Alternative Juli/August

32
Herausgegeben von Juli/August 2012 Einzelheft: 1,50 Euro, Abonnement: 15 Euro P.b.b., Verlagspostamt 1040 02Z031242 M, Kd.-Nr: 0021012558 7/8 PROGRAMMIERTES DESASTER WENN ARBEIT PSYCHISCH KRANK MACHT • ARBEITSRECHTSREFORMEN IN KRISENZEITEN FISKALPAKT

description

Monatszeitschrift der Unabhängingen GewerkschafterInnen

Transcript of Alternative Juli/August

Page 1: Alternative Juli/August

Herausgegeben von

Juli/August 2012

Einzelheft: 1,50 Euro, Abonnement: 15 Euro

P.b.b., Verlagspostamt 1040

02Z031242 M, Kd.-Nr: 0021012558

7/8

PROGRAMMIERTESDESASTERWENN ARBEIT PSYCHISCH KRANKMACHT • ARBEITSRECHTSREFORMENIN KRISENZEITEN

FISK

ALP

AK

T

Page 2: Alternative Juli/August

Kontraproduktive Übertreibung

„Gulaschfaschismus?“, 6/2012, ab Seite 20

Liebe Freunde, eingangs Gratulation zum Artikel. Er fasst sehranschaulich und drastisch die Entwicklungen in unserem Nach-barland zusammen, Entwicklungen, die der mäßig Interessierteleicht nur bruchstückhaft wahrnimmt, ohne sich über dasGesamtbild Rechenschaft abzulegen.Hellhörig wurde ich u.a. bei folgendem Passus: „(…) war (…)

ausgerechnet Viktor Orbán (Anm. zur Schreibweise der Eigennamen: Wäre es nicht zuüberlegen, die diakritischen Zeichen exakt wiederzugeben?) in seiner Vergangenheitkommunistischer Spitzenfunktionär, nämlich Vorsitzender der kommunistischen Jugend-organisation KISZ.“ Es hat mich einfach gereizt, diese Sache ein wenig im Internet zu recherchieren, unddas Ergebnis war ein wenig „mager“. „Seine politische Karriere startete er als Vorsit-zender der ungarischen kommunistischen Jugendorganisation KISZ im von ihmbesuchten Gymnasium“ (aus Wikipedia). Die vergleichbare ungarische Seite, die darü-ber halt 2 Sätze mehr verliert, stellt dann noch fest – bin nur eingeschränkt des Unga-rischen mächtig – , dass er in der auf die Matura folgenden Militärzeit seinem vorherals „naiv“ bezeichneten Glauben in den Kommunismus „radikal“ abgeschworen habe.Was ja bei den Strukturen in den realsozialistischen Armeen einigermaßen nachvoll-ziehbar ist …Orbán und seine Politik sind an sich schlimm genug (ich kenne einen in Wien leben-den Ungarn, erzkonservativ und antikommunistisch, der meinte, hätte er in UngarnWahlrecht, diesmal hätte er gegen seine Überzeugungen sozialistisch wählen müssen).Dass frau/man in der Kritik an ihm und seinem Gefolge in Übertreibungen rutscht, istverständlich, aber eher kontraproduktiv.Wie wäre es, in der nächsten Nummer ein Erratum zu veröffentlichen, vorausgesetztmeine Ergebnisse stimmen. Aber das müsste sich ja mit einer kurzen E-Mail an einender Podiumsdiskutanten rasch klären lassen.Mit solidarischem GrußMartin Berghold

Lieber Martin! Du hast tatsächlich recht: Viktor Orbán war nicht Vorsitzenderder KISZ sondern an seinem Gymnasium sowie an der Universität KISZ-Sekretär,laut der Zeitung Népszava zitiert im lesenswerten, orbankritischen BLOG Puszta-ranger. Entsprechend war er nicht Vorsitzender der Gesamt-KISZ, womit dieserRecherchefehler hoffentlich behoben ist. Danke jedenfalls für den Hinweis!

Ankündigung:

15 Jahre! UG-Fest

Freitag, 28. September 2012In Wien 15, Schutzhaus Zukunft, Verl. Gunt-herstraße, (Linien 9, 48A), Einlass: 18 Uhr

P r o g r a m m :Reinhard Sellner & Ernst Eigenbauer

Wiener BeschwerdechorDJane-Line

Zur Erinnerung an

ILSE SIRINEK

Ilse Sirinek, Kollegin im Bundesministerium

für Unterricht, Kunst und Kultur und lange

Jahre unabhängige Personalvertreterin und

Kassierin der UGöd, ist im Mai für uns alle

überraschend erkrankt und gestorben – im

Juli wollte sie in den Ruhestand treten. Sie

hat sich auf diesen Lebensabschnitt gefreut.

Sie war eine Unabhängige Gewerkschafte-

rin der ersten Stunden im öffentlichen

Dienst. Im Unterrichtsministerium arbeitete

sie im Bereich der Kindergartenpädagogik

und war sehr geschätzt, weil sie immer gut

aufgelegt war, sachkundig, aktiv und unter-

stützend, stets bereit, sich für die Anliegen

und Sorgen ihrer Kolleginnen und Kollegen

einzusetzen. In ihrer Familie war sie in den

letzten Jahren überwiegend pflegend aktiv,

in der Pension wollte sie endlich mehr Zeit

für sich selber, für ihren Mann und vielleicht

bald auch für Enkelkinder haben. Und sie

wollte weiter in der Bundesleitung der UGöd

aktiv sein.

Ilse ist am 13. Mai 2012 gestorben. Am

11. Juni 2012 fand am Friedhof Stammers-

dorf Zentral die Bestattung ihrer Urne statt.

Ihr Gatte Karl und die Familie ersuchten,

von Kranzspenden abzusehen und die

Österreichische Krebshilfe zu unterstützen:

PSK 60000, Kontonummer 2.046.000

Wir sind alle sehr traurig, dass sie mit ihrer

lebendigen Offenheit nie mehr auf uns

zukommen wird.

Beate Neunteufel-Zechner, Reinhart Sellner(für die Unabhängigen Gewerkschafter-Innen in der GÖD)

Page 3: Alternative Juli/August

SEITE 3 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Thema

Fiskalpakt: Programmiertes Desaster . . . . . . . . . . . Seite 4

Magazin

Kindergärten: Kinder, wie die Zeit vergeht . . . . . . . . Seite 9Studie: Wenn Arbeit psychisch krank macht . . . . . . . Seite 10Interview: „Armut ist kein Naturereignis“. . . . . . . . . Seite 12Pension: Betrogene Generation . . . . . . . . . . . . . Seite 14

Gewerkschaft & Betrieb

Wien: Hilfe für die Aids-Hilfe. . . . . . . . . . . . . . . Seite 18AbfallberaterInnen sind keine „Wegwerfartikel“ . . . . . Seite 20Bergab: Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten . . . . . . Seite 24

International

Griechenland: Radikal wie die Wirklichkeit . . . . . . . . Seite 28

Bücher

Der Glanz der Welt; Arbeit ist das halbe Leben . . . . . Seite 30

. . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 16

IM JULI/AUGUST

KENNST DI’ AUS?

Offen gestanden: Ich nicht mehr. Ichentscheide mich im Zweifelsfall für dieSchoko-Schirmchen. Die sind nett undschmecken gut. Rettungsschirme aller Artsind mir zu hoch. Bei den genanntenSummen wird mir ganz schwindlig. DieBanken sollen also gerettet werden. Fein.Bei den betroffenen Bevölkerungen kommtnichts an. So naiv darf man aber offensicht-lich nicht an die Sache herangehen, nur weilman sie nicht versteht.

Ein Bissel rettet mich da immer wiederder Markus Koza mit seinen Artikeln.Diesmal über den Fiskalpakt. Verstehentu ich trotzdem nichts. Wahrscheinlich, weilich überhaupt keine Lust mehr habe, michmit dem Wahnsinn zu beschäftigen. Aberich weiß, wogegen ich bin, weil ich demMarkus vertraue.

Die Ablöse Sarkozys und die Wahl Hollan-des brachten kurz die Hoffnung, dass inEuropa auch noch anderes gedacht werdenkann, als die Merkel-Doktrin, die Weisheitender Europäischen Zentralbank und die Rat-schlüsse der Spar-Internationale. Übertrie-bene Hoffnung habe ich aber auch da nicht.

Auch verstehe ich nicht, warum Österreich,Faymann und die SPÖ bei jedem Schas mit-machen müssen, der da in Europa passiert.Arbeiterkammer, ÖGB und Einzelgewerk-schaften sparen nicht mit Kritik. Sogar inFSG-Zeitungen schleicht sich schon hie undda ein kritisches Wort über die Bundes-SPÖein. Der versprochene „Weg aus der Krise“ istdennoch nicht erkennbar.

Ich spür’s. Meine endlose Zeit mit derAlternative neigt sich dem Ende zu. Ichwerde dann nur mehr Perry Rhodan hörenund Rosamunde Pilcher sehen – die versteheich wenigstens.

EDITORIAL von Alfred Bastecky

IMPRESSUM Medieninhaber, Verleger: Alternative und Grüne GewerkschafterInnen(AUGE/UG) Herausgeber: Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB (UG/ÖGB)Redaktion, Satz & Layout: Alfred Bastecky (Koordination), Lisa Langbein, Franz Wohl-könig (Layout) Alle: 1040 Wien, Belvederegasse 10/1, Telefon: (01) 505 19 52-0, Fax: -22,E-Mail: [email protected] (Abonnement), [email protected] (Redaktion), internet:www.ug-oegb.at, Bankverbindung: BAWAG Kto. Nr. 00110228775 Dass namentlich gezeichnete Beiträge nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oderdes Herausgebers entsprechen müssen, versteht sich von selbst. Titel und Zwischentitelfallen in die Verantwortung der Redaktion, Cartoons in die Freiheit der Kunst. Textnach-druck mit Quellenangabe gestattet, das Copyright der Much-Cartoons liegt beim Künstler.DVR 05 57 021. ISSN 1023-2702.

Page 4: Alternative Juli/August

Fiskalpakt stoppen? Nicht mit der SPÖ.Von Markus Koza.

PROGRAMMIERTESDESASTER

SEITE 4 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Thema

rumort in Europa. Seit derWahl Hollandes zumneuen französischenPräsidenten steht die

den europäischen Län-dern von Merkel und Sarkozy

über den Fiskalpakt verordnete radi-kale und verstetigte Sparpolitik zur Dis-position. In Österreich läge es vorallem an der SPÖ, ob diese „neolibe-rale Zwangsjacke“, aus der es im Falledes Beschlusses kaum mehr ein (recht-liches) Entkommen gibt, beschlossenwird oder nicht. Die SPÖ droht, sichbedauerlicherweise einmal mehr so zuentscheiden, wie so oft: falsch. Und mitihr die sozialdemokratisch dominiertenGewerkschaften.

Fiskalpakt: der ganz normaleWahnsinnNoch einmal in Kürze die zentralen

Inhalte des von den EU-Regierungs-chefs mit Ausnahmen Tschechiens undGroßbritanniens) beschlossenen Fiskal-pakts:•Die Mitgliedsstaaten werden zu aus-geglichenen Budgets verpflichtet. Diesgilt als erreicht, wenn das „strukturelle“

Defizit (also jenes nicht konjunkturab-hängige Defizit, dessen Berechnungund Aussagekraft in der Wissenschafthoch umstritten ist) 0,5 Prozent desBruttoinlandsproduktes (BIP) nichtüberschreitet. Um dieses Defizitziel zuerreichen, sind „Schuldenbremsen“ –idealerweise in Verfassungsrang – inallen nationalen Gesetzen festzuschrei-ben (Merkel: „Es geht darum, dass dieSchuldenbremsen dauerhaft in dieRechtsordnungen eingefügt werden,dass sie bindend und ewig gelten!“,Ö1-Morgenjournal, 31. Jänner 2012).Nur Staaten, deren öffentlicher Schul-denstand unter 60 Prozent des BIPliegt, dürfen „strukturelle“ Defizite bisein Prozent schreiben.•Die Nationalstaaten verpflichten sichgleichzeitig, einen automatischen Kor-rekturmechanismus zu verankern, derin Kraft tritt, wenn das Defizitziel über-schritten bzw. vom entsprechendenBudgetpfad zur Erreichung des Defizit-ziels abgewichen wird. Wie genau die-ser Mechanismus funktioniert, ist nichtgeregelt, ja nicht einmal, welche Maß-nahmen innerhalb welchen Zeitraumsdurchzuführen wären. Zuständig, dieseauszuarbeiten ist die europäische Kom-mission. Die Befugnisse der EU-Kom-mission bei Entwicklung dieses Spar-mechanismus gehen so weit, dass sie„… die Rolle und die Unabhängigkeitder auf einzelstaatlicher Ebene für dieÜberwachung der Einhaltung der Vor-schriften zuständigen Institutionen“(Lukas Oberndorfer in AK-Infobrief „EU& International“, 1/2012) festlegenkönnen soll. Die nationalen Parla-mente sollen also „ins Blinde hinein“Beschlüsse fassen, deren Umsetzung

und Rahmenbedingungen noch garnicht geklärt sind!•Zusätzlich zur Schuldenbremse wirdauch die Umsetzung der im EU-Six-Pack beschlossenen Schuldenregel kon-kretisiert: Demnach muss jener öffentli-che Schuldenstand, der die Maastricht-erlaubten 60 Prozent überschreitet,jährlich um 1/20 reduziert werden. Also:liegt der Schuldenstand etwa bei70 Prozent, müssen die 10 Prozent überden 60 Prozent jährlich um 1/20 abge-baut werden. In unserem Falle wärendas 0,5 Prozent des BIP. Was sich nichtdramatisch anhört, würde im FalleÖsterreichs etwa ein Sparvolumen von1,5 Milliarden Euro ausmachen!Zusätzlich zur Schuldenbremse. Jahr fürJahr. Da wird’s dann doch gleich etwasbedrohlicher … Bei Ländern wie Spa-nien läge der jährliche Konsolidie-rungsbedarf aus der Schuldenregel bei1,5 Prozent des BIP, bei Länder wie Ita-lien sogar bei 3 Prozent! Schulden-bremse und Schuldenregel gemeinsam– also Defizitabbau plus Staatsschul-denabbau verordnet, so Schulmeister„… (fast) allen EU-Ländern den ,grie-chischen’ Weg der Depression.“ (Schul-meister, EU-Fiskalpakt: Das program-mierte Desaster, aufwww.beigewum.at) „Austerity forever“,wie schon KritikerInnen des Six-Packsfeststellten …

Der parlamentarische Beschluss überein Budget (also über in Zahlen gegos-sene Politik) als „Königsrecht nationalerParlamente“ wird überhaupt weitge-hend ausgehebelt, sind Mitgliedsstaa-ten einem Verfahren aufgrund eines„übermäßigen Budgetdefizits“ (also beiDefiziten jenseits der 3 Prozent Maa-

Markus Koza

UG-Vorsitzender, imÖGB-Vorstandund Mitarbeiter der

Page 5: Alternative Juli/August

strichtgrenze) unterworfen. Derzeitist das übrigens die große Mehrheitaller EU-Staaten. Dann muss näm-lich ein „Haushalts- und Wirt-schaftsprogramm“ vorgelegt wer-den – unter Umständen bevorüberhaupt das Parlament infor-miert ist – das von der Europäi-schen Kommission und vomEcofin (Rat der europäischenFinanzminister) erst einmalgenehmigt werden muss.„Damit werden der EuropäischenKommission entscheidende Ein-griffe in die nationale Budgetpolitikgegeben. Im Falle einer nicht zufrie-denstellenden Berücksichtigung derbudgetpolitischen ,Diktate’ der Euro-päischen Kommission drohen den Mit-gliedsstaaten (…) Strafzahlungen“ (Klat-zer/Schlager, Fiskalpakt: Immerwäh-rende Austerität, Demontage von Wohl-fahrtsstaat und sozialen Rechten, „DieZukunft“, 4/12). Damit verlieren diedemokratisch gewählten nationalenParlamente in Sachen Budget weitrei-chende Entscheidungskompetenz. Auchwenn nur „Programme“ und nicht dasBudget selbst der Europäischen Kom-mission zur Bewertung vorzulegen sind– die Budgets haben sich strikt an denProgrammen zu orientieren. Gemein-sam mit den ebenfalls von der Europäi-schen Kommission zu beschließendenoben erwähnten „automatischen“ Kor-rektur- bzw. Sparmechanismen werdenparlamentarische Rechte hinsichtlichder Budgeterstellung massiv beschnit-ten, demokratisch legitimierte Institu-tionen entmachtet. Eine tendenziellund erfahrungsgemäß neoliberal aus-gerichtete Kommission erlangt damitüber die Nationalstaaten Budgethoheitbzw. Definitionsmacht darüber, wieBudgets auszusehen haben undschreibt damit einen neoliberalen, anti-sozialstaatlich ausgerichteten Austeri-tätskurs fest. Unabhängig davon, auswelchen Parteien, mit welcher ideologi-schen Orientierung auch immer, sicheine Regierung zusammensetzt – es istletztlich egal, sie hat im Falle einesDefizitverfahrens zu exekutieren, waseine erfahrungsgemäß wirtschaftspoli-tisch vollkommen einseitig agierendeKommission vorgibt! Damit führen sichdemokratische Wahlen ad absurdum,wird somit das demokratische Systemals ganzes in Frage gestellt! Ein demo-kratiepolitisches Desaster, ein regel-

rechter Quantensprung in Richtung„autoritärer Kapitalismus“!

