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Bauwelt 24 | 2007 60 StadtBauwelt 174 | 2007 61 Big Talk: Die Kunst der schrägen Poesie Post-Kultur Kräftig aufrühren. Allerlei panierte Paperback-Ausgaben von Modern Thinkers hinzufügen. Die Mixtur „Dämme- rung von Idolen“ nennen. Durchquirlen. Qentchen eines neuen, zuvor an Arbeitslosen, aber auch an geriatrischen Dionysiern getesteten Laxativs hinzufügen. Gut schüt- teln, dann umdrehen und sparsam verwenden. (Von Kin- dern fernhalten.) Post-Kritiker Könnte seine Zeit – je nachdem, wie nützlich sich dieser Überflieger machen will – darauf verwenden, die neues- ten Denker und Meister der Kritik für zukünftige Trends verantwortlich zu machen. Müsste diese nicht unbedingt übernehmen, da das Tempo des kulturellen Wandels ihn der Anstrengung, sie zu begreifen, entbindet. Post-Autoritärer Würde eine außerhalb stehende vorläufige Autorität be- grüßen, und wenn auch nur, um ein Selbst außerhalb und sogar jenseits seiner selbst für möglich zu halten. Mit anderen Worten: „den Anderen“. Post-Information Würde die Rückkehr (waren wir je weg?) zur notwendi- gen Tyrannei der Bedeutung implizieren; ein wesentlicher Ausleseprozess aller möglichen (perversen) Stimuli, um das Abtauchen in weitere Exzesse zu vermeiden. (Hoffen kann man ja!) Der Computer daheim könnte dabei gute Dienste leisten. Post-Unfehlbarkeit Abdanken, das Eingeständnis des Scheiterns, ironisch oder sonstwie, wird unnötig sein. Sich zu irren ist schand- bar, war es leider schon immer (gleichgültig, welche Au- torität man für diesen Express-Zweck heranzieht). Post-Nietzscheaner Ein Post-Kantianer, der eine Philosophie der Sprache pflegt und zwar auf ihrem kritischsten und post-kri- tischsten Stand, sie dann aber skeptizistisch wieder abtut. Ununterbrochen! Schlimm, schlimm! Post-Subversiver Die Subversivität weiter und weiterzuführen wird sich folgerichtig irgendwann gegen ihn selbst richten. Mit Nietzsche anecken, Kierkegaard belustigen, sich zu frü- heren Gipfeln aufschwingen, um erneut abzustürzen, ist keine besonders angenehme Tätigkeit. Spätzünder! Post-Moderner Wird seine Similarität und Synonymie mit der Moderne in Frage stellen und sie später als falschen Lacher, Bon- mot oder nützlichen Ulk abtun. Welch’ eine Vergeudung! post-fragmentarisch Getrennte Begriffe werden zu einem Ganzen; Wissen- schaftler werden dies bis in alle Ewigkeit zurückverfol- gen, während Romanciers das schon seit Jahren tun, nur mit mehr Tiefe! Ständiges Aufmüpfen, ständige Ge- fügigkeit. Am Punkt Null? Roger Connah „Aber das Spiel ist noch nicht aus. Wir können mit dem erbitterten Widerstand von Seiten der moralischen Wesen, die wir sind, rechnen, einem Widerstand, der den Tiefen der Spezies entspringt, ihren vitalen Bedürfnissen, ihrer Ablehnung einer endgültigen Lösung. Diese Ablehnung ist keine Sache der Menschenrechte, sie ist eine Sache von Leben und Tod.“ Jean Baudrillard „L’Illusion de la Fin: ou La grève des événements“, 1992 Hohlköpfe setzen auf Ideologien! Bei all dem Big Talk – sind wir auch sicher, dass wir das ange- hen wollen: uns wieder einmal der Bedeutung einer Zeit zu öff- nen, die uns so offensichtlich düpiert? Größere Geister behaup- ten, dass auch wir, die Machtlosen, eine Alternative haben. Verspricht das nicht denjenigen in der Schwebe, den Unent- schlossenen, denen, die Meinungsvielfalt lieben, und denen, die vernarrt sind in das Privileg, Entschlossenheit und Gewiss- heiten über Bord zu werfen, indem sie sich für partielle Sys- teme und eine partielle Architektur stark machen, ein üppiges Dasein? Mit solchen Fragen konfrontiert, tun wir gut daran, den Verlust des Ideologie-Begriffs zu untersuchen. Gemeinhin angewandt, um eine Sammlung von Ideen zu be- zeichnen, wird Ideologie häufig von denen, die ihr nicht ver- haftet sind, als Fanatismus bezeichnet. Was hieße es demnach, in einer „Nach-Ideologie“ zu stecken? Anmerkungen von Da- niel Bell ermöglichen uns zu untersuchen, wie der Ideologie- begriff sich gewandelt hat. Von dem französischen Philosophen Destutt de Tracy in „Elé- ments d’Idéologie“, erschienen 1801/15, als Wort geprägt, be- zeichnete Ideologie ursprünglich die Wissenschaft der Ideen, die Erforschung der Ursachen von Schieflagen und Vorurtei- len des Menschen. Natürlich weitete sich der Begriff aus auf Ideen, Ideale, Glau- benssätze, Leidenschaften und Werte. Seit Marxens „Die deut- sche Ideologie“ (1927) wurde er allgemein verwandt, um ein Konglomerat von Ideen mit religiösen, kulturellen, politischen, philosophischen und/oder ethischen Inhalten zu bezeichnen. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Die moderne Archi- tektur neigt dazu, dieses Klischee zu stützen. Aber ist es auch richtig? Wann ging es schief mit der Geschichte? Wie wird aus einem Bündel von Ideen eine Ideologie, eine Rechtfertigung für zukünftiges Handeln? Haben frühere Ideo- logien gewisse Interessen verschleiert, so sind wir uns heute doch der Handlungen, die sich aus solchen Rechtfertigungen ergeben, mehr als bewusst. Obwohl es mannigfache Untersu- chungen zur Ideologie und zu den Zielen der Moderne gibt, sind hier ein paar neue Gedanken angebracht. In der modernen Architektur wurde die Ideologie zu einer „so- zialen Formel“, zu einem Glaubenssystem, und so dominierte sie das 20. Jahrhundert; die Architekten wiederum taten das ihre, um dieses System zu festigen. Aber die Hoffnung ging nicht auf; das Ideenbündel zerfaserte zu einer defekten Ideolo- gie, beeinträchtigt durch Zufälligkeiten, Heroismus und poli- tische Umstände. Die Öffentlichkeit hinkte wie immer hinter- her. Das tut sie heute noch und lässt sich von den Architekten verunsichern, die sie so gerne hätschelt. Der Diskurs wurde befremdlich und entfremdend. Deshalb die Frage: Ist der Un- tergang eines apokalyptischen Glaubens nicht einfach nur die Art und Weise, wie die verschiedenen Generationen mit ihrer Begeisterung, ihren Befangenheiten und ihrer Arroganz Schritt zu halten versuchen? Wenn dem so ist, gebiert die Ablehnung der Theorie dann nicht allerlei schräge Manifeste, die in widersprüchliche Spe- kulationen über eine beunruhigende Zukunft abgleiten. Bü- cher, Fachzeitschriften, Ausstellungen, höchst akademische Veranstaltungen und sogar Installationen mit Titeln wie „After-Theory, After-Ideology, After-all“ gibt es zuhauf. Könnte es sein, dass wir erst jetzt, arg verspätet, mit der Suche nach einem neuen Engagement, einem neuen Handlungskonzept beginnen und dass uns erst jetzt klar wird, wie sehr die Archi- tektur auf die Karte von Indifferenz und Inkompetenz setzt? Wenn wir der Vorstellung von Ideologie als einer „Denkungs- art“ folgen, die für ihre eigenen Veränderungen offen ist, dann würde der daraus resultierende ideologische Wettstreit wie auch die Gleichgültigkeit dem gegenüber uns wieder in einen post-ideologischen Zustand zurückversetzen. Als Reaktion auf die verschiedenen sich entwickelnden Welt- anschauungen („total ideologies“) haben Denker wie Raymond Aron und Daniel Bell dies schon in den 1950er Jahren als Teil eines weitergehenden Verständnisses vom „Ende der Ideolo- gie“ analysiert. Doch wurde dies nicht weiter verfolgt. Für Clif- ford Geertz ist „Ideologie“, neben anderen kulturellen Syste- men, eine Art Symbolsystem. Für Jean Baudrillard beraubt uns der Verlust eines Glaubenssystems jeglicher Widerstandskraft; dahintreibend sind wir unfähig, in einer provisorischen Welt zu existieren. Es gibt andere Giganten (und andere Schultern). Das Verschwin- den der Avantgarde muss Widerstand erzeugen gegen die Trös- tungen von Strategien, die heute eine nur allzu leicht mach- bare Architektur hervorbringen. Da sich die innerhalb der zeitgenössischen Architektur verloren gegangene Kritik aber wieder einschleicht, müssen wir uns fragen lassen, ob uns durch den Verlust von Utopien und Ideologien „Glaubensob- jekte“ abgehen. Antworten auf inszenierte Fragen bringen nichts; mehr Risi- kobereitschaft und Unschlüssigkeit führen zu einer narrati- ven Architektur der informierten wie ignorierten, der vernach- lässigten wie umgedeuteten Darstellungsweise. Vielfalt und Austausch zwischen den Disziplinen bieten einen Rahmen, also muss man sich nicht unbedingt auf irgendeiner modifi- zierten oder erzwungenen kritischen These ausruhen. Viel- leicht ist das nach einem so „modernen“ Jahrhundert der Hoff- nung, des Fortschritts und der Verheißung eine natürliche Konsequenz. Thema Am Punkt Null?

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Bauwelt 24 | 200760 StadtBauwelt 174 | 2007 61

Big Talk: Die Kunst der schrägen Poesie

Post-KulturKräftig aufrühren. Allerlei panierte Paperback-Ausgaben von Modern Thinkers hinzufügen. Die Mixtur „Dämme-rung von Idolen“ nennen. Durchquirlen. Qentchen eines neuen, zuvor an Arbeitslosen, aber auch an geriatrischen Dionysiern getesteten Laxativs hinzufügen. Gut schüt-teln, dann umdrehen und sparsam verwenden. (Von Kin-dern fernhalten.)

Post-KritikerKönnte seine Zeit – je nachdem, wie nützlich sich dieser Überflieger machen will – darauf verwenden, die neu es-ten Denker und Meister der Kritik für zukünftige Trends verantwortlich zu machen. Müsste diese nicht unbedingt übernehmen, da das Tempo des kulturellen Wandels ihn der Anstrengung, sie zu begreifen, entbindet.

Post-AutoritärerWürde eine außerhalb stehende vorläufige Autorität be-grüßen, und wenn auch nur, um ein Selbst außerhalb und sogar jenseits seiner selbst für möglich zu halten. Mit anderen Worten: „den Anderen“.

