regionalen Unterschiede hinsichtlich des Stimm -verhaltens waren groß:

Im traditionell EU-freundlichen Scholand stimmten•62Prozent für den Verbleib in der EU, in nordirland55,8Prozent der WählerInnen. Mehrheiten für den Austri gab es in bevölkerungs-•reichen England (53,4Prozent) und Wales (52,5 Pro-zent). Die LondonerInnen stimmten zu 60Prozent fürden Verbleib. Die höchste zustimmung für ein „Remain“ gab es in•der britischen Enklave Gibraltar am südlichsten zipfelder iberischen halbinsel: hier stimmten 95,5Prozentder WählerInnen für den Verbleib. Einiges hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens – etwa

nach Regionen oder Alter – ist inzwischen publiziert wor-den. Wenig wurde allerdings darüber berichtet, welchenEinfluss Wertehaltungen In Bezug auf die Wahlentschei-dung spielten. nämlich, ob der Spalt quer durch die politi-schen Lager geht, oder ob die Wahlentscheidungen „linker“und „rechter“ ParteigängerInnen doch signifikant unter-schiedlich ausgefallen sind.

Wie sehr nationalistische und / oder fremdenfeindlicheMotive die Wahlentscheidung beeinflussten. Und schließ-lich die Frage, ob die Einkommens- oder Erwerbssituationeine wesentliche Rolle bei der Entscheidung für oder gegendie EU gespielt hat.

Abstimmungsverhaltennach Alter und Geschlecht

In den Medien ausführlich wurde das Abstimmungs -verhalten entlang des Alters berichtet (nach dem Moo:

„Die Alten stehlen den Jungen die zukun“). DasErgebnis in aller Kürze: Je älter, desto höher das Votumfür einen Austri.

So stimmten 73Prozent der 18- bis 24-jährigen für den•Verbleib in der Europäischen Union62Prozent der 25- bis 34-jährigen•

und immer noch 52 Prozent der 15- bis 44-jährigen•In der Altersgruppe der 45- bis 54-jährigen stimmten•bereits 57Prozent für den Austri bei über 65-jährigen 60 Prozent•Keinen Unterschied hinsichtlich des Abstimmungs -

verhaltens gab es allerdings entlang des Geschlechts:Sowohl Frauen als auch Männer sprachen sich mehrheit-lich mit 52Prozent gegen die EU-Mitgliedscha aus.

Abstimmungsverhalten nach „sozialem Status“

Wie haben Besserverdienende, wie Angestellte, Arbeiter -Innen, PensionistInnen beziehungsweise „Arme“ und Marginalisierte gestimmt? Wie jene, die verallgemeinerndals „GlobalisierungsgewinnerInnen“, wie jene die omalsvereinfachend und mit einem etwas abfälligen Unterton als

„GlobalisierungsverliererInnen“ bezeichnet werden? Wie inÖsterreich wird auch in Großbritannien das Wahlverhaltensozialer Gruppen gesondert ausgewertet. In Großbritan-nien wird dabei der soziale Status („soziale Klassen“) entlang sogenannter „Grade“ beschrieben:

Der Grad „A“ oder „Upper Class“: In dieser Gruppe•befinden sich höhere ManagerInnen, Fach- und Verwaltungskräe Großbritanniens – insgesamt4Prozent der BevölkerungGrad „B“ oder „Middle Class“: Unter diese Kategorie•fallen Beschäigte des mileren Managements sowiemilere Verwaltungs- und Fachkräe, also „gehobeneAngestellte“. Ihr Bevölkerungsanteil liegt bei zwei-undzwanzig Prozent.Grad „C1“ – die „Lower Middle Class“ – umfasst die•

„klassische“ Angestelltenscha, rund 27Prozent derbritischen Bevölkerung.Grad „C2“ – die „Skilled Working Class“ – ist die•Gruppe, in der sich die qualifizierte ArbeiterInnen-scha, die FacharbeiterInnen befinden – mit einemBevölkerungsanteil von 22Prozent.Grad „D“ – die „Working Class“ – umfasst die halb-•und ungelernte ArbeiterInnenscha, überwiegend

BREXIT (I): Das britische Meinungsforschungsinstitut „Lord Ashcroft Polls“ hat unmittelbar nachdem Referendum über 12.000 WählerInnen hinsichtlich Stimmverhalten und Motivationslagen

befragt. Manche Ergebnisse der Erhebung kommen dabei einigen durchaus bekannt vor. Etlichelassen Schlüsse auf die Stimmungslage am Kontinent, auch in Österreich zu. Und alle zeugenjedenfalls davon, dass dringender politischer handlungsbedarf gegeben ist. Von Markus Koza.

WEr, WArUM, WIE

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hilfsarbeiterInnen, rund 16Prozent der Bevölkerungdes Vereinten Königreichs.Grad „E“ – ist die Gruppe der Ärmsten in der Gesell-•scha – GeringverdienerInnen, PensionistInnen,Arbeitslose, Arme, die auf Sozialhilfe und andere Sozialtransfers angewiesen sind – insgesamt 9Prozentder Bevölkerung.In der ausgeprägten britischen Klassengesellscha

werden die Gruppen ABC1 o als „Middle Class“, dieGruppen C2DE als „Working Class“ zusammengefasst.

hinsichtlich Erwerbstätigkeit und nicht-Erwerbs -•tätigkeit stimmte eine Mehrheit der Voll- und Teilzeit-beschäigten für einen Verbleib in der EU. Die Mehr-heit der Beschäigten hat sich also der Position derbritischen Gewerkschaen, die sich für ein „Remain“engagierten, angeschlossen. Dagegen stimmte eineMehrheit der nicht-Erwerbstätigen für einen Austri.hinsichtlich des „sozialen Status“ sind allerdings

deutliche Unterschiede feststellbar:Die wohlhabendere Middle Class“ – also die Gruppe•der Grade A und B stimmten mit 57Prozent mehrheit-lich für die Mitgliedscha in der EU. Bei den „kleinen“Angestellten ist das Abstimmungsverhalten nochrelativ ausgeglichen: 51Prozent der Angestellten(Grad C1) sprachen sich hier gegen die EU-Mitglied-scha aus.Deutlich ablehnend zu einer EU-Mitgliedscha ver-•hielt sich dagegen die „Working Class“. Sowohl unterden FacharbeiterInnen als auch unter den niedrig -qualifizierten und den prekarisierten und margina -lisierten Bevölkerungsteilen fiel das „Leave“ mit fastzwei Drieln – nämlich 64Prozent – deutlich aus.

Unter der ArbeiterInnenscha hat damit weder das –kritische aber doch – „Ja“ der Gewerkschaen, noch die

„Remain“-Kampagne der traditionellen ArbeiterInnenpartei„Labour“ verfangen. Dies liegt wohl einerseits an der seitatcher nachhaltig geschwächten Gewerkschasbewe-gung, andererseits daran, dass – wie auch in anderen euro-päischen Ländern beobachtbar – die ArbeiterInnenschain der Krise ökonomisch enorm unter Druck geraten ist. Esdominieren Einkommensverluste, Angst um den Arbeits-platz und Perspektivenlosigkeit. Politisch drückt sich dieseEntwicklung in einem in beinahe ganz Europa zu beobach-tenden „Rechtsruck“ weiter Teile der ArbeiterInnenschasowohl beim Wahlverhalten (zuletzt stimmten etwa beiden Bundespräsidentschaswahlen in Österreich über80 Prozent der ArbeiterInnen für den FPÖ-Kandidatenhofer) als auch hinsichtlich der Werthaltungen aus. Essind vor allem die „zornigen weißen Männer“, die fürnationalistische, chauvinistische, rassistische und fremden-feindliche Agitation zugänglich sind.

Nationale „Selbstbestimmung“ und Migrationals wesentliche Beweggründefür „Leave“-WählerInnen

Das schlägt sich auch im Abstimmungsverhaltenzur EU-Mitgliedscha nieder:

Während „weiße“ WählerInnen mehrheitlich (zu•53Prozent) für den Austri stimmten, stimmten67Prozent der WählerInnen asiatischer herkun und73Prozent der „black voters“ für den Verbleib in derEuropäischen Union.

Während 58Prozent jener, die sich•als ChristInnen bezeichneten für ein

„Leave“ stimmten, waren siebzigProzent der Muslime fürdie EU-Mitgliedscha.Dass das „Leave“-Voting stark von•einem ausgeprägt „englisch“ defi-nierten nationalismus getragen war,zeigen folgende zahlen: zwei Drit-tel der englischen „Leave“-Votersbezeichneten sich explizit als „eng-lisch nicht britisch“. Umgekehrtsahen sich „Remain“-Voters zu zweiDriel „mehr britisch als englisch“. In England stimmten zwei Driel•jener, die sich als „mehr englisch alsbritisch“ definierten für den Austri.Umgekehrt stimmten in Scholandjene, die sich mehr als Schoendenn als Briten sehen mehrheitlichfür einen Verbleib in der Europäi-schen Union.49Prozent der Austrisbefür worter -•Innen gaben die Rückgewinnungder nationalen Souveränität („deci-sions about the UK should be takenin the UK“) als wesentlichen Grundfür ihre Wahlentscheidung an. ▶▶

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Für ein Driel der „Leave“-Stimmenden war die•Migrationspolitik der wichtigste Grund („regain control over immigration and its own borders“) fürihre Wahl.Dagegen gaben nur 13 Prozent der Austris-Befür-•worterInnen die EU-Erweiterungspolitik der letztenJahre als hauptgrund für ihre Wahl an und lediglich6Prozent erhoen sich vom Austri eine positivewirtschaliche Entwicklung für Großbritannien.BefürworterInnen der EU-Mitgliedscha befürchteten•dagegen im Falle eines EU-Austris vor allem negative Auswirkungen auf die Beschäigung sowiedie Wirtscha Großbritanniens sowie eine Isolationdes Inselreiches.Wirtschaliche Gründe spielten bei den Befürworter -

Innen des BREXIT also im Vergleich nur untergeordneteRollen. Dominierend für AustrisbefürworterInnen wardie angebliche „Fremdbestimmung“ Europas über Groß -britannien, die Personenfreizügigkeit innerhalbdes EU-Binnenmarkts sowie eine behauptete Politik „offener Grenzen“ der europäischen Union.

Diese Wahrnehmungen sind insbesondere dahingehendbemerkenswert, da sich gerade Großbritannien zahlreicheAusnahmeregelungen gegenüber der EU ausverhandelt

hae, sich vertiefenden Integrationsprozessen stets ver-weigerte und auch nicht dem „Schengen“-Raum angehört.zusätzlich verhandelte die konservative britische Regie-rung im Vorfeld der Abstimmung mit der EU-Kommissionauch eine restriktive Sozialpolitik gegenüber EU-zuwande-rinnen – Anspruchsberechtigung auf Sozialleistungen,Sozialwohnungen erst nach vierjährigem Aufenthalt,Familienleistungen für Kinder außerhalb Großbritanniensnur in höhe der Regelungen vor Ort – um „härte“ gegen-über MigrantInnen zu zeigen.

Einmal mehr bestätigt sich, dass Versuche der politi-schen „Mie“, RechtspopulistInnen durch rechte überhol-manöver den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen, zumScheitern verurteilt sind und im Gegenteil – diese nurnoch bestärken und „salonfähiger“ werden. In Großbritan-nien haben die Rechtsmanöver seitens der Konservativenzum ja eigentlich unerwünschten Austri aus der Europäi-schen Union zusätzlich noch das drohende Auseinander-brechen des Vereinigten Königreichs zur Folge. Die Konservativen haben hoch gepokert – und tatsächlichnoch höher verloren. ◀

Abstimmungsverhalten

nach Wertehaltung. Das

Pro-eu-Lager vertritt

tendenziell „links-liberale“

Werte. eu-Gegnerinnen sind

überwiegend konservativ bis

reaktionär eingestellt

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International

▶▶

m ersten Teil der Studie wurden die Ergebnisse dernachwahl-Analyse des „Lord Ashcro Polls“-hinsicht-

lich des Stimmverhaltens entlang Alter, Geschlechtund sozialem Status zusammengefasst. Weiters wur-

den die Wünsche nach „nationaler Selbstbestimmung“sowie einem weitgehenden zuwanderungsstopp alswesentliche Motive der Austris-BefürworterInnen fürihre Wahlentscheidung beschrieben.

Im zweiten Teil geht es vor allem darum, unter welchenParteigängerInnen die „Leave“- und „Remain“-Voters zufinden sind, und für welche Wertehaltungen EU-Gegner -Innen und -BefürworterInnen stehen. Und ob es möglicheSchnimengen gibt. Und zuletzt: Welche Schlüsse könnenaus den Untersuchungsergebnissen gezogen werden?

Abstimmung nach Parteizugehörigkeit

Dass das „Leave“ ein rechtes Votum war – auch wenn esseitens der „Linken“ mehr als genug berechtigte Kritik ander EU, ihren Institutionen, ihrer ideologischen Ausrich-tung und ihrer ruinösen Austeritätspolitik gibt – zeigtneben den zentralen Beweggründen für die Wahl nichtzuletzt das Abstimmungsverhalten nach Parteienpräferenz:AnhängerInnen linker und liberaler Parteien stimmten klarmehrheitlich für ein „Remain“, WählerInnen rechter Par-teien nicht weniger eindeutig für ein „Leave“. Die Spaltungverlief weniger „innerhalb“ der politischer Lager, als entlang der ideologischen Grenzen.