Und bei diesem zutiefst antidemo-kratischen, autoritären Akt bleibt esnicht: Um EU-vertraglich festgelegteSpielregeln zu umgehen, soll der Fiskal-pakt ein „völkerrechtlicher“ Vertragwerden – ohne Ausstiegs- bzw. Aufkün-digungsszenarien. Denn nirgends fin-den sich Bestimmungen, wie bzw. obder Vertrag denn aufgekündigt bzw.beendet werden kann! Die neoliberale,autoritär verordnete Austeritätspolitiksoll ohne allzu umfassende und lang-wierigen Debatten am besten auf alleEwigkeit festgeschrieben werden undbleiben und da erscheint ein völker-rechtlicher Vertrag als tauglichstes Mit-tel! Warum ein völkerrechtlicher Ver-trag? Lukas Oberndorfer, EU-Rechtsex-perte der AK-Wien dazu: „Die zentralenElemente des Fiskalpaktes, insbeson-dere die Anforderung, dass die Mit-gliedsstaaten, eine europäische Schul-denbremse im nationalstaatlichenRecht einführen und mit einem Auste-

ritätsmechanismus versehen müssen,der automatisch ausgelöst wird unddessen nähere Ausgestaltung alleineder europäischen Exekutive anheimgestellt wird, finden keine Grundlagein den europäischen Verträgen.“ – wasein „ordentlichen Vertragsverände-rungsverfahren“ notwendig gemachthätte – unter Beteiligung des europäi-schen Parlaments und der nationalenParlamente in Form eines Konvents. Daes für derart neoliberale Politikprakti-ken allerdings immer weniger demo-kratische Legitimation gibt, wird ein-fach der Weg der Umgehung der „…ohnehin zu gering ausgebildetendemokratischen und rechtlichen Siche-rungsgarantien des Europarechts …“gewählt. Der Weg, den Austeritätskurseben „völkerrechtlich“ festzuschreiben.

Allerdings ist dann doch nicht allesso gelaufen, bzw. läuft dann doch nichtalles so, wie es die europäischen, insbe-sondere auch die deutschen Eliten

SEITE 5 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Bitte umblättern

Neoliberale Zwangsjacke für die Frau

Page 6: Alternative Juli/August

gerne hätten. In den Nationalstaatenbraucht es nämlich – bei aller Überein-stimmung der Regierenden –Beschlüsse der nationalen Parlamente.Und entsprechende erforderliche Mehr-heiten für den Vertrag – der ja tatsäch-lich parlamentarische, demokratischeRechte über weite Strecken auszuhe-beln droht und einen rigiden Sparkursauf Jahrzehnte festschreibt – wackeln,in einigen Ländern geht der Schmähmit der Umgehung der EU-Verträgenicht durch und es braucht Volksab-stimmungen – etwa in Irland, wo inzwi-schen eine Bevölkerungsmehrheit unterdem Druck, aus europäischen „Ret-tungsmaßnahmen“ ausgeschlossen zuwerden, schließlich mit „Ja“ stimmte. Ja,selbst Merkel tut sich bislang schwer,eine parlamentarische Verfassungs-mehrheit für ihr Lieblingsprojekt zu fin-den (zumindest bis Redaktionsschluss).Und neben NGOs und europäischenGewerkschaften, die gegen den Fiskal-pakt – zumindest in der vorliegendenForm einmal – mobilisieren, regt sichauch im EU-Parlament, das sich seineMitbestimmungsrechte in europäischenAngelegenheiten nicht so einfach weg-nehmen lassen will, Widerstand. Undspätestens seit der Wahl des SozialistenHollande zum französischen Staatsprä-sidenten – der im Zuge seines Wahl-kampf ankündigte, den Fiskalpakt sosicherlich nicht zu ratifizieren – istetwas Bewegung in die Debatte umden richtigen Kurs in der EU geraten,wird der deutsche Weg nicht mehrunhinterfragt hingenommen.

Austeritätskurs: Ökonomisches,soziales DesasterDenn: Was neoliberale Ökonomen

und Politiker immer noch als „alternati-venlos“ darstellen, führt für alle, diesehen können und wollen, schnur-stracks in die soziale und ökonomischeKatastrophe. Der Austeritätskurs hin-terlässt bereits jetzt eine Spur der•sozialen und ökonomischen

Verwüstung, •Massenarbeitslosigkeit, •Hoffnungs- und

Perspektivenlosigkeit, •des Elends und der Depression.

Der Sparkurs erreicht dabei nicht ein-mal die ohnehin fragwürdigen, selbstgesteckten Ziele, nämlich •den Euro zu stabilisieren,

•den Staatsschuldenstand zurückzuführen,

•auf den Weg der Budget-konsolidierung zurückzu-kehren

•und das Vertrauen derFinanzmärkte zurückzu-gewinnen. Im Gegenteil: Die „Schul-

denkrise“ hat sich noch ver-schärft. Vom Vertrauen derFinanzmärkte keine Spur, einEnde der Krise ist nicht abzu-sehen. Dafür wird die EU zuneh-mend zur „europäischen Folter-kammer“. Die jüngst veröffentlich-ten Zahlen von „eurostat“ sprecheneine deutliche Sprache, vor allemauch in den Krisenländern:•Das Bruttosozialprodukt – also diegesamte Wirtschaftsleistung – ist inGriechenland, im Experimentierlabordes „autoritären Kapitalismus“ MarkeEK/EZB/IWF-Troika seit der Krise um20 Prozent geschrumpft und wird auch2012 noch einmal um 4,7 Prozentschrumpfen! Die Arbeitslosigkeit liegtbei 19,7 Prozent, die Jugendarbeitslo-sigkeit bei rund 50 Prozent. Die Staats-schuldenquote ist angesichts des mas-siven Wirtschaftseinbruchs und anhal-tend hoher Budgetdefizite (2011:9,1 Prozent, 2012: geschätzt –7,3 Pro-zent) seit 2007 von hohen 107 Prozentdes BIP auf 2011 165,3 Prozent desBIP explodiert und soll bis 2013 trotzmassiver Sparvorgaben noch einmalauf 168 Prozent steigen.•Ähnlich Portugal: In diesem Staat istdas BIP seit 2007 um 7 Prozent einge-brochen, für 2012 wird ein weitererEinbruch von – 3,3 Prozent prognosti-ziert. Der Schuldenstand ist seit 2007von 68,3 auf 107,8 Prozent im Jahr2011 gestiegen und wird bis 2013 aufprognostizierte 117,1 Prozent steigen.Die Arbeitslosenrate ist seit 2007 von8,9 auf 15,1 Prozent gestiegen.•Schließlich Spanien, mit einemStaatsschuldenstand von 36,2 Prozentdes BIP und einem Budgetüberschussvon +1,9 Prozent im Jahr 2007 gera-dezu Musterschüler ins Sachen Schul-den und Defizit. Vier Jahre und eineFinanzkrise später hat sich der Schul-denstand auf 68,5 Prozent bei einemDefizit von –8,5 Prozent im Jahr 2011beinahe verdoppelt und soll 2013 bei87 Prozent des BIP zu liegen kommen(prognostiziertes Defizit –6,3 Prozent).

Die Sparanstrengungenhaben nicht nur wenig bisgar nicht gefruchtet, sondernzusätzlich eine Rezession (2012:–1,8 Prozent, 2013: geschätzte–0,3 Prozent) verursacht, welche dieArbeitslosenrate auf einen traurigenSpitzenwert von 24,4 Prozent im Jahr2012 und 25,1 Prozent 2013 ansteigenlassen wird. Die Jugendarbeitslosigkeitliegt bereits jetzt bei rund 50 Prozent!•Zuletzt: das einstige EU-MusterlandIrland hat seinen Staatsschuldenstandvon 24,8 Prozent im Jahr 2007 auf108,2 Prozent geradezu vervierfacht!Das Budgetdefizit erreichte 2010 miteinem Minus von 31,2 Prozent des BIPeinen in Europa einmaligen Spitzen-wert und wird auch 2013 bei immernoch –7,5 Prozent liegen. Verdreifacht

SEITE 6 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 7: Alternative Juli/August

hat sich in Irland seit 2007 dieArbeitslosenquote – nämlich

von 4,6 auf 14,3 Prozent2012. Irland führt auch

anschaulich die immerwieder von konservati-ver Seite aufgestellteBehauptung, wonachdie Krise als Haupt-ursache für das

Schuldenwachstumein „Mythos“ sei, ad

absurdum. Niemand wirdwohl ernsthaft behaupten,

dass ein großzügiger Sozialstaatbzw. ein überborderndes Beamten-

heer für den irischen Schulden-stand verantwortlich zeichnen

würde. Und wenn die europäischenStaaten allein von 2008 bis 2010sagenhafte 1,6 Billionen Euro – mehrals 13 Prozent des Bruttosozialpro-dukts der EU – für Bankenrettungs-pakete aufwenden mussten, sprichtdas wohl auch eine mehr als deut-liche Sprache. Die jeden Versuch,die Schuldenkrise auf den Sozial-staat und die öffentlichen Dienstezurückzuführen, als pure Ideologieentlarvt …

Für den gesamten Euro- bzw. EU-Raum stellt sich die ökonomische

Situation alles andere als erfreulichdar: Trotz – oder besser gesagt gerade

wegen – verordneter, synchron einset-zender Sparmaßnahmen stagniert dasBIP-Wachstum in der EU und die Wirt-schaft schrumpft im Euro-Raum um0,3 Prozent. Gleichzeitig steigt trotzsinkender Budgetdefizite im Euroraum:•2010: –6,2 Prozent, •2011: –4,1 Prozent, •2012 (progn.): –3,2 Prozent, •2013 (progn.): –2,9 Prozent)

die Staatsschuld in der Euro-Zone:•2008: 70,1 Prozent•2011: 87,2 Prozent •2012 (progn.): 91,8 Prozent •2013 (progn.): 92,6 Prozent.

Die Arbeitslosenrate wächst bis2013 auf ein Rekordniveau von elf Pro-zent an.

Angesichts der düsteren Wirtschafts-daten schlagen vom InternationalenWährungsfonds (IWF) über Rating-agenturen bis hin zur Organisation für

wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung (OECD) und zu Ökonomie-Nobelpreisträgern à la Paul Krugmanund Joseph Stieglitz jede Menge desMarxismus unverdächtige Institutionenund ExpertInnen Alarm, sprechen voneiner „gefährlichen Mischung ausSchulden, Sparen und schwachen Ban-ken“ und fordern eine Abkehr vom rigi-den Sparkurs. Der Chefökonom desIWF, Olivier Blanchard, fordert einebehutsame, langfristig angelegte,Wachstum und Beschäftigung nichtdämpfende Konsolidierungsstrategie,denn „… slow an steady wins the race“und kein Brachialsparen.

Nein zum Fiskalpakt, sagt derHausverstand …Nun, das alles ist nicht neu, kein

Geheimnis, das alles ist bekannt. Und:Mensch muss wahrlich keine Ökono-mIn sein, um angesichts der engeninnereuropäischen wirtschaftlichenVerflechtung (87 Prozent der Exporteder EU-Mitgliedsstaaten gehen in dieEU-Mitgliedsstaaten!) ein wirtschaftli-ches Desaster zu prognostizieren, soll-ten alle europäischen Länder gleichzei-tig den rigiden Sparkurs à la Merkelvollziehen. Um das zu vermuten,braucht es tatsächlich keinen Interna-tionalen Währungsfonds, Ratingagen-turen oder OECD, dazu reicht einegesunde Dosis Hausverstand.

Gewerkschaften, linke Oppositionelleund ÖkonomInnen, kritische NGOsquer über Europa haben daher stetsvor den dramatischen Folgen rigiderSparpolitiken und überhasteter Konso-lidierungsschritte gewarnt. Die mehr-heitlich konservativen europäischen Eli-ten haben sich von ihrem Kurs aller-dings nicht abbringen lassen, die Bür-gerInnen Europas stehen inzwischenvor einem entsprechenden Scherben-haufen. Auch jene wenigen Sozialde-mokratInnen in europäischen Regie-rungen (wie eben den österreichischenBundeskanzler) hat die absehbareKatastrophe nicht an einer Unterzeich-nung des Fiskalpakts gehindert.

Die Kritik am Fiskalpakt fiel in derösterreichischen Sozialdemokratie (inder Partei wie in der Gewerkschaften)entsprechend eher leise und verhaltenaus. Erst mit der Wahl Hollandes kam,allerdings nur kurz, etwas Bewegung indie Sozialdemokratischen Reihen.

… doch was sagenSozialdemokratie undGewerkschaften?Innerhalb der SPÖ setzte mensch vor-

erst einmal auf Zeit und hatte es mitdem Nationalratsbeschluss des Fiskal-pakts nicht eilig. Abwarten, was da aufeuropäischer Ebene noch kommenmöge, hieß einmal die Devise vonPrammer und Co. Unklar blieb sie den-noch, die sozialdemokratische Position.Während etwa der Präsident der SP-Fraktion im EU-Parlament, der Österrei-cher Hannes Swoboda für Europabereits den „Wendepunkt“ gekommensah, das Ende der „goldenen Regel“des Kaputtsparens, hielt der SP-Bun-deskanzler Faymann selbst am Tagnach der Hollande-Wahl an Sparkursund Fiskalpakt fest.

Nicht viel anders stellte sich die Lagebei den SP-dominierten Arbeitnehmer-Innenvertretungen dar: Während imRahmen der von Einzelgewerkschaftenwie vida, PRO GE und GdG-KMSfB mit-getragenen Initiative „Wege aus derKrise“ mit Kritik am Fiskalpakt nichtgespart wurde und AK-Präsident Tum-pel immerhin eine „Revision“ des Fis-kalpakts forderte, weil die „EU-Krisen-politik (…) Europa in die Sackgasse(führt)“, sprach der ÖGB-Präsident vor-erst einmal nur davon „dass es zusätz-lich einen Wachstumspakt“ brauche,dass es darum gehe, „… den Fiskalpaktdurch Investitionen in Wachstum undBeschäftigung zu ergänzen“, weil der„Fiskalpakt alleine (…) die Krise prolon-gieren, nicht beenden“ werde. Zueinem klaren „Nein“ wie etwa Deut-scher und Europäischer Gewerkschafts-bund, ver.di und EGB, können und wol-len sich die österreichischen Gewerk-schaften nicht durchringen.

Dabei dürfte eigentlich gerade einegewerkschaftliche Positionierung anEindeutigkeit nichts zu wünschen übriglassen: Eine gesetzlich verpflichtende,verstetigte und permanente Sparpolitikmit automatischen Sanktionen bei Ver-stößen gegen dieselbige, kontrolliertund vorgegeben von einer erfahrungs-gemäß neoliberal ausgerichteten EU-Kommission kann niemals in gewerk-schaftlichem Interesse sein. Abgesehendavon, dass eine derartige Fiskalpolitikin Krisenzeiten kaum mehr wirkungs-

SEITE 7 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Bitte umblättern

Neoliberale Zwangsjacke für den Mann

Page 8: Alternative Juli/August

voll gegen Arbeitslosigkeit und Verar-mung steuern kann, lässt eine derar-tige Budgetpolitik kaum mehr Spiel-räume für einen Ausbau sozialstaatli-cher Leistungen auf nationalstaatlicherEbene zu und bringt bestehende sozial-staatliche Einrichtungen sowie öffentli-che Dienste unter massiven Druck.Eine an strikte Regeln gebundene Fis-kalpolitik macht parlamentarisch-demokratische Budgetwerdungspro-zesse inklusive Begutachtungen imVorfeld zur Farce. Budgetpolitik bleibtauch in diesem Falle „in Zahlen gegos-sene Politik“ – allerdings in Zahlengegossene neoliberale, neokonserva-tive Politik. Und das völkerrechtlich aufimmer und ewig.

Farbe bekennen? Welche Farbe?Der ÖGB kann da Sozialstaatskam-

pagnen führen so viel er will. Mit demFiskalpakt wird der europäische Sozial-staat „konsequent stranguliert“ (Schul-meister). Wer „Ja“ zum Sozialstaat sagt,muss „Nein“ zum Fiskalpakt sagen,sonst bleibt jedes Bekenntnis zum Sozi-alstaat eine leere Floskel. Eine wie vonÖGB und SP-Teilen eingeforderteErgänzung des Fiskalpakts um einenWachstums- und Beschäftigungspaktwürde den Fiskalpakt inhaltlich umkeine Spur besser machen sondern nurdie sozialdemokratische Positionierungnoch widersprüchlicher. Bremsen undGas geben gleichzeitig funktioniertnun mal nicht. Es hilft nichts, es mussFarbe bekannt werden. Fiskalpakt stop-pen – dafür müssen Gewerkschaftengemeinsam mit NGOs und den ver-nunftbegabten Teilen von Politik undWissenschaft mobilisieren!

Beziehungsweise: Es müsste Farbebekannt werden. Denn derweilen hatGriechenland gewählt. Und zwar so,wie es Europa, nicht zuletzt Merkel,wünschte. Inzwischen haben auch SPDund Grüne in der BRD offensichtlich ineinem Anfall nationaler Umnachtunggegen vage Zusagen und kleinere Ver-handlungserfolge – die allerdingskeine derart schwerwiegende Entschei-dung rechtfertigen – ihre Zustimmungzum Fiskalpakt gegeben. Man ist jaschließlich doch in erster Linie deutschund staatstragend. Die Merkel freut’s,rot-grün werden noch sehen, was siedavon haben – die bundesdeutsch-grüne Basis zeigt sich jedenfalls bereits

jetzt in der Causa Fiskalpakt tiefgespalten. Dass es in der SPD wesent-lich anders ausschaut, darf bezweifeltwerden. Und in Österreich? Da hat’sdie Sozialdemokratie nun plötzlichauch ganz eilig. Sie will (zumindest biszu Redaktionsschluss) den Fiskalpaktnoch vor der Sommerpause im Natio-nalrat über die Bühne bringen. DieOpposition von rechts bis grün wirdden Fiskalpakt ablehnen. Ob eine ein-fache Mehrheit tatsächlich reicht, istfraglich. VerfassungsrechtlerInnen,aber auch die Grünen, sehen eine Ver-fassungsmehrheit für notwendig. Wasallerdings in der Außenwirkung des Fis-kalpakts vermutlich egal wäre:Beschlossen ist beschlossen, völker-rechtliche Verpflichtungen treten unab-hängig davon, ob der Beschluss nunverfassungskonform zustande gekom-men ist oder nicht, in Kraft.

ÖGB? TraurigEine traurige Rolle werden bei der

Beschlussfassung vermutlich einmalmehr die GewerkschafterInnen in denReihen von SPÖ und ÖVP einnehmen.Sie werden wohl zum x-ten mal zähne-knirschend zustimmen und entspre-chende Ausreden finden, warum siemussten.