Post-InformationWürde die Rückkehr (waren wir je weg?) zur notwendi-gen Tyrannei der Bedeutung implizieren; ein wesentli cher Ausleseprozess aller möglichen (perversen) Stimuli, um das Abtauchen in weitere Exzesse zu vermeiden. (Hoffen kann man ja!) Der Computer daheim könnte da bei gute Dienste leisten. Post-UnfehlbarkeitAbdanken, das Eingeständnis des Scheiterns, ironisch oder sonstwie, wird unnötig sein. Sich zu irren ist schand-bar, war es leider schon immer (gleichgültig, welche Au-torität man für diesen Express-Zweck heranzieht).

Post-NietzscheanerEin Post-Kantianer, der eine Philosophie der Sprache pflegt und zwar auf ihrem kritischsten und post-kri-tischsten Stand, sie dann aber skeptizistisch wieder abtut. Ununterbrochen! Schlimm, schlimm!

Post-SubversiverDie Subversivität weiter und weiterzuführen wird sich folgerichtig irgendwann gegen ihn selbst richten. Mit Nietzsche anecken, Kierkegaard belustigen, sich zu frü-heren Gipfeln aufschwingen, um erneut abzustürzen, ist keine besonders angenehme Tätigkeit. Spätzünder!

Post-ModernerWird seine Similarität und Synonymie mit der Moderne in Frage stellen und sie später als falschen Lacher, Bon-mot oder nützlichen Ulk abtun. Welch’ eine Vergeudung!

post-fragmentarischGetrennte Begriffe werden zu einem Ganzen; Wissen-schaftler werden dies bis in alle Ewigkeit zurückverfol-gen, während Romanciers das schon seit Jahren tun, nur mit mehr Tiefe! Ständiges Aufmüpfen, ständige Ge-fügigkeit.

Am Punkt Null?Roger Connah

„Aber das Spiel ist noch nicht aus. Wir können mit dem erbitterten Widerstand von Seiten der morali schen Wesen, die wir sind, rechnen, einem Widerstand, der den Tiefen der Spezies entspringt, ihren vitalen Bedürfnissen, ihrer Ablehnung einer endgülti gen Lösung. Diese Ablehnung ist keine Sache der Menschenrechte, sie ist eine Sache von Leben und Tod.“Jean Baudrillard „L’Illusion de la Fin: ou La grève des événements“, 1992

Hohlköpfe setzen auf Ideologien!

Bei all dem Big Talk – sind wir auch sicher, dass wir das ange-hen wollen: uns wieder einmal der Bedeutung einer Zeit zu öff-nen, die uns so offensichtlich düpiert? Größere Geister behaup-ten, dass auch wir, die Machtlosen, eine Alternative haben. Verspricht das nicht denjenigen in der Schwebe, den Unent-schlossenen, denen, die Meinungsvielfalt lieben, und denen, die vernarrt sind in das Privileg, Entschlossenheit und Gewiss-heiten über Bord zu werfen, indem sie sich für partielle Sys-teme und eine partielle Architektur stark machen, ein üppiges Dasein? Mit solchen Fragen konfrontiert, tun wir gut daran, den Verlust des Ideologie-Begriffs zu untersuchen.

Gemeinhin angewandt, um eine Sammlung von Ideen zu be-zeichnen, wird Ideologie häufig von denen, die ihr nicht ver-haftet sind, als Fanatismus bezeichnet. Was hieße es demnach, in einer „Nach-Ideologie“ zu stecken? Anmerkungen von Da-niel Bell ermöglichen uns zu untersuchen, wie der Ideologie-begriff sich gewandelt hat.

Von dem französischen Philosophen Destutt de Tracy in „Elé-ments d’Idéologie“, erschienen 1801/15, als Wort geprägt, be-zeichnete Ideologie ursprünglich die Wissenschaft der Ideen, die Erforschung der Ursachen von Schieflagen und Vorurtei-len des Menschen.

Natürlich weitete sich der Begriff aus auf Ideen, Ideale, Glau-benssätze, Leidenschaften und Werte. Seit Marxens „Die deut-sche Ideologie“ (1927) wurde er allgemein verwandt, um ein Konglomerat von Ideen mit religiösen, kulturellen, politischen, philosophischen und/oder ethischen Inhalten zu bezeichnen. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Die moderne Archi-tektur neigt dazu, dieses Klischee zu stützen. Aber ist es auch richtig?

Wann ging es schief mit der Geschichte?

Wie wird aus einem Bündel von Ideen eine Ideologie, eine Rechtfertigung für zukünftiges Handeln? Haben frühere Ideo-logien gewisse Interessen verschleiert, so sind wir uns heute doch der Handlungen, die sich aus solchen Rechtfertigungen ergeben, mehr als bewusst. Obwohl es mannigfache Untersu-chungen zur Ideologie und zu den Zielen der Moderne gibt, sind hier ein paar neue Gedanken angebracht.

In der modernen Architektur wurde die Ideologie zu einer „so-zialen Formel“, zu einem Glaubenssystem, und so dominierte sie das 20. Jahrhundert; die Architekten wiederum taten das ihre, um dieses System zu festigen. Aber die Hoffnung ging nicht auf; das Ideenbündel zerfaserte zu einer defekten Ideolo-gie, beeinträchtigt durch Zufälligkeiten, Heroismus und poli-tische Umstände. Die Öffentlichkeit hinkte wie immer hinter-

her. Das tut sie heute noch und lässt sich von den Architekten verunsichern, die sie so gerne hätschelt. Der Diskurs wurde befremdlich und entfremdend. Deshalb die Frage: Ist der Un-tergang eines apokalyptischen Glaubens nicht einfach nur die Art und Weise, wie die verschiedenen Generationen mit ihrer Begeisterung, ihren Befangenheiten und ihrer Arroganz Schritt zu halten versuchen?

Wenn dem so ist, gebiert die Ablehnung der Theorie dann nicht allerlei schräge Manifeste, die in widersprüchliche Spe-kulationen über eine beunruhigende Zukunft abgleiten. Bü-cher, Fachzeitschriften, Ausstellungen, höchst akademische Veranstaltungen und sogar Installationen mit Titeln wie „After-Theory, After-Ideology, After-all“ gibt es zuhauf. Könnte es sein, dass wir erst jetzt, arg verspätet, mit der Suche nach einem neuen Engagement, einem neuen Handlungskonzept beginnen und dass uns erst jetzt klar wird, wie sehr die Archi-tektur auf die Karte von Indifferenz und Inkompetenz setzt? Wenn wir der Vorstellung von Ideologie als einer „Denkungs-art“ folgen, die für ihre eigenen Veränderungen offen ist, dann würde der daraus resultierende ideologische Wettstreit wie auch die Gleichgültigkeit dem gegenüber uns wieder in einen post-ideologischen Zustand zurückversetzen.

Als Reaktion auf die verschiedenen sich entwickelnden Welt-anschauungen („total ideologies“) haben Denker wie Raymond Aron und Daniel Bell dies schon in den 1950er Jahren als Teil eines weitergehenden Verständnisses vom „Ende der Ideolo-gie“ analysiert. Doch wurde dies nicht weiter verfolgt. Für Clif-ford Geertz ist „Ideologie“, neben anderen kulturellen Syste-men, eine Art Symbolsystem. Für Jean Baudrillard beraubt uns der Verlust eines Glaubenssystems jeglicher Widerstandskraft; dahintreibend sind wir unfähig, in einer provisorischen Welt zu existieren.

Es gibt andere Giganten (und andere Schultern). Das Verschwin-den der Avantgarde muss Widerstand erzeugen gegen die Trös-tungen von Strategien, die heute eine nur allzu leicht mach-bare Architektur hervorbringen. Da sich die innerhalb der zeitgenössischen Architektur verloren gegangene Kritik aber wieder einschleicht, müssen wir uns fragen lassen, ob uns durch den Verlust von Utopien und Ideologien „Glaubensob-jekte“ abgehen.

Antworten auf inszenierte Fragen bringen nichts; mehr Risi-ko bereitschaft und Unschlüssigkeit führen zu einer narrati-ven Architektur der informierten wie ignorierten, der vernach-lässigten wie umgedeuteten Darstellungsweise. Vielfalt und Austausch zwischen den Disziplinen bieten einen Rahmen, also muss man sich nicht unbedingt auf irgendeiner modifi-zierten oder erzwungenen kritischen These ausruhen. Viel-leicht ist das nach einem so „modernen“ Jahrhundert der Hoff-nung, des Fortschritts und der Verheißung eine natürliche Konsequenz.

Thema Am Punkt Null?

Bauwelt 24 | 200762 StadtBauwelt 174 | 2007 63

Wenn wir zu Anfängen zurück wollen, um falsch verstande-nen Ideologien zu widerstehen, wie können wir dann diese Energie in den von uns erwählten Beruf übertragen, der uns zur Malaise geworden ist? Die Fähigkeit, in der Gruppe die ei-genen Interessen gegen ein Bündel anderer Ideen durchzuset-zen, bedeutet, dass die kritische Fertigkeit des Architekten bei-nahe wichtiger geworden ist als das, was eigentlich zu erledigen wäre. Aber wenn es so wichtig ist, etwas zu haben, an das man nicht wirklich glaubt, dann ist es ebenso wichtig, Äußerungen von Des-Interesse zu üben. Wir könnten, ohne es zu merken, in eine Zeit des De-Radikalismus geraten sein.

Im Jahre 1976 schrieb der englische Professor Raymond Wil-liams ein nützliches kleines Kompendium mit dem Titel „Key-words“. In einer Zeit des schwerfälligen Nach-Denkens (nicht Nach-Gedankens) nahmen die Marxisten allenthalben den Be-griff des Scheiterns auseinander. Ideologie wurde zu einem Nebeneinander von Spekulationen, eine Vorstellung, der wir uns heute ohne weiteres anschließen können. Aber in jenem Jahrzehnt, als Kritik die moderne Bewegung pluralisierte, schloss Williams seine Einleitung zur Ideologie mit einem Hinweis auf das Post-Ideologische ab. Politisch, kulturell und moralisch schien es ihm unmöglich, dass Ideen Unterstüt-zung finden, die sich als spekulativ, abstrakt und falsch er-weisen.

„Inzwischen“, schrieb Williams, „wird Ideologie im allgemei-nen Sprachgebrauch noch immer hauptsächlich in dem Sinn gebraucht, den Napoleon ihr gegeben hat. Vernünftige Men-schen verlassen sich auf Erfahrungen oder hängen einer Philo-sophie an, Hohlköpfe setzen auf Ideologien. In diesem Sinn ist Ideologie, heute wie bei Napoleon, vor allem ein Schimpf-wort.“

Schimpfwörter ziehen Kreise. Und wenn wir nicht aufpassen, werden irgendwelche Nach-Gedanken auch dem Missbrauch der einsam vor sich hin Arbeitenden anheimfallen. Größere Geister als wir es sind behaupten, dass auch wir, die Macht-losen, eine Alternative haben. Vielleicht hätten wir auf diese verblichenen Großen hören sollen. Kolakowski schrieb 1990 in seinem Verteidigungsessay „Warum die Ideologie immer recht hat“, man solle die verschiedenen Anweisungen, wie der Ideologie-Begriff anzuwenden sei, negieren und sich folgenden Satz zu eigen machen: „Kurz, der allgemeine Sprachgebrauch scheint häufig zu implizieren, dass die soziale Funktion von Ideologien darin liegt, ein bestehendes (oder angestrebtes) Machtsystem zu unterfüttern, indem man ihm eine absolute und allumfassende Wahrheit zuerkennt.“

Wenn Hohlköpfe also auf Ideologien setzen, sind Architekten ihnen einen Stück voraus?

post-ideologischWeder die Kunst noch die Kultur insgesamt werden jen-seits ihrer momentanen (Un)Möglichkeit überheblich sein. Schade drum? Dementsprechend wird der immer lockerer werdende Umgang sicherstellen, dass sich jede Ära fest im Griff hat. Oder dass sie für ein Jahrzehnt oder so der Vergessenheit anheimfällt. Jammerschade!