WählerInnen der sozialdemokratischen Labour Party•sowie der linken Schoischen nationalpartei (SnP)stimmten zu fast zwei Driel – zu 63 beziehungsweise64Prozent – für den Verbleib Großbritanniens in derEU. Besonders die SnP – Mitglied der grünen Fraktionim Europaparlament – gilt als besonders EU-freund -liche und pro-europäisch ausgerichtete Partei, diebereits ein zweites Referendum über den AustriScholands aus dem Vereinigten Königreich angekün-digt hat, um in der EU verbleiben zu können. WählerInnen der britischen Grünen haben sich zu•75Prozent für einen EU-Verbleib ausgesprochen – das

höchste pro-europäische Voting nach Parteianhänger -Innenscha. AnhängerInnen der ebenfalls traditionell EU-freund -•lichen Liberaldemokraten stimmten mit 70Prozent fürdie Mitgliedscha in der EU. Als unmissverständlich pro-europäisch positionierten•sich auch die walisische Regionalpartei Plaid Cymru(Mitglied der Grünen-Fraktion im EU-Parlament)sowie die nordirische Sinn Fein (Mitglied der Lin-ken-EU-Fraktion). Eine Mehrheit von 58 Prozent  gegen die EU-Mitglied-•scha gab es in den Reihen konservativer Parteigän-gerInnen. noch deutlicher fiel das Stimmverhalten beider rechtspopulistischen, antieuropäischen UKIP-Uni-ted Kingdom Independence Party aus, die sich seitjeher den Austri zum primären politischen zielgesetzt hat und insbesondere auch das Migrations-und Flüchtlingsthema für ihre Anti-EU-Propagandamissbrauchte:  96Prozent der UKIP-AnhängerInnenstimmten für den Austri. Insgesamt kamen knapp zwei Driel der „Remain“-•Stimmen von AnhängerInnen links-(liberaler) Par-teien (39Prozent Labour, 12 Prozent Liberaldemokra-ten, 7Prozent Grüne, 6Prozent SnP, 1 Prozent PlaidCymru), umgekehrt zwei Driel der „Leave“-Stimmenvon ParteigängerInnen der politischen Rechten(40Prozent Konservative, 25Prozent UKIP). Linke ParteigängerInnen sind unter den Austris -

befürworterInnen also deutlich unterrepräsentiert.

Wertehaltungen – Progressive für EU,Konservative dagegen

hinsichtlich der Wertehaltungen (gefragt wurde, obbestimmte Wertehaltungen, Einstellungen, Errungenschaf-ten beziehungsweise Entwicklungen als Gefahr oderGewinne für die Gesellscha empfunden werden), ergibtsich ebenfalls ein ziemlich eindeutiges Bild:Die EU-Gegner Innen  haben deutlich konservativere – umnicht zu sagen geradezu reaktionäre – Einstellungen alsdie EU-BefürworterInnen. Was allerdings interessant ist:

BREXIT (II): Warum ein EU-Austritt für Linke keine Perspektive sein kann.Von Markus Koza.

„rECHTES“ LEAVE„LINkES“ rEMAIN

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hinsichtlich der Bewertung, ob der „Kapitalismus“ nunwas Gutes oder Schlechtes sei, sind EU-GegnerInnen wieBefürworterInnen ziemlich einheitlicher Meinung.

Die Austris-BefürworterInnen sehen Multikulturalität•(81Prozent), Gesellschasliberalismus (80Prozent),Feminismus (74Prozent), die Umweltbewegung (78Pro-zent) und Migration (80Prozent) als „schlecht“ bezie-hungsweise für die Gesellscha „schädlich“ an. Dieausgewiesen hohen ablehnenden Werte sprechen füreine dominierende stark rechts-konservative bis bereitsins rechts-extreme gehende Wertehaltung beiden EU-GegnerInnen. Es ist auch kein zufall, dass anti-europäische Einstellungen insbesondere in der extre-men politischen Rechten weit verbreitet sind und dieseganz offensichtlich problemlos an ein „reaktionäres“Welt- und Menschenbild anknüpfen können. Auch hin-sichtlich technologischer Entwicklungen zeigt sich das

„Leave“-Lager ausgesprochen skeptisch: 71Prozentempfinden das Internet als Risiko für die Gesellscha. Lediglich für rund ein Viertel des „Leave“-Lagers stel-•len „linke“ beziehungsweise „sozial-liberale“ Wert -haltungen keine Gefahr sondern einen Gewinn für dieGesellscha dar. Etwas weniger ausgeprägt aber immer noch recht ein-•deutig – war das Pro-EU-Lager  (ähnlich wie in Öster-reich das Pro-Van der Bellen-Lager) doch ideologischbreiter aufgestellt – stellen sich die Einstellungen der

„Remain“-Voters dar. Die Wertehaltungender EU-BefürworterInnen sind deutlich „progressiver“beziehungsweise „linker“ ausgeprägt als jeneder EU-GegnerInnen. EU-BefürworterInnen stehen Multikulturalismus•(71Prozent), Gesellschasliberalismus (68Prozent),Feminismus (60Prozent), der Umweltbewegung(62Prozent) und Migration (79Prozent) grundsätzlichpositiv gegenüber und sehen diese als Gewinn für dieGesellscha. Die relativ hohe Ablehnung des Feminis-mus (40Prozent), der Umweltbewegung (38 Prozent)aber auch gesellschasliberaler Positionen (32Pro-zent) ist vermutlich auf den relativ höheren Anteilkonservativer beziehungsweise rechtsliberaler Pro-Europa-VoterInnen im EU-Austriss-Lager zurück -zuführen.  Umgekehrt ist im EU-Austrislager derAnteil ausgewiesener „Links-Liberaler“ ungleichgeringer, weswegen progressive Wertehaltungenunter den Austris-BefürworterInnen eine deutlichuntergeordnetere Rolle spielen. Wie auch immer, derideologische Unterschied zwischen „Leave“- und

„Remain“-Voters ist signifikant und auffallend undzeugt auch in Großbritannien von einer zunehmendenSpaltung der Gesellscha. Gibt es bei der Einschätzung der Globalisierung auf•die Gesellscha (69Prozent der EU-GegnerInnen fin-den die Globalisierung schlecht, aber immerhin auch38Prozent der EU-BefürworterInnen) noch deutlicheUnterschiede, sind „Leave-“ und „Remain“-Wähler -Innen hinsichtlich ihrer Einschätzung des Kapitalis-mus praktisch ident: ziemlich exakt die häle derjeweiligen Gruppe steht dem Kapitalismus positivbeziehungsweise negativ gegenüber.

Was beide Gruppen interessanterweise ebenfalls eint:Eine grundsätzliche Skepsis hinsichtlich einer positivenwirtschalichen Entwicklung und eigener Perspektiven –sowie jener ihrer Kinder.

Sowohl BefürworterInnen der EU (20Prozent) als•auch GegnerInnen (42Prozent) erwarten sich mehr-heitlich keine Verbesserung ihrer eigenen Situation,sondern fürchten vielmehr eine Verschlechterung (imUnterschied dazu erwarten sich Van der Bellen-Wäh-lerInnen im Gegensatz zu den hofer-WählerInnenmehrheitlich eine Verbesserung ihrer Lebenssituation). Wenig hoffnung haben die Lager auch auf eine Ver-•besserung der Chancen ihrer Kinder. hier ist dasPro-EU-Lager nur geringfügig optimistisch (4 Prozent)während, der Saldo bei den EU-GegnerInnen miteinem minus von 22Prozent deutlich in Richtung

„wenig hoffnung“ schlägt. Auch hält sich die zustimmung zur Behauptung,•wonach unabhängig vom sozialen hintergrund jede/rdie Chance hat, in Großbritannien erfolgreich zu sein,in Grenzen. nur 16Prozent der Austris-Befürworter -Innen und selbst lediglich 22Prozent der Austris-GegnerInnen stimmen dieser Aussage mehrheitlich zu. nur, dass es vor 30 Jahren deutlich besser war, will•eine Mehrheit von 46Prozent der BefürworterInnennicht so recht glauben, während 16Prozent der GegnerInnen dieser Aussage zustimmen.

Schlussfolgerungen

Das „Leave“-Votum in Großbritannien war definitiv•ein rechtes Votum. Die Abstimmung über denBREXIT war die Forderung rechter Parteien undwurde von diesen auch vorangetrieben. er überEuropa gilt es inzwischen rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien als Vorbild. Die extreme Rechte in Frankreich und den nieder -landen hat bereits entsprechende Referenden ange-kündigt, in Österreich will der ehemalige FPÖ-Präsi-dentschaskandidat hofer innerhalb des nächstenJahres darüber entscheiden, ob auch die Österreicher -Innen vor die Alternative „Gehen“ oder „Bleiben“gestellt werden sollen. Für die Linke kann ein Austri aus der EU keine rea-•listische beziehungsweise erstrebenswerte Perspek-tive darstellen. nicht zuletzt, weil man unweigerlichin rechtsextreme, nationalistische Fahrwasser gerät.Und – weil das „linke“ beziehungsweise „linksliberale“Lager unmissverständlich europafreundlich orientiertist. Bei aller Skepsis und Kritik, die gegenüber euro-päischer Politik und Krisenbewältigung herrscht,würde eine Kampagne für einen EU-Austri innerhalbder Linken keine Mehrheiten finden. nicht einmalannähernd. Bleibt also, die EU „von innen“ zu verän-dern, einen wirtschas- und sozialpolitischen Kurs-wechsel in Europa herbeizuführen. Innerhalb des linken Lagers ist allerdings umstrien,•ob das überhaupt möglich ist. Die institutionelle undvertragliche, ja selbst völkerrechtliche (zum Beispiel

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Fiskalpakt) Festschreibung eines strikten Austeritäts-kurses, sowie die grundsätzliche Fehlkonstruktion derEU lässt den Umbau der EU in Richtung Sozialunionbeinahe unmöglich erscheinen. Der angekündigteAusbau der „sozialen Säule“ erscheint anbetrachts derreal erlebten zertrümmerung sozialstaatlicher Struk-turen in den Krisenstaaten durch die Troika geradezuals hohn. Und selbst abseits derartiger Brachial -methoden zielen die Empfehlungen  der EU-Kommis-sion zur hebung der Webewerbsfähigkeit – insbe-sondere der einflussreichen Generaldirektion Wirt-scha und Finanzen – auf Lohnsenkungen, Abbauvon Arbeits-, Gewerkschas- und Sozialrechten sowiesozialstaatlicher Sicherungsmodelle insgesamt ab. Invielen europäischen Ländern sind die Realeinkommengesunken, ist die Armut gestiegen, die Arbeitslosig-keit nach wie vor auf einem anhaltend hohen niveau.Das europäische Versprechen, den Wohlstand aller zuheben, ist brüchig geworden und gilt für immer Weni-ger. Ganze Regionen sind infolge der Krise und dereuropäischen Krisenpolitik von der Verelendungbedroht. Wie sehr die EU, ihre Institutionen und ihreEliten in der Krise stecken, zeigt die immer weiter umsich greifende EU-Skepsis, die wachsende Perspekti-venlosigkeit, das Erstarken anti-europäischer, rechts-populistischer und rechtsextremer Parteien.

Einmal mehr: It’s the economy

Einen strikten Austeritätskurs mit massiven Einkom-mensverlusten und Einschnien in die Sozialsysteme hates auch in Großbritannien gegeben. Die Beschäigungs -zuwächse sind vor allem auf die wachsende zahl Selbstän-diger zurückzuführen. „Prekär“ arbeitender und lebender

Selbständiger. Die Einkommen der Selbständigen sindnämlich seit Krisenausbruch 2008 um 22Prozent gesunken.Im gleichen zeitraum ist die zahl der Armen um1,1Millionen gestiegen. 15Millionen Personen sind inGroßbritannien von Armut bedroht. Wer von der Krisebesonders hart betroffen war und ist– die ArbeiterInnen,die Armen, die Prekarisierten – stimmt gegen die EU undihre Eliten – egal auf welcher Ebene. Einmal mehr gilt: It’sthe economy, stupid! (siehe Beitrag „Europa an der Kippe“auf dem A&W-Blog)

Die reale sozial- und wirtschaspolitische Verfasstheitder EU macht es Linken – insbesondere auch gewerk-schalich orientierten Linken –  unmöglich, sich bedin-gungslos hinter ein „JA“ zu dieser EU zu stellen. Wenn einAustri allerdings keine Perspektive ist, bleibt nur derKampf für eine soziale, demokratische und ökologischeUnion und für einen grundlegenden wirtschas- und sozialpolitischen Kurswechsel in Europa. Das wird auchdie große herausforderung für GewerkschaerInnen undLinke im Fall drohender, kommender Referenden sein: DieAblehnung eines Austris unter nationalen und fremden-feindlichen Vorzeichen muss mit Kritik an der vorherr-schenden europäischen Austeritätspolitik und dem Kampfum ein „anderes“ Europa – eine Sozial- und Umweltunion– verbunden werden. Um ein Europa, das tatsächlichgeeignet ist, Chancen und  Perspektiven  zu bieten undhoffnung sta Frustration zu erzeugen. Gelingt dieserKurswechsel in Europa nicht, wird der Austri Groß -britanniens vermutlich nicht der Letzte gewesen sein undder Vormarsch von nationalismus, Chauvinismus undMenschenfeindlichkeit nur schwer aufzuhalten sein. ObEuropa dahingehend lernfähig ist? ◀

Abstimmungsverhalten nach

Parteipräferenzen.

Link-liberale Wählerinnen

stimmten mehrheitlich für

den eu-Verbleib

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International

underausende ArbeitnehmerInnen und ihreGewerkschaen protestieren gegen die geplanten

Arbeitsrechts-„Reformen“ der sozialistischen Regie-rung, die in Wirklichkeit nichts anderes darstellen,

als einen neoliberalen Kahlschlag und eine Frontalaackeauf Gewerkschasrechte, auf Löhne und die 35-Stunden-Woche in Frankreich. Laut Umfragen sympathisiert derGroßteil der Bevölkerung mit den protestierenden Arbeit-nehmerInnen.