Und während die deutsche Dienst-leistungsgewerkschaft ver.di (diegrößte Europas übrigens) die deut-schen Bundestagsabgeordneten brief-lich aufforderte, dem Fiskalpakt nichtzuzustimmen, während der DeutscheGewerkschaftsbund (DGB) sich ineinem Bundesvorstandsbeschluss am20. Juni klar gegen den Fiskalpaktpositionierte und die Abgeordnetenaufrief, wenn schon nicht dagegen zustimmen, den Beschluss zumindest auf-zuschieben, hat der ÖGB im Rahmendes Vorstands am 21. Juni unmissver-ständlich klar gemacht, mit Sicherheitkeine derartige Initiativen zu starten.Von ÖGB und AK sind keinerlei dahin-gehende Empfehlung gegenüber„ihren“ Abgeordneten zu erwarten –schon gar keine Empfehlung mit„Nein“ zu stimmen. Ja, es wurde sogarein gewisses Verständnis für die demFiskalpakt innewohnende deutscheStrenge artikuliert, schließlich würdeDeutschland ja auch einen Großteil derEurorettung zahlen. Interessant nur,dass das Verständnis von DGB und

ver.di für ihre Regierung gegen Nullgeht. Der ÖGB deutscher als die deut-schen KollegInnen?

Ganz offensichtlich sollen sozialde-mokratische und konservative Abge-ordnete aus den Gewerkschaftsreihennicht in die Bredouille gebracht wer-den. GewerkschafterInnen bekennenFarbe. Regierungsfarbe. Parteifarbe.Austerity forever. Die Sozialdemokratieund mit ihr die von ihr dominiertenGewerkschaften hätten es in der Handgehabt, diesen Beschluss zu verhin-dern, ihn zumindest aufzuschieben. Siehaben es nicht getan. Wir werden siedaran erinnern. Wir werden selbstdaran erinnert werden. Denn: Dienächste Krise kommt bestimmt.

PS: Bevor wieder irgendjemand aufdie Idee kommt, einen „Schuldenturbo“zu unterstellen. Ja, Defizite und Staats-schulden müssen zurückgeführt wer-den, aber sinnigerweise in Zeiten guterKonjunktur. Die beste Strategie Haus-halte zu konsolidieren und Beschäfti-gung zu fördern, ist eine intelligente,sozial und ökologisch verträglicheWachstums- und Beschäftigungsstrate-gie. Jedenfalls abzulehnen sind über-hastete Brachialsparmethoden, ein„Hineinsparen“ in die Krise. Es ist auchkeineswegs zwingend, dass Wachs-tums- und Beschäftigungsmaßnahmenschuldenfinanziert werden müssen.Ganz im Gegenteil: Ein sozial-ökologi-sches Wachstumspaket kann auch überzusätzliche, konjunkturneutrale Steuer-einnahmen (z.B. Vermögens-, Vermö-genszuwachs-, progressivere Einkom-menssteuern) finanziert werden. Dernorwegische Nobelpreisträger TrygvHaavelmo hat bereits in den 1940er-Jahren gezeigt, dass eine Erhöhungvon Steuern und Staatsausgaben inKrisenzeiten zu einem expansivenEffekt auf Wirtschaft und Beschäfti-gung führt. In Österreich könntenzusätzlich z.B. umweltschädigende Sub-ventionen abgebaut und frei werden-den Mittel für ein Investitionspaket Kli-maschutz (in erneuerbare Energien,Energiesparmaßnahmen, thermischeSanierung, umweltfreundliche Mobili-tät) eingesetzt werden.

Linktipps und weitere Artikel zum Thema finden sich auf dem Blog: diealternative.org/belvederegasse

SEITE 8 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 9: Alternative Juli/August

amals gingen über zweitau-send Beschäftigte der Kinder-gärten verschiedener Trägeror-

ganisationen Seite an Seite indie Öffentlichkeit, um ihren Forderun-gen zur Bildungspolitik Nachdruck zuverleihen. Die Demonstrationen warenein einziger Aufschrei, eine Art Not-wehr gegenüber dem ständigen Anzie-hen an der Belastungsschraube in derInstitution Kindergärten.

ErgebnisseIn den städtischen Einrichtungen der

MA 10 gab es 18 Millionen Euro fürdas Personal und Zusagen für Verbes-serungen der Arbeitsbedingungen. Waswie ein Märchen klingt, ist zum Groß-teil auch so. Nämlich fern der Realität.

Die erhöhte Besoldung kommt beiden PädagogInnen fast ausschließlichden unteren Gehaltsstufen zugute – istalso ganz klar darauf ausgerichtet,junge KollegInnen in den Dienst zuholen und nicht jene zu belohnen, diezum Teil schon seit Jahrzehnten untersteigenden Anforderungen der Dienst-geberin die Treue halten und sich fürdie Fortsetzung der hohen Qualitätunter erschwerten Bedingungen mitgroßem Engagement einsetzen.

Im Gegenteil, je älter diese Pädago-gInnen werden, desto intensiver werdendie Forderungen seitens der Dienstge-berin an ihre MitarbeiterInnen: Um inden Genuss des Besoldungsbonus zukommen, bedarf es zumindest sehrguter Beurteilungen und einer gesun-den Konstitution, um den vorgegebe-

nen maximalen Krankenstandstagenentsprechen zu können.

Die Berufsgruppe der AssistentInnenbekam die gigantische Aufstiegsmög-lichkeit in eine höher besoldete Ver-wendungsgruppe, allerdings frühestensnach 21 Dienstjahren (das nur dann,wenn sowohl die Beurteilungen aufmindestens „Sehr gut“ lauten und dieKrankenstandshöchstzahl von jährlich13 Tagen nicht überschritten wird).

Die Versprechungen bezüglich derverbesserten Rahmenbedingungenkonnten auch noch nicht umgesetztwerden, da sich die Personalsituationkeinesfalls verbessert hat. Dafür gab esweitere Einsparungen in der Umset-zung, da z.B. die Lernhilfen ersatzlosgestrichen wurden.

Auswirkungen … auf das Personal anderer Trägeror-

ganisationen? Umgangssprachlichgesagt: Kaum Nennenswertes überNichts bis hin zu neuerlichen Ver-schlechterungen, wie der Kürzung vonVorbereitungsstunden (z.B. in Kärnten).

Das war nun der Auslöser für dasDejavu-Erlebnis von rund 100 Mitar-beiterInnen der Kindergärten bei derProtestaktion „Achtung Einsturzgefahr“beim Bundeskanzleramt. Organisiertwurde sie von der Berufsgruppe derKindergarten- und HortpädagogInnenWiens und der Vernetzungsgruppe derWiener BetriebsrätInnen der privatenKinderbetreuungseinrichtungen, mitUnterstützung der Gewerkschaft derPrivatangestellten, Druck, Journalis-mus, Papier-Wien. Die gebetsmühlen-artig notwendigen Wiederholungen

von Forderungen der Kindergarten-pädagogInnen nach •einheitlichen Arbeitsbedingungenund Standards in ganz Österreich, •kleineren Gruppengrößen mit ent-sprechenden Rahmenbedingungenund damit mehr PädagogInnen,•besserer Bezahlung des Personalsund einer Ausbildung in Hochschulen

sind auch gesellschaftspolitischenorm bedeutsam. Gerade heute wirdeine hohe Sozialkompetenz neben denbestmöglichen Bildungschancen immerwichtiger. Darauf bezieht sich immer-hin der Bildungsrahmenplan, nur fürseine Umsetzungsmöglichkeiten gibt esvom Bund bestenfalls Lippenbekennt-nisse. Deshalb soll sich, so ein Aufrufder engagierten TeilnehmerInnen, end-lich Kanzler Faymann darum kümmern.

Damit einher gehen ebenso Wün-sche nach einer einheitlichen, bundes-weiten Standesvertretung für Pädagog-Innen auf Gewerkschaftsebene. Bisherreagieren die einzelnen Fachgewerk-schaften jedenfalls nur unkoordiniert(und scheinbar kurzsichtig). Selbst beidieser Aktion waren (RednerInnen-)Bei-träge der GdG-KMSfB nicht willkom-men, da diese Kundgebung eine derGPA-djp war. Immerhin wurdengemeinsame Gespräche für den Herbstvon Barbara Teiber, Regionalgeschäfts-führerin der GPA-djp Wien, angekün-digt. Doch der genaue Zeitpunkt odergar die Themen dabei blieben ein gutgehütetes Geheimnis. Und die Betrof-fenen werden, zumindest bis jetzt,überhaupt nicht miteinbezogen.

Eine effiziente Lernmethode im Kin-dergarten ist das oftmalige Wiederho-len von Lerninhalten. Wollen wir alsohoffen, dass dieser didaktische Ansatzauch bei den politischen VertreterIn-nen fruchtet und die Umsetzung derberechtigten, notwendigen Anliegennoch innerhalb der gegenwärtigenGeneration greift!

Kinder, wie die Zeit vergeht

Montag, 11. Juni 2012, Pro-

testaktion der Kindergärt-

nerInnen am Ballhausplatz:

Erinnerungen an den Herbst

2009 werden wach.

Von Irmgard Slovacek.

D

SEITE 9 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Magazin

Irmgard Slovacek

In den Wiener Kinder-gärten Personal-vertreterin der

Der Herbst 2009 und seine Nicht-Folgen

Page 10: Alternative Juli/August

SEITE 10 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Magazin

Die Studienergebnisse zusammengefasst:•während Beschäftigte ohne arbeitsbedingte Belastungennur 0,8 Krankheitstage im Jahr aufweisen, fassen Beschäf-tigte mit psychischen Arbeitsbelastungen schon 3,3 Krank-heitstage aus, Beschäftigte mit psychischer und körperlicherArbeitsbelastung knapp 6 Tage.•32 Prozent aller Neuzugänge in die Berufsunfähigkeits-und Invaliditätspension sind auf psychische Arbeitsbelas-tungen zurückzuführen•Krankenstände aufgrund arbeitsbedingter psychischerBelastungen dauern länger und kosten die österreichischeVolkswirtschaft 3,3 Milliarden Euro jährlich!

Arbeitsbelastung und GesundheitRund ein Drittel der ArbeitnehmerInnen gab an, im Jahr

2010 an einer gesundheitlichen Beschwerde inklusive Beein-trächtigung des subjektiven, psychischen Wohlbefindens gelit-ten zu haben (Männer: 32 Prozent, Frauen: 31 Prozent). Risiko-faktoren für psychische Arbeitsbelastung sind dabei•steigendes Alter,•steigendes Arbeitsausmaß,•und Nacht- und Schichtarbeit,

unabhängig von Qualifikation und beruflicher Stellung. Hin-sichtlich Berufsgruppen sind insbesondere Beschäftigte •im personenbezogenen Dienstleistungssektor,•vor allem im Sozial- und Gesundheitswesen•und im Unterrichtswesen

betroffen. Typische Symptome: Schlafstörungen, chronischeAngstzustände, Depression, Niedergeschlagenheit, Erschöp-fungszustände, chronische Krankheiten wie Bluthochdruck alsFolge von Arbeitsstress und körperliche Schmerzen (vor allemim Bewegungs- und Stützapparat).

Belastende Arbeitsorganisation – mangelndeMitgestaltungsmöglichkeitenEin nicht zu unterschätzender, krankmachender Faktor: Eine

falsche Arbeitsorganisation, wie eine Umfrage der Bundesar-beitskammer aus dem Jahr 2009 ergab. Fehlen Eigenkontrolle,

Anerkennung und, oder soziale Unterstützung, steigen dieBelastungen. Gibt es keinen oder einen nur niedrigen Entschei-dungsspielraum bei Arbeitsabläufen und Zeiteinteilung leidendeutliche mehr Beschäftigte (24 Prozent) unter Schmerzen imBewegungs- und Stützapparat als Beschäftigte mit hohen Mit-gestaltungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz (17 Prozent). Jegeringer die Arbeitsautonomie, desto höher auch der arbeitsbe-dingte Stress (21 zu 19 Prozent bei höherer Arbeitsautonomie)sowie Ermüdungserscheinungen (20 zu 15 Prozent).

„Gute Arbeit“ macht weniger krankWenig überraschend: Ein stabiler, sicherer Arbeitsplatz, eine

faire Entlohnung, Aufstiegsmöglichkeiten, Anerkennung undWertschätzung wirken körperlichen und psychischen Erkrankun-gen entgegen. Wer in seinem Berufsleben nur wenig Anerken-nung erfährt, leidet auch stärker an psychischen Erkrankungen:22 Prozent klagen über Stress (versus 17 Prozent), 19 Prozentleiden an allgemeiner Müdigkeit (versus 13 Prozent), 8 Prozentan Schlafstörungen (6 Prozent), 9 Prozent an Angstzuständen(6 Prozent). ArbeitnehmerInnen die wenig Anerkennung undWertschätzung erfahren sind mit 12 Prozent deutlich reizbarerals Beschäftigte in „fairen“ Arbeitsverhältnissen (7 Prozent).

Achtung: Konkurrenz gefährdet ihre GesundheitIst die Konkurrenz unter der Belegschaft groß, gibt es wenig

soziale Unterstützung durch KollegInnen, Vorgesetzte undAußenstehende, steigt auch das Krankheitsrisiko. 22 Prozentder ArbeitnehmerInnen mit wenig sozialer Unterstützung lei-den unter Stress (vs. 17 Prozent der Beschäftigten mit hohersozialer Unterstützung), 19 Prozent an allgemeiner Müdigkeit(13 Prozent), 8 Prozent an Schlafstörungen (6 Prozent) 12 Pro-zent leiden unter Reizbarkeit (7 Prozent).

Die KostenAbgesehen vom individuellen Leid, das psychische Arbeitsbe-

lastungen und in der Folge Beschwerden und Erkrankungen ver-ursachen, kommen arbeitsbedingte psychische Erkrankungen

Wenn Arbeit psychischkrank macht, … kommt sie allen

T E U E RDas ist, in aller Kürze, das Resümee der WIFO-Studie„Psychische Belastungen der Arbeit und ihre Folgen“ imAuftrag der Wiener Arbeiterkammer. Von Markus Koza.

Page 11: Alternative Juli/August

auch teuer. Internationale Studien schätzen, dass in Europa zwi-schen 50 und 60 Prozent aller krankheitsbedingten Arbeitsaus-fälle in der einen oder anderen Form auf Arbeitsstress zurückzu-führen sind. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten in Folge dergeringeren Arbeitsleistung und -produktivität: Kosten im Aus-maß von 1,5 bis vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes, jenachdem, ob neben den unmittelbaren medizinischen undbetrieblichen Kosten auch noch eine Bewertung des Verlustsan Wertschöpfung und Einschränkung der Produktivität vorge-nommen wird oder nicht.

Für Österreich werden die Kosten psychischer Beschwerdenbzw. Erkrankungen – nicht zuletzt, da Krankenstände auspsychischen Gründen erheblich länger dauern als solche inFolge körperlicher Beschwerden – auf1,2 Prozent des Bruttoinlands-produktes – rund3,3 Milliarden Eurogeschätzt (medizini-sche und betrieblicheKosten, berechnet fürdas Jahr 2009).

Forderungen derArbeiterkammer …Vor dem Hintergrund der WIFO-Studie und dem Ziel, Arbeit-

nehmerInnen länger und vor allem gesund im Erwerbsleben zuhalten, fordert die AK daher Reformen im Bereich des Arbeit-nehmerInnenschutzes. Etwa:•Die gesetzliche Verankerung von Arbeits- und Organisations-psychologinnen im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz als gleich-berechtigte Präventivkraft samt Festlegung der Aufgabefelderund angemessener Präventionszeiten.•Die gesetzliche Evaluierung psychischer Arbeitsbelastungendurch diese Arbeits- und OrganisationspsychologInnen.•Die gesetzliche Verankerung der arbeitspsychologischenBetreuung in Arbeitsstätten mit bis zu 50 Beschäftigten nachdem Modell „AUVAsicher“.•Wirksame Maßnahmen gegen krankmachende psychischeBelastungen, wie die Eindämmung unfreiwilliger und übermä-ßiger Überstunden.•Die Bereitstellung von mehr finanziellen Mitteln für diearbeits- und organisationspsychologische Forschung zur Ein-dämmung arbeitsbedingter psychischer Belastungen.

… und was die AUGE/UG noch zusätzlich willDie Forderungen der AK sind selbstverständlich unterstüt-

zenswert und finden sich auch teilweise in Programmen derAUGE/UG. Sie sind uns allerdings nicht weitgehend genug.Wie bereits erwähnt: Ein wesentlicher Faktor für „gute Arbeit“,für Arbeit die nicht krank macht, die vor allem auch nicht psy-chisch krank macht ist „selbstbestimmtes“ Arbeiten, Arbeitsau-tonomie bzw. Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Der „gesundeArbeitsplatz“ ist für uns daher im wesentlichen auch der„demokratische Arbeitsplatz“. Es braucht neben einer Reformdes ArbeitnehmerInnenschutzes auch eine Reform des Arbeits-rechts und des Arbeitsverfassungsrechts, um zumindest einmaldie (individual-)rechtliche Basis für mehr Demokratie und Mit-

bestimmung im Betrieb und am Arbeitsplatz sicherzustellen.Wir wollen u.a.:• die Verankerung von „BürgerInnenrechten“ im Betrieb: Dasbeinhaltet u.a. das Recht auf Information, freie Meinungsäuße-rung und Stellungnahme zu betrieblichen Bedingungen wieArbeitsorganisation, Arbeitsabläufen und Arbeitsplatzgestal-tung. Die Wahrnehmung dieser demokratischen Grundrechte

darf dabei keine disziplinarischen Folgenhaben. So soll bei kritischer, freier Mei-nungsäußerung die unmittelbar dasbetriebliche, arbeitsorganisatorischeUmfeld des/der betroffenen Arbeit-

nehmerIn betrifft, ein befristeter Kündi-gungsschutz über eine „Abkühlphase“ von zumBeispiel drei Monaten hinweg gelten.• ArbeitnehmerInnen soll das arbeitsverfas-sungsmäßig garantierte Recht eingeräumtwerden, wesentliche Entscheidungen, dieihren Arbeitsplatz, ihre Arbeitstätigkeit bzw.ihr Arbeitsumfeld betreffen mit ihrem Vorge-setzten und auch auf nächsthöherer Ebeneerörtern zu können.Das Mitbestimmungsinstrument „Soziales

Audit“ (z.B. über erzwingbare Betriebsvereinba-rungen) soll stärker in Unternehmen verankert bzw. institutio-nalisiert werden: Dieses Instrument hat das Ziel, betrieblicheVeränderungsprozesse aus Sicht der ArbeitnehmerInnen zubegleiten und die Qualität der Arbeitsbedingungen unterneuen Verhältnissen abzusichern.•Das Weisungsrecht von Arbeitgebern gegenüber Arbeitneh-merInnen soll hinsichtlich einer Interessensabwägung zwischender Gewissensfreiheit des/der ArbeitnehmerIn und den Vorga-ben des/der Arbeitgebers/in beschränkt werden.•Ein Recht auf Ablehnung gefährlicher bzw. Umwelt schädi-gender Arbeiten soll gesetzlich verankert werden: Ein Arbeit-nehmerIn darf nicht disziplinarisch belangt werden, wenn siees ablehnt, Arbeiten auszuführen, von denen sie ehrlicherweiseglaubt bzw. berechtigterweise annehmen muss, dass sie eineernste Bedrohung für Gesundheit und Umwelt darstellen.•Verbesserung der Möglichkeit für ArbeitnehmerInnen, dieArbeitszeit nach persönlichen Bedürfnissen zu gestalten (z.B.aufgrund von Kinderbetreuungspflichten, Burn-Out-Prävention,Bildungsmaßnahme), z.B. durch ein individuelles Recht auf„qualifizierte“ Teilzeit mit Rückkehrrecht zu Vollzeit. Wir wollenumgekehrt einen Rechtsanspruch auf Stundenaufstockung beiTeilzeit, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg regelmä-ßig Mehrstunden geleistet werden müssen.•Wir wollen einen Rechtsanspruch auf ein Kontingent (zumBeispiel in Summe ein Jahr Sabbatical, zwei Jahre Bildungska-renz, Mindestabstand der Inanspruchnahme einer Auszeit:Fünf Jahre, maximal zweifache Stückelung – also etwa zweimalje ein halbes Jahr Sabbatical) zeitlich befristeter, beruflicherAuszeiten (Sabbatical, Bildungskarenz etc.) während derErwerbsphase bei Bezug eines fiktiven Arbeitslosengeldes,mindestens Mindestsicherung.