Post-KantianerDie Zunge entschieden in die Wange gepresst. Kein Grund, die Philosophie vor den Fallstricken des Skepti-zismus zu bewahren. Kein Grund, die Rhetorik zu retten durch die Behauptung, der Geist wisse um die Realität. Ebenfalls unnötig das Interesse am unver -meidli chen Strukturieren. Stattdessen neu würfeln. GO passieren. Aber dann auch in den Knast GEN. Kein Sprach urlaub.

Post-NewtonianerLogischerweise beginnt und endet er (Ordnung muss sein) mit dem Paradoxon, eine Rolle zu übernehmen im Wandel von A-(aristotelischem)-Denken zum Nicht-A-Denken und es für präzise zu halten unter der Vorausset-zung, dass er es für nicht-newtonisches Denken halten darf.

Post-CartesianerHier kommt nicht nur Zweifel auf, sondern sogar die Frage nach dem Warum des Diskurses. Manch einer wird gähnen. Angepeilt wird, die Fragen vorauszuahnen, das Repertoire zu erkennen, um die eigenen Parolen auf si-cheres, (un)bekanntes Terrain zu retten. (Falls über -haupt möglich!)

Post-MittelmäßigkeitEs ist nicht mehr anstößig, in der Phänomenologie des Mittelmaßes und in Banalität zu schwelgen. Einige Kul-turen werden dies natürlich mit größerer Eleganz erle-digen (noch einmal mit Gefühl!), ein wenig Zelebrieren, dann die knappe Abkehr vom intellektuellen Terroris-mus.

Post-PolitikMercer, Resnais, Bogarde? (Wer denn nun?) Also Post-Providenz? Die dritte Welle, die holistische Wende, der Turning point, der Röntgenblick; die träge, eidechsen-hafte Eleganz zufälliger Übereinstimmung und mehr, viel mehr als vorübergehende Unverantwortlichkeit.

Post-PhänomenologieNach Husserl (wem denn sonst?), aber im Warten auf Flaubert.

Post-ProvidenzEin Unsinn, (d.h. etwas ohne Sinn und Verstand): ein Zu-stand, der, auch wenn er die übertriebenen Ziele poli-tischer Veränderung nie aus dem Blick verliert, mit der qualvollen Langsamkeit vorgeht, die Veränderungen so an sich haben.

Post-Moderne (revidiert)Eine Art des Denkens (wenn überhaupt!). Eine Empfind-samkeit, von der man nicht urplötzlich erwarten kann, dass sie den Untergang mit der Moderne meidet ange-sichts ihrer Beschränkungen (und dazu noch Habermas). Auch kann man nicht plötzlich erwarten, dass sie der möglichen Streuung und dem möglichen Verfall jeder an -deren Bewegung von und innerhalb von Ideen wider-steht. (Ein Schaden wird bleiben!)

post-biblischSchreiben beschreibt eine Krankheit und ihre Selbstkon-taminierung. In Erwartung eines Themas bekämpft es sich selbst und seine Souveränität. Das ihm eigene Be-kennertum wird es hinabziehen. Ergebnis: größtmög -li che Selbsttäuschung.

Post-BeckettianerMehr und mehr interessiert an den Reaktionen des Pu-blikums, das einmal eine drittklassige Arbeit für erst-klassig, ein andermal eine erstklassige Arbeit für dritt-klassig hält. Keinen Seufzer wert. Vielleicht ein Hüs -teln! Dann endlich kann man an dem hoffnungslosen Ver -such partizipieren, alles: den Sound, den Theatersaal, das ganze private Unken ein für alle Mal zu choreogra-phieren.

Post-FlaubertianerLebt in einem Schwellen-Raum, tritt von einer Zone in die andere! Fähigkeit zur Veränderung, zum Vorwärts- und Rückwärtsgehen. Hält zwischendurch enzyklopädi-sche Vorträge zu seinem Steckenpferd. Starkes Interesse am Tratsch der höheren (sinnlosen) Art. Glaubt, dies werde erreicht durch die Erfindung eines post-flaubert-schen Raums.

Post-AporikerDer Supersucher nach der überzeugenden, machbaren, begabten, glaubwürdigen, intelligenten, exakten (genug jetzt!) Alternative zum linguistischen Skeptizismus; macht kurz vor seiner außergewöhnlichen Entdeckung halt. Warum? Na, um sie anzuzweifeln!

Post-DerridianerEin williger, geistvoller, souveräner Intellekt, der Alter-nativen auskotzt, um eine leidenschaftliche, häufig blinde (je nach Epoche), aber dennoch ersehnte Ursache und ihr Ende wieder herzustellen. Traurig genug, aber ein mehr-als-nur-vorübergehender Hasser ausgelassener Feten. Große Gastfreundschaft, belohnte Generosität.

Post-UnentschlossenheitDie nützliche, talentierte Indifferenz, die sich weigert, sich auch nur entfernt für die einfache Suche nach Ver-änderung oder die Suche nach kognitiver Bestätigung durch irgendwelche Prämissen zu interessieren.

Post-Aporiker (die richtige Version!)Die erneuerte Autorität hinkt zurück aus der Kontami-nierung, ruft Halt, Halt, ich kann nicht mehr! Hat das Wissen an der Hand, das Sein im Kopf und die Eile im Leib. Ethik, kastriert durch Ästhetik. S & M. So geht’s voran!

Die Missgunst der ArchitektenAusreden und Alibis für eine partielle Architektur

„Falls es Wahrheit in der Architektur gibt, reagiert sie dop-pelt allergisch auf folgenden Aphorismus: Architektur geht im Wesentlichen außerhalb jedes Diskurses vor sich. Architek-tur ist artikulierte Organisation, aber stumme Artikulation.“ Jacques Derrida „52 Aphorismes pour un Avant-propos“, 1987

1. AllergienNach-Ideologie? Lassen wir die Wahrheit außen vor. Die Reak-tion darauf ist diffus, und eine kreative Lüge wird vermieden. Angesichts dieses Zustands möchte ich nicht wie so viele an-dere in irgendeinem akzeptierten Wort- oder Welt-Sinn bedeu-tungsvoll sein. Leichtfertigkeit, Draufgängertum und Zynis-mus kann man nicht begegnen mit einem cleveren Diskurs, der die gleichen Termini verwendet wie das, was zu entmach-ten er sich anschickt.

Die Handlungsverschwörung der weltbekannten und weltbe-rühmten Architekten sickert durch, wenn ihr Zynismus es zu-lässt. In den Zentren der Peripherie setzen uns diese Verschwö-rer mehr oder weniger große Miniaturversionen einer uns längst bekannten Welt vor.

Ich nenne das eine Art architektonischer Imamologie. Paradoxerweise hat die Vorstellung vom Ende der Ideologie das vergangene Jahrhundert mit seiner verheerenden Hoffnungs-verschwörung nachträglich infiziert. Die daraus resultieren-den Übertreibungen kommen erst jetzt bei uns an. Auf welche Weise sind die Architekten, ob Heilige, ob Hurenböcke, an die-ser Verschwörung beteiligt? Sehen wir deshalb in den neues-ten Utopien zum Scheitern verurteilte Projekte? Oder glauben wir, dass die aus den Phönix-Jahren emporgestiegenen, leicht abgewandelten Spektakel eine hochgestapelte Version routi-nierter, aber schwer errungener Ideen darstellen?

Dem Visionär ist die Vision abhanden gekommen. Wodurch soll sie denn nun ersetzt werden? Theorie, wenn verknüpft mit der modischen Aura der „Persona“, verschleiert nur allzu oft jede weitere, notwendig gewordene Bedeutungslosigkeit von Architektur. Statt der Härte und des Wettstreits, die unabding-bar sind, um die architektonische Praxis für Kernfragen der Architektur und für Fragen vom wissenschaftlichen Rand her zu öffnen, Fragen, die vom Normalen und Kanonischen abwei-chen, orchestrieren die Verschwörer den Diskurs mit den pro-baten Mitteln der Zeit.

Müsste nicht gewarnt werden vor den Wörtern, die zu brutal oder zu leichtfertig sind?

Wenn in der zeitgenössischen Architektur mit harten Banda-gen gekämpft wird, sollen wir dann abseitsstehen und ande-

Thema Am Punkt Null?

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Post-Provinzialismusoder eine günstige Rutschpartie in eine Welt, die De-kon struktion meidet. Endet im Finnen-Land oder Ground Zero, jedenfalls im Nirgendwo. Die Ewige Geschichte. Whisperer’s Gallery und Yawning Heights. Hell’s Angels auf 750er Hondas von hier nach Leningrad und zurück. An einem Tag!

Post-KierkegaardianerDer, der schlotternd jede verzeihende oder entschuldi-gende Last und Autorität verwehrt. Will sogar noch weitergehen, indem er seine Schuldgefühle in erzähleri -sche Fertigkeit transformiert. Macht alles Geschriebene re dun dant, nicht, wie es ursprünglich war, sondern vor lan ger, langer Zeit, bevor an sein Erscheinen auch nur zu denken war.

Post-Dekonstruktion (Szenario 1)Benötigt die Autorität und den Ruf einer Bewegung, die Autorität in Frage stellt und sich vergewissert, dass je der, der diese Autorität benötigt, sich ohnehin der nächs ten Bewegung anschließen wird. All dies ziemlich schmerz los mit dem einen nützlichen Unterschied: Die Bibliothek ist viel kleiner. Dekonstruierte Autoren wur-den verbrannt (zusammen mit ihren Büchern!).

Post-Dekonstruktion (nach dem Feuer)Unter der Asche, welch komische Reue! Ihr trieft ja! Während Jacques-der-Nützliche-und-seine-Blase sie alle: Wittgenstein, Kierkegaard, Plato, Hegel und Freud in einer Bataille über den Abgrund stießen, bis sie kaum mehr ihren eigenen Pfifferling wert waren. Die haben euch nun in eure eigenen Worte eingesperrt. Und ihr habt ihre Spuren getilgt. Jetzt ist es zu spät, die Bib-liothek von neuem zu beginnen. Wie? Es tut euch tat-sächlich leid? O je, ihr wisst nicht, was ihr für einen Dusel habt.