Das Maßnahmenpaket der Regierung sieht dabei insbe-sondere eine Flexibilisierung und Ausweitung der Arbeits-zeiten, die Verlagerung der Lohnverhandlungen auf diebetriebliche Ebene und einen erleichterten Kündigungs-schutz vor. Die angestrebten – über ein Regierungsde-kret (!) an der Mehrheit des Parlaments vorbei beschlosse-nen – Reformen im Einzelnen:

Die 35-Stunden-Woche bleibt zwar formell erhalten,•allerdings sollen über Betriebsvereinbarungen – wieetwa die Reduktion des überstundenzuschlags von 25auf 10Prozent – zusätzliche Möglichkeiten zu einerFlexibilisierung und Ausweitung der Arbeitszeitengeschaffen werden. Miels Betriebsvereinbarungen sollen Unternehmen•von Kollektivverträgen abweichende – sprich ver-schlechternde – Regelungen treffen können. DieTarif(Kollektivvertrags)hoheit soll also stärker von derBranchen- auf die betriebliche Ebene verlagert wer-den, was die Machtverhältnisse grundlegend zuguns-ten der UnternehmerInnenseite verschiebt. zwar wares in Frankreich auch bislang so, dass Betriebsverein-barungen von Gewerkschaen, die bei Betriebsrats-wahlen über zehn Prozent der Stimmen erreichten,abgeschlossen werden konnten – allerdings nur Bran-chenvereinbarungen verbessernde. zusätzlich konn-ten im Betrieb vertretene andere Gewerkschas -gruppen (in Frankreich gibt es keinen einheitlichenGewerkschasbund, sondern Richtungsgewerkschaf-ten) mit einem Stimmenanteil von über fünfzig Pro-zent gegen Betriebsvereinbarungen ein Veto einlegenund diese so verhindern. Das neue Gesetz sieht nunvor, dass eine solche Blockade verunmöglicht wird:Eine – oder mehrere Gewerkschasgruppierungen –

Seit mehreren Wochen erlebt Frankreich die heftigste Streik- und Protestbewegung seit Mitte derneunziger Jahre. Von Markus Koza.

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Paris, März 2016

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die mehr als 30Prozent Stimmenanteil halten, sollenkünig Betriebsvereinbarungen ausverhandeln kön-nen und diese über eine Urabstimmung unter denBeschäigten auch gegen die Mehrheit der Gewerk-schaen durchsetzen können: Dieser Gesetzesentwurfwird von politischen BeobachterInnen als „Lex CGT“interpretiert, als Gesetz gegen die mächtigste, ehemalsKP-nahe Gewerkscha. Mit diesem Gesetz wäre dieMöglichkeit der CGT, von kleineren, zum Beispielarbeitgeberfreundlicheren Gewerkschaslisten abge-schlossene Betriebsvereinbarungen – etwa zur Aus-weitung der Arbeitszeiten – zu blockieren, deutlicheingeschränkt, wenn nicht verunmöglicht. Weiters werden betriebsbedingte Kündigungen•erleichtert – etwa wenn ein Unternehmen über einenlängeren zeitraum einen Umsatzrückgang bezie-hungsweise über einen kurzen zusammenhängendenzeitraum operative Verluste erleidet. Bislang warenbetriebsbedingte Kündigungen nur bei Unterneh-mensauflösung oder im Rahmen technologischerErneuerungen möglich. zusätzlich werden neue, prekäre Arbeitsverträge• eingeführt: Werden „neue Märkte“ erschlossen, soll eskünig auf zwei Jahre befristete Arbeitsverträge auf

„Entwicklungsbasis“ geben, dieausgesprochen flexibel

gestaltet sind und sichanalog zum „neuenMarkt“, hinsichtlichArbeitszeiten und Ein-kommen auch über denzeitraum hinweg,ändern, also insbeson-dere auch verschlechtertwerden können.

Die „Reformen“ imArbeitsrecht befinden sichdurchaus in europäischemEinklang: Europaweit undinsbesondere auch aufinstitutioneller EU-Ebene –etwa seitens der General -direktion Finanzender EU-Kommission – wirdDruck auf die Verlagerungder Kollektivvertragsver-handlungen auf diebetriebliche Ebene gemachtund so die Schwächung derGewerkschaen vorange-

trieben, die Flexibilisierungvon Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen gefordertund Lohnzurückhaltung bis hin zur Absenkung der Mindestlöhne empfohlen. Im Fokus neoliberaler Krisen -bewältigung stehen auch die Arbeitszeiten – die grundsätzlich immer und überall zu wenig Flexibilitätzulassen. ◀

Wir erklären als AUGE/UG unsere Solidarität mit den französischen Gewerkschaften, den ArbeitnehmerInnen undder mit ihnen solidarischen linken zivilgesellschaft in ihremArbeitskampf gegen die neoliberalen Arbeitsrechts -reformen. Weil der Kampf, den die französischen Kolleg -Innen führen, ein Kampf auch für unsere Rechte, für unsereKollektivverträge und für unsere Arbeits- und Lebens -bedingungen ist.

In Europa, wie auch in Österreich. Denn auch in Österreich steht nach wie vor

unter dem Schlagwort der „Flexibilisierung“ und der• „Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit“ die Ausweitung dermaximal zulässigen täglichen Arbeitszeit auf 12 Stunden aufder politischen Agenda,

fordern FPÖ und nEOS die Kürzung der AK-Umlage und•damit die empfindliche politische und wirtschaftlicheSchwächung der Interessensvertretungen derArbeitnehmer Innen,

wächst der Anteil jener ArbeitnehmerInnen – insbeson-•dere der Frauen – die in prekären und atypischen, sozial-und arbeitsrechtlich vielfach nicht ausreichend gesichertenBeschäftigungsverhältnissen arbeiten,

werden angesichts steigender Arbeitslosigkeit Kürzungen•bei Mindestsicherung und Arbeitslosengeld angedacht,um „Anreize“ für eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligungzu setzen,

wird auch in Österreich seitens der Industrie, konser -•vativer  und nEOS-liberaler PolitikerInnen die Stärkung derbetrieblichen gegenüber der Branchenebene bei Kollektiv-vertragsverhandlungen gefordert, was einer massivenSchwächung der ArbeitnehmerInnenseite bei Lohn- undArbeitszeitverhandlungen gleich kommt. „neoliberale“ Krisenpolitik, wie sie seit Jahren innerhalb derEU betrieben wird, verschärft nur ökonomische und sozialeSpannungen, lässt einen tiefen Spalt in der Gesellschaftzurück und stärkt rechtsextreme politische Parteien undautoritäre Entwicklungen in unseren Demokratien. DerKampf der französischen KollegInnen ist in diesem Sinneauch ein Kampf für Demokratie, Mitbestimmung und gegeneine „marktkonforme“ Demokratie, deren Regierungenmehr und mehr zu autoritären Mitteln wie notstandsgesetz-gebungen oder Regierungsdekreten zurückgreifen müssen,um verschlechternde Maßnahmen durchzusetzen.Die französische Regierung ist dringend aufgefordert, ihrMaßnahmenpaket zurückzunehmen und in Verhandlungenmit den Gewerkschaften zu treten, um solidarische Wegeaus der sozialen und ökonomischen Krise zu finden.Für einen grundlegenden politischen Kurswechsel in derEU. Für ein Europa der Demokratie, der Solidarität und dessozial-ökologischen Wandels!

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International

Lukas Oberndorfer: Die unter dem Namen Nuit-Debout ende märz einsetzenden platzbesetzungenin Frankreich haben sich in den letzten Wochen miteiner militanten streikbewegung verschränkt. Wasist der Charakter dieses Arbeitskampfes?

Guillaume Paoli: Die formen des Arbeitskampfes habensich im Vergleich zu 1968 stark verändert. Damals betei-ligten sich zehn Millionen, das ganze Land war komplettlahmgelegt. Die gegenwärtigen Arbeitskämpfe unterschei-den sich  von dieser Art des Generalstreiks.Das liegt zum einen daran, dass die zweitgrößte Gewerk-schaft, die sozialdemokratische CfDT den streik gar nichtunterstützt. Zum anderen liegt es an der seither sich voll-ziehenden De-industrialisierung frankreichs, der Arbeits-losigkeit und der Verbreitung von prekären Jobs. unterdiesen Bedingungen können viele gar nicht oder nurschwer streiken.es haben sich dafür aber andere formen des Kampfs ent-wickelt: Der Wirtschaftskreislauf kann auch durch Blockaden von strategischen straßen, Häfen und der ener-gieversorgung lahm gelegt werden – und genau dies istin den letzten Wochen geschehen. Das hat den Vorteil,dass sich daran nicht nur die Beschäftigten sondern auchArbeitslose und die Aktiven der nuit-Debout-Bewegungbeteiligen konnten. Dafür sind Blockaden nicht ganz legal,die Polizei wird hingeschickt, um sie aufzulösen, daherdie vermehrten Konfrontationen.

Wie verläuft das Zusammenspiel derNuit-Debout-Bewegung und der am streikbeteiligten Gewerkschaften?

Das unterscheidet sich stark nach den ebenen und städten.in Paris hat einmal jemand aus dem Vorstand der Gewerk-schaft CGT gesprochen, aber darüber hinaus gab es kaumZusammenarbeit. Anders verläuft das auf der lokalenebene. in kleinen städten sind Teilnehmerinnen der nuit-Debout auch Gewerkschaftsmitglieder. in LeHavre zum

Beispiel hat die Ortssektion der CGT die Polizei vonAnfang an gewarnt: „Wenn ihr eine Aktivistin der Bewe-gung verletzt, legen wir die ganze stadt lahm.“ Das ergeb-nis: in LeHavre ist die Polizeigewalt viel geringer als inanderen städten. Auch dort wo es nuit-Debout gelang, in Alltagskämpferund um Pflege, Gesundheit und Kinderbetreuung (zumBeispiel Hopital Debout und Parent Debout) zu interve-nieren, bestehen enge Verknüpfungen mit den Gewerk-schaften. Denn das sind Themen, die für die Lohnabhän-gigen unmittelbare Relevanz haben.

Die spärlichen medienberichte, die uns ausFrankreich erreichen, zeichnen ein Bild der Gewalt.Was passiert wirklich auf Frankreichs straßen?

Wenn berichtet wird, dass die Gewalt der Demonstrant -innen eine neue Qualität darstelle, dann ist das geschichts-los: in den 1970er Jahren flogen viel mehr Molotow Cock-tails. in frankreich ist das jedenfalls nicht neu. neu aberist das Ausmaß der Repression. und das von Anfang an.Die schülerinnen von denen die erste Protestwelle ausging,knüppelte die Polizei unglaublich brutal zusammen.Wenn man die Polizeistrategie seit Beginn der Bewegungbeobachtet, so wird klar, dass diese auf eskalation ausge-richtet ist. Das äußert sich vor allem auch im wahlloseneinsatz neuer Waffen – vor allem der sogenannten „nicht-tödlichen“ Waffen.Was damit gemeint ist, lässt sich vielleicht anhand der„sting grenade“ veranschaulichen. Das ist eine Granate,deren splitter aus Hartgummi bestehen. eigentlich darfsie von einem Polizisten nur in einer notwehrsituationeingesetzt werden, doch momentan kommen diese Granaten sehr oft offensiv zum einsatz. Die folge: schlimme Verletzungen – manche verloren ihrAugenlicht. Vor zwei Jahren ist ein Mensch an den folgengestorben, jetzt liegt ein anderer im Koma, der von einemsplitter an der schläfe getroffen wurde. Der Begriff „nicht-tödlich“ ist nicht nur falsch, sondern legitimiert auch

„Gegen das Arbeitsgesetz und seine Welt“ – unter diesem Motto ist in Frankreich in den letztenWochen eine der größten Bewegungen seit dem Mai 1968 entstanden. Lukas Oberndorfer sprach fürMosaik mit Guillaume Paoli darüber, wie die Regierung Repression und Ausnahmezustand einsetzt,

um den neoliberalen Umbau trotz der wegbrechenden zustimmung durchzusetzen.

„NEUES AUSMASSDEr rEPrESSION“

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einen enthemmten einsatz. es ist aber nicht nur, dass diePolizisten gewalttätiger sind, vielmehr hat ihnen die sozi-aldemokratische Regierung einen freibrief gegeben. siehaben gesagt: ihr könnt alles machen, es gibt überhauptkeine folge, keine einzige.

Gibt es Belege dafür, dass das von obenso gewollt wird?

Ja, es gibt mehrere Reden von Premierminister Valls, woer das offen so ausspricht. Aber er äußert sich auch inder Weise, wie mit Zwischenfällen umgegangen wird.

Welche Handlung den erwähnten Demonstrationsteilneh-mer, der eigentlich gar kein Demonstrant sondern einJournalist war, ins Koma brachte, ist gut durchmehrere Videos belegt: Man sieht darin einen Polizisten,der ohne in Bedrängnis zu sein im Vorbeigehen eine dieserGranaten wirft. Der innenminister meinte nachher dazu nur, dass keinkausaler Zusammenhang bestehe. erst nach fast  zweiWochen und einem massiven öffentlichen Druck kam eszu einer ersten Vernehmung des Polizisten – allerdingsnicht durch einen Richter, sondern nur durch eine interneuntersuchungskommission.

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Graffito mit Aufruf zum Aufstand, Paris, April 2016

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Dieses Klima der repression wird ja auch durch denAusnahmezustand legitimiert, den die regierungnach den Terror-Attentaten im Herbst verhängte.Wie wird dieser jetzt gegen die soziale Bewegungeingesetzt?

