Amir Assadi "Subjektivität der Substanz"

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    Subjektivitt der Substanz

    Hegels Kritik an Spinoza

    Amir Assadi

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    Diese Arbeit wre nicht entstanden ohne:Angela Krastel, Bijan Ferdowsi, Dagmar Buth-Parvaresh,

    Prof. Hassan Givsan, Karin Groenewoud, Mehdi Parvaresh,Robert Kurz, Wilfried Krien und Zahra Assadi. Danke.

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    Inhaltsverzeichnis:

    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen 5

    I. Zur Charakteristik der Philosophie Hegels 14- Dialektik 14- Totalitt 18- Spekulative Sprache 21- Begriff 25

    II. Spinozas Figuration in Hegels Geschichte der Philosophie 28- Atheismus, Akosmismus und Pantheismus 28- Methode und Deduktion 31- Die Auffassung des Absoluten in einer starren Form 34

    III. Spinozas Methode 37

    IV. Hegels Bestimmung der synthetischen Methode 47

    V. Spinozas Substanz und Modi 54

    - Substanz - Attribut 56- Substanz und die unendlichen Modi 63- Substanz und die endlichen Modi 67- Natur ohne Verstand und freien Willen 70- Wahrheit und Idee 74

    VI. Hegels Identifizierung der Substanz als Subjekt 83

    VII. Hegel oder Spinoza 90

    Literaturverzeichnis 101

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    Ha! wo keine Macht auf Erden,Keines Gottes Wink uns trennt,Wo wir Eins und Alles werden,

    Da ist nur mein Element;Wo wir Not und Zeit vergessen,

    Und den krglichen GewinnNimmer mit der Spanne messen,

    Da, da sag ich, da ich bin.

    Hlderlin, Diotima[Mittlere Fassung]

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    Eine genaue Untersuchung des Verhltnisses von Hegel zu Spinoza setzt die

    umfassende Darstellung des Denkens beider voraus. Die vorliegende Arbeit hat

    nicht den Anspruch, dieses Verhltnis in seinem vollen Umfang zu beleuchten,

    sondern beschrnkt sich darauf, dem Begriff derSubstanz bei Spinoza und der

    Dialektisierung dieses Begriffes bei Hegel nachzugehen.

    Geht man von Hegels Auffassung der Philosophie aus, drfte man, streng

    genommen, nicht von einer Kritik Hegels an Spinoza sprechen. Hegel begegnet

    den anderen Philosophien aus einer Perspektive, die erst durch einen

    tragenden Denkboden von ihm entwickelt wird. Die Kritik hat hier die Funktion

    der nebenstehenden Anmerkungen, die keine berwertung erfahren drfte.

    Denn die Kritik fordert einen Mastab, der nicht nach Lust und Laune gesetzt

    werden kann und darf: Die Kritik, in welchem Theil der Kunst oder

    Wissenschaft sie ausgebt werde, fordert einen Maastab, der von dem

    Beurtheilenden eben so unabhngig, als von dem Beurtheilten, nicht von der

    einzelnen Erscheinung, noch der Besonderheit des Subjects, sondern von dem

    ewigen und unwandelbaren Urbild der Sache selbst hergenommen seye. Wie

    die Idee schner Kunst durch die Kunstkritik nicht erst geschaffen oder

    erfunden, sondern schlechthin vorausgesetzt wird, eben so ist in der

    philosophischen Kritik die Idee der Philosophie selbst die Bedingung und

    Voraussetzung, ohne welche jene in alle Ewigkeit nur Subjectivitten gegen

    Subjectivitten, niemals das Absolute gegen das Bedingte zu setzen htte.1

    Das liegt nicht an Hegels Auffassung von der Kritik, die bei ihm keine Kategorie

    ist, sondern eher an Hegels Auffassung von der Philosophie, die besagt: Die

    Geschichte der Philosophie zeigt an den verschieden erscheinenden

    Philosophieen theils nur Eine Philosophie auf verschiedenen Ausbildungs-Stufen auf, theils da die besondern Principien, deren eines einem System zu

    1 Hegel, Kritisches Journal der Philosophie; in Jenaer Kritische Schriften, S.117.

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    Grunde lag, nur Zweigeeines und desselben Ganzen sind.2 Wenn er aber die

    Geschichte der Philosophie so auffasst, wie kann er den anderen Philosophien

    im allgemeinen, und der Philosophie Spinozas im besonderen, begegnen? DieAntwort wird an gleicher Stelle so formuliert: Die der Zeit nach letzte

    Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Philosophieen und mu

    daher die Principien Aller enthalten; sie ist darum, wenn sie anders Philosophie

    ist, die entfalteste, reichste und concreteste.3 Das besagt nichts anders als die

    Aufhebungder vormaligen Philosophien in Hegels Philosophie. Was unter der

    Aufhebungeiner anderen Philosophie zu verstehen ist, notiert er in der Logik:

    In Rcksicht auf die Widerlegung eines philosophischen Systems ist []

    daraus die schiefe Vorstellung zu verbannen [], als ob das System alsdurchaus falschdargestellt werden solle und als ob das wahreSystem dagegen

    dem falschen nur entgegen sey. []Ein solcher Standpunkt ist daher nicht als

    eine Meynung, eine subjective, beliebige Vorstellungs- und Denkweise eines

    Individuums, als eine Verirrung der Speculation anzusehen; diese findet sich

    vielmehr auf ihrem Wege nothwendig darauf versetzt, und insofern ist das

    System vollkommen wahr. Aber es ist nicht der hchste Standpunkt. Allein

    insofern kann das System nicht als falsch, als der Widerlegungbedrftig und

    fhig angesehen werden; sondern nur di daran ist als das falsche zubetrachten, da es der hchste Standpunkt sey. Das wahreSystem kann daher

    auch nicht das Verhltni zu ihm haben, ihm nur entgegengesetzt zu seyn;

    denn so wre di entgegengesetzte selbst ein einseitiges. Vielmehr als das

    hhere mu es das untergeordnete in sich enthalten.4

    Fr Hegel nehmen zwei Denker eine relevante Position in seinem System ein:

    Spinoza und Kant. Dies ist daran abzulesen, da er auf beide Denker immer

    wieder explizit oder implizit Bezug nimmt. Diese kritischeAuseinandersetzung,

    die bevorzugt in Anmerkungen stattfindet, zieht sich durch sein Gesamtwerk.

    Hegel ging es im eigenen System um die Nachzeichnung der Sache selbst, die

    2 Hegel, Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 13.3Ebd.4 Hegel, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, S.14.