Post-post-SaussurianerPlant die willig willkommene Leugnung der willkürli-chen Natur der Zeichen und fleht verzweifelt, die referen-tielle Funktion der Sprache wieder einzuführen. Die Fete ist aus! Anders ausgedrückt: Es geht um die wunde Er-holung des geleugneten Wortes im post-saussurianischen Diskurs, und das wird nicht leicht werden. Kein Honig-schlecken. Köpfe werden rollen. Als wenn alle Feten ab-geschafft würden.

Post-IntellektuellerEin abgeschlafftes, doch nicht unattraktives Individuum, infiziert mit dem neuen Typus des kulturellen Journalis-mus, das sich abwendet von der zur Schau gestellten Gleichgültigkeit und sich weigert (ohne Wenn und Aber), knappere Einleitungen zu der vom Chefredakteur in Auftrag gegebenen Enzyklopädie vorzubereiten. So was wie ein Fair Player, ein Fetenhopper, ein Abgrundent-decker, ein Selbstverletzer, ein gehäuteter Schauspieler, ein reicher Darsteller im finalen Labyrinth.

ren, die begabter, mächtiger, opportunistischer sind, die Show überlassen? In der Architektur ist man immer zu weit gegan-gen und hat immer gewusst, dass man zu weit gegangen ist. Für manche ist das die Schwelle, vor der wir oft genug wider-standslos zurückschrecken, für andere ist es der Klippenrand, der uns kaum noch Zeit lässt, zurückzuschrecken. Der Ruf nach Toleranz heißt nicht, dass wir diejenigen akzeptieren müssen, die für uns sprechen, und auch diejenigen nicht, die es lieber sehen, wenn Visionen keine Konkurrenz haben.

2. Die Archäologie des Frivolen„Sie, die Sie beim Lesen dieses Kapitels nichts gelernt haben, sind wohl felsenfest davon überzeugt, dass alles, was ich gesagt habe, genau das ist, was Sie bereits wissen.“Jacques Derrida „L’Archéologie du Frivole“, 1976

Heute ist viel die Rede von pluralistischen Positionen. Inter-disziplinarität und Vieldeutigkeit könnten vermuten lassen, dass wir bereits in einer Zone angelangt sind, wo nichts mehr geht. Das ist nicht überall so. Dass wir Unterschiede und viel-fältige Machtstrukturen akzeptieren, macht uns, im Moment jedenfalls, vergessen, welche Illusion wir einmal vom 20. Jahr-hundert hatten, dass es nämlich geprägt war von einem vor-herrschenden, wenn nicht gar einzigartigen Modus operandi. Also nehmen wir eine Kluft in der Kritik wahr und sind an einen Punkt gekommen, in dem wir das „Ende der Ideologie“ zu erkennen glauben.

Aber wir sind nicht die Ersten, die dort angekommen sind, und wir werden auch nicht die Letzten sein.

Heutzutage wächst die Sehnsucht nach einer als „Nach-Theo-rie“ bezeichneten Kritik, die versucht, den Einfluss der nicht-allzu-weit-entfernten französischen Denker auszuschalten. Wir möchten alles, was Einzigartigkeit je gefördert hat, ein für alle Mal verschwinden lassen. Die Folgen werden von unserer Kritikfähigkeit bestimmt. Wenn uns die Zukunft nicht in den Schoß fällt, nehmen wir Zuflucht zur Ignoranz. Wir stricken unsere Frivolität um und erfinden akzeptable Szenarios. Und doch sind wir fasziniert von dem Verschwinden eines Sinns, wenn ihn ein anderer ablöst, denn das gewährt uns Auf-schub.

Bestimmt?

Nur was ist das für eine Sehnsucht, die an einen konstruierten Traum hängt? Das Scheitern der Poesie kann zu unserem Un-tergang nur beitragen, im Buch, im Film, auf der Baustelle: Er-innerungen an „The Fountainhead“ werden wach. Visionäre Architektur muss keine kognitive Täuschung sein, genauso wenig wie der operationale Mythos, der als Talent fungiert. De-Mythologisierung ist es, was uns gegenwärtig hilft; eine Täuschung, in der wir uns verlieren, indem wir den Wider-stand zum Privileg erheben und das Privileg zur Theorie.

Wenn konfrontiert mit der Archäologie unserer Frivolität, dann begeistern wir uns eher für die „unbekümmerte Gleich-gültigkeit“ von Witold Gombrowicz und scheren uns wenig um die Verschwörungstaktiken, deren Mittäter und Opfer wir sind. „Schlussendlich“ ist eine Zeitkrümmung in sich.

„Ich befürchtete, er werde den Brief erwähnen, aber glückli-cherweise verbot ihnen die moderne Art des Umgangs viel zu reden oder sich übereinander zu verwundern; sie mussten so tun, als sei alles offensichtlich und selbstverständlich. Mitnichten Beiläufigkeit, Grobheit, Schroffheit oder Dreistig-keit – man sehe nur, wie sie sich die poetischen Funken ab-rangen statt der Klagen, Seufzer und Abendständchen von Lie-benden früherer Zeiten. Er wusste, seine einzige Möglichkeit, das Mädchen zu erobern, war unbekümmerte Gleichgültigkeit. Dennoch fügte er eine Spur sinnlicher und moderner Senti-men talität hinzu, indem er mit gedämpfter Stimme, das Ge-sicht dem jungfräulichen Efeu zu gewandt, der die Wand emporkletterte, sagte: ‚Sie wollen es doch auch!‘“Witold Gombrowicz „Ferdydurke“, 1938

3. Architektur, die fröhliche Wissenschaft„ Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirk-lichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Theil davon.“Friedrich Nietzsche „Die fröhliche Wissenschaft“, 1882/1887

Wenn es, wie wir behaupten, in der heutigen Architektur viel kritischen Schwindel gibt, wissen wir dann eigentlich, wo und wann? Obwohl sie die „Re-Ontologisierung“ der Architektur genauso wenig verstehen wie ihre Kritiker, haben die Archi-tekten an dieser Worthülse genauso viel Spaß. Die Folge davon ist ein weiterer Rückzug von der Welt, der wiederum zum Rückzug von der Architektur wird. Wenn man miterlebt hat, was mit der generalisierten Welt der Realisten in den vergan-genen zwanzig Jahren geschehen ist, ist es unmöglich, nicht von diesem Rückzug mitgeschleift zu werden.

Hat dies offensichtliche Folgen?

Das praktische Wissen über Architektur ist seit den neunziger Jahren ohne Leidenschaft, engstirnig und statisch, während sich die Grenzen der Theorie immer weiter ausweiteten. Die Theorie hat mit dem kleinen Finger an ihr eigenes Fenster ge-klopft; Ideologie und Dogma wurden die alten Plätze zugewie-sen, einfach indem architektonische Strömungen von weither konstruktiv missverstanden wurden. Die Architektur entlieh sich die Kraft des Interdisziplinären, behielt sie aber bei sich, statt sie wieder abzustrahlen, sah sich nur neu aufbereitet im Image ihrer eigenen Verschwörung.

Natürlich gab es auch immer Realisten der anderen Art:„Wir haben lange gezögert, bis wir von dem machtvollen Phänomen, bekannt als moderne Architektur, Notiz nahmen. Eine solche Vorsicht ist jedem geraten, der in der Position eines Mentors des öffentlichen Geschmacks ist. Zu oft können vereinzelte Anzeichen der Anomalität als breite öffentliche Bewegung missverstanden werden, und man sollte sich davor hüten, ihnen eine Bedeutung beizumessen, die ihnen nicht zukommt. Aber die moderne Architektur hat sich über die Zeit bewährt und ist den Bedürfnissen der breiten Masse nach-gekommen. Wir freuen uns, sie ehren zu können.“Ayn Rand „The Fountainhead“, 1943

4. Frank Heron, Architekt„Er war einer der besten Architekten, die dieses Land hervor-gebracht hat. Er begann, den Bedürfnissen der breiten Masse Rechnung zu tragen. Er war in jeder Hinsicht brillant. Außer-dem war er ein guter Mann, ein Mann mit gesundem Humor. Dann trat er in die Armee ein, und seine Ideen und Methoden wurden ... nun ja, zweifelhaft.“ Wenn Sie wüssten, wer ich war, wie berühmt ich bin, würden Sie mir nicht glauben, was ich Ihnen jetzt sagen will; insofern werden Sie verstehen, warum ich lieber anonym bleibe. Die Gebäude des letzten Jahrhunderts sind im Verschwinden be-griffen. Lassen Sie sich nicht davon täuschen. Die moderne Ar-chitektur war immer ein Schwindel, veranstaltet von wenigen für die vielen, die noch immer nichts begreifen. Erst als ich die Möglichkeit bekam, meine eigene Architektur zu bauen, trat diese Selbst-Zerstörung zutage. Gefeiert für eine Architektur, die mich anwiderte, wollte ich nichts mehr entwerfen, nichts mitteilen und nichts erklären. Je berühmter ich wurde, desto mehr kam ich mir vor wie eine gefährdete Art.

Bis zu diesem Moment meiner mich selbst vernichtenden Kar-riere hatte sich dies nur in meinen Vorlesungen gezeigt. Erst als mir der zweite oder dritte Preis verliehen wurde und ich das betrat, was für mich zum gefürchteten Ort geworden war, nämlich das Podium, erkannte ich, dass ich mich immer weiter von meiner Ambition entfernte. Das muss jedem, der meine Todesanzeige gelesen hat, heute idiotisch erscheinen, gemäß dem lockeren, aber sehr brauchbaren französischen Satz „J’ai toujours le vertige“.

An diesem Punkt beschloss ich, die enorme Unaufrichtigkeit der modernen Architektur zu korrigieren, indem ich ein Netz-werk aufbaute. Mit großer Bedachtsamkeit und äußerster Ge-rissenheit beschlossen wir, jeden Hinweis auf unsere Arbeit als Architekten zu tilgen. Dies bedeutete nicht nur die Ver-nichtung aller Zeichnungen und Akten, sondern das viel ris-kantere Vorhaben, reale Gebäude zu entfernen. Wir arbeiten jetzt als architektonisches Sprengkommando. Unser Anliegen ist Zerstörung, das Ausradieren alter Strukturen und der Bau neuer, illegaler Siedlungen und Infrastrukturen.

Thema Am Punkt Null?

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Criminal Eye gehört zu einem größeren Werkkomplex des Künstlers, in dem er Aufnah-men von Gesichtern oder iso-lierten Augen auf zum Teil an-thropomorphe Objekte proji-ziert und diese dadurch zum Leben zu erwecken scheint. Hier zeigt Oursler auf einer glatten Kugel das Bild eines menschlichen Auges, das sich weder schließen kann noch zu blinzeln vermag. In der Iris sind die verschwomme nen

Reflexionen wechselnder Fern-sehbilder zu erkennen, und Klangfetzen von Fernsehpro-grammen bilden die Geräusch-kulisse. Allerdings folgen die kreisenden Bewegungen des Auges nicht den Fernsehbil-dern. Es sind lediglich Größen-veränderungen der Pupille festzustellen, die sich je nach Stärke des Lichteinfalls wei-tet oder zusammenzieht.