SEITE 11 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 12: Alternative Juli/August

Vor kurzem wurden die Ergebnisse einer umfangreichen Erhebung der Armutskonferenz zumVergleich der Mindestsicherung in den einzelnen Bundesländern präsentiert.

Renate Vodnek sprach mit Martin Schenk über die Ergebnisse sowie über notwendige Änderungenim Sozial- und Wirtschaftssystem.

ARMUT IST KEINNATUREREIGNIS

SEITE 12 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Magazin

Was sind die wesentlichen Ergebnisseder Evaluierung?

Es ist ja noch so, dass das unteresoziale Netz gerne ideologisch vermintwird. Mit der Mindestsicherung wirdjetzt das Sozialsystem „armutsfest“gemacht. Sagten die einen. Jetzt wird jakeiner mehr arbeiten gehen. Sagten dieanderen. Nichts von beiden ist eingetre-ten. Die Mindestsicherung macht wederdas Sozialsystem armutsfest, noch führtsie dazu, dass keiner mehr arbeitengeht. Man kann rhetorisch und ideolo-gisch wieder abrüsten. Die Mindestsi-cherung ist ja vor allem mit dem Zielangetreten, die je Bundesland unter-schiedliche Sozialhilfe zu vereinheitli-chen. Von einer österreichweiten Rege-lung kann jedoch nach wie vor nichtdie Rede sein. Letztendlich herausge-kommen sind Mindestsicherungs-Gesetze, die in ihrer Unübersichtlichkeitden alten Sozialhilfe-Gesetzen in nichtsnachstehen. Nach wie vor gilt: Wasjemandem in welcher Lebenssituationzusteht, wird wesentlich vom Wohnortbestimmt. Das entbehrt sachlich jeder

Grundlage. Neben den unterschiedli-chen Gesetzen und Vollzugspraktikenkritisiert die Studie vor allem diebehördlichen Hürden im Zugang, dieWillkür im Bereich der Kann-Leistungenund die nicht gedeckten Wohnkosten,die kaum zur Existenzsicherung reichen.Gehäuft treten Probleme in den Bun-desländern Niederösterreich, Kärnten,Burgenland und Steiermark auf.

Es gibt manche, die meinen, die Min-destsicherung sei eine „soziale Hänge-matte“ – was würdest du diesen Men-schen als Antwort geben?

Erstens: Aussuchen kann man sich dagar nichts. Denn wer zur Zeit mehr als3800 Euro hat, ein Sparbuch, ein nichtzur Arbeit benötigtes Auto, eine privatePensionsvorsorge oder auch nur eineSterbegeldversicherung, muss alles ver-kaufen, das Geld verbrauchen, bevor ersich überhaupt aufs Sozialamt trauenkann. Bei Wohnungseigentum sichertsich das Land noch im Grundbuch ab.Neben PartnerInnen im gemeinsamenHaushalt werden auch andere Ver-wandte zu Unterhaltsleistungen ver-pflichtet. Zweitens: Die Ausweitung desNiedriglohnmarkts und prekärer Jobssind schlecht für alle. Wir müssen fürArbeit kämpfen, von der man auchleben kann. Dass Erwerbslose nicht schi-kaniert werden, dass die, die Sozialleis-tungen beziehen, nicht gegen diejeni-gen ausgespielt werden, die sie womög-lich bald brauchen werden, nützt aucheuch: Es verhindert Lohndumping undden Abbau von sozialen Rechten.

Wer sind die Mindestsicherungs-Bezie-herInnen?

173.000 Menschen in Privathaushal-ten leben unter Sozialhilfe-Bedingun-gen, darunter 30 Prozent Kinder undJugendliche, Frauen sind etwas stärkerbetroffen. Die Anzahl hat sich seit Endeder 90er Jahre verdoppelt. Gründedafür sind prekäre Jobs, fehlende odernicht existenzsichernde Sozialleistungenbei Arbeitslosigkeit, psychische Erkran-kungen und hohe Lebenshaltungskos-ten beim Wohnen. Prekäre Jobs mitdaraus folgendem nicht existenzsi-chernden Arbeitslosengeld nehmen zu.Die neuen ,working poor’ erhalten vonder Mindestsicherung ,Mindeststan-dardergänzungen’, um zu überleben.Weiters haben Personen mit physischenoder psychischen Beeinträchtigungenauf dem Arbeitsmarkt schlechte Chan-cen. Besonders nehmen depressiveErschöpfungszustände zu: Erste Studienzeigen: 4 von 10 Mindestsicherungsbe-zieherInnen haben gesundheitlicheBeeinträchtigungen.

Und die steigenden Lebenshaltungs-kosten beim Wohnen wirken sich beigeringem Einkommen überproportionalstark aus. Eine aktuelle Studie überBezieherInnen von Sozialhilfe hat aufeindrückliche Weise die schwindendesoziale Integrationskraft von Erwerbsar-beit gezeigt. Sie handelt von Menschen,die zwischen letztem sozialen Netz undschlechten, desintegrativen Jobs hinund her pendeln. Sogenannte „Pendler“und „Wiedereinsteiger“ machen bereits42 Prozent der Mindestsicherungsbezie-

Renate Vodnek

ist psychologin und gewerkschafts-aktivistin.

Page 13: Alternative Juli/August

herInnen aus. Sie pendelnzwischen der „Zone derEntkoppelung“ und der„Zone der Verwundbarkeit“wie der Soziologe RobertCastel formuliert. Aus derArmut ohne Arbeit geht esin die Armut mit Arbeit –und umgekehrt. Hier ver-kommen die Sprüche vonder „Integration in denArbeitsmarkt“ zu realitäts-leeren Parolen. Hier findet keine sozialeIntegration statt. Im Gegenteil. Hier ent-steht soziale Ausgrenzung durch dieArbeit selbst.

Es trifft viele, die es sich „nie gedachthätten“. Daten aus Wien zeigen, dass fürdie große Mehrheit die Mindestsicherungeine kurzfristige Überbrückungshilfe dar-stellt. Die durchschnittliche Bezugsdauerbetrug rund 7 Monate, bei 25 Prozent bloß1 bis 3 Monate. Nur rund 10 Prozent derMindestsicherungs-Haushalte leben zurGänze und dauerhaft von der Leistung.

Gibt es Schätzungen, wie viele MenschenMindestsicherung nicht beantragen undhat sich diese Zahl im Vergleich zur Sozi-alhilfe verändert?

Die aktuell verfügbaren Daten sprechenvon 50 Prozent Nichtinanspruchnahme.Also die Hälfte aller Berechtigten nimmtdie Hilfe nicht in Anspruch, die sie eigent-lich bräuchte. Was wir brauchen sind bes-sere Informations- und Rechtschutzange-bote. Es muss gleichen Zugang zum Rechtfür alle geben, egal ob arm oder reich. Esbraucht ausreichendes und gutes Personal,das ist bei weitem nicht gesichert. Zu Ver-änderungen haben wir keine neuen Daten.Schwer zu sagen. In Wien dürfte sich dieInanspruchnahme verbessert haben, auchin Teilen Salzburgs. Besonders wenig bür-gerfreundlich ist es in Niederösterreich,Kärnten und Burgenland. In der Steier-mark gab es Verschlechterungen.

Mindestsicherungs-BezieherInnen sindauch Berufstätige oder PensionistInnen –was müsste sich ändern, damit diese nichtmehr darauf angewiesen sein müssen?

Die Mindestsicherung kann nichtStaubsauger für alle strukturellen Pro-bleme sein, die in der Mitte der Gesell-schaft angelegt sind: Arbeitslosigkeit,Pflegenotstand, prekäre Jobs, mangelndesoziale Aufstiegschancen im Bildungssys-tem. Da gilt es gegenzusteuern. Wir kön-nen viel tun. Es gibt genügend Instru-

mente und Möglichkeiten, imVollzug der Mindestsicherung,in der Schule, beim Wohnen,in der Pflegefinanzierung, inder Ressourcenstärkung derBetroffenen und mit sozialenDienstleistungen gegenzu-steuern. Armut ist kein Natur-ereignis, das es mit jederneuen Erhebung frisch zubestaunen gilt. Angesichts derwachsenden sozialen Notla-

gen kann es keine halben Lösungen fürganze Probleme geben. Es kann keineMindestsicherung geben, die diesenNamen verdient, ohne dass die tatsächli-chen Wohnkosten für Armutsbetroffeneabgedeckt werden, ohne die Sicherungösterreichweiter Standards bei existentiel-len Nöten in besonderen Lebenslagen(kaputter Boiler, Geburt eines Kindes,Schulsachen etc.), ohne eine bürger-freundliche Reform des Vollzugs in denLändern. Die Mindestsicherung ist nurdann „bedarfsorientiert“, wenn es pas-sende Angebote für die jeweilige Notlageder Betroffenen gibt. Wenn „worklesspoor“ nicht in „working poor“ verwandeltwerden mit prekären, nachhaltig dequali-fizierenden Jobs. Wenn die vielfältigenProblemlagen wie Wohnen, Kinderbetreu-ung, gesundheitliche Beeinträchtigungen,Schuldenregulierung bearbeitet werden.

Das Ziel müsste sein, dass möglichstwenig Menschen auf die Mindestsiche-rung angewiesen sind – wie kann daserreicht werden?

Geld hilft gegen Armut, die monetärenLeistungen reduzieren das Armutsrisiko inÖsterreich um den Faktor Drei. Aber einerFrau nützen 700 Euro gar nichts, wenndie Miete gleichzeitig massiv ansteigt, eskeine Kinderbetreuung gibt, beim Arztimmer gezahlt werden muss, Gebührensteigen, die Schule keine kostenlose Nach-mittagsbetreuung für ihr Kind anbietet,die Pensionsversicherung privat gezahltwerden soll. Soziale Dienstleistungen sindfür die Armutsbekämpfung zentral. Undda hat Österreich einigen Nachholbedarf,besonders was Kinder/ Jugendlichebetrifft. Wer mit Arbeitslosen zu tun hat,denkt an Bildung, an Existenzsicherung,an Wohnen, Familie, Gesundheit. Wer mitGesundheitsfragen von Armutsbetroffe-nen zu tun hat, sorgt sich um Beschäfti-gung, trockene Wohnungen, Bildung,Erholungsmöglichkeiten und eine Lösungder stressenden Existenzangst.

Es gibt je nach Definition unterschiedli-che Armutsgrenzen – wann ist mensch„arm“ bzw. wie viel Geld sollte einen Men-schen zur Verfügung stehen?

Armut ist immer ein existenzieller Man-gel an Gütern, aber auch einer an Mög-lichkeiten. Es kommen also zwei Dingezusammen: minimales Einkommen undbedrückende Lebensumstände. Vom Geldher haben die Referenzbudgets gezeigt,mit welchem Haushaltsbudget man soirgendwie zu Recht kommt. Da wird aus-gabenseitig gerechnet, was unterschiedli-che Haushaltstypen in Österreich notwen-digerweise brauchen. Bei einer alleinle-bender Person sind das 1.230,— Euro.Grundsätzlich geht es aber auch umAnerkennung, gute Beziehungen oderGesundheit. Es geht darum, was Men-schen haben, aber immer auch darum,was sie tun und sein können.

Lässt sich abschätzen, welche Auswirkun-gen der Fiskalpakt bzw. die Schulden-bremse auf die Mindestsicherung habenwerden?

Das kann man nur von der Tendenzabschätzen. Aber wird bei den monetärenSozialleistungen gekürzt, die den unters-ten Einkommen zu Gute kommen, dannerhöht sich die Armut. Wird bei sozialenDienstleistungen gestrichen, die laut Ver-teilungsstudie des WIFO (ÖsterreichischesInstitut für Wirtschaftsforschung) denSchwächsten nützen, dann verschärft sichder Druck auf die Mindestsicherung. Wirdder Niedriglohnsektor ausgedehnt, dannsteigt die Zahl der Betroffenen. Geradedie Staaten mit besser ausgebauten sozia-len Sicherungssystemen sind auch bisherbesser durch die Krise gekommen. Sozialwie ökonomisch.

Studie: www.armutskonferenz.at.Buchtipps:– Schenk, Martin & Moser, Michaela (2010).Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut. Deu-ticke.– Stelzer-Orthofer, Christine & Weidenholzer,Josef (2011). Aktivierung und Mindestsiche-rung. Nationale und europäische Strategiengegen Armut und Arbeitslosigkeit. Mandel-baum– Dimmel, Nikolaus (2011). Recht haben undRecht kriegen. Arbeitsbuch Sozialhilfe undBedarfsorientierte Mindestsicherung.Bezugsquelle: ÖGB-Verlag, Rathausstraße 21,1010 Wien.

SEITE 13 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Martin Schenk, Sozialexperte

der Diakonie, Mitinitiatorder Armutskonferenz

Page 14: Alternative Juli/August

SEITE 14 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Magazin

as wurde uns nichtvor Jahrzehnten ver-

sprochen, und wie wurdedas Meiste davon gebro-

chen. Man kann den Kopfeinziehen und resignieren, –

oder sich sinnvoll wehren. Die Gewerk-schaft Öffentlicher Dienst (GÖD) bietetRechtsschutz an, es muss sich nurjemand finden, der mit finanziellerRückendeckung der GÖD den Klags-weg beschreitet. Wer sich wehrt, kannverlieren. Wer sich nicht wehrt, hatschon verloren. Ich habe im September1977 meinen Schuldienst an derHauptschule Neuhofen an der Kremsangetreten. Bruttogehalt: 8713 Schil-linge, dazu kamen 100 Schilling Bil-dungszulage und 30 Schilling Woh-nungs-Beihilfe. Machte 6829,84 Schil-linge netto. Damit konnte man nurschlecht seinen Lebensunterhaltbestreiten, wenn man auch noch dasAuto abzahlen musste, das jetzt not-wendig wurde. Auch ein Hausstandwar zu gründen, Hotel Mama warkeine Alternative. Ohne zusätzliche Ein-nahmequellen wäre es sich nicht aus-gegangen, in den Nebenjobs wurde

einem auch nichts geschenkt – die ers-ten Dienstjahre habe ich gearbeitet,was das Zeug hielt.

Wir wurden vertröstet„Jaja, das sind die Anfangsbezüge,

aber regt euch bitte nicht auf: Allezwei Jahre geht es aufwärts, und wennihr 60 seid, dann geht ihr mit mindes-tens 80 Prozent der Endbezüge in Pen-sion, mit den Nebengebührenwertenbis zu 100 Prozent, Pensionsbeiträgebraucht ihr dann auch nicht mehrbezahlen. Ihr habt eine goldeneZukunft.“ Das hörten wir damals.

Schüssels Salami-TaktikÜber ein Vierteljahrhundert später

gingen Schüssel, Grasser & Co. ansWerk, jetzt wurde die „ÖVP-Wirtschafts-kompetenz“ demonstriert: Erst wurdedie „Durchrechnung“ eingeführt, unterder Devise „Eh nur die fünf bestenJahre, die verbringt ihr ja alle in derhöchsten Gehaltsstufe, also kein Grundzur Panik!“. Der Durchrechnungszeit-raum wurde in der Folge sukzessiveerweitert, mir schwante damals schon,dass letztlich die ganze Arbeitszeitdurchgerechnet würde, um die Pensi-onshöhe (mittels der niedrigenAnfangsgehälter) deutlich zu reduzie-ren. Für mich als späten 1954er wer-den es im Pensionsjahr 2019 geschla-gene 22 Jahre und 10 Monate sein.Die bin ich sicher nicht in der höchstenGehaltsstufe!

Weiters werden die Gehälter von frü-her zur Durchrechnung inflationsberei-

nigt aufgewertet („valorisiert“). DerDienstgeber selber musste eingeste-hen, dass der Aufwertungsfaktor zuniedrig ist. Wir werden ein weiteresMal bedackelt.

Pensionsantritt hinausgeschobenGemäß umfangreicher Tabellen

wurde das Pensionsalter hinaufgesetzt,ab 2. Oktober 1952 Geborene beka-men ein Pensionsantrittsalter von 65Jahren verpasst. Das bedeutet: FünfJahre länger Beiträge einzahlen undgleichzeitig, egal, wie alt man wird,fünf Jahre weniger Pensionsbezug! Dassieht dann schon ein Blinder, dass daseinen gewaltigen Betrag ausmacht, umden uns die schwarz-blauen „Genies“,die sich in ihrem persönlichen Einkom-menszuwachs nicht gerade als zimper-lich erwiesen, gebracht haben.