Vor allem wird dutzenden Menschen verboten, ihre Woh-nung zu verlassen – unter Androhung einer sechsmona-tigen Gefängnisstrafe. Der Ausnahmezustand ermöglicht, dass die Polizei diesganz ohne Richter vorschreiben kann. Darüber hinauswerden auf Grundlage des Ausnahmezustandes immerwieder Demonstrationen untersagt. Auch der Zeitpunkt der „Arbeitsmarktreformen“ ist keinZufall. Die Regierung hat den Ausnahmezustand genutzt,um das durchzuziehen. Das war Kalkül: Man hat sichgesagt, die Leute werden nicht demonstrieren, weil eseinen Ausnahmezustand gibt. Doch diese schockstrategieging nach hinten los. es war vielmehr umgekehrt: Die Leute gingen geradeauch gegen die autoritären Verhältnisse auf die straße.Das Motto der Bewegung hieß von Anfang an: „Contre laloi travail et son monde!“ – „Gegen das Arbeitsgesetz undseine Welt!“ es ging also auch gegen die undemokratischenVerhältnisse, welche die Verabschiedung des Gesetzes erstmöglich gemacht haben.

Das erinnert mich sehr an die Worte einesspanischen Innenministers, der 2012 im Angesichtder platzbesetzungen meinte, dass es ein systembraucht, das den Demonstranten Angst macht.stehen die entwicklungen in Frankreich inVerbindung mit der großen Krise des Kapitalismusund den damit in Zusammenhang stehendenBewegungen in anderen Teilen der Welt?

Ja. es gibt eine gemeinsame Angst der regierendenMächte in ganz europa – und nicht nur in europa, ichglaube es ist in den Vereinigten staaten nicht anders.natürlich rechnen sie damit, dass mehr Aufstände kom-men, und dann bereiten sie sich vor. in diesem sinne istfrankreich jetzt ein Labor für neue Techniken der Auf-standsbekämpfung.

Die Fußball-europameisterschaft könnte dazuführen, dass sich die repression nochmal zuspitzt,gleichzeitig ist das spektakel natürlich auch einDruckpotential für die Gewerkschaften. Welcheperspektiven hat die Bewegung?

Ja, der Wunsch dieses Großevent durchzuziehen, könntemehr Repression nach sich ziehen und natürlich wirddie fußball-eM auch dazu führen, dass die streiks mehrResonanz bekommen. Aber ich glaube nicht, dass dasdie schwierige Ausgangssituation grundsätzlich verschie-ben kann.Die widersprüchliche Lage wird in Deutschland und Öster-reich gerne übersehen, da heißt es dann oft: „Oh, das ist

ja endlich eine kämpferische Gewerkschaft.“ Aber dasüberdeckt, dass der Vorstand der Gewerkschaft CGT vonseiner Basis erst gezwungen werden musste, in diesenKampf zu gehen. Die Termine der streiks und Mobilisie-rungen hatten dann auch viel zu große Abstände. DieDynamik kam von außergewerkschaftlichen initiativen.eine einigung mit der CGT kam nicht zustande, weil dieRegierung nicht verhandeln wollte, und nicht wegen derGewerkschaft – dies geschah obwohl der Vorstand derCGT seine Positionen bereits abgemildert hat. Die Regierung scheint damit das Ziel zu verfolgen, dieCGT gegenüber der sozialdemokratischen CfDT, welchedie Arbeitsmarktliberalisierung unterstützt, zu schwächen.Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dassdie CGT-führung weiter nachgibt und doch noch eineeinigung zustande kommt.Wahrscheinlicher ist, dass die Regierung die Bewegungaussitzt. Jetzt liegt das Gesetzt ja beim konservativensenat, der es noch weiter verschärfen wird. Wenn es dannan das Parlament zurückkommt, wird die sozialdemo-kratische Regierung sagen: seht her, es könnte auch vielschlimmer kommen, stimmt doch dafür. Dennoch ist esanzunehmen, dass die Reform erneut mithilfe des not-standsparagrafen durchgepeitscht wird. Trotzdem wirddie allgemeine Wut auf die Politik weiter bestehen undneue formen annehmen.Aber ich bin kein Hellseher. soziale Bewegungen kenn-zeichnen sich durch ihre überraschenden Wendungen, diealle Prognosen über den Haufen werfen.

Wie verhält sich eigentlich die rechtsextremeFront National in der bisherigen Auseinander -setzung? Hat die Bewegung zumindest hier bereitseinen erfolg errungen, in dem sie marine Le penzwang, Farbe zu bekennen?

Am Anfang stellte sich die front national mit dem Argu-ment diese seien ein Diktat aus Brüssel und Berlin gegendie „Arbeitsmarktreformen“. Doch die Proteste legten den neoliberalen Kern der frontnational frei, die, auch wenn es ihr gelingt viele Arbeiter -innenstimmen zu gewinnen, eine Partei der Kleinunter-nehmer ist und sich daher vor allem gegen die Gewerk-schaften richtet. seither fordert sie ein Verbot aller Demonstrationen, will,dass die Regierung „das Chaos“ mit noch mehr Gewaltbeendet und beruft sich dazu auf den Ausnahmezustand.Zumindest vorübergehend sind die Masken gefallen. ◀

Guillaume Paoli ist französischer Schriftsteller und Philosophund lebt in Berlin. Seit dem Ausbruch der Proteste berichtet ertagesaktuell in den sozialen Medien und schreibt unteranderem für die taz und die FAZ zu Frankreich.

Lukas Oberndorfer ist Wissenschaftler in Wien und arbeitet zurFrage, wie es seit der Krise in Europa zu einer autoritärenWende kommt, die Demokratie und Grundrechte einschränkt,um neoliberale Politik zu vertiefen.

Erstveröffentlicht auf http://mosaik-blog.at

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Magazin

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Der Verfassungsgerichtshof hat dieStichwahl vom 22. Mai wegen forma-ler Fehler aufgehoben. Aber er hatauch klar gestellt: Es gab keine Wahl-manipulationen und keinen Wahl -betrug. Van der Bellen wurde voneiner Mehrheit der ÖsterreicherInnenzum Bundespräsidenten gewählt.

Für uns als „GewerkschaerInnenfür Van der Bellen“ heißt es einmalmehr für Van der Bellen aktiv zu werden. Weil wir nach wie vor – undmehr denn je – davon überzeugt sind,dass es einen Bundespräsidentenbraucht, der für sozialen Frieden undsoziale Gerechtigkeit steht.

Wir wollen einen Bundespräsiden-ten, der das höchste Amt im Staat mitBesonnenheit und Respekt ausübt undnicht einen, der es als seine dring-lichste Aufgabe sieht, Regierungen zu

entlassen und zur Polarisierung derGesellscha beizutragen. Wir wolleneinen Bundespräsidenten der anÖsterreichs Kra glaubt, Krisen undSchwierigkeiten zu meistern, stabewusst Ängste zu schüren und Men-schen gegeneinander aufzuhetzen.Wir wollen einen Bundespräsidenten,der für verantwortungslose, populisti-sche, nationalistische und rein partei-politisch motivierte Abenteuer nichtzu haben ist.

Und nicht zuletzt wollen wir einenBundespräsidenten, dem die Rechte

von ArbeitnehmerInnen und ihre Interessenvertretung ein wichtigesAnliegen sind. Wir wollen einen Bundespräsidenten, der unserengewerkschalichen Werten nahe stehtund diese unterstützt.

Deshalb wählen wir am 2. Oktober einmal mehr Alexander van der Bellen. ◀

http://gewerkschafterinnen-fuer-vanderbellen.at/

VDB – mehr denn je!

Am 2. Oktober wird die

Wahl zum

Bundespräsidenten

wiederholt.

zitate: „ich wähle Alexander Van der Bellen, weil er glaubha für solidarische, supranationale Lösungen steht.Zudem tri er kompromisslos für eine antifaschistische Grundhaltung ein. Was angesichts des zunehmenden Aufstiegsrechtsextremer Bewegungen europaweit von wesentlicher Bedeutung ist.“ Sonja Müllner, zentralbetriebsrätin FSW undTöchter, Wien • „Van der Bellen hat ökonomischen und vor allem auch sozialen Verstand bewiesen, als er sich klar gegendie eu-weite sparpolitik, den fiskalpakt und die schuldenbremse ausgesprochen hat. so jemanden brauchen wir an derspitze des staates.“ Fritz Schiller, Betriebsratsvorsitzender bei Raiffeisen Capital Management und Mitglied des GPA-djpBundesvorstands, Wien • „Weil AVdB für ein verbindendes Miteinander in einem Rechtsstaat Österreich steht!“ IngridEckmayer, Betriebsratsvorsitzender Stellvertreterin, AUVA, UKh, Graz • „ich wähle und unterstütze sascha Van derBellen, da er der richtige Mann für dieses Amt ist. ihm sind die sorgen, Ängste und Anliegen „ALLeR“ Österreicherinnenwichtig! Außerdem will ich nicht, dass die Geschichte uns einholt und sich wiederholen könnte!“ herbert Orsolits,Bundessekretär der Unabhängigen GewerkschafterInnen in der vida • „Wer unsere innerbetriebliche Arbeit kennt, weißwofür wir stehen: unabhängig in der Parteifarbe aber vereint im Ziel – eine soziale, solidarische Gesellscha, frei vonDiskriminierung und Gesellschasspaltung, mit Respekt vor allen Menschen. Wir vertrauen Alexander Van der Bellen,diese Werte voll und ganz zu vertreten, daher hat er bei dieser Wahl unsere unterstützung!“ norbert Irnberger undMarion Polaschek, Betriebsräte, UVAB-UG (Unabhängige Vertretung Allgemein Bediensteter an der Universität Wien) •„Weil VdB innenpolitisch wie aussenpolitisch meinem Bild eines besonnenen Politikers und staatsmannes weitgehendentspricht. Vor allem die fähigkeit eigene Überzeugungen durch fakten zu ändern und trotzdem neutraler Ruhepol zubleiben überzeugt mich. Mit ihm als Bundespräsident glaube ich an ein modernes, zukunsorientiertes, freundliches,erfolgreiches Österreich in dem die soziale Zufriedenheit der Arbeitnehmerinnen an oberster stelle steht.“ Birgit niederl,Kammerrätin / AK-Kärnten • „ich verstehe nicht, warum sich manche gar so zieren …. es geht doch nicht ums Heiraten… also in dieser situation ist’s nicht so sehr Wahl, da ist’s meines erachtens Pflicht.“ Lisa Langbein, Pensionistin, ehem.Vorsitzende der UG • „ich will ein weltoffenes und menschliches Österreich und gebe deshalb Van der Bellen meinestimme.“ helmut Deutinger, Betriebsratsvorsitzender Lebenshilfe Tirol, Landessprecher und Fraktionsvorsitzender Grünein der AK Tirol/UG

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Gewerkschaft & Betrieb

or versammelter JournalistInnenscha berichteten sievon den untragbaren zuständen in Wiener Spitals -

wesen. Die KIV/UG kritisiert mangelnde Wertschätzung,steigende Arbeitsbelastung und fehlendes Problembe-

wusstsein im Wiener KAV.Die Konsequente Interessensvertretung/Unabhängige

GewerkschaerInnen (KIV/UG) ist die zweitgrößte Perso-nalvertretungs- und Gewerkschasgruppierung bei denWiener Gemeindebediensteten. Im Schwarzbuch KrankerAnstaltenverbund kommen betroffene KollegInnen ausverschiedenen Berufsgruppen des KAVs zu Wort undbeschreiben, wie sich diese unerträgliche Situation auf ihrephysische und psychische Gesundheit und auf ihre Arbeit,und somit direkt auf uns, auf die PatientInnen im WienerKrankenanstaltenverbund, auswirkt:„Die Arbeitsbedingungen in den Wiener Krankenanstal-

ten sind von Einsparungen, Personalmangel, steigendem

Arbeitsdruck und einer damit verbundenen zunahme anKrankenständen geprägt. Unsere KollegInnen im Pflege -bereich arbeiten zunehmend am Limit. Der Krankenanstal-tenverbund der Gemeinde Wien soll endlich seine eigenenLeitlinien ernst nehmen und Arbeitsbedingungen herstel-len, die diesen entsprechen“, kritisierten sie.

In den Leitlinien des Wiener KAV heißt es: „alifizierte,engagierte und zufriedene MitarbeiterInnen sind Grund-pfeiler unserer Leistung.“ Die unter dem Spardruck immerschwieriger werdenden Arbeitsbedingungen sowie zusätz-liche Aufgaben bei reduziertem Personalstand gefährdendie alität in der Gesundheitsarbeit allerdings zuneh-mend. „Seit 2015 wurde im KAV der medizinische Perso-nalstand um 300 Köpfe reduziert. Gleichzeitig übernimmtdas Pflegepersonal allerdings zusätzlich auch medizinischeAufgaben bei gleich bleibendem Einkommen und beste-hendem Personalnotstand“, kommentiert Ona die KAV-

Das „Schwarzbuch Kranker Anstaltenverbund“ der KIV/UG wurde im Rahmen einerPressekonferenz Mitte Juni 2016 von Autorin Mag.a Lucia Schwarz und zwei direkt betroffenen

PersonalvertreterInnen der KIV/UG, Silvia Tauchner und Biju Onatt, präsentiert.Von Lucia schwarz.

ANSTALTEN -krANkErVErBUND

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Leitlinie. hinzu kommt die überbordende Dokumentationspflicht. „Früher wurden Tätigkei-ten erbracht, ohne diese zu dokumentieren. EinMissstand, der unbedingt korrigiert werdenmusste. heute wird dagegen alles lückenlos doku-mentiert und es herrscht eine regelrechte Doku-mentationswut. Der enorme zeitdruck, unter demdie Beschäigten stehen, wir allerdings dieFrage auf, ob alle dokumentierten Tätigkeitenauch tatsächlich so erbracht wurden. Wer trägtdann die Verantwortung, wenn etwas passiert?“,fragt Ona. Sich an den überforderten Beschäig-ten abzuputzen ist jedenfalls inakzeptabel undverschleiert nur die wahren Ursachen für Miss-stände in der Pflege.