Foto: Roman März, Berlin

Tony Oursier Criminal Eye

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Neben der traditionellen architektonischen Arbeit, neben Städ-tebau und Umweltplanung arbeiten wir als Direktoren des In-ternational Special Architectural Service: „les architectes sans frontières“. Unsere jüngste Aufgabe, Matrix 2050, eine post-ideologische Meditationsfabrik, wird in den nächsten ein, zwei Jahren fertig sein.

Wie Max Frischs Brandstifter bestücken wir jetzt die Welt un-serer Architektur mit eigenen Ölfässern und klügeln aus, wie wir sie am besten in Brand setzen. Über Nacht werden die Städte leer sein; bei Nacht und Nebel wird Dekonstruktion, im wörtlichen Sinne, stattfinden. Am Morgen dann wird nichts mehr übrig sein.

5. Das AbendmahlEin Projekt von Casagrande & Rintala, Helsinki, 2003

a. Transporte in ein Basislager in Kenia, Tansania oder andere vergleichbar zugängliche Länder. Ausrüstung, Personal: ein oder zwei Verkehrshubschrauber (Mi-8, Chinook), besetzt mit einem Schutzteam von 3 x 4 Mann (1 Ärzteteam), 4 Kellnerin-nen, 2 Köchen, 1 Violinquartett, 1 Filmcrew von 4 Personen, 1 Verbindungsoffizier, 2 bis 4 Piloten.

b. Hubschrauber starten zu Flüchtlingslagern im Südsudan, Eritrea oder anderen Ländern mit Hungerproblematik. Auf dem Boden sind Verbindungsoffiziere, Funk, Beleuchtung etc. Einen Nachtflug in geringer Höhe mit Suchlicht durchführen. Eine humanitäre Genehmigung (oder auch nicht) besorgen, zum Beispiel vom Roten Kreuz.

c. Schutzteams seilen Baumaterial ab wie z.B. Metallzäune, Stacheldraht und Scheinwerfer. Sie riegeln einen Bereich des Flüchtlingslagers ab und malen die Linien eines Tennisplatzes auf.

d. Hubschrauber aufsetzen. Tisch aufbauen. Musik auflegen. Zu kochen anfangen. Sicherstellen, dass die Flüchtlinge drum-herumstehen.

e. Hubschrauber starten. 13 Flüchtlinge selektieren für ein Lu-xusessen, französische Küche – ein Abendmahl. Das Ärzte-team bereithalten für den Fall, dass es bei den Hungernden zu Komplikationen kommt. (Kulisse wie Da Vincis „Abend-mahl“)

f. Nach dem Mahl die Hubschrauber erneut landen, Zaun und Stacheldraht entfernen und den Ort evakuieren. Tennisplatz und Essensreste zurücklassen.

g. Über die internationalen Medien den Event als makabres Dokument mit dem Titel „Ein Abendmahl“ verbreiten. (Budget etwa 150.000 US-Dollar)

6. Das kritische WesenDas Ende einer jeden Hegemonie verlangt von den Nachgebo-renen, vorübergehend in einem Schwebezustand zu leben. Wollen wir uns in diesem Zustand aus Angst, erneut unter-jocht zu werden, vor einer Lösung drücken, oder betrachten wir ihn als Chance, in einem Zwischen-Raum zu leben, in dem wir Zögern und Verzögern auskosten können?

Wenn, was es in vielen Disziplinen gibt, die Kritik mit sich selbst im Argen liegt und Abweisungen als Modus operandi gar nicht erwünscht sind, wie sollen wir uns dann noch kri-tisch betätigen, Missstände bloßlegen oder aber Authentizität für Strategien beanspruchen, die kollektive Positionen nötig machten, vor denen wir uns dann aber drücken?

Ein ideologiefreier Zustand ist nicht unbedingt ein Zustand frei von Ideologie. Es kann sein, dass Ideologien sich verbrei-ten und auf einer kleineren, aber bösartigeren Stufe Teil eines Kriegszustands werden, sowohl privat als auch politisch, erin-nern wir uns doch an die Ereignisse rund um die New Yorker World Trade Towers.

Das kritische Wesen wird wieder einmal zum gespaltenen Wesen.

7. Vom Widerstreben zum WiderstandIn „Anatomie einer Zurückhaltung“ aus der Sammlung „Ver-such, in der Wahrheit zu leben“ schreibt Václav Havel über Ideo-logie. Indem er zu erklären versucht, warum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Skeptizismus in der Tschechos-lowakei so ausgeprägt war, erinnert Havel an die Bedeutung der Ideologien im 20. Jahrhundert. Oft wundern sich gerade diejenigen über die seltsame Hingabe an eine Ideologie, die in einem durch und durch ideologischen System gelebt haben.

„Dennoch wünsche ich mir, dass wir verstehen könnten, warumvor dem Hintergrund dessen, was wir erlebt haben, als wir zusehen mussten, wie die Ideologie die Wahrheit aufs Übelstevergewaltigte, uns dies heute so unbedeutend und unrichtig erscheint, weit entfernt von dem, worum es im Moment geht.“ Václav Havel, „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, 1989

Vielleicht ist es übertrieben zu behaupten, dass die Ideologie, die der architektonischen Moderne irgendwann angeheftet wurde, die Wahrheit vergewaltigt hat, aber es ist gibt keinen Zweifel darüber, welche sozialen und kulturellen Versprechun-gen diese Ideologie der Gesellschaft gemacht hat, die sie durch Architektur einlösen wollte. Vielleicht erforderte ihre Radikali-tät eine solche programmatische Starrheit, eine solche Heftig-keit. Sind wir deshalb an dem Punkt angekommen, wo wir uns einen Zustand vorstellen können, der auf merkwürdige Weise „schluss endlich“ ist? Könnten wir nicht die Ersten sein, die sich gegen das Dogma, die Starre und die Disziplin, die uns an die-sen Punkt gebracht hat, auflehnen?

Wir mögen das Gerede über scheiternde Ideologien nicht mit-machen, wir können auch den Diskurs negieren, der das wie-derum in Frage stellt, aber angesichts des Niedergangs tut das nichts zu Sache, denn die Entschlüsse sind ohne uns gefasst worden. Wir sind zu Mitreisenden geworden.

8. Die Spur der ModerneDie Moderne wurde, als sie in den zwanziger Jahren Fahrt auf-nahm und vor allem durch die besondere Art und Weise, wie sie sich als Architektur manifestierte, zum Gestalter des Le-bens. Sie sollte die Errungenschaften einer Industrialisierung ernten, die in vielen Ländern schon im 19. Jahrhundert begon-nen hatte. Und sie war für viele, die J. M. Richards folgten, eine Bewegung, die jede Ideologie und alle Ismen transzendieren würde.

Das war reizvoll.

Schließlich sollte die Moderne eine Art Höhepunkt und Ab-schluss sein, und die Profession der Architekten, auf diesem Niveau angekommen, befände sich absolut im Trend der Zeit. Wenn Architektur eine derartige Macht hätte, würde sie kurz-zeitig Helden der Architektur zeugen, was sie auch tat. Herois-mus in der Architektur, einmal erfunden und vorgeführt, ist etwas, das uns bis heute erhalten geblieben ist und nun unan-gefochten wiederholt wird. Der große Anteil unspektakulärer Architektur, produziert von unspektakulären modernen Ar-chitekten, gilt als ein Versprechen, dass wir weiterhin aus dem Fortschritt, dem Tempo und dem Schick der Technologie Nut-zen ziehen werden. Die Renaissance hat geklont, wir könnten das auch und noch viel besser, auch wenn wir es nicht so nen-nen würden. Man hätte sich für die Ewigkeit gedachte, immer weiter verfeinerte Entwürfe vorstellen können, wenn nicht die Ewigkeit am Ende des 20. Jahrhunderts zu Ende gewesen wäre. Diese unspektakuläre Architektur hätte viele der in ihr ver-muteten Vorzüge verloren, wenn sie im 20. Jahrhundert die meisten Städte in Besitz genommen hätte.

Aber natürlich hat sie diese Chance nie bekommen.

Denn schließlich hat die Tyrannei dieser favorisierten Ideolo-gie zu ihrem fast sofortigen Niedergang geführt, zum Teil, weil sie einen Stil verkörperte, der als „moderne Architektur“ ange-sehen und mit ihr verworfen wurde. Die Folgen kamen und blieben, sichtbar für alle.

9. Unverzeihliche Schandflecke Ist es unmöglich, sich nach all dem großmütig zu zeigen? Be-trachten wir Venedig. Welche Konfusion zwischen Ideologie und dem allgemeinen Verständnis von Architektur, als die Mo-derne sich in der Enge einer Stadt wie Venedig breitmachte! Dort gibt es nun, wie John Julius Norwich meint, „einige un-verzeihliche Schandflecke, den Nachkriegsausbau des Hotels Danieli zum Beispiel oder den Bau des Bauer-Grunwald Hotels

am Kanal San Moise oder das Teatro Goldoni oder diese scheuß-liche neue Bank am Campo Manin“.

Der Glaube legt natürlich Schlingen um die Ideologie und wird es weiter tun, ob unsere Kritik ihr gerecht wird oder nicht. Donna Leon lässt ihren Helden Guido Brunetti in dem Kriminalroman „The Death of Faith“ (1997) Folgendes befin-den: „Als Brunetti die Riva degli Schiavoni entlangging, kam in der Ferne Sansovionos Bibliothek in Sicht, und wie immer erfreute die Sprödigkeit ihrer Architektur sein Herz. Die gro-ßen Baumeister der Serenissima Repubblica haben lediglich auf Menschenkraft zurückgreifen können: Flöße, Seile und Flaschenzüge, und doch ist ihnen ein solches Wunder gelun-gen. Er dachte an einige der scheußlichen Gebäude, mit denen die modernen Venezianer ihre Stadt entstellt haben: das Bauer-Grunwald Hotel, die Banca Cattolica, den Bahnhof, und nicht zum ersten Mal betrauerte er den hohen Preis der menschli-chen Gier.“

10. Die letzte SchlingeDer Glaube legt eine Schlinge auch um die Kritik, die die Ide-ologie verdammt. Weil die Moderne sich in so vielen Teilen der Welt reproduzieren konnte, wurde sie für viele eine Bewe-gung von größter Bedeutung, von Überheblichkeit übrigens auch. Die moderne Agenda, die man dem enthusiastischen Programm der Architekten zuschrieb, ließ vermuten, dass sie nicht nur sozialen Nutzen bringen, sondern – auf seltsam dau-erhafte Weise – definieren könnte, wie es sein würde, modern zu leben: in modernen Gebäuden, in modernen Städten, mit modernen Autos. Die Vorlage fand man in dem modernen Ro-man, aber das Ergebnis war nie ganz das, was Aldous Huxley vorausgesagt hatte.