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    sich nicht durch die Kritik an anderen Denktypen, wie fundamental auch immer,

    ausschpfen lsst. Von daher geschieht die explizite Beschftigung mit diesen

    anderen oft am Rande in den Anmerkungen. Wird der Anspruch Hegels, seinePhilosophie sei nur die Zusammenfassung der bisherigen Philosophien, nicht

    als bloe Polemik verstanden, dann ist in der prozessualen Begriffsbildung qua

    Entwicklung durch Negation, als Ausdruck der Dialektik der Sache, gleichsam

    auch eine implizite Auseinandersetzung mit anderen Denktypen prsent, und

    wie schon erwhnt vor allem mit dem Denken von Spinoza und Kant.

    Das begrifflicheVerhltnis Hegels zum Denken Kants ist nicht das Thema der

    vorliegenden Untersuchung. Hier interessiert vor allem, wie Hegels

    dialektisches Denken Spinozas Immanenzphilosophie beschreibt und begreift.Spinoza wird wie kaum ein anderer Denker von Hegel gelobt, in den Stzen

    wie: Spinoza ist der Hauptpunkt der modernen Philosophie: entweder

    Spinozismus oder keine Philosophie.5

    Die zentralen Bestimmungen spinozistischen Denkens, wie Substanz, Ursache

    und Unendlichkeit, sind im begrifflichen System Hegels integriert. Die

    Auseinandersetzung mit Spinoza vollzieht sich in seinem ganzen Werk explizit

    oder implizit. Die explizite Auseinandersetzung geschieht, wie in derVorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, namentlich und die implizite

    Behandlung vollzieht sich in Form der Bestimmung der spinozistischen

    Kategorien.6

    Aus einem Urteil ber die Exkommunikation eines vierundzwanzigjhrigen

    Juden der portugiesischen Gemeinde von Amsterdam am 27. Juli 1656 ist

    5 Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III, S. 162, f.6 Dazu ein Beispiel aus Hegels Phnomenologie des Geistes, S. 430: Indemes so zunchst die unmittelbare Einheit des Denkens und Seyns, desabstracten Wesens und des Selbsts, selbst abstract ausgesprochen und daserste Lichtwesen reiner, nemlich als Einheit der Ausdehnung und des Seyns, -denn Ausdehnung ist die dem reinen Denken gleichere Einfachheit, denn dasLicht ist, - und hiemit im Gedanken die Substanzdes Aufgangs wieder erweckthat, schaudert der Geist zugleich von dieser abstracten Einheit, von dieserselbstlosenSubstantialitt zurck, und behauptet die Individualitt gegen sie.

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    folgendes zu entnehmen: Nach dem Spruch der Engel, nach dem Wort der

    Heiligen bannen, trennen, verdammen und verfluchen wir Baruch de Espinoza

    mit allen Flchen des Himmels, die im Gesetz geschrieben stehen: Verfluchtsei er bei Tag, und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei sein Zubettgehen,

    verflucht sein Aufstehen, verflucht sei er beim Hinausgehen und verflucht beim

    Eintreten; mge der Herr ihm nicht verzeihen, so da des Herrn Zorn und seine

    Eifersucht gegen diesen Menschen entbrennen.7 Baruch de Spinoza

    (24.11.1632 - 21.2.1677) kam trotz seiner jdischen Ausbildung frh in Konflikt

    mit der jdischen Gemeinde. Der Streit fhrte zu diesem Bannfluch. Sein

    ganzes Leben stand einerseits im Zeichen dieses Urteils und anderseits im

    Zeichen des epikurischen Spruchs, der besagt: Niemals hatte ich den Wunsch,

    den Leuten zu gefallen. Denn was ihnen gefiel, habe ich nicht gelernt. Was ich

    aber wusste, lag weit auerhalb ihres Horizonts.8

    Er war weder bei seiner jdischen Gemeinde noch bei der calvinistischen

    Gesellschaft im damaligen Holland akzeptiert und aufgenommen worden. Diese

    allgemeine Ablehnung wurde spter von Heine so auf den Punkt gebracht: Er

    wurde feierlich ausgestoen aus der Gemeinschaft Israels und unwrdig erklrt,

    hinfort den Namen Jude zu tragen. Seine christlichen Feinde waren gromtiggenug, ihm diesen Namen zu lassen.9 Spinozas Leben war stets Darstellung

    dessen, was er gedacht hat. Seit Sokrates und einigen seiner Schler

    (Kyniker) ist die bereinstimmung von philosophischer Denkweise und

    existentieller Lebensform nirgends so berzeugend demonstriert worden wie

    von Spinoza.10

    Spinozas Denken erfhrt bis heute entweder massive Ablehnung oder

    berschwngliche Zustimmung. Spinoza war stets Gegenstand der

    intellektuellen Auseinandersetzungen bei seinen Zeitgenossen und blieb diesber Jahrhunderte. Der sog. Pantheismusstreit im ausgehenden 18.

    7 Yirmiyahu Yovel, Spinoza, Das Abenteuer der Immanenz, S. 19.8 Epikur, Wege zum Glck, Fragment 16, S.17.9 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland,S. 448.10 Helmut Seidel, Spinoza zur Einfhrung, S. 17.

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    Jahrhundert, der durch Jacobis Schrift unter dem Titel ber die Lehre des

    Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn vom Jahre 1785

    angestoen wurde, spricht fr die intellektuelle Brisanz seines Denkens. Jacobilehnt zwar Spinozas Lehre grundstzlich ab, bekennt sich jedoch in dieser

    Schrift zu dessen Radikalitt.11 Jacobi war nicht der einzige gewichtige Kritiker

    von Spinoza. Die feindselige Haltung hat mit seinem Tod nicht aufgehrt. Man

    bezichtigte ihn bers Grab hinaus des Atheismus.12

    Der jdische Neukantianer Hermann Cohen bezeichnet Spinoza in seinem

    Aufsatz unter dem Titel Spinoza ber Staat und Religion, Judentum und

    Christentum von 1915 als Verrter und bsen Dmon: Da in einer Zeit, in

    welcher die protestantische Kathedertheologie in der neuen Charakteristik des

    israelitischen Prophetismus so groe Leistungen der Forschung und der

    Klrung hervorbrachte13, zugleich der Judenha seine Orgien feiern konnte,

    das wre unerklrlich, wenn nicht innerlich, wie uerlich, der bse Dmon

    Spinozas jene Atmosphre noch immer vergiftete. Die Kernsprche, in denen

    Spinoza seines Rachehasses gegen die Juden sich entlud, finden sich noch

    heute fast wrtlich in den Tageszeitungen jener politischen Richtungen.14 Fr

    Cohen ist nicht blo das Verhltnis von Spinoza zum Judentum problematisch,

    sondern er sieht in Spinozas Metaphysik das kranke und unethische Denken:

    Unter den vielen Zweideutigkeiten, an denen das Lehrgebude Spinozas von

    seinen Definitionen ab krankt, ist es nicht die geringste, da er seine

    Metaphysik mit ihrem Anhang einer Psychologie der Affekte nicht nach diesem

    Inhalt bezeichnet, sondern da er sein Buch Ethik benannt hat. Die Substanz

    ist der Grundbegriff der Logik und der Wissenschaft: hier wird sie zugleich zum

    11 Im Gesprch mit Lessing sagt Jacobi: Ich liebe den Spinoza, weil er, mehr

    als irgend ein andrer Philosoph, zu der vollkommenen berzeugung michgeleitet hat, da sich gewisse Dinge nicht entwickeln lassen: vor denen mandarum die Augen nicht zudrcken mu, sondern sie nehmen, so wie man siefindet. (Jacobi, ber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn MosesMendelssohn, S. 33, f.).12 Bernhard Lakebrink, Nachwortvon Spinoza, Ethik, S. 703.13 Anmerkung im Original.14 Herrmann Cohen, Spinoza ber Staat und Religion, Judentum undChristentum, S. 414.

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    Grundbegriff der Ethik, einer Ethik, fr welche es den Menschen nur gibt als

    menschliche Natur, die keinen anderen Zweck hat als den ihrer

    naturgesetzlichen Notwendigkeit. Mit dem Zwecke ist die Ethik vernichtet, undihr Name ist in jenem Buche usurpiert. Die Identitt von Natur und Gott hat die

    Einzigkeit Gottes vernichtet: sie hat den Wert evident gemacht, den die

    Einzigkeit vor der Einheit hat.15

    Aber auch die Begeisterung, die Spinozas Philosophie auslste, hielt sich bers

    Grab hinaus. Novalis nannte ihn einen gotttrunkenen Menschen.16 Seine

    Werke zirkulierten in einem kleinen Kreis von Freunden und Schlern. Die

    spteren Stellungnahmen von Leibniz weisen darauf hin, da der Umgang und

    Begegnung mit Spinoza nicht ohne Konsequenzen waren. Leibniz

    verheimlichte es aber und htete sich ngstlich, irgendein lobendes Wort ber

    ihn zu uern; er ging sogar so weit, falsche Angaben ber den Umfang seiner

    persnlichen Beziehungen zu dem ketzerischen Juden zu machen.17

    Nach seinem Tod wurde ein groer Teil seiner Werke unter dem Titel Opera

    posthuma18 durch seine Freunde verffentlicht. Ein Jahr nach ihrer

    Verffentlichung setzte die katholische Kirche sie jedoch auf den Index. Diese

    Umstnde zeigen, da Spinozas Denken nicht innerhalb der jdischen, sondernder europischen Philosophie der Neuzeit zu erorten ist.19 Spinozas Denken

    polarisiert, weil es aus einem Guss ist. Darin sind sich die Befrworter und die

    Kritiker Spinozas einig. Hans Blumenberg notiert in Arbeit am Mythos dazu:

    Spinozas Gott ist einer ohne Antithese, ohne Opposition, ein Gott der

    Einwilligung in das Faktische als das Notwendige: fr den Emprer ein Gott der

    15 Herrmann Cohen, Streiflichter ber jdische Religion und Wissenschaft, 19.Einheit oder Einzigkeit Gottes, II Die Schpfung, 1917, S. 610, f.16 Novalis, Fragmente und Studien II, S. 812.17Bertrand Russel, Philosophie des Abendlandes, S. 578.18 Wesentlicher Inhalt von Opera posthuma: Die Ethik, die zwei unvollendetgebliebenen Traktate ber die Verbesserung des Verstandes, der PolitischerTraktatsowie der Briefwechsel.19 Die Aufgabe aller bisherigen jdischen Philosophie, die Religion desJudentums philosophisch zu deuten und zu rechtfertigen, hat fr Spinoza vomBeginn seines selbstndigen Philosophierens an ihren Sinn verloren. (JuliusGuttmann, Die Philosophie des Judentums, S. 291).

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    Resignation, fr den Liebenden einer der unbedrohten Einheit. Es gibt keinen

    mglichen Gegenpart der Gottheit, sie msste sich schon zuwider werden, in

    der Tiefe ihres eigenen Grundes sich spalten nach Bhmescher Art, was in derBeweisform Spinozas die pure Absurditt bedeutet.20

    Spinozas Anliegen ist die Antinomie Freiheit - Notwendigkeit so radikal wie

    mglich zu lsen und dadurch den Raum zu ffnen, in dem der Mensch

    bewusst - durch den theoretisch-praktischen Weg der Erkenntnis - seine

    Freiheit erlangt. Leugnet man diese Antinomie, msste man sich auf eine der

    beiden Frontseiten schlagen; entweder die absolute Selbstbestimmung des

    Subjekts in physischer und historischer Perspektive oder ein Fatalismus, der

    kaum einen Raum fr die Handlungen lsst, die nicht vorherbestimmt unddeterminiert sind.

    Da dieser Weg nicht notwendig von den Menschen bestritten wird, liegt an der

    spezifischen Konstitution dieses besonderen Modus und am Verhltnis des

    Modus Mensch zu der unbedingten Substanz. Spinozas Mensch ist ein Modus

    der einzigen Substanz, die als einzige causa sui und in ihre Ewigkeit unendlich

    ist. Er fragt nach dem Verhltnis der Menschen als endliche Modi zu diese

    unendlichen Substanz. Vor allem ist die Ethikunter diesem Zeichen und dieser

    Fragestellung konzipiert. In diesem Sinne schreibt er in einem Brief an Willem

    van Blyenbergh, da die Ethik bekanntlich auf der Metaphysik und der Physik

    begrndet werden mu.21

    Die Ethik ist Spinozas Hauptwerk, in dem er die grundstzlichsten Gedanken

    seiner Philosophie expliziert. Spinoza verfolgt darin die doppelte Frage nach der

    Natur und den Menschen, um dessen Ort in der Natur so zu bestimmen, da

    sich die natur- und weltgeschichtliche Disharmonie zwischen den Menschenund der Natur auf einen Minimum reduziert, wenn diese nicht gnzlich

    aufhebbar ist. Die Disharmonie ergibt sich fr die Menschen aus der Dichotomie

    20 Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 588.21 Spinoza, Briefwechsel, Brief 27 an Blyenbergh.

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    des Kosmos in Form der Natur und der Geschichte. Die Herstellung der

    Harmonie zwischen den nicht vermeidbaren Naturzwngen und den Menschen

    ist das Programm der spinozistischen Philosophie. Es gilt fr jeden einzelnenden Weg zum vernnftigen Leben in der Ethikabzustecken. Die Glckseligkeit

    und die Freiheit wird aus der Vernunft und aus den Anlagen der Einzelnen

    expliziert. Das Problem der Herstellung einer konfliktlosen Koexistenz der

    Menschen ist das Thema der politischen Philosophie Spinozas.