Auch Silvia Tauchner kritisierte die „Ent-menschlichung“, die gerade in der sozialen Arbeitvoranschreitet: „Es ist geradezu absurd, wennausgerechnet in den Gesundheitsberufen Arbeits-bedingungen herrschen, die zunehmend krankmachen und an die Grenzen der Belastbarkeitführen. Es ist dem hohen Engagement bis hin zurSelbstausbeutung der Beschäigten für ihrePatientInnen zu verdanken, dass das System nochnicht gekippt ist.“ Wichtige Führungspositionenwerden in Krankenanstalten aufgrund krank-heitsbedingter Ausfälle nicht besetzt, frei wer-dende Positionen im Pflegebereich o erst nachmehreren Monaten nachbesetzt. „Im KAV mussdie wachsende zahl an – auch psychisch beding-ten – Krankenständen endlich als Folge von Fehl-entwicklungen am ‚Arbeitsplatz Krankenhaus‘erkannt werden.“ Es macht wenig Sinn, wennzwar Burnout-Prophylaxe angeboten wird, dieseallerdings an den MitarbeiterInnen selbst undnicht an den Arbeitsbedingungen ansetzt.

Der KAV muss sich endlich diesen Problemenstellen und in einen lösungsorientierten Dialogmit der Personalvertretung treten! Sta Sparpa-kete im Gesundheitsbereich braucht es mehr Per-sonal, menschenwürdigere Arbeitsbedingungenund der Arbeitsleistung entsprechende Löhne.Weil sich schließlich alle ein Gesundheitswesenverdient haben, das gesund, sta krank macht –PatientInnen wie Beschäigte. Wir fordern, dassdie Verantwortlichen im KAV endlich aus derDeckung kommen, sich den Problemen ernsthastellen und mit den PersonalvertreterInnen vorOrt in lösungsorientierte Gespräche treten, umdie Arbeitsbedingungen zu verbessern – damitdas KAV-Leitbild auch endlich Realität wird. ◀

Das Schwarzbuch steht unterwww.kiv.at/schwarzbuch-download zum kostenfreienDownload bereit.Die Pressekonferenz und Interviews mit der Autorinund den KIV/UG-PersonalvertreterInnen gibt es alsVideos zum Nachbetrachten unterhttp://sozialmilliarde.at

das wichtigste aus dem schwarzbuch

Aus den anonymen Berichten

• „Die Personalsituation auf der Kinderstation ist einfach nur noch fahrlässigund eigentlich wird die Aufsichtspflicht gegenüber den Kindern fast täglichverletzt.“ (S. 25)• „Wenn ich einen Patienten drei Tage lang nicht wasche, oder ihm den Blutzucker nicht messe, oder er dehydriert ist und ich nicht 40 Mal vorbei-kommen kann, um ihm ein paar Schluck Saft zu geben, passiert gar nichts,solange ich in die Dokumentation schreibe, dass es gemacht ist. Es istabsurd. Irgendwas muss passieren, sonst gibt es bald den nächsten, riesigenPflegeskandal.“ (S. 18)• „Dabei finde ich, dass gerade kranke Menschen zuverlässige und motivierteBetreuung benötigen. Motiviert ist bei uns aber kaum noch wer so richtig.Irgendwas läuft da falsch.“ (S. 21)• „Und vor ein paar Wochen war es dann soweit, dass wir einen depressivenPatienten nach hause geschickt haben und der hat sich dann drei Tage spä-ter umgebracht. Es hat bei der Entlassung eigentlich gut ausgeschaut, weilder eine gute Fassade gehabt hat und uns auf der Station einfach keine zeitgeblieben ist, dahinter zu schauen, weil sich keiner lang genug mit ihmbeschäftigen konnte. Jetzt ist er tot. Es hat also direkte und ganz reale Fol-gen, hier so zu sparen.“ (S. 20)• „Sag mir einen Beruf, wo ein Mensch 11,5 Stunden durcharbeiten muss,ohne Pause, ohne Essen, ohne Trinken. Wenn PatientInnen so lange nichtszuführen, hängen wir sie an die Infusion, aber bei uns ist dasganz normal?“ (S. 17)

Studie belegt: Hohe PatientInnengefährdung durch überlastete Pflege

Eine Schweizer Studie (RICh nursing Studie) untersuchte die Auswirkungder Einschränkung von Pflegetätigkeiten, wie sie von überlastetem Pflegepersonal notgedrungen vorgenommen werden muss.Das alarmierende Ergebnis:Bereits eine sehr geringe Rationierung der Pflege bewirkte ein deutlicherhöhtes Auftreten von Medikamentenfehlern, Krankenhausinfektionen,Wundliegen und kritischen zwischenfällen (zum Beispiel durch zu spätesReagieren auf medizinische notfälle), gleichzeitig sank die PatientInnen -zufriedenheit stark.Derartige Pflegeeinschränkungen kommen teuer: In der Schweiz geht manallein jährlich von weit über 330Millionen Euro zusatzkosten durch teil-weise leicht vermeidbare Krankenhausinfektionen aus. (vgl. S. 39–40)

Personaleinsparungen kommen teuer

Im KAV arbeiten etwa 30.000 Menschen. ExpertInnen schätzen allerdings,dass schon jetzt an die 10Prozent Personal im Gesundheitswesen fehlen. Diefehlenden Stellen werden jedoch nicht nachbesetzt, sondern es wird ver-sucht, sie durch übertragungsleistung und Arbeitsverdichtung auszuglei-chen. So entstehen dem KAV durch Burn-out und teure überstunden jährlichKosten von etwa 432,9 Millionen Euro – das sind immerhin 18 Prozent desjährlichen Gesamtbudgets. Günstiger wäre es, nachzubesetzen. (vgl. S. 39)

Kostenexplosion im Gesundheitssystem ist ein Mythos

Es stimmt zwar, dass sich die Ausgaben im Gesundheitssystem in Österreichzwischen 1990 und 2013 verdreifacht haben, allerdings ist das Bruttoinlands-produkt (BIP) in dieser zeit ähnlich gewachsen. Der Anteil der staatlichenAusgaben für das Gesundheitswesen am österreichischen BIP ist in den letzten gut fünfundzwanzig Jahren also tatsächlich nur moderat gestiegen,von 8,4Prozent im Jahr 1990 auf 9,8Prozent im Jahr 2000 und schließlich auf10,8Prozent des BIPs im Jahr 2013 (Quelle: Statistik Austria).Es hat also bisher keine Kostenexplosion stattgefunden, weder durch demographischen Wandel, noch durch den medizinischen Fortschritt.(vgl. S. 37–38)

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Gewerkschaft & Betrieb

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„Sehr geehrter herr Kapsch!Gemäß dem Bericht des Standard vom 17. Juni 2016 sei einer Ihrer Arbeits-

schwerpunkte in der kommenden Periode ein flexibleres Arbeitsrecht. Außer-dem können Sie sich vorstellen, dass die Arbeitszeit „bis zu zwölf stunden proTag“ möglich sein solle „das tut niemandem weh“!

Uns KIVlerInnen tut so viel Präpotenz auf jeden Fall weh.Ihnen tut die lange Arbeitszeit natürlich nicht weh. Auch nicht den meisten

anderen ArbeitgeberInnen, die ja durch die lange Arbeitszeit der Arbeitnehmer -Innen profitieren, indem sie mehr an Profit für sich herausholen können.

Ob den ArbeitnehmerInnen eine solch lange Arbeitszeit weh tut, könnten Sie,sehr geehrter herr Kapsch, nur beurteilen, wenn Sie es selbst ausprobieren,zwölf Stunden zu arbeiten, zum Beispiel am Bau, hochofen oder Fabrik, in derPflege, im handel – möglichst an mehreren Tagen hintereinander . Dabei könn-ten Sie sich auch die Frage stellen, wie Sie nun Ihre Kinder versorgen und wieSie eine Beziehung zu Ihren Familienmitgliedern haben sollen.“

Warum die ArbeitgeberInnen eine Verlängerung des Arbeitstages wollen: DieArbeitnehmerInnen setzen durch ihre Tätigkeit den Waren oder RohstoffenWert zu. Dieser zusätzliche Wert bleibt an und für sich den ArbeitgeberInnenund BesitzerInnen der Produktionsmiel – die ArbeitnehmerInnen erhaltenlediglich jenen Wert in Form von Lohn, der dem Wert ihrer wiederherzustellen-den Arbeitskra entspricht – das heißt sie erhalten die Möglichkeit, durch denLohn Lebensmiel, Miete und vielleicht noch etwas für Bildung und Kultur fürsich bezahlen zu können – aber auch nicht mehr. Von ihrer Abhängigkeit,Monat für Monat ihre Arbeitskra den ArbeitgeberInnen zur Verfügung stellenzu müssen, können sie sich niemals befreien. Je länger der Arbeitstag, umsomehr erschaffen die ArbeitnehmerInnen durch ihre Arbeit Wert und ein umsogrößerer Teil dieses Wertes verbleibt den ArbeitgeberInnen, da der Wert derArbeitskra ja durch die Verlängerung des Arbeitstages nicht steigt (siehe „DasKapital“ von Karl Marx: „Der Arbeitslohn“ und „Der Arbeitstag“).

Was uns KIVlerInnen übrigens auch noch wundert, ist, dass bei solchen Aus-sagen von den Sozialdemokratie weder ein Aufschrei noch sonst eine Bemer-kung zu hören ist. Was ist los? zu viel Verständnis seitens der Sozialdemokratiefür das Bedürfnis der ArbeitgeberIn, sich an der Arbeit der ArbeitnehmerInnennoch mehr bereichern zu wollen? ◀

Gerda Pastyrik, KIV/UG, Dienststellen-Vorsitzende in Innsbruck.

„Das tut niemandem weh“Arbeitszeit bis zu zwölf Stunden am Tag. Offener Brief an Georg Kapsch,

Präsident der Industriellen vereinigung. Von Gerda Pastyrik.

übrigens wurde der 8-Stunden-Arbeitstag zum ersten Mal beim Genfer Kongress der Inter -nationalen Arbeiterassoziation 1866 unter Mitwirkung von Karl Marx und Friederich Engelsgefordert. In der weiteren Folge setzt sich die (damalige) sozialdemokratische Arbeiterparteifür die Reduzierung der Arbeitszeit ein. In Deutschland und Österreich ist der 8-Stunden-Tagseit 1918 gesetzlich vorgeschrieben (Warum? Weil die Regierenden erkannten, dass miterschöpen und kranken ArbeitnehmerInnen kein Profit zu machen ist).

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Gewerkschaft & Betrieb

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Die nach mehr als zwanzig Jahrenund auf dem außergewerkschalichenRechtsweg erreichte Bestätigung derFraktionsanerkennung war und istMotivationsschub für parteiunabhän-gige Gewerkschasarbeit im öffent -lichen Dienst und in den ausgeglieder-ten Betrieben.

Wir haben heute dank vieler aktiverKollegInnen und ihrer WählerInnen inPersonalvertretung, Betriebsräten undGewerkscha unsern Fuß in der Tür,die einen Spaltbreit offener gewordenist für eine offensive, solidarische undder Basis verbundene GewerkschaÖffentlicher Dienst (GÖD).

Die Fraktionsanerkennung bringtden Unabhängigen Gewerkschaer -Innen im der Gewerkscha Öffent -licher Dienst für die Arbeit ihrer Per-sonalvertreterInnen, Betriebsrätinnenund GÖD-FunktionsträgerInnen ver-besserte handlungsmöglichkeiten imRahmen der Gewerkscha ÖffentlicherDienst und auch mehr Ressourcen.

Die Bilanz über ein Jahr partei -unabhängiger Fraktionsarbeit imGÖD-Vorstand und im Frauenaus-schuss kann sich sehen lassen. Wirtragen Monat für Monat aktuelleAnliegen von KollegInnen aus Dienst-stellen und Betrieben in den Vorstandder GÖD und sorgen für Diskussion,stellen Anträge und geben Anregun-gen zu Aktivitäten fürs Durchsetzenvon Arbeitnehmer Innen-Interessen.

Unsere wichtigstenForderungen undPositionen:

Stopp der Austeritätspolitik der•Europäischen Union – fürzukunsinvestitionen in sozialeSicherheit, Bildung, Forschungund Kultur, Gesundheit und diedazu notwendigen Arbeitsplätzeim öffentliche Dienst und denausgegliederten Betrieben – fürAktionen mit Österreichischenund Europäischen Gewerk-schasbund

Diesbezüglich haben wir auch einenAntrag in den Vorstand der Gewerk-scha Öffentlicher Dienst eingebracht:

Der GÖD-Vorstand unterstützt dieAufforderung von ÖGB-VorsitzendenFogler an Bundeskanzler Kern, aufEbene der Europäischen Union für dieLockerung der restriktiven Budget -richtlinien und für zukunsinvestitio-nen der öffentlichen hand einzutreten.zu notwendigen zukunsinvestitio-nen gehören die dem Gemeinwohl dienenden öffentlichen Dienste + aus-gegliederten Betriebe – insbesonderedie in Bildung, Kultur, Forschung,Gesundheit und Soziales.