Es war das „Ende der Geschichte“ vor dem Ende der Geschichte, später postuliert im post-modernen Denken. Das war schließ-lich, bevor Zeitschriftenartikel und gelehrte Diskurse ihre ei-gene Kritik des Niedergangs formulierten. Und als das 20. Jahr-hundert dann zu Ende ging, war klar, dass die Menschen des 21. Jahrhunderts kaum je den Kitzel des revolutionären Den-kens spüren können würden, der das letzte Jahrzehnt des 19. und das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts so in Wallung brachte. Nostalgie musste nicht erst gebeten werden; sie war in das Versprechen des Modernismus längst eingebettet. Leben wir heute nicht in einem Waisenhaus von Ideen, die uns nie zu Gebote gestanden haben?

11. Der Waisenphilosoph und die ArchitektenWollen wir über einen post-ideologischen Zustand sprechen, so geht das sicherlich nicht ohne den Geist Nietzsches oder die Waisenphilosophie von Georges Bataille. Das Gefühl der Be-drohung, das fast allem und jedem anhaftet, konnte die Ge-burt einer hybriden Spezies in uns noch nicht entstehen las-sen, doch es gibt Anzeichen, dass Künstler und Architekt zu verschmelzen beginnen. Das ist zumindest ein Anfang und be-

Thema Am Punkt Null?

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In 24 Hour Psycho benutzt Douglas Gordon einen handels-üblichen Videoplayer, um Alfred Hitchcocks legendä ren, 109 Minuten langen Film Psycho (1960) auf eine Spiel-dauer von 24 Stunden aus-zudehnen. Der Film läuft 13-fach verlangsamt, so dass sich die Bewegung in Stand-bilder auflöst und kein Ton mehr zu hö ren ist. Gordon pro-jiziert die entstehenden stummen, sich nur langsam

wandelnden Bilder auf eine drei mal vier Me ter große Leinwand. Er ent täuscht damit gezielt die Er war tungshaltung des Betrachters an den be-kannten Ablauf des Psycho-thrillers: Minutenlang sind jene Bild ikonen zu sehen, die dem Film bei normaler Ge-schwindigkeit seine enorme Ausstrahlung verleihen.

Fotos: Hamburger Bahnhof, Berlin

Douglas Gordon 24 Hour Psycho

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zeichnet den Kurs, den Nietzsche für diese Art von Zwittern umreißt: Wegen eines schwach ausgeprägten Willens und aus Angst vor den gesellschaftlichen Konsequenzen dem Verbre-chen gerade noch entronnen, aber nicht bereit fürs Irrenhaus, fährt diese Zwitterart aus Künstler und Architekt, beide im Widerstand, ihre Antennen in zwei Richtungen aus. Auf eine Gesellschaft hin und gleichzeitig von ihr weg, eine Gesell-schaft, die uns auf den Fersen ist, die unsere Schwäche zu unse-rer Ideologie machen will. Ist dies ein Zustand, der uns hinter eine bereits etablierte Architektur zurückfallen lässt?

Das Waisenkind in Bataille hatte recht: Uns bleibt nichts übrig, als weiterzugehen. Denn eine Kritik dieser Art zu formulieren ist – schlussendlich – schon der Niedergang. Dass wir, mit wel-cher Definition auch immer, von einem post-ideologischen Zustand sprechen, zeigt schon, dass auch der Zustand, in dem wir uns jetzt befinden, im Niedergang begriffen ist. Es ist natür-lich wenig sinnvoll, darüber zu klagen, dass uns die Sprache fehlt, wenn wir den Mund nicht aufmachen. Wenn der Nieder-gang unvermeidlich ist, wenn wir unzugänglich und konfus sind, wenn wir uns nur durch Nicht-Annäherung nähern kön-nen, sollten wir dann nicht unverzüglich alle Architekturschu-len abschaffen, um die Tyrannei der Schwäche zu beenden?

Jetzt sehen Sie allmählich, wohin das alles führt: entweder in die Klapsmühle oder zum kompletten Ignorieren jeglicher An-zeichen von Schwäche, zu neuerlichen Fluchtversuchen oder neuerlichem Widerstand gegen fast alles, was heute in der Ar-chitektur geschieht.

12. WaisendenkenDas 20. Jahrhundert musste ein Traum bleiben. Es war passiv und blind und hat uns von Anfang an außen vor gelassen, wäh-rend es uns gleichzeitig unaufhörlich zum Handeln drängte. Man sprach so lange von einer Karriere, bis man an eine den-ken musste.

Aber da war es bereits zu spät.

Die Stimmen der Großen wurden lauter, die Gedanken der Denker größer. Die Länder begannen sich auszutauschen. Sie wollten dabei sein, sie wollten Autorennennungen und Wer-betexte. Der naive Symbolismus und die Denkversuche des B-Teams waren verführerisch, wer nachhinkte, war der Gnade der eigenen Geburt überlassen. Welches Recht hatten wir überhaupt, von Gefängnissen und Ungerechtigkeiten zu spre-chen?

Wir hatten noch nicht gelebt, sagt man uns.Wir haben noch nicht gelebt. Nicht mal in Indien!Wir wissen nichts vom Krieg, sagt man uns.Wir haben keine echten Schuldgefühle.Dabeistehen ist alles, was wir können.Können wir überhaupt staunen?

Das hören wir wieder und wieder. Und doch haben wir es überlebt. Wie? Indem wir, im Alter zwischen zwölf und sech-zehn, die Bibel von A bis Z gelesen haben?

Hier legen Architekten eine Pause ein, denn sie wissen, sie wollen weitermachen im Glauben, das B-Team werde sie nie im Stich lassen. Sie gehen hin und schneiden Glas. Sie waschen eine Tasse aus, kochen Kaffee und lassen Wasser ins rostfreie Spülbecken laufen. Aber es muss schnell gehen. Nach ein paar Minuten kehren alle zurück, überzeugt, dass sie die Richtigen sind für den Job. Sie reden sich ein, dass das, was sie durchge-macht haben, sowohl wichtig als auch unwichtig sei.

Wenn dies das Ende der Ideologie ist, so ist es der Beginn eines anderen Lebens.

Es muss so sein.

13. Was ist Architektur?Was bedeutet sie?Wie bedeutet sie, was sie bedeutet?Hat die Architektur aufgehört, Bedeutung für uns zu haben?

Die Frage ist nicht, wann die herrschende Mode zu der uns überflutenden Vielfalt geworden oder wann jegliches ideologi-sches Wertesystem verschwunden ist. Die Frage ist nicht, wann die Architektur die Bedeutung für uns verloren hat, sondern die Frage ist: Hat sie je Bedeutung gehabt?

War Architektur je eine höhere Kunst, gespeist von metaphy-sischer Eleganz oder Arroganz, von Achtsamkeit oder Naivi-tät, war sie eine soziale Formel, die ihr eigenes Versprechen an sich wahrmachen wollte? Oder war sie eine Kunst der Niede-rungen, bodenständig, weniger himmlisch, erhöht nur durch die Leidenschaft von Planen und Bauen, driftend zuweilen, aber immer wieder durch Heroismus und durch das metaphy-sische Sehnen der Architekten nach Mehr geadelt?

Ein paar Purzelbäume durch das semantische und philoso-phische Gerüst der Architektur des vorigen Jahrhunderts er-öffnen uns zwangsläufig die Welt der „Redundanz“. Vielleicht haben wir den Zustand des „Schlussendlich“ schon erreicht, weil wir eine Zeit durchlebt haben, in der diese Fragen uns hef-tiger aufrüttelten, als für die Architektur eigentlich tragbar ist. Aber seien wir nicht zu pessimistisch, was die Redundanz im Denkgebäude der Architektur angeht. „Work in progress“ bringt uns dem heute herrschenden De-Radikalismus Schritt für Schritt näher.

Hier ist die Theorie diskursiv, frivol und ein literarisches Ver-gnügen. Wir werden in eine Architektur geworfen jenseits dessen, was von dem Melodrama und vom Unbehagen an den neuerlichen architektonischen Theorien zu erwarten ist, und so landen wir auf unsicherem Boden.

In einer BBC-Radiosendung mit dem Titel „Desert Island Discs“ befragt, ob er optimistisch oder pessimistisch sei, ant-wortete Daniel Libeskind: „Selbstverständlich optimistisch. Architektur kann gar nicht pessimistisch sein. Der Prozess selbst ist Konstruktion, nicht Dekonstruktion.“

Aus der wundersamen Umkehr von Worten und Schicksalen werden Karrieren, Gebäude und große Namen gemacht. Und fallen wieder in sich zusammen.

14. post-, dis-, ex-, de-Ist es möglich, keinen Plan zu haben und dennoch weiterzu-machen?

Ich erinnere mich an eine Vorlesungsreihe im Jahre 1995. Da-mals zeigte ich keine Bilder von spektakulären Gebäuden, hatte keine der üblichen Prunkkomplexe der Weltarchitektur in der Tasche. Viele der Bilder, die ich dabei hatte, waren fleckig, wenn nicht extra geschwärzt. Sie waren gewollt „pulpig“.

Um mehr als das Übliche zu erfahren, mussten die Studenten sich anstrengen. Außerdem mussten sie mehr auf die Periphe-rie achten als auf das Zentrum. Das übliche Scannen funktio-nierte nicht.

Heute ist es acht Jahre später. Hat sich etwas geändert? Wir könnten leuchtende Beispiele einer glänzenden Architektur vorführen, aber in der Geleckt- und Gelacktheit mancher neuer Gebäude liegt etwas seltsam Rückwärtsgewandtes. Trotz Rie-senfortschritten in der Technologie, trotz aller Konstruktions-finessen hat die Nähe und Intimität des Materials etwas Un-nahbares.

Die spektakulären Gebäude strahlen Geschmack, ästhetische Harmonie und Glanz aus. Aber allein das Spektakuläre dieser eigenwilligen Gebäude produziert Unbehagen. Ihre kriegeri-schen Ideologien geben, im Gegensatz zum Ruhm, wenig her. Kein Härchen steht ab, kein Mensch ist zu sehen, kein einziges Bild ist „daneben“. Die Berühmtheiten werden gerühmt. Und die Fotografie vervielfältigt das. Das Ergebnis macht frösteln! Und zwar so, dass wir uns verlieren.

Wir sehen diese Gebäude, wollen sie aber eigentlich gar nicht mehr, weder in Wirklichkeit noch auf dem Papier. Sie lassen außer Acht, was ein Großteil der Architektur in ihrer spektaku-lären Individualität außer Acht lässt. Was ist das? Die Straße? Das Pulpige, das Chaos, das Aufgeregte, das Unvorhersagbare, was Straße ausmacht? Fehlen Überraschung, das Nicht-Plan-bare, die Nicht-Ordnung?

Post, dis, ex, de, super!

Oder ist es so weit, dass unsere einzige Pflicht darin besteht, Widerstand gegen die etablierte Architektur zu leisten?

15. Frank Heron, die GerüchteGlauben Sie den Gerüchten nicht.

Frank Herons Architektur ist beiläufig, scheinbar launisch, scheitert eher an einer neuen Bedeutung statt an einer alten. Sie ist auf ernste Weise leichtfertig und findet es besser, nicht alles von der Reiseroute zu wissen, auf die sie uns mitnimmt. Sie gestattet dem Nutzer, sich etwas zu denken, das der Archi-tekt möglicherweise nicht vorausgedacht hat. Das ist wichti-ger als gedacht, um die halluzinatorischen Eigenschaften von Architektur zu erschüttern.