„Hacklerregelung“Um einen Aufstand zu hintertreiben,

tröstete man die ersten paar betrof-fene Jahrgänge mit der Möglichkeit,mittels Nachkauf von Versicherungszei-ten (die vorher beitragsfrei angerech-net wurden!) auf die erforderlichen 40Versicherungsjahre zu kommen undmit einschließlich Jahrgang 1953 alsLangzeitversicherte/r mit 60 Lebens-jahren ohne Abschläge in Pensiongehen zu können. Diesen KollegInnenneiden wir sicher nicht ihr knappesEntkommen aus der ÖVP-Pensions-Drahtschlinge. Im Gegenteil: Wir fin-den es in Ordnung, dass die Lehrerin-nenarbeit, auch angesichts der Tatsa-

Wilfried Mayr

Vorsitzender der

Wut und Enttäuschung. Mehr kann man wohl nicht empfinden, wenn man Jahrgang 1954 oder jünger ist. Von Wilfried Mayr.

BETROGENEGENERATION

Page 15: Alternative Juli/August

che, dass das Unterrichtenin den letzten 20 Jahren von Jahr zuJahr anstrengender wurde und schlech-ter entlohnt ist, mit Vollendung des 60.Lebensjahrs durch eine abschlagsfreiePension gewürdigt wird.

Allerdings sollte das auch für jenegelten, die nach dem 31. Dezember1953 zur Welt kamen und denen Jahr-zehnte lang etwas versprochen wurde,was jetzt nicht gehalten wird. Ein ehe-maliger Schulkollege, der als Juristarbeitet, nennt das einen legalenBetrug. Das denke ich auch. Wir sinddie betrogene Generation!

Ab Jahrgang 1955 kommt es nochdicker: Die Dienstzeiten bis 2004 wer-den in Hinsicht auf die Pension alsBeamtenjahre gerechnet, alle weiterennach dem PVA-Tarif und daraus eineMischpension errechnet, natürlich nochniedriger. Allerdings nur nach demPVA-Tarif, die PVA weiß von diesen Kol-leginnen gar nichts, und deshalb wer-den auch Arbeitsjahre, die man neben-bei z.B. als Lehrerin an einer PädAktätig war und brav Pensionsbeiträgezahlen musste, erst berücksichtigt,wenn man mindestens 15 Jahre dieserZweittätigkeit nachgegangen ist.Schüssel & Co. nannten es„Pensionsharmonisierung“, statt zweierPensionssysteme gibt es nunmehr drei,– echt vereinfacht also:-(.

Ein tragisches Beispiel: Eine VS-Kolle-gin, Jahrgang 1953, dachte sich in den1970er Jahren, in der höchstenGehaltsstufe wird sie in Jahrzehntenschon noch lange genug sein, um eineordentliche Pension zu erhalten undarbeitete vier Jahre lang bei derDiözese statt an der Volksschule. Dortdurfte sie zwar brav PVA-Pensionsbei-träge zahlen, sehen wird sie von denenaber nie etwas. Und die vier Diözesan-jahre gehen ihr soweit ab, dass sienicht in die Hacklerregelung kommt,

weil sie keinevierzig Unterrichtsjahre zusammenb-ringt, auch nicht mit Nachkauf. Sie istalso zwischen alle Stühle gefallen mitihrem Vertrauen auf Rechtssicherheit.

GÖD zahlt MusterprozessDie GÖD steht dazu, die Änderun-

gen bei der Langzeitversichertenrege-lung sowie bei der Korridorpensionbeim Verfassungsgerichtshof anhandvon Musterverfahren zu bekämpfen,bis dato ist aber kein Rechtsschutzfallanhängig. Der Grund liegt darin, dassdie GÖD diese Angelegenheit nichtselbst verfolgen, sondern nur eineunmittelbar Betroffene bzw. einenunmittelbar Betroffenen mittelsRechtsschutz unterstützen kann.

Was die Änderungen bei derLangzeitversichertenregelung betrifft,so könnten Betroffene ihre Ruhe-standsversetzung mit Vollendung des60. Lebensjahres erklären und einenFeststellungsbescheid verlangen. Nachdem eine solche Erklärung ein Jahr vordem beabsichtigten Termin abgegebenwerden kann, ist eine solche für Jänner1954 Geborene ab Jänner 2013, fürspäter Geborene entsprechend spätermöglich. Sobald die rechtlichenVoraussetzungen vorliegen, ist abereine Prüfung durch die GÖD im Einzel-fall unerlässlich.

Daher: Kolleginnen, die Mitgliederder Gewerkschaft Öffentlicher Dienstsind und am besten möglichst früh imJahr 1954 geboren wurden, bitte füreinen Musterprozess melden! Die GÖDwürde durch ihren Rechtsschutz dasfinanzielle Risiko tragen, es brauchtalso nur wenig Mut und Ausdauer.

SEITE 15 • ALTERNATIVE 7-8/2012

ug-oegb.at

auge.or.at

kiv.at

ugoed.at

ug-vida.at

we4you-ug.at

LASSEN WIR UNS NICHT ALLES GEFALLEN,

WEHREN WIR UNS!

Page 16: Alternative Juli/August

SEITE 16 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 17: Alternative Juli/August

SEITE 17 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 18: Alternative Juli/August

SEITE 18 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Gewerkschaft & Betrieb

Frühjahr verteil-ten die Geschäfts-führung und derVorstand der AidsHilfe Wien an diemit „Altverträgen“

beschäftigen langjährigen Mitarbeiter-Innen „freiwillige“ Optierungsangebotein den BAGS-Kollektivvertrag (BAGS-KV). Sollten die betroffenen KollegIn-nen nicht „freiwillig“ bis Ende Mai2012 – mit Wirksamkeit ab 1. Jänner2013 – in den BAGS-KV wechseln wol-len, würde sich der Verein von den Kol-legInnen wahrscheinlich trennen müs-sen. Da die KollegInnen aufgrund frü-herer Vereinbarungen ein höheresLohnniveau haben, würde das für dieBetroffenen Nettoeinkommensverlustebis zu 16 Prozent bedeuten.

Wie kam es zu dazu?Die Aids Hilfe Wien wird zu sechzig

Prozent durch das Gesundheitsministe-

rium und zu vierzig Prozent aus Mit-teln des Fonds Soziales Wien (FSW)gefördert und finanziert. Die Valorisie-rung der Fördermittel vom FSW erfolgtjährlich. Laut Information durchGeschäftsführung und Vorstand fandallerdings seit zirka zwölf Jahren keineValorisierung der Fördermittel durchdas Gesundheitsministerium statt. Indieser Zeit gab es lediglich zwei Maleine jeweils nur für ein Jahr wirksameEinmalzahlung. Bereits vor zwei Jahrenkam es zu finanziellen Engpässen, wel-che Kündigungen von MitarbeiterIn-nen zur Folge hatten – also keine neueSituation. Aber die Geschäftsführung,und der Vorstand rechnen für 2012mit einer erheblich schwierigerenFinanzsituation. Seitens der Geschäfts-führung werden die drohenden Ver-luste vor allem auf die für einen sozia-len Dienstleistungsbetrieb allerdingstypisch hohen Lohnkosten von unge-fähr 75 Prozent des Gesamtbudgetszurückgeführt.

„Unlauteres“ MittelDazu bediente sich der Vorstand

eines aus Gewerkschaftssicht sehr„unlauteren“ Mittels: Er benutzte eineBestimmung im BAGS-Kollektivvertrag,die dazu geschaffen wurde, dassKollegInnen wechseln können, wennder Wechsel für sie zu einer Verbesse-rung und eben keiner Verschlechterungführen würde.

Weiters wurde – in derartigen Kon-fliktfällen ebenfalls nicht unbekannt –im Falle der Nicht-Optierung die Mög-lichkeit von Kündigungen bzw. Ver-tragsänderungen („Änderungskündi-gungen“) mitgeteilt. Die Folgen sindder Verlust von MitarbeiterInnen mitlangjähriger Erfahrung und entspre-chender Qualifikation, die auch für dieEinschulung neuer KollegInnen zustän-dig zeichnen, sowie eine Reduzierungder Qualität des Angebots.

Gibt es also von Seiten der verant-wortlichen öffentlichen Fördergeberkein klares Bekenntnis zur Aufrechter-haltung des qualitativ hochwertigenBeratungs- und Betreuungsangebotesfür HIV-positive Menschen, wird es dasderzeit bestehende Angebot zumin-dest in diesem qualitativen Umfangfür einige Zeit nicht mehr geben.Damit stehlen sich die öffentlichenStellen aus der Verantwortung fürdiese, insbesondere für die Bevölke-rung in Wien (sowie im Burgenlandund in Niederösterreich, welche vonder Aids Hilfe Wien zusätzlich mitver-sorgt werden) auch im Sinne der fürHIV-Präventions- und Öffentlichkeits-arbeit so wichtigen Organisation.

InitiativeAls die AUGE/UG von den finanziel-

len Schwierigkeiten der Aids HilfeWien erfuhr, löste es „Verwunderung”aus, dass es offensichtlich aufgrund

Christine Rudolf

politischeSekretärin der

Weil die Aids-Hilfe Finanzierungsschwierigkeiten hat, drohen den Beschäftigten Gehaltseinbußen. Von Christine Rudolf.

Hilfe für die

Page 19: Alternative Juli/August

der schon seit zwölf Jahren ausstehen-den Valorisierung und gleichbleiben-den Fördergeldern durch das Gesund-heitsministerium keinen anderen Aus-weg in der Logik des Vorstandes undder Geschäftsführung gab, als denBeschäftigten bezüglich ihrer Verträge„verschlechternde Angebote” zumachen. Natürlich ist nicht bekannt,inwiefern zuvor bereits Gespräche mitdem zuständigen Fördergebern, insbe-sondere dem Gesundheitsministeriumstattfanden. Nichts desto trotz machtes kein gutes Bild in der Öffentlichkeit,wenn ein sozialer Verein, der für dieWiener Bevölkerung einen so wichtigenBeitrag im Rahmen des Kampfesgegen HIV/Aids leistet, Finanzierungs-schwierigkeiten mit derartigen Mittelnauf dem Rücken langjährig beschäftig-ter, hoch qualifizierter ArbeitnehmerIn-nen ausgeträgt.

Deshalb brachte die AUGE/UG inder Arbeiterkammer Wien (AK) bereitsam 25. April 2012 zwei Dringlichkeits-anträge in die Vollversammlung ein,um Unterstützung für die KollegInnender Aids Hilfe Wien einzufordern, sowiedie politisch Verantwortlichen und ins-besondere das Gesundheitsministeriumaufzufordern, ausreichende finanzielleMittel zur Verfügung zu stellen! DieAnträge wurde bereits im Ausschussfür Kommunalpolitik und Regionalpoli-tik (mehrheitlich angenommen) und imAusschuss für Allgemeine Sozialpolitik,Arbeitsrecht und Rechtspolitik behan-delt (mehrheitlich zugewiesen). Von

ersterem Ausschuss erging ein Brief andie Amtsführende Stadträtin fürGesundheit und Soziales in Wien,Magª Sonja Wehsely (SPÖ), mit derBitte um Unterstützung – bis heutegibt es dazu keine Antwort.

Die entsprechenden Anträge sindnachzulesen auf der Homepage derAUGE/UG Wien unter „Anträge 2012“(auge.or.at).

Es bleibt zu hoffen, dass die AK-Ver-antwortlichen und AK-RätInnen derMehrheitsfraktion „Sozialdemokrati-sche GewerkschafterInnen“ (FSG), wel-che gleichzeitig u.a. auch VertereterIn-nen aus den betreffenden Gewerk-schaften sind, verstanden haben, dassdiese unlautere Vorgangsweise gefähr-liche Beispielwirkung für andere Ver-eine im Sozial- und Gesundheitsbereichhaben könnte!

SolidaritätLeider ist trotz unserer Initiativen in

AK und Gewerkschaften sowie Gesprä-chen mit Verantwortlichen im Gesund-heitsministerium bis dato nicht vielÄnderung eingetreten. Sechs Mitarbei-terInnen wurden zur Kündigung ange-kündigt – drei KollegInnen aus derBetreuungsabteilung (Hälfte der Mitar-beiterInnen) wurden bereits gekündigt,weil sie die Änderungskündigung nichtunterschrieben haben und ein paarandere sind mit Verlusten optiert.Wenigstens gab es durch unsere AK-Initiative und Druck von anderen

BetriebsrätInnen aus sozialen Vereinenin Wien am 15. Juni eine Presseaussen-dung der GPA-djp und die Regionalge-schäftsführerin der GPA-djp, BarbaraTeiber, hat zugesagt mit den politischVerantwortlichen diesbezüglich Gesprä-che zu führen.

Aber sind wir uns ehrlich: OhneDruck in der Öffentlichkeit und auf diepolitisch Verantwortlichen wird eswahrscheinlich kein Einlenken derGeschäftsführung und des Vorstandesder Aids Hilfe Wien geben. PolitischeVerquickungen zwischen Stadtregie-rung, Parlament und Personen im AidsHilfe Vorstand tun ihr übriges. Nichtzuletzt braucht es daher immer auchein wenig Druck „von außen“ aufunsere Gewerkschaftsführungen, umihren Worten auch Taten folgen zu las-sen. Daher brauchen die Beschäftigenund der Betriebsrat der Aids HilfeWien unsere Unterstützung und Soli-darität! Und zwar nicht nur aus solida-rischer Selbstverständlichkeit heraus,sondern auch in Anbetracht der aufuns zurollenden Sparwellen und derBeispielwirkung, welche diese Vor-gangsweise auf andere Vereine imSozial-, Gesundheits- und Bildungsbe-reich bei zukünftigen Finanzierungs-schwierigkeiten haben könnte.

AufrufWir rufen alle KollegInnen und

Beschäftigten im Sozial- und Gesund-heitsbereich, sowie alle am Erhalt desqualitativ hochwertigen AngebotesInteressierten dazu auf, diese Informa-tion zu verbreiten, um möglichst vieleMenschen darüber aufzuklären, washier passiert und sich mit den Beschäf-tigten zu solidarisieren. Vielleichtgelingt es uns dadurch gemeinsam, diepolitisch Verantwortlichen unter Druckzu setzen, etwas zu unternehmen! Bittehelft uns dabei! Beispielsweise durchVersenden des Links zum entsprechen-den Unterstützungs-Aufruf auf unse-rem Blog www.sozialmilliarde.at bzw.unserer Homepage www.kiv.at/vernet-zung.soziales, oder durch Verbreitender Info auf Facebook, aber auch durcheine Unterstützungserklärung an dieBetriebsrätInnen selbst!

SEITE 19 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Unterstützungsaufruf des Betriebsrates

Liebe KollegInnen, BetriebrätInnen in anderen Bereichen und UnterstützerInnen!

Wir bitten Euch um zahlreiche Unterstützungserklärun-gen, um uns im Kampf gegen den Abbau von langjäh-rigen erfahrenen MitarbeiterInnen zu helfen und umdiese auch an diverse EntscheidungsträgerInnen weiter-leiten zu können. Damit unser Angebot in der jetzigenQualität und im gleichen Umfang – nicht nur in derBetreuung von HIV-Positiven und Angehörigen, son-dern auch in dem Angebot der kostenlosen und anony-men HIV-Testung plus Beratung – weiter besteht! Denn

wir leisten für die Wiener Bevölkerung wichtige direkte Präventions-arbeit und diese soll auch fair und gerecht entlohnt werden!

Bitte schickt Eure Unterstützungserklärung oder Solidaritäts-botschaften an: [email protected]

Vielen Dank im Voraus für Eure Unterstützung.

Page 20: Alternative Juli/August

SEITE 20 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Gewerkschaft & Betrieb

or einiger Zeit ist uns zuOhren gekommen, dass

die AbfallberaterInnen derStadt Wien – MA 48 seit Jah-

ren auf Grundlage von jährlichwiederkehrenden, befristeten

Werkverträgen, die offensichtlicheine Umgehung regulärer Dienstver-hältnisse darstellen, tätig sind. Durchangeblich notwendige Umstrukturie-rungen sollen nun nur mehr 10 der 31betroffenen KollegInnen im Rahmenvon Dienstverträgen im „ArbeiterInnen-Schema“ der Stadt Wien (ohne Anrech-nung von Vordienstzeiten und Zula-gen) und die restlichen KollegInnenweiterhin auf Werkvertragsbasis mitmassiven Stunden- und Einkommens-verlusten weiterbeschäftigt werden.Die KollegInnen haben sich daraufhin– auch gewerkschaftlich – organisiertund treten gemeinsam für faire undkorrekte Arbeits- und Gehaltsbedingun-gen für alle ein!

Abfallberatung – what’s that?„Der beste Abfall ist der, der gar

nicht entsteht: Die Forcierung derAbfallvermeidung ist daher ein Haupt-anliegen der MA 48.“, heißt es auf derHomepage der Stadt Wien zum BereichAbfallberatung und -vermeidung. Zudiesem Zweck gibt es in Österreich seitMitte der 1980er-Jahre die Mülltren-nung und da das ohne die Mithilfe derBevölkerung nicht umsetzbar gewesenwäre seit Ende der 1980er-Jahre inWien die Abfallberatung. Mittels Kam-pagnen, Projekten und offensiverÖffentlichkeits- und Beratungsarbeitsollten Abfallvermeidung und richtigeMülltrennung verständlich gemachtwerden. (Quelle: wien.gv.at/umwelt/ma48/beratung).

Diese Aufgaben führt für die StadtWien die Abfallberatung mit „ihren“AbfallberaterInnen durch!

Vor einiger Zeit wendeten sich dieAbfallberaterInnen von Wien mittelsBrief an ihre zuständigen Vorgesetztenund die Abteilungsleitung, an die poli-tisch Verantwortlichen in der WienerStadtregierung, an die zuständigeGewerkschaft der Gemeindebedienste-ten (GdG-KMSfB) und auch an uns inder Konsequenten Interessenvertretung(KIV/UG), um einerseits auf ihre Situa-tion aufmerksam zu machen und ande-rerseits, um Gespräche und Unterstüt-

zung zu drei wesentlichen Forderungenzu bitten:1. Soziale Absicherung2. Legale Dienstverhältnisse3. Faire Entlohnung

Befristete Werkverträge als„Umgehungsverträge“?Dadurch wurde uns bekannt, dass

die AbfallberaterInnen seit mehr alszehn Jahren auf Basis von jährlich wie-derkehrenden, befristeten Werkverträ-

gen als „Selbständige“ mit Gewerbe-schein für die MA 48 tätig sind. Ihrevielseitigen und für die Umwelt undAbfallwirtschaft der Stadt Wien wichti-gen Tätigkeiten – zum Beispiel Mistte-lefon, Erarbeitung von Projekten undKampagnen, Vorträge an Schulen undKindergärten, Führungen im Bereichder Abfallwirtschaft, Öffentlichkeitsar-beit bei diversen öffentlichen Festenund Veranstaltungen sowie das soge-nannte „Geschirrmobil“ oder der „Müll-kasperl“ und vieles mehr – wiesen füruns aus arbeitsrechtlicher Sicht daraufhin, dass es sich hier um eine Umge-hung regulärer Dienstverhältnisse zurStadt Wien handelt. Sind die KollegIn-nen doch im hohen Maße in die Orga-nisation der MA 48 eingebunden –beispielsweise durch vorgegebeneDienstzeiten, Einbindung in denBetrieb mit betriebseigenen Arbeitsmit-teln, Weisungen durch Vorgesetzte, diesie jederzeit auch von Diensten abzie-hen oder anders einteilen können, undso weiter.