Stopp der restriktiven Budget -•politik – für soziale Umverteilungdes gesellschalichen Reichtumsdurch Vermögens- und Erbschas-steuern, Kapitaltransaktions -steuern, Wertschöpfungsabgabe Für Verbesserung der Arbeits -•bedingungen und damit der alität öffentlicher Dienste –Stopp den prekären Arbeitsver-hältnissen, der Arbeitslosigkeit,den zukunsängsten von Jungenund Alten, Frauen und Männern,

InländerInnen, AusländerInnen,FlüchtlingenFür eine solidarische Lohn-•und Gehaltspolitik der Gewerk-scha Öffentlicher Dienst, fürInflation, Wirtschaswachstumund steigende Arbeitsanforderun-gen abgeltende Gehalts- undLohn politik – Mindestlohn1700Euro bruo Für eine offensive, die Kolleg -•Innen informierende und mobili-sierende demokratische Gewerk-scha öffentlicher Dienst – unab-hängig von Parteipolitik, Partei-freunden, öffentlichen Dienst-und Arbeitgebern, auch von Lan-deshauptleuten – Stopp jeder par-teipolitischen Instrumentalisie-rung der Gewerkscha Öffentli-cher Dienst und ihrer Ressourcen zusammenarbeit aller Fraktionen•auf Augenhöhe – für transpa-rente, den KollegInnen verant-wortliche, den Ergebnissen demo-kratischer Personalvertretungs-wahlen und den Betriebsrats -wahlen im ausgegliedertenBereich entsprechende nutzungder GÖD-Ressourcen.

Demokratie leben

Wir haben die „schwarze“ paterna-listische „Vorsitzenden-gewerkscha“ein wenig bunter und demokratischergemacht. Wir bleiben dran. ◀

Beate Neunteufel-Zechner,GÖD-FrauenausschussReinhart Sellner, GÖD-Vorstand.

Ein Jahr parteiunabhängigeGewerkschaftsarbeit

Im Vorstand der GÖD und

im GÖD-Frauenausschuss.

Von Beate neunteufel-Zechner

und Reinhart sellner.

Join the Union

Change the Union!

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Seite 22 • Alternative Juli/August 2016

Thema

iele Sozialorganisationen, nGOs und zivilgesell-schaliche Initiativen haben sich über die letzten

Wochen und Monate engagiert, um diese Kürzungabzuwenden. Auch SPÖ und die Grünen haben sich

klar gegen diese Änderung positioniert. Doch wederDemonstrationen, Petitionen noch persönliche Gesprächevermochten die sae Beschlussmehrheit von ÖVP und FPÖzu verhindern.

Nun ist sie also beschlossen,die „Mindestsicherung Neu“

Das klingt modern. Den Begriff Kürzung verwendet dieÖVP in ihren Stellungnahmen gar nicht. Die Sprache inder österreichweiten Diskussion um die BedarfsorientierteMindestsicherung ist bemerkenswert, denn es fällt auf,dass das Wort „bedarfsorientiert“ immer häufiger weg -gelassen wird. Die Rede ist also von Mindestsicherung, diedamit zu deckenden Bedarfe werden ausgespart – imwahrsten Sinne des Wortes.

Und ohne Bezug zu Bedarfen und grundlegendenBedürfnissen bleibt der Begriff „Mindestsicherung“ eineabstrakte Formulierung. Dass beispielsweise die durch-schnilichen Kosten alleine für den Wohnbedarf pro Person in Oberösterreich mehr als vierhundert Euro imMonat betragen, wird ausgeblendet.

Denn wenn in der Kommunikationspraxis der Bezug zurLebenswirklichkeit systematisch verweigert wird, erhöhtdas die Akzeptanz für die Kürzungen der Regierungs -koalition in Oberösterreich.

Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung wurde eingeführt, um jene Menschen, die ihren Bedarf nicht auseigener Kra decken können, vor Armut zu schützen undihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Wieder Wortlaut schon beschreibt, bietet sie ein Mindestmaßan existenzieller Absicherung.

Die Unterschreitung eines Mindestmaßes, das eine not-dürige (= kaum ausreichende) Existenz ermöglichen soll,bedeutet logischerweise die Schaffung von notleidenden

Existenzen. Das widerspricht eindeutig der zielsetzung desOberösterreichischen Mindestsicherungsgesetzes.

Auch nicht-ÖsterreicherInnen müssen ihren Lebens -unterhalt bestreiten und haben die gleichen Ausgaben wieÖsterreicherInnen. Die Chancen auf Integration schwinden,wenn der Kampf um die tägliche Existenzsicherung alleKra braucht.

Arbeitsanreiz oder Schikane?

Eine der Begründungen für die Kürzungspläne ist eindamit verbundener verstärkter „Anreiz“ zur Arbeitsauf-nahme, wenn die Mindestsicherungsleistungen zum Lebennicht ausreichen. Angesichts der gegenwärtigen Rekord -arbeitslosigkeit ist das höchst unrealistisch.

Auch zeigen alle Erfahrungen, dass eine Arbeitsmarkt -integration von Geflüchteten zeit braucht – bedingt durcherliene Traumatisierungen, Erfordernis des Sprach -erwerbs, Abklärung vorhandener beziehungsweise fehlender alifikationen etc. Eine Kürzung der Mindest -sicherung wird an dieser Sachlage nichts ändern. Und:Schikanen schaffen keine Arbeitsplätze.

Der Begriff des Daueraufenthaltes in der „sozialen hängemae“ ist von ÖVP und FPÖ (nicht nur in Ober-österreich) längst eingeführt. Arbeitsunwilligkeit wirdgenerell unterstellt, ebenso der Bezug von Sozialleistungenals Dauereinkommensquelle und die künige Unfinanzier-barkeit des Sozialsystems. Diese verkürzte Darstellung entspricht nicht der Wirklichkeit, schürt neid und Miss-trauen und wirkt entsolidarisierend. Die seitens der Politikverlangte Integration von Geflüchteten wird dadurcherschwert – nicht zuletzt wegen der steigenden Vorbehalteder Aufnahmegesellscha.

Zuerst die Geflüchteten, dann die anderen?

zurzeit dominiert das ema der Mindestsicherungs -kürzungen für anerkannte Flüchtlinge und subsidiär

über drei Stunden dauerte die Diskussion am 16. Juni im Landtagüber die Kürzung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung für Flüchtlinge und subsidiär

Schutzberechtigte (=Personen, deren Asylantrag zwar abgewiesen wurde,aber deren Leben oder Gesundheit im herkunftsland bedroht wird). Von Josef Pürmayr.

WO BLEIBT DIEBEDArFSOrIENTIErUNG?

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Schutz berechtigte die politische Debae. In einer von ÖVPund FPÖ betriebene und vom Oberösterreichischen Land-tag beschlossene Resolution wird die Begrenzung von Mindestsicherungsleistungen für Mehrpersonenhaushaltemit maximal 1500Euro pro Monat angestrebt.

Andere Bundesländer ziehen hier bereits mit. Insbeson-dere die zukuns-Chancen von Kindern der betroffenenhaushalte würden darunter leiden – das soziale Milieu zuverlassen würde deutlich schwieriger. nach Einschätzungdes Armutsnetzwerks Oberösterreich wird es nicht bei dengeplanten Mindestsicherungskürzungen für anerkannteFlüchtlinge bleiben. 

Können wir uns das leisten?

nur dreiProzent der in Österreich lebenden Menschenbeziehen Mindestsicherung, mehr als zwei Driel davonbeziehen die Mindestsicherung nur als Aufstockungs -leistung auf ein zu geringes Erwerbseinkommen odersonstige Einkommensarten.

Lediglich ein Prozent bezieht die volle Mindestsicherung.Die Kosten für die Mindestsicherungs-Geldleistungen einschließlich der Krankenhilfe machten 2014 nur rund0,7Prozent der gesamten Sozialausgaben aus.

Die Mindestsicherung sprengt daher keinesfalls das Budget. Kürzungen würden nur geringe unmielbare Einsparungen bewirken, aber weitaus höhere sozial- undgesellschaspolitische Folgekosten auslösen. Wollen wiruns das leisten?

Wohnen – weitere Hindernissefür Flüchtlinge sind geplant

Im Oberösterreichischen Regierungsübereinkommenvon ÖVP/FPÖ ist eine gesetzliche Regelung vorgesehen,wonach Dristaatsangehörige (Personen in Österreich, dieweder EU/EWR-BürgerInnen und auch keine Schweizer -

Innen sind) künig 54 Monate Einkommen beziehungs-weise Sozialversicherung in einem zeitraum von sechzigMonaten nachweisen müssen, um eine Anspruchs -berechtigung auf geförderte Wohnungen zu haben.

Anerkannte Flüchtlinge werden davon massiv betroffensein. Wenn der zugang zu geförderten Wohnungen ver unmöglicht und die Mindestsicherung im beschrie -benen Ausmaß gekürzt wird, wird angemessenes Wohnenunmöglich. Prekäre Wohnformen und Obdachlosigkeitwerden kräig steigen.

Geparkt

Aber den regierenden Parteien ist offenbar bewusst, dassmit der „Mindestsicherung neu“ ein selbständiges Leben inOberösterreich nicht möglich sein wird. Sie sehen daherdie Möglichkeit vor, dass anerkannte Flüchtlinge für weitere zwölf Monate im Flüchtlingsquartier bleiben kön-nen. Die Grundversorgung würde dann praktisch verlän-gert, sie erhalten auch nicht die 560Euro. Sie sollen gleichsam geparkt werden, ein breites Sichtbarwerden inder Öffentlichkeit scheint nicht erwünscht. Integrations-förderlich ist das nicht, im Gegenteil! ◀

Josef Pürmayr ist Geschäftsführer der SozialplattformOberösterreich, einem Netzwerk von Sozialorganisationen inOberösterreich, und Mitglied im ArmutsnetzwerkOberösterreich

INFOBOXDie „Mindestsicherung neu“ für befristete Asyl -berechtigte und subsidiär Schutzberechtigte sieht künftig monatlich 560Euro netto für Einzelpersonen vor.Dieser Betrag setzt sich zusammen aus 365 Euro für Verpflegung und Wohnen, 155Euro Integrationsbonusund 40 Euro Taschengeld.

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Prekäre

Wohnformen

und 

Obdachlosigkeit

werden 

kräftig

steigen

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Thema

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Niederösterreich ist leider ganz vorndabei, wenn es um sozialpolitischeRückschrie wie die Kürzung derMindestsicherung geht. Doch was kostet die Mindestsicherung tatsäch-lich? Und wie geht unsere Gesellschamit Menschen um, die unsere Unter-stützung brauchen?

Was kostet dieMindestsicherungwirklich, am BeispielNiederösterreich:

In niederösterreich bekamen 2015insgesamt 27.000 Menschen Mindest -sicherung, also weniger als 1,5Prozentder Bevölkerung. zwei Driel davonwaren sogenannte „AufstockerInnen“,Menschen mit zu geringem Arbeits-einkommen. Vielfach sind Kinder vomniedrigen Einkommen betroffen.

Im Landesbudget schlägt sich dieMindestsicherung mit gerade Mal0,5Prozent nieder – beim momenta-nen Stand wird jede österreichischeSteuerzahlerIn pro Monat mit2,90Euro für die Mindestsicherungbelastet! Österreichweit schätzt man,dass mit den Kosten der Banken -reung 31 Jahre Mindestsicherungfinanzierbar ist. Wieso sollte also nurGeld für die Bankenreung da sein,aber nicht für Menschen?

Wie geht unsere Gesellscha mitMenschen um, die Unterstützungbrauchen?

Wer (aus welchen Gründen auchimmer) für längere zeit aus demArbeitsleben rausfällt, kann mit838Euro im Monat für Einzelpersonenoder 1256,64Euro für (Ehe)Paare undknapp 200Euro pro Kind bestenfallsdie Grundbedürfnisse decken.

Sinn und zweck der Mindestsiche-rung ist es, den BezieherInnen zumin-dest ein Grundmaß an Sicherheit zubieten. Die Grenze zur Armutsgefähr-dung (laut EU2020-Strategie) liegt inÖsterreich derzeit bei einem Monats-einkommen von rund 1200Euro proPerson – das heißt Mindestsicherungs-

bezieherInnen sind massiv armuts -gefährdet. Eine Reform ist daher tatsächlich unumgänglich!

Ist es nötig, Menschen die aus demArbeitsmarkt herausfallen, dafür zubestrafen? Oder wollen wir ihneneinen vernünigen Lebensstandardohne Wenn und Aber als Selbstver-ständlichkeit zugestehen?

Missbrauchund Lohnhöhe:

Gerne wird von GegnerInnen derMindestsicherung argumentiert, sie seieine „soziale hängemae“, die zumnichtstun verleitet, weil ja vieleErwerbseinkommen auch nicht höhersind. Tatsächlich gibt es in vielenBereichen Löhne, die unter derSchwelle zur Armutsgefährdung liegen! Die herausforderung ist also,

dringend auch die unteren Erwerbs-einkommen zu erhöhen. Das geht aberbeim „Ausweichthema“ Mindestsiche-rung unter. Löhne zu erhöhen istdurchaus realistisch, siehe die gestie-gene Wirtschasleistung und Produk-tivität; die Gewinne der Konzerne, diean den Steuern vorbei geführt werden;unproduktive AktionärInnen, die hoheAusschüungen erhalten etc. DerUmkehrschluss zur „hängemaen-theorie“ ist auch, dass Mindestsiche-rung Arbeitsrechte sichert und Dumpinglöhne verhindert.

Eine Erhöhung der Mindestsiche-rung wäre durchaus finanzierbar. Aberder zugang zum Arbeitsmarkt, einegerechtere Verteilung von Arbeit undEinkommen, eine „menschliche“Arbeitswelt sind emen, die damitverknüp sind und bestimmen, wieviele Menschen die Mindestsicherungin Anspruch nehmen müssen. Min-destsicherungsbezieherInnen müssenund sollten nicht Opfer der verfehltenBeschäigungs-, und Verteilungs-Politik der letzten Jahre werden! Undauch nicht dem Versuch zum Opferfallen, die Rechten rechts zu überholen.Sinnvolle Reformen, die Menschen ausnotlagen helfen, sind bei genügendpolitischem Willen durchaus möglich.