Frank Herons Architektur ist eine Architektur, über die man spricht und theoretisiert, oft sofort und sogleich, weil man schon lange auf dringende Botschaften gewartet hat. Sie ist eine Architektur hartnäckiger und unentrinnbarer Zerrbilder, die uns erneut auffordert zu erkennen, wie der Architektur Be-deutung angeheftet wird. Ist sie da, um uns abzulenken, um uns zu quälen oder um uns zu ermutigen, weiterzumachen? Ohne die Angst, seine sichere architektonische Handschrift ad absurdum zu führen, lässt sich Frank Heron auf die verführe-rische Kraft der Unvereinbarkeit ein und lässt seiner Eitelkeit Spielraum. Das verheißt ihm Gültigkeit, literarisch wie archi-tektonisch, er ist in der Lage, gleichzeitig zu tun und abzu-tun. Uns bleibt die Entscheidung, wie viel Architektur wir der Phantasie unangetastet überlassen können.

Heron kann eine solche Gelassenheit nicht immer ins Spiel bringen. Architektur erfüllt ein dauerhaft flüchtiges Verspre-chen. Sie folgt der Fiktion und der angegriffenen Form der Sprache. Sie ist nicht länger eine unwahrscheinliche Privat-architektur aus dem Cyberspace – sie ist eine Architektur, die dem ungewissen Versprechen ihrer eigenen Redundanz begegnet.

16. Schlussendlich Wo sind sie denn, die schamroten Architekten, die ihre Ar-beit mit unerträglicher Rhetorik überfrachtet haben? Was wird aus der Architektur und unseren Lebensräumen, wenn wir nicht zu der Daseinsberechtigung der Gebäude selbst kom-men? Schlussendlich wird es immer möglich sein, die architek-tonische Hülle irgendwie zu formen oder sich der „Deforma-tion“ oder „Unsichtbarkeit“ neuer Materialien anzupassen, wie instabil oder nachgiebig diese auch sein mögen.

Befinden wir uns schon mitten in einem zynisch-schwermü-tigen Endspiel? Einem kritischen wie auch politischen End-spiel, das uns aufgehalst wird von Globalisierung und Infor-mationstechnologie? Manche Architekten lernen von den Neu erungen des technologischen Fortschritts, andere ahmen nur nach. Mehr oder weniger kompetente, manchmal sogar brillante Versionen einer irgendwo auf der Welt schon gese-henen und veröffentlichten Architektur entstehen. Es sei denn, einer „riskiert was“. Genauso schnell, wie selbsttragendes Glas

Thema Am Punkt Null?

Bauwelt 24 | 200774 StadtBauwelt 174 | 2007 75

Die Arbeit The best space is the deep space bezieht sich im Titel auf ein Zitat aus Gilles Deleuzes „Logik des Sinns“ und ist Teil einer größeren Se-rie von acht Werken. In die ser versucht die Künstlerin, Di -cho tomien wie den Gegensatz von Natur und Kultur zu er-kun den und zu problematisie-ren. Das Werk besteht aus ei-

ner variablen Anordnung von Projektionen und Fernsehmo-nitoren. Sie alle zeigen ein dressiertes Pferd und seinen Trainer, die sich in der Arena zwischen farbigen Dunst -schwa den hin und her bewe-gen; ab und zu ist auch das Filmteam zu sehen.

Foto: Roman März, Berlin

Diana Thater The best space is the deep space

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erfunden und vermarktet wurde, genauso schnell tauchten in aller Welt Gebäude mit Glashäuten auf. Die Zunft passt sich den Trends an, wie sie es immer getan hat, was wir aber su-chen, ist etwas anderes, etwas, das zwischen allen diesen Phä-nomenen liegen muss.

Was bedeutet es, heute einem jungen Architekten zu sagen: „Riskier was.“?

Ist Image alles und nichts? Ist das Image in der Architektur mächtiger, wenn es mit Rückendeckung daherkommt, verfüh-rerisch und doch eigentlich bodenlos? Gleiten wir an der Oberfläche der Dinge ab, ohne es zu merken? Um später be-fragt zu werden, was „um alles in der Welt“ wir uns dabei ge-dacht haben? Bei all dem positiven Echo, können wir denn noch von einer Ästhetik des Schattens sprechen, wenn wir an-nehmen, dass wir alle gelernt haben, in diesem Schatten zu leben? 17. Ein unbeteiligter Lektor des eigenen Lebens?Wir alle pflegen unsere kleinen Steckenpferde.

Das weiter oben erwähnte Gerücht war todernst. Verkennen wir nicht seine Dringlichkeit. Die meisten Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwechselten ihr Leben mit den Interpretationen aller Denker des Jahrhunderts. Auch ich habe dies zeitweilig getan mit einer Begeisterung, die der eines Fußballfans oder Opernaficionados gleichkam. So die anderen über mich.

Ich verknüpfte mein ganzes Denken mit Menschen, deren Name mit einem B beginnt. Die Anspielung auf den Sport ist unverkennbar. Das B-Team, die zweite Liga. Heute kommt das bei mir seltener vor. Aber für eine ziemlich lange Zeit, viel-leicht für Jahre, wurde es zu einer dieser strukturellen Behin-derungen, die mein Denken beherrschten. Wie viel Zeit ich auch immer damit zubrachte, die Rolle von Bildern und Ideen in den verschiedenen Künsten der Zweiten und Dritten Welt in meiner Arbeit als Universitätslehrer, Architekt, Art Director, Grafiker oder Ausstellungsmacher zu untersuchen – immer war es eine Redewendung, eine verbale Formulierung, die mich umwarf.

Als ich mir beispielsweise die Waisenwelt beherrscht von Menschen vorstellte, deren Name mit einem B beginnt, musste ich immer an die Zeilen von Paul Celan denken: „Zähle die Mandeln, zähle, was bitter war und dich wachhielt, zähl’ mich dazu.“

Verrücktheit? Wahnsinn? Ideologie?Genau. Bitter wie Paul Belan!

18. Die unsichtbare Welt einer unsichtbaren Architektur!Eine Frage stellt sich hier: Sind wir verletzbarer geworden, und wenn ja, sehen wir allmählich ein, wie fehlbar wir sind? Reden wir also von der linguistisch-philosophischen Wort-flut in der Architektur. Die Architektur der Redundanz wird belohnt, mit einer goldenen Uhr oder einem Verrechnungs-scheck. Ist es Wahnsinn, der Architektur eine befreiende Rolle zuzuschreiben, wenn sie sich den politischen und sozialen Kräften, die unsere Umwelt beherrschen und gestalten, wei-terhin nur weitschweifig widmet? Seltsamerweise erschüttert diese Ansicht die Ideologie bis ins Mark. So und ähnlich ist die Architektur in den letzten dreißig Jahren, wenn nicht länger, vorangestolpert.

Es war auch schon in den frühen Achtzigern klar, dass ein solches Bündel „unsichtbarer“ Theorien die Abkehr von sich selbst verlangte. Denn letztlich erzeugt der Zustand, in dem Kritik unmöglich ist, eine Ideologie, die sich als ein Sack vol-ler Vorurteile erweist, mit denen man Probleme lösen will. Eine subtile Vermeidung des Offensichtlichen öffnet das Tor für eine Flut scheinbar naheliegender Theorien, die wenig Be-zug ha ben zur Architektur, aber umso ekstatischer vorgetra-gen werden. Auch wenn Adorno sagt, dass jede Ekstase lieber den Weg der Re-Kommunikation nimmt, als sich an ihrem eige-nen Kon zept zu vergehen, indem sie sich selbst verwirklicht, ist es die „Re-Kommunikation“, die heute fragwürdig ist.

19. Am äußersten RandWerfen wir einen Blick in das 1994 erschienene „Dictionary of Contemporary Slang“ von Tony Throne. Erstaunlicherweise taucht der Begriff „cutting edge“ (wörtlich Schnittstelle, figura-tiv Wegbereiter oder Avantgarde) nicht auf. Auch nicht „state of the art“ (auf dem neuesten Stand der Wissenschaft oder Technik; nach allen Regeln der Kunst). Was schließen wir dar-aus? Könnte es sein, dass der Begriff „cutting edge“, der besagt, dass etwas am Rand der Dinge liegt, direkt an der Grenze der Gegenwart, nur deshalb in die Sprache Eingang gefunden hat, weil er in den letzten paar Jahren so häufig verwandt wurde? Oder ist es viel einfacher?

Könnte es sein, dass unsere Alltagssprache, in der wir uns alle möglichen Slangwörter aneignen, heute viel zu schnelllebig ist, als dass die Wörterbücher Schritt halten könnten? Nach dem Tempo der Moden zu urteilen und der häufig ambiva-lenten Ablehnung zeitgenössischer Architektur durch die, die sie täglich nutzen, könnten wir uns auch für eine treffendere Formulierung entscheiden wie die aus Brett Easton Ellis „Gla-morama“, die lautet: „An der Oberfläche der Dinge abgleiten.“ Sind wir wirklich so von der Gegenwart zu erschüttern, dass wir uns durch „scheußliche Verzerrungen und das oberfläch-lich Glitzernde“ verführen lassen? Obwohl unangenehm für die Zunft der Architekten, muss man sich eingestehen, dass die Allgemeinheit über die Architektur aus Stahl und Glas der Meinung ist, sie sei oberflächlich, angeberisch, glitzernd.

„Cutting edge“ taucht im New Penguin English Dictionary aus dem Jahr 2000 endlich auf als „der äußerste Punkt, an dem Handeln nicht mehr aufgeschoben werden kann“. Und „state of the art“ erscheint jetzt ebenfalls, definiert als Handlung, die zu einer bestimmten Zeit die dann fortschrittlichste Technolo-gie einsetzt.

Der „cutting edge“ einer entmaterialisierten Architektur wurde wahrscheinlich länger als ein Jahrzehnt von Jean Nouvels Fon-dation Cartier in Paris repräsentiert. Innen und außen stellte das Gebäude die Interpretation Fassade auf den Kopf. Die Über-wachung beobachtet einen, während man die Überwachung betrachtet, die die Architektur betrachtet.

Die Architektur tänzelte über den Laufsteg und siegte.

Irgendwie war dies eine Architektur im Wartestand. Gebäude kopierten andere Gebäude, während die Architekten von einer körperlosen und entmaterialisierten Architektur sprachen. Die Öffentlichkeit kann natürlich mit dem Begriff „Simula-tion“ nicht viel anfangen. Stattdessen glaubt sie, wenn sie die Beton-, Glas- und Stahlversionen von Stadt- und Bürobauten in der ganzen Welt betrachtet, ganz naiv und an der Oberflä-che der Dinge abgleitend, sie stände in einem Wald von Ko-pien von Kopien.