    Wie schon erwhnt, ist es nicht der Anspruch dieser Arbeit, das Verhltnis von

    Hegel und Spinoza in seinem vollen Umfang zu beleuchten. Dieser Anspruch

    wre erst einlsbar, wenn man Hegels Denken systematisch und dialektisch inseiner Totalitt entfaltet. Hegel resmiert seine Vorgehensweise Spinoza

    gegenber so: Die einzige Widerlegung des Spinozismus kann daher nur darin

    bestehen, da sein Standpunkt zuerst als wesentlich und nothwendig anerkannt

    werde, da aber zweytens dieser Standpunkt aus sich selbstauf den hheren

    gehoben werde. Das Substantialitts-Verhltni ganz nur an und fr sich selbst

    betrachtet, fhrt sich zu seinem Gegentheil, dem Begriffe, ber. Die im letzten

    Buch enthaltene Exposition der Substanz, welche zum Begriffe berfhrt, ist

    daher die einzige und wahrhafte Widerlegung des Spinozismus.22

    Hegel ist fr eine fragmentarische Aneignung und Rezeption der

    ungeeigneteste Denktypus, den es geben kann. Dieser kennt keine isolierten

    Anfangs-, und Resultatsmomente und jede Aktivierung und Rezeption der Teile

    seines Denkens ohne Bezugnahme auf das Ganze des Systems wre eine

    Verletzung und Verzerrung dieses Denkmodels. Denn eine fragmentarische

    Handhabung hiee, das Sich-Beziehen des Besonderen auf das Allgemeine zu

    ignorieren, und dies wre mehr als eine Verzerrung, in Bezug auf Hegel eine

    schlichte Verflschung. Bekanntlich ist fr ihn das Wahre das Ganze.

    Sodann aber drngt sich die Frage auf, wie ist das Verhltnis Hegel-Spinoza

    ohne detaillierte Skizzierung von Hegels Philosophie darstellbar?

    22 Hegel, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, S.15.

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    Statt Vorwort: Einige einleitende Bemerkungen

    Um zu verstehen, wie Hegel Spinoza interpretiert, ist es also unumgnglich,

    Hegels Philosophie in einigen Grundlinien zu skizzieren.

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    Die Perspektive, aus der Hegel heraus seine Anmerkungen zu den anderen

    Philosophien macht, ist die des organischen Ganzen. Das ganze Absolute ist

    fr ihn organisch und von daher dialektisch, als eine systematisch-begriffliche

    Totalitt zu begreifen. Um das Gewicht dieser Begriffe bei Hegel zu

    veranschaulichen, sollen im Folgenden einige zentralen Begriffe seiner

    Philosophie skizziert werden.

    Dialektik

    Hegel versteht die res nicht dialektisch, weil Dialektik eine bzw. die einzige

    Erkenntnismethode ist, sondern er begreift die Sachen dialektisch, weil sie

    schon in ihrem ontologischen Status dialektisch sind. In diesem Sinne versteht

    Hegel seine Philosophie nicht als Erkenntnistheorie. Denn ein System, das

    innerhalb der Sphre des Denkens eine besondere Methode, abgeschieden

    von der Methode der Sache, besitzt, setzt die Trennung von Form und Inhalt

    voraus, d. h. die Trennung der Form des Denkens und der Materialitt des Zu-

    Denkenden, also der Dinghaftigkeit der Sache. Genau genommen, kapituliert

    ein so erkenntnistheoretisch orientiertes Denken vor der Erkenntnis der Dinge

    an sich.23 Und dies wre alles andere, als das, was Hegel bezweckt.

    Die Philosophie Hegels verfgt ber keine Methode, die jenseits des

    Entwicklungswegs der sowohl kognitiven, wie auch physischen Sachen lge.

    Positiv ausgedrckt: die Methode des Denkens als Dialektik kann nur die

    Reflexion der Sacheselbst sein, wobei solche Reflexionen keine unmittelbaren

    im Sinne der einfachen Spiegelungen sind.

    Die Sachen an sich und in sich sind begrifflich erkennbar, weil Hegel davonausgeht, da die Naturgeschichte und die Weltgeschichte logisch aufgebaut

    sind, die Dinge haben also ihr inneres Kontinuum, das sich im Begriff offenbart.

    23 Der Kantsche Terminus Ding an sich und seine Unerkennbarkeit ist dafrdas klassische Beispiel.

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    In der Erkenntnis der Welt erkennt der Verstand nicht sein Anderes, sondern er

    erkennt sich selbst.24

    Das schlechthinnige Ganze ist ein Spannungsverhltnis zwischen dem Anfang

    und dem Telos. Das Letzte als Resultat ist die Wiederkehr des Ersten in der

    vermittelten und aufgehobenen Form. Die Dialektik ist die Nachzeichnung

    dieser Bewegung. Der Anfang ist im Grunde nur vom Ende her gesehen ein

    Erstes; der Proze der Bewegung ist also der Weg der Bestimmung des Ersten.

    Anders formuliert: Der Anfang ist an sich eine sich entfaltende Auslegung des

    Telos. Das Erste erfllt und entwickelt sich auf der Strecke zwischen dem

    Anfang und dessen Telos mit all seinen Stufen und bergngen, die in HegelsDialektik zu notwendigen Momenten dieses Weges werden.

    Insofern ist die bloe Beachtung der Resultate nur das einseitige Festhalten

    eines Extremen. Sind das Erste und das Letzte, der Anfang und das Telos die

    Grenzen der Bewegung, dann geht es in der Dialektik um die Mitteall dieser

    Extreme in der inhaltlichen Form der Genese, der Vermittlung und der

    Aufhebung.25

    Die Grundtendenz der Dialektik geht dahin, die einzelnen Bestimmungen und

    Vorstellungen durcheinander eine durch die andere sprechen zu lassen, sieaus ihrer Vereinzelung herauszuheben und in Beziehung zum Ganzen zu

    setzen. Denn in der Objektwelt gibt es fr Hegel auch keine losgelste

    Besonderung, sondern nur zusammenhngende Vereinzelung. In diesem Sinne

    ist die Hegelsche Dialektik keine Fixierung der Resultate als

    Erkenntnisergebnisse von Identitt oder Differenz, sondern eine Ttigkeit als

    Verflssigung solcher, wo es nicht mehr blo auf die Identitt oder die

    Differenz, sondern auf Identifizieren und Differenzieren ankommt. Die

    Hegelschen Begriffe sind von daher eher aktuos und organisch als statisch.