Es braucht damit eine Verbesserungder Mindestsicherung, die hand inhand gehen muss mit einer gerechte-ren Verteilung sowohl von Arbeit alsauch von Einkommen undVermögen. ◀

Reformbedürftig

Seit einigen Monaten wird

unter dem Deckmantel der

„Flüchtlingskrise“ wieder

heftig über die

Mindestsicherung

diskutiert. Von stefan Taibl.

Page 25: Alternative Juli/August 2016

Thema

Seite 25 • Alternative Juli/August 2016

Angesichts steigender Arbeitslosig-keit und der wachsenden zahl lang-zeitarbeitsloser Menschen braucht esnicht nur Initiativen für mehr Beschäf-tigung, sondern auch Maßnahmen, dieBetroffenen gegen Armut abzusichern.

Jährliche Wertanpassungvon Arbeitslosengeld undNotstandshilfe

So fordern die „Alternative undGrüne GewerkschaerInnen / Unab-hängige GewerkschaerInnen“(AUGE/UG) in einem entsprechendenAntrag die Wiener Arbeiterkammerauf, für eine Wertanpassung vonArbeitslosengeld und notstandshilfeaktiv zu werden. Unter schwarz-blauwurde die Valorisierung – also diejährliche Wertanpassung – desArbeitslosengelds abgescha, wasinsbesondere Langzeitarbeitslose massiv tri.

Gerade in Krisenzeiten steigt  diezahl der Langzeitarbeitslosen beson-ders, zuletzt auf über hundertsechzig-tausend Betroffene. Der Kauraver-lust durch die nicht-Anpassung ver-

schär die ohnehin bereits besondersprekäre finanzielle Situation derBetroffenen einmal mehr. Mit einerjährlichen Valorisierung von Arbeits-losengeld und notstandshilfe könnteArmut entgegengewirkt werden.

Weiterentwicklungder Mindestsicherungzu einer bedarfs- undlebenslagenorientiertenGrundsicherung

zusätzlich beantragt die AUGE/UGeine Weiterentwicklung der bedarfs-

orientierten Mindestsicherung inRichtung einer lebenslangen- undbedarfsorientierten Grundsicherung:Die Mindestsicherung muss auf dietatsächliche Armutsgefährdungs-schwelle angehoben werden und auchin spezifischen Lebenslagen – etwa zuWeiterbildungszwecken, bei familiärenProblemlagen, bei einer beruflichenneuorientierung oder zur Burnout-Prävention – in Anspruch genommenwerden können.

Eine klare Absage erteilt dieAUGE/UG allen Kürzungsplänen. Daswürde nicht nur dem Anspruch wider-sprechen, armutsvermeidend zu wir-ken, sondern wäre auch ökonomischdumm, weil dadurch Konsum undnachfrage geschwächt würden – unddas ausgerechnet bei Gruppen, die tatsächlich jeden Euro ausgeben, densie bekommen.

Es braucht vielmehr die Ausstaungder Grundsicherung mit Rechtsan-sprüchen, etwa auf Ausbildung undalifikation. Eine „Grundsicherungneu“ soll stärker präventiv gegenArmutsgefährdung wirken, nicht erstim eintretenden Fall. Insbesondere sollauch beim Einstieg ins Berufslebenoder bei beruflichen Orientierungs-phasen ein Anspruch auf Grund -sicherung bestehen.

Gemeinsamer Antraggegen vorläufigeAnwendung von CETA

Erfreulich ist die Beschlussfassungeines gemeinsamen Antrags gegen dasKanada–EU-handels- und Investiti-onsabkommen „CETA“ und dessenvorläufige Anwendung.

In diesem fordert die Arbeiter -kammer Regierung und Parlaments-parteien auf, CETA nicht zuzustimmenund die Regierung durch einen Parlamentsbeschluss entsprechendzu binden. Mit CETA droht TTIP überdie hintertür.

Dass über Fraktionsgrenzen hinwegEinigkeit in der Ablehnung besteht,erhöht jedenfalls den Druck auf Regie-rung und Politik, auch auf EU-Ebeneklar gegen CETA aufzutreten. ◀

Mindestsicherung undArbeitslosengeld

Im Rahmen der

166.Vollversammlung der

Arbeiterkammer Wien

fordert die AUGE/UG

wirksame Maßnahmen zur

Bekämpfung von Armut

und Ausgrenzung.

Von Klaudia Paiha.

Page 26: Alternative Juli/August 2016

Buch

Seite 26 • Alternative Juli/August 2016

Verbindungen zwischenGeschichte undGegenwart neu ausloten

Gratulation an die herausgeberin JoSchmeiser und an Richard Ferkl(Design), denn „Conzepte“ wurde 2015als eines der schönsten Bücher Österreichs ausgezeichnet!

Doch vorab: Das Buch liest sichnicht wie ein Roman, den man vonAnfang bis Ende durchdringt, sondernfolgt, wie der name schon verrät,einem (anderen) Konzept. Im Rahmendes Projektes „Conzepte“ entstandenseit 2011 Texte, die sich auf historischeellen beziehen. Das sind Texte wie

„Strange Fruit“ von Billie holiday, „Diegrößere hoffnung“ von Ilse Aichinger,

„Das andere Geschlecht“ von Simonede Beauvoir, „Besuch in Deutschland“von hannah Arendt, „My Calling(Card) #1 and #2 und „Privilege“ vonyvonne Rainer. Auf den ersten Blicknichts Ungewöhnliches. Doch „Con-

zepte“ versteht sich als textuellesKunstprojekt, welches Denkräumeund Bezugnahmen eröffnet. emenwie Rassismus, Antisemitismus undSexismus, die der Geschichte zuzuord-nen sind, werden in die Gegenwartgeholt und unter aktuellen Gesichts-punkten beleuchtet. Spannend ist dieBezugnahme jeweils zweier AutorIn-nen, KünstlerInnen, Wissenschaler -Innen oder MusikerInnen auf einenText und das Einnehmen gegensätzli-che Positionen zu einem emenfeld.

Schreiben alspolylogischer Prozess

Jo Schmeiser definiert Schreiben„als polylogischer Prozess“(S. 274) undgeht dabei den Fragen nach: „Wiepositionieren sie sich jeweils zu demhistorischen Text? Und wie kommuni-zieren dann die beiden neu geschrie-benen Texte miteinander?“ (S. 274).

Die beschriebene herangehensweise,die raumzeitlich bezeichnet werdenkann, „ermöglichte eine herstellungvon Verbindungen zwischen histori-schen und gegenwärtigen Orten“, hobnicola Laure´al Samarai, Autorin undRedakteurin bei Conzepte, hervor.Weißsein als realweltliches Erfah-rungs- und handlungsmoment wirdvon ihr untersucht und reflektiert.Resümierend stellt sie fest, dassSchwarze oder Jüdische emen vonweißen Personen okkupiert werden.Weitere Autoren sind: Jamika Ajalon,Lilly Axster, Dagmar Fink, hannahFröhlich, Belinda Kazem, Monika Bernold, Rubia Salgado, DominikKamalzadeh und andere. Idealerweiseergänzend wirken die von OctavianTraumannsdorff und Jasmin Trabichler erstellten Foto-Porträts derKünstlerinnen am Ende des Buches.Ein umfassendes Werk liegt vor, eineEinladung zur Auseinandersetzungmit unbequemen emen und Fragen,gleichzeitig ein Imperativ für unkonventionelle (kollektive) Arbeits-und Denkweisen! ◀

Rezension: Cornelia Stahl, Radio Orange,„Literaturfenster Österreich“

Conzepte – Neue Fassungen politischen Denkens.

Herausgeberin: Jo Schmeiser.

Wien: Zaglossus-Verlag. 2015.

ISBN: 978-3-902902-33-7

Page 27: Alternative Juli/August 2016

Buch

Seite 27 • Alternative Juli/August 2016

Der Autor ist vielleicht noch KPÖ- Mitgliedern und SympathisantInnenbekannt, der vor etwa 20 Jahren die IBG(Innovatives Betriebliches Gesundheits-management Gmbh) gründete, dienachwievor an der Umsetzung einerhumanökologischen Arbeitswelt arbei-tet. In dem Buch stellt der Autor diesesPrinzip des human ality Manage-ments (hQM) für verschiedene Arbeits-situationen aus mehreren Gesichts-punkten dar. Ausgehend vom ursprüng-lichen Beruf des Autors als Facharzt fürPsychiatrie und neurologie, als Psycho-therapeut und Arbeitsmediziner ist fürihn das umfassende Wohl des Werk -tätigen anzustreben.

Sowohl für die abhängigen Arbeit-nehmerInnen als auch für die Manager -In und UnternehmerIn trägt die Verwirklichung intrinsischer Wertewesentlich zum Wohlbefinden bei,wofür Rudolf Karazman auf vier Bedin-gungen auaut: die soziale Wirksam-keit der Kooperation am Arbeitsplatz,die persönliche Sinnhaigkeit der Tätig-keit, gesundheitsfördernde Arbeitsbe-dingungen und die Anteilnahme amManagement zur zusammen-Führungfür kurz- und langfristig sinnvolle ziele.Eine humanökologische Arbeitsgestal-tung basiert auf der sozialen Einbindungdurch Kommunikation, der Selbstver-wirklichung mit Kompetenz und einergesund erhaltenden Arbeitsbewältigung.Das resultierende Arbeitsvermögen derWertschöpferInnen kann durch einepersonenzentrierte zusammen-Führungbestmöglich für das Erreichen derUnternehmensziele genützt werden.Ein(e) ManagerIn kann die Produktivitätzu einem Optimum dirigieren, wenn dieFähigkeiten genutzt werden, Arbeits -zufriedenheit erzeugt wird, Ausfälledurch Krankheit reduziert werden undinnere Kündigung gar nicht erwogenwird. Der Autor stellt den aktiven Stressals positiv für kurzfristige Leistungs-steigerung dar, wenn diese Periodendurch Erholungsphasen ausgeglichenwerden. Andauernder, passiver Stress

ständiger überforderung, aber auchdurch Unterforderung, soziale Barrierenund sinnentleerte Tätigkeiten machenjedoch krank und reduzieren dasArbeitsvermögen.

Besondere Bedeutung misst der Autorder Flexibilisierung der Arbeitsorgani-sation für alternde MitarbeiterInnen bei,

um deren Stärken zu nutzen und derenSchwächen anzuerkennen. Die Arbeits -anforderungen sollen der Arbeitsfähig-keit entsprechen, wofür auch Ergono-mie und Arbeitszeitgestaltung anzupas-sen sind. Das hQM kann auch einge-setzt werden, um ImmigrantInnen zuintegrieren, was besonders über dieErwerbsarbeit gelingen kann, um dieTraumata der Emigrationsursachen undder Immigrationsprobleme, sowie derAnpassung an die Arbeitswelt zu ver-arbeiten und womöglich zu heilen.

Dem Betriebsrat wird die Rolle einerhumanökologischen alitätsprüfungzugeschrieben. Von den Betriebsärzt -Innen wünscht er sich proaktive Men-schenverträglichkeitsprüfung derArbeitsverhältnisse in der nach hQMdargestellten Gesamtheit. Das nachhal-tige Arbeitsvermögen eines Unterneh-mens stellt seinen eigentlichen Wert dar,es wird aber nur die Wirtschasbilanzveröffentlicht. Rudolf Karazman ver-

langt, dass Unternehmen nach derhumanbilanz bewertet werden und dassInvestitionen ins Arbeitsvermögenebenso steuerlich abschreibbar sein soll-ten wie Maschinen. Das übliche Con-trolling der Kosten sei durch ein Kost-barkeits-Controlling der Wertschöpferzu ergänzen, wofür das Buch auch Indikatoren angibt.

Der Autor stellt die betriebswirt-schaliche Bedeutung der Arbeitsweltin Bezug zur Volkswirtscha, die eben-falls von der Produktivität der Betriebe,der Gesundheit der Erwerbstätigen profitiert. Darüber hinaus kann sicheine humanökologische Transformationder Wirtschasregeln anbahnen, die die

Unternehmen dazu bringt,nicht nur den eigenenBetrieb nach hQM aus -zurichten, sondern diesauch von den Unterneh-men der Wertschöpfungs-kee zu verlangen. Das istein wertvoller Aspekt fürden derzeit in Vorberei-tung befindlichen Geset-zesentwurf über dieBerichtspflicht zu nicht-Finanziellen Indikatorengroßer Unternehmen, ins-besondere staatlicherOrganisationen.

Das Buch konzentriertsich auf die Erwerbsarbeit,aber weist auch auf die

Einflüsse auf das Privatleben hin. Einemenschengerechte Erwerbstätigkeit för-dert die übrigen Tätigkeitsbereiche derMenschen, wie familiäre Beziehungenund haushaltsarbeit, kreative Eigen -arbeit und engagierte, gesellschalicheTeilhabe. Wenn die letzteren drei Tätig-keitsbereiche an Bedeutung und Raumgewinnen, kann - meiner Meinung nach- die Erwerbsarbeit mit weniger Stressgestaltet werden.

Das Buch beschreibt keine Sozialro-mantik, sondern eine Vision, die hoff-nung und Anregungen für Personal-managerInnen, BetriebsrätInnen, Ver-treterInnen der Sozialpartner, Arbeits-medizinerInnen, ArbeitnehmerInnenund Bildungseinrichtungen für einehumanökologische Transformationder Arbeitswelt gibt. Es werden auchkonkrete Beratungserfolge in öster -reichischen Betrieben angeführt. ◀

H. Peter Degischer, em.o.Univ.Prof.

Statt entfremdender Arbeit gemeinsame, sinnstiftende Erwerbstätigkeit

Human Quality Management – Menschengerechte Unternehmensführung

Rudolf Karazman, Springer-Gabler Verlag 2015

Page 28: Alternative Juli/August 2016

Buch

Seite 28 • Alternative Juli/August 2016

Milde Autorin der Idylle, Dichterin derGüte, müerliche, mitleidige, tierliebendeMatrone, diese Etikeierungen ließenMarie von Ebner-Eschenbachs Werkenach ihrem Tod bald verstauben. Wassehr zu bedauern ist, denn diesezuschreibungen verfehlen sie ganz undgar. Dabei war sie selbst nicht ganzunschuldig daran, hae sie doch ihremBiographen Anton Beelheim ihr Tage-buch von allen Ecken und Kanten befreitzur Verfügung gestellt.