Auch die jährlich immer wieder keh-renden Befristungen ihrer Verträge wie-sen auf eine Umgehung der rechtli-chen Grundlagen bzgl. der EU-Richtli-nie über befristete Arbeitsverträge hin,

welche regelt, dass befristete Beschäf-tigungsverhältnisse nur eingeschränktanwendbar sind und einer genauenÜberprüfung hinsichtlich der sachli-chen Begründung und der Anzahl derhintereinander abgeschlossenenArbeitsverträge Stand halten müssen.

Hinzu kommt, dass das Einkommenaus dieser Tätigkeit für die meistenbetroffenen KollegInnen ihre Existenz-grundlage darstellt – sie also von die-sen „Aufträgen“ in höchstem Maßeabhängig sind!

„Warum kommtIhr erst jetzt?“

Diese Frage wurde den KollegIn-nen von einigen Seiten mehr oderweniger „nett“ gestellt. Doch kannman von niemanden erwarten,dass er damit rechnet die StadtWien beschäftige ihn auf einerechtlich nicht konforme Weise.Wenn man seine Arbeit gern,engagiert und motiviert tut unddie Gesprächsbasis und Zusam-menarbeit mit den Verantwortli-chen von gegenseitigem Respektgetragen ist (übrigens egal beiwelchem Arbeitgeber), sieht manoft selbst über Dinge, die vielleichtstutzig machen würden, hinweg – werdas in seiner Arbeit noch nie erlebthat, der werfe den ersten Stein! Trotz-dem ärgerte es viele der KollegInnennatürlich schon geraume Zeit, dass siekein Urlaubs- und Weihnachtsgeldbekamen, dass sie keinen Anspruch aufbezahlten Erholungsurlaub oder Kran-kenstandstage hatten, dass sie vieleLeistungen, welche regulär Beschäftig-ten rechtlich einfach zustehen, nichtbekommen. Da arbeitete man haltdann soviel, dass man sich das Leben

Die AbfallberaterInnen von Wien brauchen unsere Solidarität und Unterstützung.

Von Christine Rudolf.

SONST WERDEN SIE SELBST ZUM „WE

Page 21: Alternative Juli/August

nach eigenem Abzug von Einkommens-steuern, Sozial-, Kranken- und Unfall-versicherung und Kosten für die Steuer-beratung etc., noch leisten konnte!Und manche hofften natürlich auf einefixe Anstellung oder einen leichterenZugang zu einer anderen Stadt Wien-Beschäftigung irgendwann…

Soviel zum respektvollenUmgang …Durch „angebliche“ Umstrukturierun-

gen in der Abteilung, die zunächst nurkryptisch angekündigt wurden, dann

mit Ende letzten Jahres darin gipfelten,dass auf einmal nur mehr Werkver-träge befristet bis Ende März und einerdann weiter erfolgten Befristung bisEnde Juli vorgelegt wurden, bis letzt-lich im März 2012 auf einmal 10 vonden betroffenen 31 KollegInnenDienstverhältnisse bei der Stadt Wienangeboten bekommen haben.

„Ist doch schön!“, möge man jetztdenken. Weit gefehlt, sieht man sichdie Bedingungen an, unter denen die10 KollegInnen dann weiter arbeiten

sollen und sieht man davon ab, dassdie restlichen 21 KollegInnen ihre Exis-tenzgrundlage verlieren und ihremonatlichen Stunden weiterhin aufWerkvertragsbasis leisten sollen, die imGegenzug massiv gekürzt werden. Diebetroffenen AbfallberaterInnen sollennämlich im sogenannten „ArbeiterIn-nen-Schema“ ohne Zulagen und ohneVordienstzeitenanrechung eingereihtwerden, was massive Einkommensver-luste bedeuten würde. Außerdemhaben die KollegInnen alle universitärebeziehungsweise facheinschlägige Aus-bildungen und sind als multiprofessio-

nelles Team für die Abfallberatung inWien tätig, was mindestens eine Einrei-hung in das „Angestellten-Schema“voraussetzen würde!

… obwohl das Renommee schonwichtig istEinige KollegInnen wurden schon

mehrmals für Projekte, welche sie fürdie MA 48 – Abfallberatung entwickeltund durchgeführt haben, mit dem Titel„AbfallberaterIn des Jahres“ ausge-

zeichnet, was ein beachtliches Renom-mee für die Stadt Wien bedeutet: DieARA (Altstoff Recycling Austria AG)vergibt seit 15 Jahren gemeinsam mitdem Magazin Umweltschutz diesenPreis für die besten Projekte und Aktio-nen von AbfallberaterInnen in ganzÖsterreich.

„Die AbfallberaterInnen leisten mitihrem Einsatz einen unschätzbaren Bei-trag dazu, die Bevölkerung für die The-men Abfallvermeidung und Ressour-censchonung zu sensibilisieren. Durchkonkrete Aktionen schaffen sie Vorzei-gebeispiele, wie jeder von uns aktivwerden kann. Allein durch diegetrennte Verpackungssammlung kannjeder mithelfen, dass aus Abfällendurch Recycling wieder Rohstoffe wer-

den“, erläutert ARA VorstandWerner Knausz und würdigt dasEngagement der AbfallberaterIn-nen: „Mit der Auszeichnungbedanken wir uns für die großar-tige Arbeit, die die Abfallberater-Innen Jahr für Jahr leisten.“(zitiert aus ARA-Homepage:ara.at/d/presse/archiv/

detail/article/abfallberaterin-des-jah-res-2011-ausgezeichnet.html).

So wurden heuer zwei der betroffe-nen AbfallberaterInnen in Wien für ihrProjekt „Rent a AbfallberaterIn / Ein-kaufshilfeprojekt für den ultimativenShoppingdurchblick“ mit dem erstenPlatz in der Wertung für Zukunftspro-jekte ausgezeichnet, bei dem sichAbfallberaterInnen im Supermarkt alsShoppingagents anbieten und dieMenschen bei ihren Einkäufen in Hin-blick auf Umweltaspekte beraten.2009 bekam „die MA 48“ außerdemGold und Silber für die gezielte Anspra-che der Zielgruppe „Multiplikatoren“und die kreative Projekt-Umsetzung.Das Siegerprojekt „A wie Abfall“ (Der„Mama lernt Deutsch“-Abfallworkshop)basierte auf der Idee, in Abfallwork-shops Migrantinnen mit den Möglich-keiten der Abfallvermeidung und mitder getrennten Sammlung von Verpa-ckungen vertraut zu machen. Auch derAnsatz, virtuelle Plattformen wie „Face-book“ dafür zu nutzen, gesellschaftlichrelevante Abfallthemen am Puls derZeit an Jugendliche heranzutragen,brachte der MA 48 mit zwei Abfallbe-raterInnen 2009 den 2. Platz für die

SEITE 21 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Bitte auf Seite23 weiterlesen

EGWERFARTIKEL“

Page 22: Alternative Juli/August

SEITE 22 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 23: Alternative Juli/August

Community „Mist! Die Tonne spricht …“unter dem Pseudonym „Mist Tonne“ –Vermeidungs- oder Trenntipps voneinem „sprechenden Müllorakel“gepostet, ein.

„Das muss der Politik doch faireArbeitsbedingungen wert sein?“Aber nein, offensichtlich nicht. Es

gab einen gemeinsamen Gesprächs-termin mit den Verantwortlichen derAbteilung in dem die KollegIn-nen ihre Situation darstellten undum Verhandlungen für faireArbeitsbedingungen für alle gebe-ten haben, jedoch bisher ohneErfolg. Die Bitte für einen gemein-samen Verhandlungstermin wurdeabgelehnt und stattdessen wirddie Strategie von Einzelgesprächenverfolgt, wobei den KollegInnen nachwie vor lediglich das Angebot einesDienstvertrages im „ArbeiterInnen-Schema“ gemacht wird nach demMotto „friss oder stirb!“ Aktuell reagie-ren die Vorgesetzten bzw. Abteilungs-verantwortlichen mit Abzug voneigentlich bereits vereinbarten Diens-ten bzw. haben Jour-Fixe kurzfristigabgesagt. Dass dies für die betroffenenKollegInnen unmittelbare und Existenzbedrohende Einkommensverlustebedeutet, muss wohl nicht näher erläu-tert werden!

Gewerkschaftlich organisiert24 von 31 der KollegInnen sind im

Zuge ihrer gemeinsamen Initiative derGdG-KMSfB beigetreten und unsereGewerkschaftsführung, mit der es auchschon Gespräche gab, unterstützt dieKollegInnen und schreckt auch vor derErgreifung von drastischeren Mittelnhinsichtlich der offensichtlich nichtrechtskonformen „Umgehungsverträge“nicht zurück. Jedoch wollen die Kolle-gInnen, die Ihre Arbeit sehr gerne undmit viel Herz und Engagement für dieMA 48 ausüben, ja weiter beschäftigtwerden und nichts unversucht lassen!

Aus meiner Sicht„Kommunikation und Information

sind die Grundpfeiler für die Motiva-tion von Menschen.“ schreibt dieMA 48 zum Thema Abfallberatung aufihrer Website. Ich frage mich, warum

die Abteilung und die Stadt Wien,denen zumindest laut Internetauftrittdas Angebot für die Umwelt und dieWiener Bevölkerung so wichtig zu seinscheint, diese Worte nicht selbst beher-zigt, die KollegInnen von Anfang anklar informiert und mit ihnen gemein-sam und respektvoll beraten hat, wieman die Herausforderungen im Zugevon Umstrukturierungen und korrekteAnstellungsverhältnisse für alle zufrie-

denstellend lösenkönnte?

Ich frage mich,warum die Kom-munikation überfaire Arbeitsbe-dingungen selbstvon der Stadtre-gierung und

ihren politische Verantwortli-chen für diesen Bereich verweigertwird, wenn im Regierungsübereinkom-men 2010 zum Punkt Personal folgen-des vereinbart wurde: „Die Stadt Wienbekennt sich als Arbeitgeberin zu einerKultur der Fairness, der Gleichstellungund der sozialen Verantwortung. Alsgrößte Arbeitgeberin in Österreich hatdie Stadt Wien eine enorme Bedeu-tung für Arbeit und Soziales in derStadt und trägt als öffentliche Dienst-geberin eine dementsprechende sozialeVerantwortung. Es geht um angemes-sene Entlohnung, gute Arbeitsbedin-gungen, gerechte Leistungsabgeltungund bessere Vereinbarkeit von Berufund Privatleben. (…) Wien bekennt sichzur strikten Einhaltung aller arbeits-und sozialrechtlichen Vorschriften undStandards. (…)

Wir bekennen uns zu einem solidari-schen, demokratischen und konstrukti-ven Dialog zwischen ArbeitnehmerIn-nen und Arbeitgeberin. (zitiert aus derHomepage der Stadt Wien: wien.gv.at/politik/strategien-konzepte/regie-rungsuebereinkommen-2010/).

Alles Schall und Rauch?Es geht um 31 AbfallberaterInnen,

die „nur“ ein faires Dienstverhältnis zurStadt Wien haben möchten – 31 Kolle-gInnen von 70.000 Beschäftigten inder Stadt Wien. Ist das wirklich nichtleistbar oder ist das lediglich eineMachtdemonstration gegen Menschen,welche sich organisieren und für ihreRechte eintreten möchten? Wenn ja,

dann erinnert mich das an Verhältnisseaus dem 19. Jahrhundert …

Ich habe die KollegInnen kennengelernt und ihr Engagement und Herzfür ihre Tätigkeit ist ehrlich undauthentisch! Würde man ihnen entge-gen kommen, könnte man sicher auchgemeinsame und faire Lösungen füralle erzielen!

Ich möchte nicht, dass sie selbstzum Wegwerfartikel werden, denn siehaben sich Respekt und Anerkennungfür ihre Arbeit mehr als verdient!

Aufruf zur SolidaritätWir als Gewerkschaft und Gewerk-

schafterInnen können und wollendiese Situation nicht einfach so hin-nehmen, denn die Forderung nach kor-rekten und vor allem fairen Beschäfti-gungsverhältnissen ist nicht nur in die-sem Fall gerechtfertigt, sonder auchGebot im gewerkschaftlichen Kampfgegen prekäre Beschäftigung!

Daher bitten wir Euch alle um EureUnterstützung für die Abfallberater-Innen von Wien in ihrem berechtig-ten Kampf um faire Bedingungen:•Like it - Initiative unterstützen: face-

book.com/AbfallberatungWien•Unterzeichne die Online-Petition der

Initiative an Umweltstadträtin UlliSima unter „Die Initiative für faireund rechtskonforme Arbeitsbedin-gungen bei der MA 48“ auf petitio-nonline.at

•Blog: abfallberatung.prekaer.at•Schreibt eine Unterstützungs- bzw.

Solidaritätsbotschaft an die KollegIn-nen der Abfallberatung: [email protected]!

•Verbreitet die Information über dieprekären Arbeitsbedingungen inEurem Umfeld!

•Sprecht KollegInnen der MA 48,wenn sie bei Euch den Müll entlee-ren oder Ihr sie auf der Straße trefftoder sogar kennt darauf an, um dieBotschaft zu verbreiten – vielleichtgeht es ihnen ja ähnlich!

•Mailt uns Eure Erlebnisse bzw. EureGedanken, die Euch selbst im Zusam-menhang mit dem Thema berühren:[email protected].

SEITE 23 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 24: Alternative Juli/August

Ein Working Paper des Europäischen Gewerkschaftsinstituts vom April 2012 gibt erstmals einen umfassenden Überblick über Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten.

Wenig überraschend: Es findet ein massiver Rückbau von ArbeitnehmerInnenrechten statt. Von Markus Koza.

BERGAB

SEITE 24 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Gewerkschaft & Betrieb

Page 25: Alternative Juli/August

Wer trägt die Kosten der Krise? Wentrifft die Austeritätspolitik ganz beson-ders? Wer ist am stärksten von Sparpa-keten betroffen? Was sind die wahrenUrsachen der Krise? Welche Bewälti-gungsstrategien bieten sich an?

Bislang konzentrierten sich die Dis-kussion rund um die Wirtschaftskrise,ihre Folgen sowie die Verteilung derKrisenlasten vor allem auf ökonomi-sche Fragestellungen. Mit der aktuellenStudie („Arbeitsrechtsreformen in Kri-senzeiten – eine Bestandsaufnahmenin Europa“, DGB/etui, April 2012) derwissenschaftlichen ETUI-MitarbeiterIn-nen Stefan Clauwaert und IsabelleSchömann liegt nun erstmals aucheine Bestandsaufnahme über die Aus-wirkungen der Krise auf Arbeitsrechte,Arbeitsbeziehungen und damit dieinstitutionelle Verankerung vonGewerkschaftsrechten in Europa vor.

Das Ergebnis in aller Kürze: Arbeit-nehmerInnenrechte werden massivrückgebaut, einer weiteren Prekarisie-rung und Atypisierung von Beschäfti-gungsverhältnissen Vorschub geleistet.Quer durch Europa wird versucht, übereine Dezentralisierung von Verhand-lungsprozessen bzw. eine Verbetriebli-chung von Arbeitsbeziehungen gewerk-schaftliche Mitbestimmungsrechte undKernkompetenzen entscheidend zubeschneiden. Demokratische Grund-sätze werden bei Arbeitsrechtsreformenvielfach umgangen, „Rettungsmaßnah-men“ zum Abbau sozialer Rechtegenutzt. Die Krise wird gerne als Vor-wand für „Reformen“ vorgeschoben,die tatsächlich in keinerlei Zusammen-hang mit der Finanz- und Wirtschafts-krise stehen und unter anderen ökono-mischen Voraussetzungen nicht durch-setzbar gewesen wären.

Die AutorInnen analysieren die Ent-wicklungen des Arbeitsrechts nach fünfBereichen. Nach 1. Änderungen in der Gestaltung vonArbeitszeit2. Änderungen im Arbeitsvertrags-rechts bzw. bei Beschäftigungsformen(„Atypisierung“)3. Reformen im Kündigungs- und Ent-lassungsrecht4. Änderungen im institutionellen Ver-hältnis zwischen Arbeit und Kapital,also Reformen von Tarifverhandlungs-systemen und Arbeitsbeziehungen

Zu guter Letzt betrachten die Wissen-schafterInnen einen Trend, der aus

„demokratischer Sicht … sogar nochbesorgniserregender“ ist, als die obengenannten:5. Dass nämlich in „manchen Ländern… Reformen mit Hilfe von Notfallver-fahren durchgeführt (wurden/werden),ohne die demokratischen und partizi-pativen (legislativen) Verfahren einzu-halten, unter Umgehung der Parla-mente und Sozialpartner.“

Änderungen der Arbeitszeit(en)In mehreren Ländern wurden die

Arbeitszeiten erheblich ausgeweitet.Diese Ausweitung erfolgt in der Regelüber die Erhöhung von maximal zuläs-sigen Überstundenleistungen. InUngarn wurde etwa die Jahreshöchst-grenze für Überstunden von 200 auf250 Stunden erhöht und kann – überTarifverträge – sogar bis zu 300 Stun-den betragen.