    24 Hegels Philosophie ist in diesem Punkt dem so genannten ParallelismusSpinozas verpflichtet, der besagt: Die Ordnung und Verknpfung der Ideen istdieselbe wie die Ordnung und Verknpfung der Dinge. (Spinoza, Ethik, II,Propositio 7).25 Vielleicht als ein Beispiel kann hier die Entwicklung des Samens zur Fruchtdienlich sein, um die Sachezu veranschaulichen.

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    Dialektik

    Dialektik ist nicht nur ein kognitives Tun als Denken der Dinge, sondern auch

    ein Tun der Realitt der Sachen selbst.

    Whrend die uere Welt und das innere Denken in der Dialektik dieExtrempole einer Beziehung sind, in der das Identische nur das Bezogensein

    beider Differenzen ist, gehen die nichtdialektischen Denkweisen entweder von

    der Einheit der objektiven Welt oder der Einheit des kognitiven Denkens aus.26

    Fr Hegels Dialektik ist alles Wissen als Vorausgesetztes eine uns

    erscheinende Unmittelbarkeit und von daher nur ein Schein, und es bleibt dies,

    wenn dieser Schein nicht als bloes Moment der Totalitt des Erkenntnis

    erkannt wird. Im Grunde beruht das unmittelbare Wissen, das nicht durchVermittlung zustande gekommen ist, auf Ideologie in Form der

    Wissenschaftsglubigkeit, denn unmittelbares Wissen ist nichts anderes als

    fertige, d.h. tote Thesen.

    Dialektik negiert das unmittelbare Wissen, aber bleibt nicht, wie der

    Skeptizismus, bei der bloen Negation. Die Negation ist die Gewahrung eines

    bestimmten, jetzt vermittelten Unmittelbaren, das sowohl das negierte

    unmittelbare Wissen sowie die Bewegung seiner Negation zu Moment hat.

    Bestimmtes Wissen ist dadurch zwar im Raum unserer Erkenntnis, jedoch ist esaus der Totalitt des Wissenshorizonts hervorgebracht.

    Das dialektische Bewusstsein ist aus diesem Grund weder die Photographie

    der Auenwelt, noch die Projektion der Innenwelt. Es agiert und reagiert

    zwischen dem Auen und dem Innen und verbindet die Beiden mit Und. Es ist

    die konkrete Beziehung der kognitiven und dinghaften Welt Kraft des

    Widerspruchs. Hegels Denken des Widerspruchs ist das Wissen darum, da

    die Identitt ohne Differenzprinzip nicht bestimmbar ist. Die Identitt ist das

    Produkt der Nicht-Identitt.27 Die Vermeidung des Widerspruchs verkrzt die

    26 Wie Spinoza das Problem lst und damit umgeht, werden wir nher ansehen.27 Der Unterschied ist schon der Widerspruch an sich;denn er ist die Einheitvon solchen, die nur sind, in so fern sie nicht eins sind, - und die Trennungsolcher, die nur sind als in derselben Beziehung getrennte. (Hegel,Wissenschaft der Logik I, Die objektive Logik, S.279).

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    Weltauffassung auf eine horizontale Ebene und lsst die Tiefendimension des

    Weltnexus auer Acht. Damit setzt sie an der Stelle der Begriffslebendigkeit

    qua Widerspruchs eine Schablone, die die Oberflche verzerrt projiziert undnichtsdestotrotz sich mit der Welt identisch hlt.

    Das Werden einer Sache ist zuletzt immer eine Entwicklung des Selbigen; Der

    Horizont dieser Entwicklung ist prinzipiell das Selbst der Sache und die Idee der

    Sache. Diese Idee ist keine bildhafte Abstraktion, sondern die kritische Totalitt,

    in der sich die negativen und negierenden Momente zu einer affirmierenden

    Einheit sammeln. Der Zusammenhalt der Negationen und deren Verwandlung

    zur Affirmation ist das Logoshafte an der Idee. Logos heit im Griechischen u.a. Verhltnis und das dazugehrende Verb, , heit sammeln. Das Ganze

    ist demgem nichts anderes als die Entfaltung des Selbst der Sache und das

    Wissen darum. Dieses Wissen ist das Wissen des Selbst und gleichsam Selbst-

    Wissen. Es ist nicht das Wissen von Etwas oder von etwas Anderem, sondern

    von dem konkreten Und, als konkretes Allgemeines, zwischen Etwas und

    Anderem in der Gestalt des Widerspruchs als produktivem Kern der Totalitt.

    Dennoch ist die Hegelsche Dialektik keine Verfgungsgewalt ber Ideen und

    deren Fixierung, sondern ein Sich-Beziehen und eine vermittelnde Integrationim Organismus des lebendigen Logos. Dieses Verhltnis ist am Beispiel der

    Ideen und des konkreten Allgemeinen -, wie Leben und Ich oder Geschichte

    und Geist, - skizzierbar. Eine historische Biographie hat Hhen und Tiefen,

    Erniedrigungen und Steigerungen, Vernnftiges und Unvernnftiges und

    besteht nicht nur aus einem einzigen dieser Momente, stellt aber auch kein

    Ganzes jenseits jeder dieser einzelnen Momente dar.

    Die Dialektik ist die Realisierung der Totalitt, sofern sich das kognitive und

    sachhaltige Realle zu seiner Realisierung mchtig ist.

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    Totalitt

    Totalitt

    Hegels spekulative Philosophie mit ihren Begriffen wie System, Totalitt,Absolutem und Geist zu Beginn des dritten Jahrtausends ist nicht dem Zeitgeist

    gem. Hegels Philosophie war vor allem seit der Wende des 19. zum 20.

    Jahrhunderts Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen. Hegels Kritiker

    waren und sind bis heute in allen philosophisch-politischen Lagern zu Hause;

    Namen wie Nietzsche, Heidegger, Adorno oder Derrida legen davon Zeugnis

    ab.

    Und dies kommt nicht von Ungefhr. In einer Epoche, wo Spekulation nur unter

    der finanzfetischistischen Brsenregie der globalen Waren- und Kapitalmrkteeinen gegenstndlichen Sinn hat, wo Totalitt, als Einheit der Vielen, als

    unbersichtlich (Habermas) tituliert und nicht begriffen wird, - merkwrdiger

    Weise just in dem Moment, in dem die Weltgeschichte so totalitr wie noch nie

    war, in so einer Weltzeit mu Hegels Totalitt als Provokation erscheinen.

    Die Grnde hierfr sind vielfltig. Ich versuche zwei Grnde davon

    aufzunehmen; die Bezugnahme auf die historischen Erfahrungen des letzten

    Jahrhunderts und die daraus hervorgehenden Irritationen durch die spekulative

    Sprache Hegels.