Marie von Ebner-Eschenbach, gebo-rene Gräfin Dubsky, hae sich als Dich-terin ihrer zeit gegen ein ganzes heerdurchzusetzen, das mit ihrem Aphoris-mus „Eine kluge Frau hat MillionenFeinde, alle dummen Männer“ nur ange-deutet ist. Sie kämpe gegen die Ableh-nung ernster Beschäigung weiblicherWesen, gegen die Wissenslücken durcharistokratische Erziehung – Blau-strumpf war ein Schimpfwort –, gegenFamilien- und Gesellschaspflichtenlangweiligster und aufwendigsternatur: „Ich kann nur arbeiten, wenn esnichts mehr zu tun gibt“, klagt sie. DieFreiheit, die ihr die Gesellschagewährte, konnte sie nur auf demRücken eines Pferdes ausleben, nachMöglichkeit, eines temperamentvollen.Aber Resignation ist ihre Sache nicht,Dulden, das der Frau als Tugend aufge-zwungen wird, ist ein Unrecht, dasDichtung nicht zulässt, so ihr Credo. Solenkt sie den Pegasus in scharfem Rials „Anwältin der Unterdrückten“*) sozi-alkritisch, mit beißender Adelsschelte,witzig, satirisch, sarkastisch, ohneScheu vor Tabubruch und ohne Angstvor Skandal. Die hürden, die sie dabeinimmt, werden von der Familie ungerngesehen, eine positive Literaturkritiklässt lange auf sich warten. Als ihrRoman Božena von der gefürchtetenKritikerin Bey Paoli gut rezensiert

*) Ruth Klüger: „Marie von Ebner-Eschenbach: Anwältin derUnterdrückten“, Rede im Rathaus am28.April 2016

wird, kommt sie sich vor, wie in Drachenblut gebadet.

Schon mit ihrem Frühwerk Franzens-bad, das vor allem ihre eigene Gesell-scha frech und satirisch aufs Kornnimmt, hae sie sich solchen Ärger ein-gehandelt, dass sie es später aus ihremWerkverzeichnis strich. In Das Gemein-dekind, Die spitzin, er laßt die Hand küs-sen sind es die Outlaws, die deren etab-lierte Gesellscha, egal ob Adel, Kircheoder Dorfgemeinscha ansta mitAnteilnahme und hilfsbereitscha mitMisstrauen bis zu Brutalität begegnet,von christlicher nächstenliebe ganz zuschweigen. Im Gemeindekind ist es einzig der atheistische Lehrer, der sichdes jungen helden annimmt. Außer -ordentlich realistisch und beklemmendschildert sie die Entwicklung von hetz-meuten, ein hartes ema, das von einerFrau nicht erwartet wurde. nein, Rühr-seligkeit ist Ebners Sache nicht, abermanche der doch in die nähe eineshappy Ends gehenden Schlüsse sindzugeständnisse an den Druck der Familie oder des Verlags.

Die Machtverhältnisse in einem Satz,die Verlogenheit in einem Wort, dieDummheit in einem Blick: Ebner-Eschenbachs Dorf- und Schloss -geschichten sind glasklare Beobachtun-gen der heuchelei der „Frommen“, derarroganten Dummheit des Adels, derUnterdrückung der Frauen in derGesellscha durch Gewalt und Doppel-moral, der hämischen Schadenfreudeselbst Unterdrückter gegenüber Ausge-grenzten, die wiederum ihre Verkrüp-pelung an Tieren auslassen. In dreiErzählungen beschäigt sie sich mitVergewaltigung und deren traumatischeund materielle Folgen – alle drei Frauenwerden schwanger –, die sie für denRest ihres Lebens zeichnen, währenddie Männer es als ihr Recht ansehenoder über eine gelungene Verführungtriumphieren. Und sie zeigt starkeFrauen, wie Božena, Dienstmagd undAmazone, Loi, die Uhrmacherin undGertrud, die engagierte Frau, die den

täglichen zumutungen in der Ehe nichtmehr begegnen will.

Den herausgeberinnen der vier -bändigen Ausgabe von Marie vonEbner-Eschenbachs Werken: EvelynePolt-heinzl, Daniela Strigl und UlrikeTanzer gebührt großer Dank für dieBergung dieses kostbaren Leseschatzessamt jeweils ausgezeichnetem Vorwort.Darüber hinaus befriedigt Daniela Strigldie neugier auf das Leben der bedeu-tendsten österreichischen Schristelle-rin des 19. Jahrhunderts mit der Ebner-Eschenbach-Biographie Berühmt seinist nichts. ◀

Eva Geber

Marie von Ebner-Eschenbach: 4 Bände im Schmuckschuber

hg.v. Evelyn Polt-Heinzl, Daniela Strigl und Ulrike Tanzer. 1400 Seiten,

Residenz Verlag, Salzburg 2015, 91,50Euro, Einzelbände 24,90Euro.

Daniela Strigl: Berühmt sein ist nichts.

440 Seiten, Residenz Verlag, Salzburg 2016, 26,90Euro

Die Machtverhältnisse in einem Satz, die Verlogenheit in einem Wort, die Dummheit in einem Blick

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Buch

Seite 29 • Alternative Juli/August 2016

Der letzte Weg desGroßvaters

Rückblende in die 60er und 70erJahre: Kosmonauten erobern denWeltraum. zeitgleich wird 1961 inBerlin die Mauer gebaut. Marion, Protagonistin des Buches „Risse imGesicht“, ist eng verwoben mit derGeschichte des Großvaters, wächst anseiner hand in diese zeit hinein.

Erzählt wird die Familiengeschichtedreier Generationen aus der Sicht derEnkelin Marion. Aufgewachsen mitMuer und Großmuer, erfährt sieerst, als sie mit ersten russischen Worten aus der Schule kommt, vonden Ereignissen, die im Mai 1945 überihre Familie hereinbrachen. In derDDR, in zeiten verordneter Deutsch-Sowjetischer-Freundscha, wurdendunkle Seiten der Roten Armee ver-schwiegen. Ohne Unterscheidung undohne Prozess wurden Männer zwi-schen 18 und 50 Jahren im Mai 1945 inKriegsgefangenenlager und anschlie-ßend zum Wiederauau in die Sow-jetunion verschleppt. Marions Groß -vater legt Weg von Magdeburg nachFürstenwalde zu Fuß zurück. EinLager auf dem Fabrikgelände, wozuvor noch Rüstungsproduktionenheiß liefen, wird zur Endstation. Kata-strophale hygienische zustände unddie Ausbreitung der Ruhr führten zurraschen Beerdigung der Lagerinsassenauf dem nahe gelegenen Friedhof imWald. Archivrecherchen der Autorin,2008, und Befragungen von histori-

kern ergeben nur unzureichendeBelege über das Lager in Fürstenwalde,über den Marsch und die Deportatio-nen aus den Gebieten östlich der Elbe.Sie begibt sich auf zeitzeugensuche.

Zeitzeugengesprächeschließen Lücken

Dank Unterstützung der MärkischenOderzeitung und der MagdeburgerVolksstimme konnte Renate Salerzeitzeugen finden. Mit hilfe derErzählungen konnte sie Lücken überden letzten Lebensabschni des Groß-vaters schließen, der damals 47 Jahrealt war. Wichtige Aulärungsarbeithat die Autorin geleistet! UngezählteSchicksale der Verschleppung durchsowjetische Soldaten 1945 sind gegen-wärtig noch ungeklärt. Renate Saler,geboren 1961 in Magdeburg, Studiumder Angewandten Kulturwissenscha.Seit 2007 freiberufliche Autorin, seit2011 Vorsitzende des Landesverbandesdeutscher Schristellerinnen undSchristeller, Sachsen-Anhalt. 2008erhielt sie ein Stipendium der Kunst-stiung Sachsen-Anhalt für ihr Buch

„Risse im Gesicht“. Empfohlen! ◀

Cornelia Stahl dankt dem Verlag EditionAV für die Bereitstellung desRezensionsexemplars.

Eine gekürzte Rezension des Buches„Risse im Gesicht“ erscheint inetcetera 63/2016

Renate Sattler: Risse im Gesicht.

Lich/Hessen: Edition AV, 2016; 201 Seiten.

ISBN: 978-3-86841-157-7

BEZUGSQUELLEfür alle Rezensionen:

FACHBUCHHANDLUNG des ÖGB-Verlags, Rathausstraße21, 1010 Wien

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Buch

m 12. Juni 2016 gingen die dreitägigen Kritischen Litera-turtage (KRILIT) in Wien zu Ende, die heuer leider nur

zirka 250 BesucherInnen zählten. Gut um die häleweniger als im Vorjahr, obwohl ein hochkarätiges

Programm geboten wurde. Isabelle Ourny (Verband Öster-reichischer Gewerkschalicher Bildung) eröffnete diealternative Buchmesse am 10. Juni und bezog sich in ihrerRede auf das Programmsujet, das Bild „La letrice soumise“(Die fügsame Leserin) von Rene Magrie, das eine lesendeFrau zeigt, die, anders als Vermeers „Brieflesendes Mäd-chen am Fenster“, nicht traurig, sondern erschrocken aufdas Gelesene blickt oder erschrocken ist über das soebenErfahrene. Ourny betonte in ihrer Eröffnungsrede dieemanzipatorische und aulä rerische Funktion des Lesens,Momente, die wachrüeln. Es sind Momente, die denzustand der Welt verändern können, wenn wir kritischlesen, nicht fügsam bleiben, uns dem Blick auf die Weltnicht entziehen, sondern offen sind für das Gelesene undPerspektivenwechsel zulassen.

Kritisch Lesen setzt Grundkompetenzen voraus

„Kritisch lesen erstaunt! Kritisch lesen entsetzt!“, betontIsabelle Ourny. Ein kritisches Lesen der GeschichteEuropas und Österreichs kann wahrlich entsetzen! Aberkritisch Lesen setzt Grundkompetenzen, wie Lesen undSchreiben, voraus. Laut einer Statistik verfügen 11Prozentder Erwachsenen in Österreich über niedrige Grundkom-petenzen. Diese betreffen vor allem Lesen und Schreiben,einschließlich mathematischer Kenntnisse. Die Fähigkeit,kritische Texte lesen und reflektieren zu können, setzt alsoviel früher ein. Besucher der KRILIT, die auch als linkeLiteraturmesse gilt, waren Menschen, die eher aus einkom-mensschwächeren Berufsgruppen kommend, nicht zu denzahlungskräigen KonsumentInnen gezählt werden kön-nen. Laut Aussage von Ulli Fuchs, Organisatorin derKRILIT, konnte das Antiquariat, wo preisreduzierte Bücherdas herz der BesucherInnen höher schlagen ließen undzum Kauf animierten, die meisten Umsätze verzeichnen.Weniger Einnahmen verbuchen konnten die sich präsen-tierenden kleinen Verlage, wie die Edition Tarantel, editionlex liszt 12, Verlagshaus hernals, Edition Das fröhlicheWohnzimmer, Septime-Verlag und andere.

(Kollektiv)-Lesungenund persönliche Begegnungen

zahlreiche Lesungen lockten BesucherInnen an, diezufällig vorbei kamen oder gezielt AutorInnen persönlichkennen lernen wollten. herausragend und spannenderlebte ich die Lesung des zaglossus-Verlages, auf derfünf AutorInnen aus ihrem Kollektivroman „Wollen schon“lasen. Die leider zu wenig beachtete Kinderbuchaus -stellung vom Verlag Guthmann-Peterson dientweiterhin als Plaform für Leseförderung (hp://www.yuki-liest.zugwerk.com). ◀

Weitere Info: www.krilit.at

zwischen Fußballfieber und Identitärendemo. Von Cornelia stahl.

rückblick auf diekrILIT 2016

ulli fuchs,Organisatorinder KRiLiT

fritz Widhalm,

edition das frohliche wohnzimmer

Gerald Grassl,

edition tarantel

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ulli fuchs,Organisatorinder KRiLiT

fritz Widhalm,

edition das frohliche wohnzimmer

Gerald Grassl,

edition tarantel

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Gewerkscha der Privatangestellten –Druck-Journalismus-Papier, Produktions-Gewerkscha, Arbeiterkammer: Alterna-tive und Grüne GewerkschaerInnen –

AUGE/UG, Belvederegasse 10/1, 1040Wien, Telefon (01)505 1952,

www.auge.or.at, [email protected]

Gewerkscha Öffentlicher Dienst: UGöD, Belvederegasse10/1,

1040Wien, Telefon (01)5051952-22,

www.ugoed.at, [email protected]

Gewerkscha der Post- und Fernmelde -bediensteten: UG-PF, Lassallestraße 9,

1020Wien, Telefon (01)54641285,www.kozi.at/we4you,

[email protected]

Gewerkscha vida (Verkehr, PersönlicheDienste, Private Dienstleistungen): UG-VIDA, Johann-Böhm-Platz1,

1020Wien, Telefon (01)53444-79510,www.ugoed.at,

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younion _ Die Daseinsgewerkscha:Konsequente Interessenvertretung –

KIV/UG, Blumauergasse 22/3, 1020Wien, Telefon (01)4000-83867,

www.kiv.at, [email protected]

unabhängige Gewerkschaer Innen im ÖGB

Blumauergasse 22/3 1020 Wien

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