Zusätzlich wurde in Ungarn diebetriebliche gegenüber der Branchen-ebene gestärkt, die Tarifverhandlungs-ebene also „dezentralisiert“. Waren inLitauen vor der Krise Überstunden –mit Ausnahme bestimmter, taxativ imArbeitsrecht bzw. in Tarifverträgenangeführter Fälle – überhaupt verbo-ten, sind nun auf gesetzlicher Ebenebis zu 120 Überstunden, auf tarifver-traglicher Ebene bis zu 180 Stundenzulässig. Mit einer Ausweitung derArbeitszeiten geht meist auch eine Kür-zung der Überstundenzuschläge ein-her. In Portugal – das unter dem „Euro-Schutzschirm“ steht – ging mit der„Rettung“ eine Kürzung der Überstun-denzuschläge um 50 Prozent einher!Erhielten ArbeitnehmerInnen ursprüng-lich für die erste Überstunde einenZuschlag von 50 Prozent, für zusätzli-che Überstunden 75 Prozent und anSonn- und Feiertagen Zuschläge von100 Prozent, wurden diese nun auf 25Prozent, 37,5 Prozent und 50 Prozentreduziert.

Geplant ist auch die Abschaffungdes „Freizeitausgleichs“, der zur Zeit 25Prozent der geleisteten Überstundenentspricht. Abweichungen nach obenoder unten sind in Tarifverträgen nochmöglich. Die AutorInnen: „Es ist hinrei-chend bekannt, dass langes Arbeitenund viele Überstunden verheerendeAuswirkungen auf die Gesundheit undSicherheit der Arbeitnehmer haben.Wenn man solch weitreichende Flexibi-

lisierung der Arbeitszeit zulässt, könntees in Zukunft schwieriger werden, dieUhr zurück zu drehen und diesen Maß-nahmen, die häufig als vorübergehendgeplant waren, ein Ende zu bereiten.“

Verschärfend käme dazu, dass nochflexiblerer Regelungen zwar in Tarifver-trägen vereinbart werden müssten, waseinen gewissen „Schutz“ darstelle, „dochaufgrund des in vielen Ländern fortwäh-renden Trends zur Dezentralisierung derKollektivverhandlungen auf dieBetriebsebene“, sich dieser als „unzurei-chend erweisen und leicht auszuhebeln“sein könnte. „ArbeitnehmerInnenvertre-ter könnten vor die Entscheidunggestellt werden, längere Arbeitszeitenals Alternative zu (Massen-)Entlassun-gen akzeptieren zu müssen.“

Alles Rechtens?Weiterer eindeutig feststellbarer

„Trend“: Die fortschreitende Atypisie-rung und Prekarisierung der Arbeit. Sowerden etwa typischerweise Regelun-gen für die Befristung von Arbeitsver-hältnissen gelockert. In Tschechienkönnen etwa künftig Befristungen vonzwei auf drei Jahre ausgedehnt undzwei mal verlängert werden – was einzeitlich „befristetes“ Arbeitsverhältnisvon bis zu neun Jahren ermöglicht!Ähnlich Griechenland und Portugal, wodie Befristungsdauer von zwei auf dreiJahre erhöht wurde. In Spanien gab esbislang überhaupt keine Regelungenfür befristete Arbeitsverhältnisse – nunallerdings doch, ebenfalls mit einerBefristungsdauer von drei Jahren, wel-che über Tarifverträge noch einmal umein Jahr zusätzlich verlängert werdenkann. In den Niederlanden wurdenspezielle Befristungsregelungen fürUnter-27-Jährige noch einmal ausge-weitet: Befristete Arbeitsverhältnissefür diese Jugendlichen werden erstnach der fünften – statt bislang ohne-hin schon großzügigen vierten – Befris-tung in ein unbefristetes Verhältnisumgewandelt.

Deutlich flexibilisiert wurde in eini-gen Krisenstaaten auch das Teilzeitar-beitsverhältnis. Waren etwa in Spanienbislang „Standard“-Überstunden fürTeilzeitbeschäftigte verboten, wurdedie geltende Überstundenregelung für„Normal“-Arbeitskräfte nun auch auf

SEITE 25 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Bitte umblättern

Page 26: Alternative Juli/August

Teilzeitbeschäftigte ausgeweitet.Ebenfalls beobachtbar: Neue Formenvon Arbeitsverträgen für bestimmteArbeitnehmerInnengruppen – in unse-rem Fall besonders für Jugendliche.Diese neuen Beschäftigungsformenzeichnen sich – wie die meisten „atypi-schen“ Arbeitsverträge – durchschlechte arbeits- und soziale Absiche-rung, in diesem Falle allerdings füreine besonders schutzbedürftigeGruppe – nämlich Jugendliche – aus.In Griechenland wurde etwa ein neuer„Jugendvertrag“ eingeführt, der fürJugendliche unter 25 Jahren Niedrig-löhne (20 Prozent weniger als der frü-here Lohn bei Erstanstellung), einezweijährige Probezeit, keinen Anspruchauf Arbeitslosengeld bei Ablauf desVertrags bedeutet, den Arbeitgeberndagegen die Befreiung von Sozialabga-ben bringt. Abgesehen davon, dass diefortschreitende Atypisierung eine wei-tere Segregation auf den Arbeitsmärk-ten bringt, bestehen „Zweifel daran,dass diese Regeln und Verträge allemit den europäischen Richtlinien, ins-besondere den Richtlinien zur befriste-ten Beschäftigung und zur Teilzeitar-beit, vereinbar sind,“ so Clauwaert undSchömann. Es darf also angenommenwerden, dass diese arbeitsmarktpoliti-schen Maßnahmen oftmals gar nichtrechtens sind. Doch dazu später mehr.

Aufweichung desKündigungsschutzesIn Estland, Tschechien, Portugal, Spa-

nien, der Slowakei, Großbritannien,Rumänien und Griechenland könnenUnternehmen inzwischen leichterbetriebsbedingt kündigen. So wurdenetwa Kündigungsbedingungen gelo-ckert, bestehende Schranken abgebaut,für (Massen-)Entlassungen notwendigewirtschaftliche Gründe neu definiert.Kündigungsfristen wurden in vielenLändern um bis zu 30 Tage verkürzt –etwa in Spanien, Portugal, Großbritan-nien. In Spanien wurde die Verpflich-tung BelegschaftsvertreterInnen imFalle von Kündigungen zu unterrichtenbzw. anzuhören gelockert, in Großbri-tannien und Rumänien die Verpflich-tung Sozialpläne aufzustellen merklichabgemildert. Da Kündigungen immerwieder auch finanzielle „Belastungen“für Unternehmen darstellen, wurdendiese – wie nicht anders zu erwarten –

in etlichen EU-Staaten ebenfalls deut-lich reduziert. In Tschechien wurdenAbfindungszahlungen verringert, inSpanien und Portugal Anspruchsbe-rechtigungen und Anwartschaftszeitenso geändert, dass die Entlassung vonArbeitnehmerInnen finanziell deutlichleichter gemacht wird. Arbeitsrechtlichwurde auf der Iberischen Halbinsel dieWiedereinstellung unrecht entlassenerArbeitnehmerInnen durch deutlich bil-ligere Entschädigungszahlungenersetzt. In Großbritannien muss – wohlum entlassenden Betrieben lästige undlangwierige Prozesse zu ersparen undden Zugang zu Gericht zu erschweren– in Zukunft bei Anrufung des Arbeits-und Sozialgerichts eine Gebühr entrich-tet werden. In Portugal wurde ausöffentlichen Mitteln (!) ein Fondsfinanziert, der Unternehmen bei Ent-lassungen und Kündigungen zur Finan-zierung von Abfindungen unter dieArme greifen soll („Arbeitgeberentlas-tungsfonds“).

Angriff auf Gewerkschaftsrechte Hier ist einmal zuallererst eine Politik

der „Dezentralisierung der Tarifverhand-lungen“ zu nennen – also die Verlage-rung von der nationalen bzw. branchen-spezifischen auf die betriebliche Ebene.Italien, Spanien, Portugal und einmalmehr Griechenland sind etwa Beispielefür EU-Länder, wo diese Verlagerungstattgefunden hat bzw. geplant ist. InRumänien wurden die jährlichen natio-nalen Kollektivverträge zugunsten vonBranchen-KV abgeschafft. In Finnlandhat interessanterweise eine umgekehrteEntwicklung eingesetzt – die Dezentra-lisierung der Verhandlungen hat sichals ineffizient herausgestellt, hier sollwieder die nationalstaatliche Ebenegestärkt werden. Neben einer Schwä-chung der Verhandlungsmacht vonGewerkschaften mit der Dezentralisie-rung der Verhandlungsebenen stelltsich vor allem noch ein weiteres Pro-blem als gravierend dar: Der „Stufen-bau“ der Rechtsordnung verbieteteigentlich eine „Verschlechterung“ inder jeweils unteren Ebene, also etwa inder betrieblichen Ebene gegenüberdem KV oder der gesetzlichen Rege-lung. Tatsächlich werden derartigeSchutzbestimmungen allerdings tat-sächlich – etwa in den BereichenArbeitszeit und Löhnen – unterlaufen.

Beispiele dafür finden sich in Frank-reich, Griechenland, Italien und derSlowakei. Eine weitere alarmierendeEntwicklung: Reformen, die auf eineinstitutionelle Schwächung derGewerkschaften abzielen. So werdenetwa frühere „Vorrechte“ der Gewerk-schaften (z.B. Verhandlungs- undAbschlussmonopol) auf andere Arbeit-nehmervertretungsorgane (z.B.Betriebsräte) ausgedehnt, wo es vielschwerer ist, Macht und Solidarität zuorganisieren. Geschehen etwa in Grie-chenland, Portugal und der Slowakei.Eine institutionelle, repräsentativeSchwächung ihrer Rolle (etwa im Rah-men des sozialen Dialogs, der Repräsen-tanz vor Gericht, im Rahmen von kollek-tiven Arbeitskonflikten) erfolgte insbe-sondere in Ungarn, aber auch in der Slo-wakei, in Bulgarien, Griechenland, Groß-britannien, Portugal, Spanien selbst inItalien und den Niederlanden, einemtraditionell eher „sozialpartnerschaft-lich“ orientierten Staat. Die AutorInnenabschließend: „Diese Reformen desArbeitsrechts schwächen definitiv diegewerkschaftliche Interessensvertretungund Aktion auf allen Verhandlungsebe-nen. Sie greifen die Gewerkschaften inihrer Struktur und ihren institutionellenMöglichkeiten an, die Arbeitnehmer zuschützen und zu vertreten. Die Dezen-tralisierung der Kollektivverhandlun-gen auf die unterste Ebene schwächtden bisher von den Gewerkschaftenauf nationaler und lokaler Ebeneerreichten sozialen Besitzstand undwird sich auch auf die Kollektivver-handlungen auf Branchenebene aus-wirken. Sie wird den Standard der bis-her anerkannten und gesetzlich odertarifvertraglich verankerten Rechte sen-ken und die grundlegenden Arbeitsbe-dingungen im Hinblick auf Arbeitszei-ten, Löhne, Arbeitsorganisation,Arbeitsumfeld und soziale Sicherheitbeeinflussen. Sie wird auch Auswirkun-gen auf Gesundheit und Sicherheit amArbeitsplatz haben.“

Autoritärer KapitalismusBedrohlich auch die Art und Weise

wie zunehmend „Reformen“ zustandekommen. In einigen Fällen greifenRegierungen und/oder Gesetzgeberauf „Notverordnungen“ und „Notfallver-fahren“ zur Aushebelung sozialpartner-schaftlich vereinbarter Maßnahmen zur

SEITE 26 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 27: Alternative Juli/August

Krisenbewältigung (Estland, Ungarn,Slowakei) bzw. zur Umgehung der Par-lamente (Griechenland, Italien) zurück.Eine besonders unrühmliche Rolle beider Ausschaltung demokratischer Ver-fahrensregeln spielt dabei die „Troika“,bestehend aus VertreterInnen der EU-Kommission, des IWF und der EZB. Somussten etwa Griechenland und Portu-gal, das „Memorandum of Understan-ding“ umsetzten, um unter den Euro-“Rettungsschirm“ zu kommen. Aller-dings: Ohne Anhörung der nationalenParlamente bzw. des europäischenParlaments. Clauwaert/Schömann:„Zusammen mit der Schwächung derRolle der Sozialpartner bei der Ausar-beitung des sozialen Rechts – insbe-sondere durch die Dezentralisierungder Kollektivverhandlungen und dieneuen Repräsentativitätskriterien fürdie Gewerkschaften – stellt dies eineÄnderung der Rechtsetzungsverfahrenim sozialen Bereich auf Kosten derDemokratie dar.“ Darüber hinaus, sodie beiden WissenschafterInnen, hät-ten „… die Maßnahmen zur Bekämp-fung der Krise und die Arbeitsrechtsre-formen zum Teil direkte und indirekteAuswirkungen auf die grundlegendenSozialrechte.“ So ist etwa im Memoran-dum mit Griechenland am 2. Mai 2010im Abschnitt über spezifische wirt-schaftspolitische Bedingungen u.a. zufinden, dass Kündigungsvorschriftengeändert werden und die Probezeit aufein Jahr verlängert wird; das Gesamtni-veau an Abfindungen bei Kündigun-gen verringert und „harmonisiert“ wird;die Mindestanforderungen für die Akti-vierung der Regeln bei Massenentlas-sungen insbesondere für große Unter-nehmen angehoben und der Einsatzvon befristeten Arbeitsverträgen undTeilzeitbeschäftigten erleichtert wird.Prekarisierung per Dekret. Ähnlich beiPortugal: Hier finden sich im Memo-randum neben den obligaten Refor-men des Kündigungsschutzes aucheine Kapitel ,organisierte Dezentralisie-rung', also die Verlagerung von Ver-handlungen – insbesondere auch inArbeitszeitfragen, Versetzung etc. aufdie betriebliche Ebene.

Rechtmäßigkeit gegeben?Grundsätzlich stellt sich angesichts

des autoritären Charakters zahlreicherArbeitsrechtsreformen – Umgehung

der Parlamente, der Sozialpartner,regieren per Notverordnungen – grund-sätzlich die Frage, ob diese nicht über-haupt den „Grundsätzen des Arbeits-rechts“ widersprechen, „nicht zuletztdem Grundsatz der Autonomie und derFreiheit der Gewerkschaften (Spanien,Griechenland), und sogar dem Rechtauf Gleichheit und Nichtdiskriminie-rung (Großbritannien).“

Und weiter: „Ein solches Vorgehenstellt die Legitimität der nationalenReformen in Frage, da die Rechtmäßig-keit der Verfahren (d.h., die Einhaltungdemokratischer Verfahren) außer Achtgelassen wurde und/oder weil sieGrundrechte und Grundfreiheiten aufeuropäischer Ebene verletzen.“ Tatsäch-lich haben Gewerkschaften in Spanienund Griechenland bereits Beschwerdebei der IAO (ILO), der InternationalenArbeitsorganisation und dem Europa-rat eingebracht. Die Frage der „Recht-mäßigkeit“ wird umso dringlicher, wer-den doch erste zeitlich begrenzte Maß-nahmen zur Krisenbekämpfung dahin-gehend überprüft, in dauerhaftesRecht übernommen zu werden (Grie-chenland, Spanien, Deutschland): „Inmanchen Fällen werden die positivenAuswirkungen der Maßnahmen zurBekämpfung der Krise in Frage gestellt.In anderen Fällen wurden Arbeits-rechtsreformen ohne direkten und indi-rekten Bezug zur Finanz- und Wirt-schaftskrise umgesetzt, im Zuge einerallgemeinen Deregulierung.“

Schlussfolgerungen„Die Reformen auf nationaler Ebene

neigen zu weiterer Deregulierung derbereits flexibilisierten arbeitsrechtli-chen Bestimmungen und stellen somitin den meisten Fällen einen Rückschrittim Hinblick auf den Schutz der Arbeit-nehmer dar. Ein wiederkehrendesMerkmal dieser Arbeitsrechtsreformenund Flexibilisierung ist die explosions-artige Zunahme der Ungleichheit undUnsicherheit in fast allen betroffenenLändern,“ schlussfolgern die Studienau-torInnen. Gemeinsam mit dem Abbausozialstaatlicher Sicherungssystemewürde das „europäische Konzept der,hochwertigen Arbeitsplätze' und dasinternationale Konzept der ,menschen-würdigen Arbeit' hinterfragt, denn dienationalen Arbeitsrechtsreformen wer-den ihnen nicht mehr gerecht.“ Zusätz-

lich zeige die Studie, dass die Art undWeise, wie Reformen durchgezogenwerden, „… in den meisten Fällen diedemokratischen Traditionen der Mit-gliedsstaaten nicht respektieren unddadurch die Legitimation der Reformenkompromittieren,“ weswegen auchBeschwerden bzw. Verfahren der spani-schen und griechischen Gewerkschaf-ten bei der IAO anhängig seien, weilgegen „den Grundsatz der Gewerk-schaftsfreiheit und/oder der freienKollektivverhandlungen“ verstoßenwürde. Scharf die Kritik an den euro-päischen Institutionen: „Interessanter-weise hat die Europäische Kommissionnoch nicht auf Maßnahmen reagiert,die diese in den Verträgen und derGrundrechtscharta garantierten Grund-rechte verletzen. Besorgniserregenderist die Tatsache, dass die EU als Ver-tragspartei des mit Griechenland,Irland und Portugal unterzeichnetenMemorandum of Understanding undals Partei in zusätzlichen Finanzpro-grammen zur Unterstützung der EU-Mitgliedsstaaten (Lettland, Rumänien)so viel Druck auf die Mitgliedsstaatenzur Reform ihres Arbeitsrechts und dersozialen Sicherung ausübt …“.

Eindeutig seien die Belege für einen„Rückbau“ des Arbeitsrechts unter demVorwand der Wirtschaftskrise, wobeidie Annahmen, „dass Arbeitsrechtsre-formen in Europa als Ausweg aus derKrise notwendig sind, in Frage gestelltwerden (kann), da nur schwer zu unter-scheiden ist, ob diese Reformen eineReaktion auf die Wirtschaftskrise sindoder eine reine Begleiterscheinung,ohne Gewissheit über einen kausalenZusammenhang.“ Statt „mehr Beschäf-tigung“ entstünden derzeit jedenfallsnur „mehr prekäre Verhältnisse“.

Mit der vorliegenden Studie ist einerster „Lückenschluss“ in der Krisen-und -folgeanalyse getan. Ein wichtiger– zeigt er doch, wie sehr die Krisegenutzt wird, um ArbeitnehmerInnenund Gewerkschaften in ihrer rechtlichenPosition zu schwächen. Die Arbeitneh-merInnen sollen, geht es nach dem Wil-len der politischen und ökonomischenEliten in Europa, nicht nur finanziell,sondern auch rechtlich für eine Krisezahlen, für die sie nichts können.