    Dem Verdikt Hegels Das Wahre ist das Ganze28 setzt Adorno im Hinblick auf

    die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sein eigenes Verdikt

    entgegen: Das Ganze ist das Unwahre.29 Adorno sieht im auf das Ganze

    verweisenden Denken eines Hegels den Verrat am Individuellen und

    Besonderen.

    Um diesen Einwand an Hegels Philosophie zu berprfen, wre ein Gang durch

    die Phnomenologie des Geistesnotwendig, den wird hier jedoch aus formalen

    Grnden nicht beansprucht. Es sei nur erwhnt, da Adornos Einwand eine

    stumme Voraussetzung hat, die nicht hegelisch ist. Die stumme Voraussetzung

    Adornos geht von der Unvermittelbarkeit des Besonderen und der

    28 Hegel, Phnomenologie des Geistes, S.19.29 Adorno, Minima Moralia, S. 55.

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    Allgemeinheit, oder des Individuellen und der Totalitt aus. Zwar spricht er

    durchgngig von der Vermittlung, aber in dem Moment, in dem er von

    Nichtidentischen redet, tut er so, als ob das Nichtidentische unmittelbar zuhaben wre. Bei Hegel verhlt es sich andersherum; jeder Pol dieses

    Widerspruchs gewinnt seinen vollstndigen Sinn durch den anderen extremen

    Pol.

    Das Individuelle ist ohne Bezug auf das Allgemeine ein abstraktes, unwahres

    Etwas. Gleichsam ist ein Ganzes jenseits der Einzelnen ein Anderes und kein

    Ganzes, sondern das Andere des Ganzen.

    Nur eine Totalitt, in der sich das Einzelne aufgehoben und gleichwohl, als

    solches, sich aufbewahrt wei und erfhrt, ist eine lebendige Totalitt.

    Die Erfahrungen des Holocaust-Jahrhunderts sind aber gerade

    Entfremdungserfahrungen, die die Entgegensetzung der Einzelnen und der

    Allgemeinheit sedimentiert haben. Der Gegensatz der Totalisierung und der

    Individualisierung zielte nicht, und auerdem bis heute nicht, auf ein Ganzes, in

    dem der Widerspruch aufgehoben wird, vielmehr wurde der Widerspruch

    potenziert.

    Liegt die Wahrheit des Satzes: das Wahre ist das Ganze in der Vermittlungder Entgegengesetzten und nicht in der Fixierung ihrer Gegenstzlichkeit, dann

    ist Adornos Verdikt, Das Ganze ist das Unwahre, an sich das Unwahre und

    zwar nicht im polemischen Sinn. Denn die Unwahrheit ist nichts als isolierte

    Vorstellungen der Extreme eines Widerspruchs, die nicht durcheinander

    vermittelt wren. Das Ganze ist das Wahre, weil die dialektische Wahrheit die

    Erfllung der Allgemeinheit im Einzelnen und die Erfllung der Einzelnen in der

    Totalitt ist.

    Das gilt fr alle Begriffe, insofern, da sie keine an-sich-seienden Inhalte und

    damit dogmatische Begriffe sind. Die Begriffe sind eher Explikationen der sich

    selbst bestimmenden logischen Relationen zum Anderen ihrerselbst.

    Dennoch mu zugegeben werden, da Hegels Geschichtsverstndnis sein

    Kontinuum in der Affirmation hat. Die Affirmation meint aber nicht die

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    Totalitt

    Affirmation der jeweils existierenden Geschichtsinstitutionen, wie Staat oder

    Familie. In diesem Zusammenhang ist der vielleicht bekannteste Einspruch

    Hegels zu erwhnen, der ihm bis zum heutigen Tag zum Vorwurf gemacht wird:Was vernnftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernnftig.30

    Doch wird sich in der Auseinandersetzung mit Hegels Wirklichkeitund Vernunft

    und seinem Logos-Verstndnis als Fundament seines Denkens zeigen, da o.

    g. Zitat nicht so zu nehmen ist, wie es erscheint. Auf der polemischen Ebene

    begnge ich mich mit einigen Zitaten; Es war dieses die Franzsische

    Revolution ein herrlicher Sonnenanfang. Alle denkenden Wesen haben diese

    Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rhrung hat in jener Zeit geherrscht, ein

    Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichenVershnung des Gttlichen mit der Welt nun erst gekommen.31 Die

    emphatische Aussage drckt seine Begeisterung fr die Franzsischen

    Revolution aus. Er erblickt sogar in ihr zum ersten Mal die Verwirklichung der

    Vernunft: Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie

    herumkreisen, war das nicht gesehen worden, da der Mensch sich auf den

    Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.

    Anaxagoras hatte zuerst gesagt, da der die Welt regiert; nun aber erst

    ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, da der Gedanke die geistige

    Wirklichkeit regieren solle.32

    Hegels Position zur Totalitt ist die gegenteilige von Kant, der bestreitet, da

    wir zur hchsten Einheit als Totalitt einen theoretischen Zugang finden

    knnen. Ein Bezug zur unbedingten, unendlichen Position als Gottesstandpunkt

    ist den Menschen nach Kant nicht gewhrt. Hegel formuliert in seiner

    Differenzschrift seine Auffassung der Totalitt folgendermaen: Da diese

    beyden entgegengesetzten, sie heien nun Ich und Natur, reines und

    empirisches Selbstbewutseyn, Erkennen und Seyn, sich selbst setzen und

    entgegensetzen, Endlichkeit und Unendlichkeit zugleich in dem Absoluten

    30 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, S. 14.31 Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, S. 529.32 Ebd.

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    gesetzt werden, in dieser Antinomie erblickt die gemeine Reflexion nichts als

    den Widerspruch, nur die Vernunft in diesem absoluten Widerspruche die

    Wahrheit, durch welchen beydes gesetzt und beydes vernichtet ist, wederbeyde, und beyde zugleich sind.33

    Spekulative Sprache

    Ein anderer Grund, obwohl eher sekundrer Natur, warum Hegels Philosophie

    auf wenig Gegenliebe stt, ist der Hinweis auf seine dunkleSprache.