20. Schlussendlich Diesen Zustand erreichen wir sicherlich nur, weil wir redun-dant sind. Aber seien wir auch jetzt nicht überpessimistisch, was die Redundanz im architektonischen Denken betrifft. Wenn es Adolf Loos tatsächlich gelungen sein sollte, den Tep-pich unter der Architektur hervorzuziehen und so die Archi-tektur auf Monument und Grabmal zu beschränken, und wenn es uns wiederum gelungen sein sollte, die Architektur über den Berg zu schleppen, wird uns dann nicht der heute übliche De-Radikalismus verständlicher?

Sind partielle Schicksale möglich, die Unlösbarkeit einer strik-ten Lösung?

Müssen wir nicht lernen, an einer neuen Bedeutung statt einer alten zu scheitern und uns der halluzinatorischen Eigenschaft von Architektur verweigern? Hartnäckige und unentrinnbare Zerrbilder lassen uns erneut hinsehen, vielleicht erkennen wir irgendwann, wie der Architektur Bedeutung angeheftet wird. Geschieht das, um uns abzulenken, zu quälen oder um uns zu ermutigen weiterzumachen?

Und wie offen sind wir für unsere eigenen Eitelkeiten, wenn wir nicht mehr ermessen können, wie viel Architektur wir un-serer Imagination anvertrauen können? Viel zu viel wird für uns erledigt.

Erst jetzt lernen wir, gelassen zu reagieren.

21. Die Missgunst der ArchitektenVor einigen Jahren saß ich in der Corona-Bar in Helsinki. Hin-ter mir bemerkte ich ein Häuflein unserer Zunft, die alle so aus-sahen, als wären sie soeben mit dem berühmten Griesgram, dem finnischen Dichter Paavo Haavikko zusammengestoßen. In verschiedene Schattierungen von Grau und Schwarz geklei-det, schien ihre Stimmung trüber denn je. Die Bar selbst äh-nelte einer gammligen, verräucherten Bahnhofspinte in einem abgelegenen Fährhafen Osteuropas. Sie hatte vermutlich nur deshalb keinen Designpreis abbekommen, weil das der Bedeu-tung solcher Preise hohngesprochen hätte. Im Hintergrund ließ die funzlige Raumbeleuchtung mehrere größere und klei-nere Billardtische erkennen.

Aber es war das Trübe der Zukunft der Zunft, das dichter schien als der Qualm.

Offenbar handelte es sich um eine Architektenjury. Man war zusammengekommen, um den besten Stadtkiosk zu prämie-ren, der in den kommenden Jahren in ganz Helsinki gebaut werden sollte. Schwindel befiel mich auf dem dünnbeinigen Barhocker in Schwarz und Chrom.

Möglich, dass einer dieser jungen Kollegen sich von dem Mal-heur distanziert hatte, denn seine Krawatte war eindeutig rot. Als er näherkam, war dieses Rot jedoch von einer so zweifel-haften Trübheit, als wollte es den ganzen Farbbegriff ad absur-dum führen. Vergessen Sie das Wort Farbe, das hier war ein trüber Fleck.

Mir blieb nichts anderes übrig, als das ebenso trübe Dunkel von Guinness runterzuschütten und zu verschwinden. Die Si-tuationskomik hatte ihr Gutes: Mir wurde klar, dass ich einen Oberbegriff für diese gequälte, einst privilegierte Zunft der Ar-chitekten entdeckt hatte: Missgunst.

Partielle Schicksale und Nach-Gedanken Wenn man sich in einen Bereich der Architektur begibt, der bar einer beherrschenden Ideologie ist, bedeutet das noch lange nicht, dass man dort jeglicher Ideologie abhold ist. Ideologien verlagern und vermehren sich, ändern ihre Gestalt, kehren zu-rück und definieren die Vorstellungen von Radikalismus und Widerstand neu. Dies nötigt uns die Frage auf, ob ein Nach-Gedanke rücksichtslose nachträgliche Einsicht ist oder verant-wortungsloses, zukunftsorientiertes Besserwissen. Wenn der Prä-Text für eine suchende Architektur die Strategie des Wi-derstands beinhaltet, führen dann Theorien, die der Vielfalt das Wort reden, zu neuen Utopien?

Die Art der Sprache und die Art der Kritik, die Art, wie wir Ar-chitektur als konstruiertes verbales Versprechen sehen, mag dafür verantwortlich sein, dass wir so unsicher geworden sind. Kommt demnächst eine Art von post-ideologischer Dringlich-

Thema Am Punkt Null?

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keit um die Ecke, die erneut umfassende Lösungen fordert, um die verloren gegangene Kritikfähigkeit und die verlorenen „Lustobjekte“ zu kompensieren? Das paradoxe Vermächtnis ei-nes Jahrhunderts wie das vergangene könnte sein, dass der Prozess und die Notwendigkeit des Bauens und der Wunsch zu lernen, wie man gut plant und baut, zweitrangig geworden sind. Wenn dem so ist, ist Architektur nur noch Handlung oder Strategie, wenn nötig bis hin zu einer Theorie des Widerstands gegen das alltägliche Leben.

Solche Handlungen sind ein Teil vielfältiger Strategien, auch Strategien des Ungehorsams und des Widerstands sind dabei, deren Erfolg nicht vorherzusagen ist. Er wird abhängen von dem Umfang der Aufgaben und der Art der eingesetzten Strate-gien. Die vorherrschenden Trends könnten dabei weniger wich-tig sein als der Widerstand gegen eine vor-geschriebene Zu-kunft. Allein der Kampf gegen Beschränkungen innerhalb des derzeitigen De-Radikalismus könnte dazu führen, dass sich eine Architektur durchsetzt, die einerseits daran glaubt, keine andere Wahl zu haben, und andererseits überzeugt ist, sie habe sie dennoch.

„Erfolg haben“ ist dann nur noch eine schwache Formulie-rung, und was für die Sache der Architektur zentral ist, kann nicht mehr beiseite geschoben werden. Sogar das Scheitern kann als Erfolg gelesen werden, wenn dadurch die Bedingun-gen im Kampf um die Architektur sich verlagern: auf Bildung, Praxis, Produktion. Es geht darum, neue, ungewöhnliche Wege einzuschlagen, selbst Stadtplanung ohne Architekten müsste möglich sein.

Es gibt Alternativen!

Es ist völlig sinnlos, einer cleveren kritischen These zuzu-stimmen, die ohnehin für ihren Scharfblick und ihre Bril-lanz gerühmt wird. Für einen neuen Radikalismus muss man manchmal sogar die Verständlichkeit opfern. Provokation kann nicht schrittweise erfolgen, entweder sie ist unaus-weichlich oder nicht. Der Punkt Null bedeutet nicht die kri-tische Destruktion des einen Ereignisses zugunsten eines hy-briden anderen. Auch die Sprache gehört zum Punkt Null, wäre es anders, würden wir uns irgendwelcher hochgestoche-nen Gegenstrategien schuldig machen, die die gleichen Sprach- und Vorgehensmuster benutzen, die wir doch bekämpfen wollen.

Ist „Nach-Ideologie“ das Ende der Ideologie oder nur ein unbe-fangener Umgang mit Ideologie? Gibt es eine „post-ideologi-sche“ Dringlichkeit? Wird an den Universitäten danach gefragt, in Architekturbüros, bei einzelnen Architekten? Wenn ja, wie artikuliert sie sich? Was verspricht man sich davon, wenn man sich solcher Kritik anschließt, weil man glaubt, die pädagogi-sche und berufliche Bedeutung einer post-ideologischen „Dring-lichkeit“ zu erkennen?

Wenn sie Kräfte in einem noch nicht ganz ausgestalteten und theoretisch fixierten Rahmen wären, bildeten dann Theorie und Praxis des Widerstands eine Strategie gegen fast alles, was sich in der zeitgenössischen Architektur festgesetzt hat, also eine Guerilla-Strategie? Sprechen wir deshalb von einem un-wahrscheinlichen, aber plausiblen Nullpunkt, in Gang gesetzt durch das weitverbreitete Gefühl der Erschöpfung und Redun-danz unter Studenten, Akademikern, Architekten und Künst-lern? Verbindet sich dieser Widerstand mit größeren politi-schen und kulturellen Veränderungen, mit einem neuen Enga-gement, mit einem breiteren Interesse an der Umwelt?

Wir glauben, ja.

Wie können Handlungen, die privat und gleichzeitig kollabo-rativ sind, einer Strategie folgen, die sich bewusst der Isolation widersetzt, die neue Handlungsfelder, neue Bedingungen für die zeitgenössische Architektur absteckt?

Gefordert ist: der Architekt als kritisches Wesen.

Selbst in der Architektur wird die Kontrolle durch autoritative Instanzen in Frage gestellt – schlussendlich bedeutet das Ende des Architekten nicht das Ende der Architektur. „No Logo“, „World Trade Center“, „Sympathie for the Devil“ – gleichgül-tig, wo auch immer wir dem Radikalismus einen neuen Stand-ort zuweisen; je mehr Widerstand entsteht, desto kämpferi-scher wird die Architektur, desto mehr Wirkung wird sie ent-falten. Umso kämpferischer der Widerstand sich gibt, desto weniger kann er von der Zunft, ob in Universitäten oder Insti-tutionen, kontrolliert werden.

Wir haben eine Alternative. Jeder von uns muss entscheiden, auf welcher Seite er ist. Auf der Seite der institutionalisierten Prozesse, der traurigen Vorherrschaft spekulativer Ideologien, die uns eine bereits vorgezeichnete Zukunft, eine Zukunft der Mächtigen, einreden?

Oder auf der Seite der „Nach-Gedanken“?

Entscheiden wir uns für das Erste, fallen wir auf die Seite einer etablierten Zukunft zurück, mit Großspektakeln, Luxus und Überfluss. Entscheiden wir uns für das Zweite, könnten wir uns auf befreiende Handlungen einlassen, für die es noch keine Form gibt, und auf einen Wettstreit, der Auflehnung und Kolla-boration als eine ständige Vorwärtsbewegung deutet und sich nicht darum schert, was Sicherheit ist.

Vielleicht werden wir wie Regis Debray und Thomas Merton nicht länger unsere Unschuld bereuen, aber es ist auch keine Lösung, als passiver Zuschauer schuldig zu werden. Die Würde der unmittelbaren Realität (die Zukunft sei vorerst dahinge-stellt) hängt von solchen „Nach-Gedanken“ ab. Sie verlangen von uns, dass wir mehr tun, sehr viel mehr.

Alle Videoinstallationen, mit denen wir diese Stadtbauwelt illustrieren, wurden während der Ausstellung „Jenseits des Kinos. Die Kunst der Projek-tion“ im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Ber -lin vom 29. November 2006 bis 25. Februar 2007 gezeigt.

Wir danken dem Veranstalter für seine freundliche Unter-stützung und für die Überlas-sung des Bildmaterials.Der Katalog zur Ausstellung ist unter dem gleichen Titel im Hatje Cantz Verlag erschie-nen und kostet 29,80 Euro. Er bietet ergänzendes Mate-rial und weiterführende Inter-pretatio shilfen.

Thema Am Punkt Null?