SEITE 27 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 28: Alternative Juli/August

E

SEITE 28 • ALTERNATIVE 7-8/2012

International

in Gespenst geht um in Europa. Esträgt den Namen SYRIZA und lebt inGriechenland. Welch Aufatmen gingdurch den ganzen Kontinent, als dieGriechenlandwahlen geschlagen warenund der links-linke Spuk vorerst einmalbeendet schien. Was hätte nicht allesgedroht, hätte SYRIZA die Wahlen imkleinen Griechenland gewonnen. DieAngst ging um in Europa, in der Euro-Zone, in den Regierungsbänken undden Vorstandsetagen. Ein Katastro-phenszenario, das Ende des Euro, jader EU stünde quasi vor der Tür, kämeSYRIZA mit seinen kruden, geradezugemeingefährlichen, radikalen Vorstel-lungen der Krisenbewältigung an dieMacht. Einmal mehr wurde lautstarkgetrommelt: There is no alternative,there is no alternative … Alternativeheißt Chaos!

Das Gespenst erlebte zwar einenwahren Wahltriumph, allerdings trugendie Geister der Vergangenheit einenknappen Wahlsieg davon. Was istEuropa nicht froh darüber, dass dieKorruptionisten, Bilanzfälscher, Kliente-listen und Betrüger von einst, die fürdie Krise in Griechenland besondersverantwortlich zeichnen, nun auch dienächsten Jahre weiterregieren dürfen.Das nennt mensch dann „Kontinuität“.Die „Europa-hinters-Licht-führer“ vongestern sind die „proeuropäischen“Hoffnungsträger von morgen. Dasdeutsche ZDF sah gar "…dasSchlimmste … gerade noch abgewen-det…". Und auch im kleinen Österreicherblödet sich von schwarz, rot bis hinzu Europa-grün niemand, seiner bzw.ihrer Freude besonderen Ausdruck zu

verleihen, dass in Griechenland „euro-päisch“ gewählt worden wäre und eineStimme „für den Euro“ bzw. für den„Verbleib Griechenlands in der Euro-zone“ abgegeben wurde. Die „rote“Gefahr scheint vorerst einmal gebannt.

Die Sache mit der „Radikalität“SYRIZA hat knapp 27 Prozent der

Stimmen in Griechenland erreicht. EineSensation. SYRIZA bedeutet übersetztsoviel wie „Koalition der radikalen Lin-ken“. Na, mehr hat es in Resteuropanicht gebraucht, um den radikalen Teu-fel an die wirtschaftsradikale Wand zumalen, erst recht in Mitteleuropa, woeinem vor allem was „radikal“ ist graut,vor allem dann, wenn es gleichzeitigmit „links“ in Zusammenhang steht(rechts und „radikal“ darf dagegen aufdeutlich weniger Ablehnung hoffen).Tatsächlich geht SYRIZA aus einemBündnis unterschiedlicher linker Grup-pen und Gruppierungen hervor, vontiefrot bis dunkelrot-grün, inklusivetrotzkistischer, ökosozialistischer, euro-kommunistischer, ja selbst maoistischerVersprengsel. Und SYRIZA ist auch tat-sächlich „radikal“.

In Kontinentaleuropa herrscht aller-dings eine gewisse Begriffsverwirrung.Da wird nämlich „radikal“ in der Regelmit „extremistisch“, „militant“, „gewalt-bereit“ oder „rabiat“ gleichgesetzt.„Radikal“ – da schwingt immer a bißerlGewalt, Revolution, Aufstand, Mordund Totschlag mit, rote Horden, dieüber das Land fallen, Mollis die munterdurch die Luft fliegen. Dass dieses Bildauch so bleibt, vielmehr gehegt und

gepflegt wird, dafür sorgen bür-gerlich-unreflektierte Medienebenso wie etablierte Angst-Politi-kerInnen. Geht mensch allerdings anden Wortstamm und in Wiktionary,wird dort „radikal“ im politischen Sinneals „… eine Bestrebung die Gesellschaftradikal (an der Wurzel) zu verändern“beschrieben. Und – was bräuchte Grie-chenland (und nicht nur Griechenland)tatsächlich mehr, als einen „radikalen“also „grundlegenden“ Wandel?

Wirtschaftsradikalismus beinhartDen fordern interessanterweise

eigentlich auch EU, IWF und EZB vonGriechenland, ohne deswegen in „Radi-kalismusverdacht“ zu geraten. Weil die-ser von den politischen und ökonomi-schen Eliten in Euro-Land gepflegte„Radikalismus“ eben in eine grundle-gend andere Richtung als jener vonSYRIZA geht – nämlich in Richtungsystematischer Verelendung breiterBevölkerungsschichten, tiefgreifenderSozialstaatsum- und -abbau bis zurUnkenntlichkeit, rücksichtsloser Schul-den- und Defizitabbau, grundlegendeEntstaatlichung durch Privatisierungen,massiver Arbeitskräfte- und Arbeits-rechtsabbau und, und, und … durchaus„radikal“ im Sinne von „an der Wurzelverändern“. Diese Radikalität und Bru-talität wird in der medialen wie politi-schen Öffentlichkeit allerdings weitge-hend als Normalität verkauft. Wir erin-nern: there ist no … . Da muss jedeandere Positionierung natürlich als„radikal“ wahrgenommen , bzw. alsradikal „denunziert“ werden, um die

Was hätte nicht alles gedroht, hätte SYRIZA die Wahlen im kleinen Griechenland gewonnen. Von Markus Koza.

RADIKAL WIE DIEWIRKLICHKEIT

Page 29: Alternative Juli/August

den Schein der tatsächlich radikalenNormalität eines brutalisierten Wirt-schaftssystems zu erhalten.

SYRIZA – radikale GrundvernunftAngstmacher SYRIZA? Macht

mensch sich einmal tatsächlich dieMühe, sich mit den wirtschaftspoliti-schen Positionen von SYRIZA auseinan-derzusetzen, so taugen diese kaum alsSchreckgespenst. Im Gegenteil: Ausden Positionen SYRIZAS spricht viel-fach die ökonomische Vernunft, ausjenen Merkels und ihrer europäischenVasallen der ganz normale Wahnsinn.Im Gegensatz zur in Permanenz undPenetranz veröffentlichten Meinung,wonach SYRIZA „antieuropäisch“ wäreund Griechenland aus dem Euro führenwill, hielt SYRIZA Obmann Alexis Tsi-pras nicht nur einmal fest, dass Grie-chenland in der EU und in der Euro-Zone verbleiben soll. Insbesondereauch mit ihm als Ministerpräsident.Den Ausstieg aus der Euro-Zone sah erals letztmögliche Konsequenz, solltedie EU nicht bereit sein, vom Spardik-tat gegenüber Griechenland abzuge-hen und Griechenland die entspre-chende Zeit zum Durchatmen und zurErholung zu geben. SYRIZA sah sichschlicht – wie jede zu einer Wahl antre-tenden Partei – vor allem einmal denInteressen der eigenen BürgerInnen,der eigenen WählerInnen verpflichtet.Die Botschaft war klar und unmissver-ständlich: Es könne nicht mehr so wei-

tergehen, die GriechInnen würden die-sen Sparkurs nicht weiter verkraften.Man sei nicht mehr bereit, diesen Kursdes Kaputtsparens fortzusetzen.

Nun, dass die griechische Bevölke-rung am Ende ist, dass Griechenlandam Ende ist, dem wird wohl kaumjemand ernsthaft widersprechen. DieLage hat so sehr an Dramatik gewon-nen, dass zu allem schon bestehendenElend, zusätzlich die Medikamente aus-zugehen drohen, allerdings aus Geld-mangel keine weiteren importiert wer-den können. Der Weg , den SYRIZA ausder Misere vorschlägt:•eine Schuldenkonferenz unter Beteili-gung von WissenschafterInnen, Politi-kerInnen Europas, GewerkschafterIn-nen. Für Krisenländer – wie Griechen-land – soll es ein Schuldenmoratoriumgeben. Krisenländer soll so eine „Ver-schnaufpause“ verschafft werden, umihre Wirtschaft wieder in die Gänge zubringen. Alle Eingriffe von aussen ininnere Rechte – etwa in die Mindest-lohn- oder Tarifpolitik – sollen rückgän-gig gemacht werden.•Im Rahmen dieses Schuldenmoratori-ums, das über drei Jahre laufen sollten,soll für Griechenland ein „nationalerPlan für Wiederaufbau und Wachstum“verhandelt werden. •Pro Jahr will SYRIZA die Staatsein-nahmen um ein Prozent des BIP erhö-hen – u.a. durch eine sozial gerechtere,effizientere Steuerpolitik und durchkonsequente Steuereintreibung. Und –durch ein Ende der von Konservativenwie Sozialdemokraten betriebenenKlientelpolitik inklusive steuerlicherSchonung der Eliten.•Die griechischen Staatsausgaben sol-len sich gleichzeitig bei 44 Prozent desBIP einpendeln (zum Vergleich: inÖsterreich lagen die Staatsausgaben2010 bei 52,5 Prozent im Euro-Raumbei 50,9 Prozent des BIP), die staatli-che Verwaltung sollte grundlegendreformiert und verbilligt, die Ausgabenfür Rüstung deutlich reduziert werden.

Radikal oder grundvernünftig? Wasdie „radikale“ SYRIZA da fordert ent-spricht tatsächlich so ziemlich dem,wofür vernunftbegabte, realistischeÖkonomInnen, GewerkschafterInnenund politisch Verantwortliche stehen.Das ist in der einen oder anderen Formlinker „Krisenbewältigungsmain-stream“, längst in der „linken“ Mitteangekommen.

Dass der Griechenland aufgezwun-gene Sparkurs in die soziale und öko-nomische Katastrophe führen mussund Merkel mit ihrem BrüningschenSparkurs völlig falsch liegt, sagt inzwi-schen so ziemlich jeder, der noch beiHausverstand ist. Radikal sind diesePositionen maximal im Vergleich mitder Wirklichkeit. „Ich habe nie verstan-den, was der linksradikale Kurs seinsoll. Das Wort radikal hat im Grie-chischen eine andere Bedeutung alsim Deutschen. Was sie linksradikalnennen, das nennen wir Linksaußen.Radikal heißt bei uns eher konsequent.Und das sind wir,“ meinte entspre-chend der wirtschaftspolitische Bera-ter von SYRIZA, der Wirtschaftswissen-schafter Teodoros Paraskevopoulos ineinem Interview mit der deutschen„Tagesschau“. Was den Herren aller-dings in Europa höchst verdächtigmacht ist die beinahe unverschämteFrage, ob denn nun „… Verpflichtun-gen gegenüber Banken und Gläubi-gern den Vorrang (haben), oder Ver-pflichtungen gegenüber den Kindern,Kranken, Rentnern und Arbeitslosen?“Eine Zumutung auch die Antwort,wonach das eine „… wichtige Frage“sei, „die politisch entschieden werdenmuss“ – wo doch ohnehin die Märkteentscheiden und wo die nicht, EU-Ratund EU-Kommisssion.

Wo die Radikalen sitzenDie Radikalen sitzen nicht in den

Parteilokalen SYRIZAS. Die wirklichgefährlichen „Radikalen“ sitzen tat-sächlich ganz wo anders. Diese Radika-len versuchen derzeit über Fiskalpakte,EU-Six-Pack, Schuldenbremsen undSchuldenregeln den grundlegendenradikalen Umbau unserer europäischenWohlfahrtsstaaten in Richtung autori-tärer Kapitalismus und „marktkon-forme Demokratie“ voranzutreiben. Vordiesen Radikalen, die im Mäntelchen„ökonomischer Vernunft“ und „wirt-schaftlicher Notwendigkeiten“ daher-kommen, die Chefanalysten von Ban-ken, Wirtschafsexperten von Regie-rungsgnaden und Regierende angeb-lich staatstragender und verantwor-tungsbewußter Parteien sind, mussmensch sich tatsächlich fürchten.

SEITE 29 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Page 30: Alternative Juli/August

Amon, Michael

Der Glanz der WeltKriminalroman. Wien: echomedia buchverlag 2012, 256 Seiten, broschiert, 19,80 Euro, ISBN 978-3-902672-84-1

Im Giacomos, dem angesagtesten Nobel-Italiener am Graben in der Wiener Innenstadt,sind sie alle Promis versammelt: •Der Ex-Finanzminister Klaus-Hugo Grapschmann und seine Gattin

Fifi Kacerovsky-Cavallina.•Der Privat-Bankier Thaddäus Schnittling XVI.•Der Spekulant Schmock, Sohn des Direktors einer großen Gewerkschaftsbank.•Der Baron Bodo von Schmauch-Baller.

Wer denkt bei dieser Aufzählung nicht an real existierende Unschuldige? Aber halt! Alldiese Krimi-Figuren sind natürlich frei erfunden und eventuelle Übereinstimmungen mitlebenden Menschen rein zufällig und unbeabsichtigt. Deshalb die korrekte Frage: Washaben diese Kunstprodukte im vorliegenden Krimi gemeinsam? Und wodurch sind sie indrei Serien-Morde involviert, deren Opfer allesamt Mitglieder im „Verein gegen das Regie-theater“ sind – einem Club frustrierter SchauspielerInnen, die kein Engagement mehrbekommen. Michele, ein Privat-Ermittler mit besten Kontakten zu Geheimdiensten undder Kurie, hinter dem sich in Personaleinheit sowohl der Zeitungskommentator FriedrichAdler als auch ein realpolitischer Romancier verbergen, lüftet dieses Geheimnis. Natürlichnur für LeserInnen. Fritz Keller

Sabine Lichtenberger/ Günter Müller (Hg.)

Arbeit ist das halbe Leben …Erzählungen vom Wandel der Arbeitswelt seit 1945Böhlau-Verlag, Wien-Köln-Weimar 2012, 320 Seiten, gebunden, 24,90 Euro, ISBN 978-3-205-78703-7

Demokratie endet am Büro-(Fabriks-)Türl. Damals wie heute. Die konkreten Umstände in derArbeitswelt ändern sich trotzdem, ohne dass die Wandlungen von den Betroffenen tatsächlichbewusst wahrgenommen werden. Dafür einige Beispiele aus einem Sammelband mit lebensge-schichtlichen Auszeichnungen:

Seinerzeit sagten die Schwestern beim Erscheinen des Primars im Flüsterton: „Chef kommt!“.Vom Gott im weißen Mantel den eigenen Gesundheitszustand oder gar das Endes des Spitals-aufenthaltes erfragen zu wollen, führte zu einem Brüll-Konzert. Heute ist der Primar ein kolle-gialer Übervater, der aber trotzdem keinen Zweifel über den Umstand aufkommen lässt, dass erimmer Recht hat.

Seinerzeit gab es in den Ambulanzen richtige Allzweckplätze. Hier landete grundsätzlichjeder, der nicht auf die interne Abteilung gehörte. Und wenn sich die Rettungsleuten, die einenPatienten ohne Einweisung hatten, verschätzten, auch solche. Zusätzlich untersuchten in derAmbulanz noch der Gynäkologie-Primar, ein Urologe und der Zahnarzt besah sich hier seineRöntgenbilder. Heute findet ein Prestigekampf unter den Ärzten statt und die Gemeinde zahltfür größere Büros, neuere Einrichtungen und sonstige „dringende Bedürfnisse“ an medizini-schen Geräten.

Seinerzeit wurde in den Büros fast alles mit der Hand geschrieben oder es wurde diktiert.Diese Diktate wurden dann auf Adler-Schreibmaschinen getippt, die nicht nur vom Gewicht herunglaublich schwer waren, sondern auch in der Handhabung ungeheuer viel Kraft erforderten.Erst in den späten Sechzigerjahren brachte IBM eine elektrische Schreibmaschine mit aus-tauschbarem Kugelkopf auf den Markt. Das war der erste Schritt zum papierlosen Büro, daszunächst bei Kanzlistinnen und SekretärInnen auf heftigen Widerstand stieß, machte es dochdiese Berufsgruppen arbeitslos.

Seinerzeit gab es drei große Lebensmittelkonzerne in Österreich: Konsumverein, GebrüderKunz und Julius Meinl AG, wobei für die den Filialen mit dem Mohren in einer eigenen Berufs-schule die Elite der Lebensmittelkaufmanns-Lehrlinge ausgebildet wurde. Fritz Keller

SEITE 30 • ALTERNATIVE 7-8/2012

Bücher

Page 31: Alternative Juli/August

NEU

ERSC

HEINUNG

Iakovos Kambanellis

Die Freiheit kam im MaiErstmals aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt von Elena Strubakis mit der CD „Mauthausen Can-tata“. Text: Iakovos Kambanellis, Musik: Mikis Theodorakis, Begleitende Worte: Simon Wiesenthal.

Iakovos Kambanellis zählt zu den bekanntesten Bühnen- und Filmautoren Griechenlands. Seine Popularitätgründet sich ebenso auf die oft gespielten und gesungenen Vertonungen seiner Gedichte, besonders aufdie weltweit bekannte „Mauthausen Cantata“, die von Mikis Theodorakis vertont wurde. Iakovos Kambanellis war Häftling im Konzentrationslager Mauthausen. Er schildert die Zeit der Gefan-genschaft, den Tag der Befreiung, den 5. Mai 1945, das Leben im Lager in den folgenden Monatenund die Kontakte mit der Bevölkerung in den nahen Dörfern und Bauernhöfen, das Leben des Auf-

bruchs in die Freiheit, die ersten Schritte in eine neue Epoche. Simon Wiesenthal war Häftling inzahlreichen Konzentrationslagern, zuletzt in Mauthausen. Er kämpfte lebenslang um Recht und

Gerechtigkeit und formuliert auf der CD konzentriert seine wichtigsten Anliegen. Mikis Theo-dorakis sagt zu dieser ersten Übersetzung des Werkes ins Deutsche, das in Griechen-

land mehr als 30 Mal aufgelegt wurde: „Der Dichter beweist in seinem Buch, dasser stärker als seine Kerkermeister ist, weil er uns überzeugend zeigt, dass

sich sogar in der Hölle die Liebe letztendlich als das Stärkere erweist.“Ephelant Verlag, A-1010 Wien, Plankengasse 7: (01) 513 48 58;

ISBN: 978-3-900766-17-7, 22 Euro, ISBN: 978-3-900766-18-4 mit CD 34 Euro.

Page 32: Alternative Juli/August