    Im Zeitalter der verbrannten Erde34

    wird auch dessen Denken nolensvolensverwstet. Ist die gegenwrtige Epoche inhuman,wird auch notwendigerweise

    ihr herrschender Zeitgeist nicht die Kraft aufbringen, die eigene Epoche

    aufzufassen. Der sthetische, essayistische, zusammenhanglose Denkstil der

    eben zu Ende gegangenen postmodernen ra ist Ausdruck davon.35 Damit ist

    gesagt, da die Schwierigkeit der Bewltigung der spekulativen Sprache

    weniger in ihrer Untransparenz, die unbestreitbar ist, sondern vielmehr in den

    innersubjektiven Barrieren liegt, ohne die das arbeitsfetischistische Subjekt des

    modernen warenproduzierenden Systems36, also das Holocaust-Subjekteingeschlossen, nicht funktionieren konnte. Anders formuliert: die spekulative

    Sprache Hegels ist fr die gesamte Gegenwartsmenschheit eine fundamental

    anders geartete Fremdsprache. Die Fremdheit dieser Sprache ist eine

    verdoppelte. Sie ist, wie schon erwhnt, nicht das Medium des Weltbezuges der

    gegenwrtigen Epoche und zum anderen kann die Sprache schlechthin nicht

    den spekulativen Inhalt ausdrcken. Darin besteht der Grundmangel jeglicher

    Sprachlichkeit berhaupt.

    33 Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen System derPhilosophie, S.77.34 Vgl. Carl Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskriegesund der Grundsatz Nullum crimen, nulla poena sine lege.35 Die Ironie der Geschichte liegt darin, da das Ende der groen Erzhlungsich selbst nicht als eine ungeheure groeErzhlung begriffen hat.36 Robert Kurz, Das Weltkapital, Globalisierung und innere Schranken desmodernen waernproduzierenden Systems, S. 411.

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    Spekulative Sprache

    Hegel weist auf diese negative Eigenschaft der Sprache selber zur Genge hin,

    trotz seiner gleichzeitigen Begeisterung fr die Sprache, vor allem fr die

    griechische und deutsche.

    37

    Hegel thematisiert das Hindernis der Urteilsfrmigkeit des grammatikalischen

    Satzes fr den spekulativen Inhalt des Ausgesprochenen. In der Vorrede zur

    Phnomenologie des Geistes wird das Problem des spekulativen Satzes

    ausfhrlicher behandelt.

    Der Satz ist eine Beziehung zwischen dem Subjekt und dem dazugehrigen

    Prdikat: Apfel ist eine Frucht. Hegel bemerkt, da der Satz Gott ist das

    Seyn38 der Form nach ein Urteil ist. Das Urteil benennt eine Differenz, die die

    Endlichkeit des Subjekts und des Prdikats markiert und gleichzeitigvoraussetzt. Das Urteil macht einen Unterschied zwischen dem Subjekt und

    dem Prdikat, weil das Prdikat etwas umfangreicher ist als das Subjekt.

    Hegelisch ausgedruckt: Das Prdikat hat eine allgemeinere Bestimmung als

    das zu Bestimmende (das Subjekt); z.B. ist im Satz Apfel ist eine Frucht

    Frucht allgemeiner als Apfel, denn Frucht kommt auch vielen anderen zu,

    obwohl durch dieses Prdikat Apfel bestimmt werden msste. Oder der Satz

    Gott ist das Seyn. Das Sein ist etwas allgemeiner als Gott, weil es auch

    anderen Wesen zukommt. Der Satz beabsichtigt nicht, das Subjekt Gott alsUnbekanntes blo unter einer uns bekannten Bestimmung zu subsumieren,

    geht es dabei mehr als um eine Reflexion des einen durch den anderen. Dieser

    Satz hat auch den Sinn, beide substantiell zu identifizieren, und die

    Identifizierung ist die Aufhebung des gemachten Unterschieds und eine

    Vereinheitlichung im Sinne der Einswerdung der beiden Seiten.

    Dennoch mu gleichsam die Differenz neu produziert werden: Gott soll nicht

    nur als absolute Einheit, als Gott an sich, sondern gleichsam als Gott fr uns

    ausgesprochen werden. Dieser Gott fr uns ist das Sein, das im Satz Gott ist

    das Seyn angezeigt ist. Der an sich seiende Gott, der zugleich Gott fr unsist,

    geht aus sich heraus, um in sich zurckzukehren. Die absolute Einheit

    37 Diese Euphorie wird auch von Heidegger, zwar anderes pointiert undgelagert, geteilt.38 Hegel, Phnomenologie des Geistes, S. 44.

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    reflektiert sich ber alles Differente, ber die unendlichen Formen der

    Wirklichkeit.

    In der Phnomenologie des Geistes kommt Hegel noch mal auf das Problemdes Formausdrucks und den Gehalt der philosophischen Wahrheit zu sprechen.

    Hier zeigt er prziser an, da die philosophischen Inhalte im sprachlichen

    Ausdruck notwendig die Form des Urteilens annehmen, aber im Grunde nicht

    der Logik des Urteilens zu entsprechen. Denn die spekulativ-philosophischen

    Stze sperren sich aufgrund ihrer Inhalte gegen die Urteilsform, die die Form

    eines endlichen Denkens ist. Die spekulative Philosophie versucht

    entsprechend die Voraussetzungen der Form des Urteils einzuholen und zu

    berwinden. Die Urteilsform der blo grammatikalischen Stze ist fr diespekulativen Stze nur eine uere Form, gegen die sich die lebendigen

    Gedanken veruern. Denn die Aufgabe der Philosophie besteht nicht darin,

    das Denken zu bezeichnen, sondern das Denken zu denken: Um das gesagte

    durch Beyspiele zu erlutern, so ist in dem Satz; Gott ist das Seyn, das Prdikat

    das Seyn;es hat substantielle Bedeutung, in der das Subject zerfliet. Seyn soll

    hier nicht Prdicat, sondern das Wesen seyn; dadurch scheint Gott aufzuhren

    das zu seyn, was er durch die Stellung des Satzes ist, nemlich das feste

    Subject. Das Denken, statt im Uebergange vom Subjecte zum Prdicateweiter zu kommen, fhlt sich, da das Subject verloren geht, vielmehr gehemmt,

    und zu dem Gedanken des Subjects, weil es daelbe vermit, zurckgeworfen;

    oder es findet, da das Prdicat selbst als ein Subject, als das Seyn, als das

    Wesen ausgesprochen ist, welches die Natur des Subjects erschpft, das

    Subject unmittelbar auch im Prdicate; und nun statt da es im Prdicate in

    sich gegangen die freye Stellung des Rsonnirens erhielte, ist es in den Inhalt

    noch vertieft oder wenigstens ist die Forderung vorhanden, in ihn vertieft zu

    seyn. So auch wenn gesagt wird, das Wirklicheist das Allgemeine, so vergeht

    das Wirkliche als Subject, in seinem Prdicate. Das Allgemeine soll nicht nur

    die Bedeutung des Prdicats haben, so da der Satz di aussagte, das

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    Spekulative Sprache

    Wirkliche sey allgemein, sondern das Allgemeine soll das Wesen des

    Wirklichen ausdrcken.39

    In diesem Sinne besteht die philosophische Wahrheit nicht in der Subsumtion

    des Subjekts unter das Prdikat. Umgekehrt geht es im spekulativen Satz um

    die konkrete Einheit des Besonderen (Subjekts) mit dem Allgemeinen

    (Prdikat).

    Die konkrete Einheit beider besagt, da der spekulativen Satz keine Synthese

    vom fr sich seienden Subjekt und dem fr sich seienden Prdikat ist, sondern

    die Totalitt der Beiden als ihre Mitte. Der Satz als Ausdruck der Vermittlung

    des Subjekts und des Prdikats macht sie zu dem, was sie sind: das Subjektund das Prdikat. Die Bewegung der Momente macht den spekulativen

    Charakter des Satzes aus, wogegen die Eigenschaften der Elemente und ihre

    uerliche Verbindung die Form des Urteils ausdrcken.

    Das Problematische am normalen Satz ist seine Urteilfrmigkeit, die statisch,

    statuierend und fixierend ist, wobei der Begriff als prozessualer samt seines

    konkreten Allgemeinen nicht in dieser Form festgehalten werden kann.

    Grundstzlich sind der normale grammatikalischen Satz und der spekulative

    Inhalt, mit einem Ausdruck von Spinoza, inadquat.In einem spekulativen Satz ist das Prdikat nicht lnger allgemeiner als das

    Subjekt. Z. B. im Satz Die Rose ist rot erfhrt das Rotsein der Rose seinen

    Allgemeincharakter, der jedoch nirgends fr sich auer an der Individualitt der

    Rose existiert und sie kann nur insofern rot sein, wie sie das Allgemeine des

    Roten nur zum Moment hat: Die Zerstreutheit des Inhalts ist unter das

    Selbst gebunden; er ist nicht das allgemeine, das frey vom Subjecte mehrern

    zukme. Der Inhalt ist somit in der That nicht mehr Prdicat des Subjects,

    sondern ist die Substanz, ist das Wesen und der Begriff dessen, wovon die

    Rede ist.40

    Das Prdikat wird dem Subjekt nicht einfach beigelegt, sondern das Subjekt ist,

    lebt und erkennt seine Prdikate. Sie werden so aus ihrer Starrheit gelst und

    39 Ebd.40 Ebd., S. 43.

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    aufeinander geworfen, und hier tritt an die Stelle jenes Subjects das wissende

    Ich selbst ein, und ist das Verknpfen der Prdicate und das sie haltende

    Subject.41

    Die Rose und das Rote sind nicht mehr fr sich seiendeUnmittelbarkeiten, sondern nun die differenten und jede durch die anderen

    reflektierten Bestimmungen. Hegel fasst dieser Zusammensetzung

    folgendermaen zusammen: Das Denken verliert daher so sehr seinen festen

    gegenstndlichen Boden, den es am Subjecte hatte, als es im Prdicate darauf

    zurckgeworfen wird, und in diesem nicht in sich, sondern in das Subject des

    Inhalts zurckgeht.42

    Begriff

    In seinem Seyn sein Begriff zu seyn43 ist die logische Notwendigkeit als

    quivalent des Spekulativen. Das Spekulative ist die Aufhebung der

    uerlichkeit der Begrifflichkeit und der Gegenstndlichkeit. Mit anderen

    Worten ist der Begriff kein uerlicher Titel fr den Gegenstand, der ohne ihn

    auch sein wrde.

    Der Begriff fungiert nicht als Nomina; er ist ursprnglich das innere bewegende

    Prinzip der Sache selbst und der Grund ihrer Identitt. Er ist das Wesen derSache, das gleichsam als solches ihr Wissen und ihre Subjektivitt ist: der

    Begriff der Freiheit und des Lebens sind nur mit ihrem gegenstndlichen Dasein

    gegeben. Die Subjektivitt der Sache ist die Seele der Sache und sich selbst

    gebende Form.

    Fr Hegel ist daher der Ort des Begriffes das eigene Selbst des

    Gegenstandes44. Die Dinge, so verstanden, sind in ihrer sich entwickelnden

    Selbstheit eigentlich die Begriffe, die sich als Kontinuum der Prozessualitt

    41 Ebd.42 Ebd., S. 44.43 Ebd., S. 40.44 Ebd. S. 42: Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, dassich als sein Werdendarstellt, ist es nicht ein ruhendes Subject, das unbewegtdie Accidenzen trgt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen insich zurcknehmende Begriff.

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    Begriff

    darstellen. Damit sind die Dinge unmittelbar wahrund in ihrer Selbstheit ebenso

    intelligibel.

    Der Begriff ist Formprinzip und mithin ist er das Bewegungsprinzip. Wie ist aberder Charakter dieser Bewegung und wie ist sie eigentlich mglich? Der Ort der

    Behandlung der Begriffe ist Hegels Wissenschaft der Logik. Die Logik als das

    System der reinen Vernunft ist nach Hegel das Reich der Wahrheit: Die Logik

    ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen

    Gedanken zu fassen. Dieses Reichist die Wahrheit, wie sie ohne Hlle an und

    fr sich selbst ist. Man kann sich dewegen ausdrcken, da dieser Inhalt die

    Darstellung Gottesist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der

    Natur und eines endlichen Geistes ist.45

    Hegel unterscheidet, stark vereinfacht, zwischen objektiver und subjektiver

    Logik. Die objektive Logik errtert die Denkbestimmungen, die der Form nach

    beim anderen sind, wie etwa das Sein und die Zahl.46 Dagegen werden die

    unmittelbar gedachten Denkbestimmungen, wie der Begriff, das Urteil oder die

    Idee, in denen das Denken der Form nach bei sichist, in der subjektiven Logik

    behandelt.

    Die Entwicklung ist die Bewegung der behandelten Kategorien. DieBestimmungen werden in ihrer Konkretisierung auf sich selbst reflektiert als

    Selbstbestimmungen in Gestalt der Selbstanwendung. Diese Selbstanwendung

    kann man als Prinzip aller logischen Entfaltung bezeichnen.

    Die Dialektik der Kategorisierung ist die Bewegung der Bestimmung in die

    Adquanz zu sich selbst und die Erschpfung ihres vollstndigen Gehalts. In

    der Fortentwicklung der Bestimmung zu sich selbst als Selbstanwendung

    vollziehen sich ein Zweifaches; zum einem wird der zu bestimmende Inhalt

    erschpft und zum anderen wird dadurch der Boden fr die nachfolgenden

    Bestimmungen bzw. Kategorien aufbereitet. Dieses so sich ergebende Resultat

    als nun vermittelte Kategorie wird die nchste Unmittelbarkeit, die ihre eigene

    Bewegung aufs neue im Gang setzt. In diesem Sinne ist das eigene

    45 Hegel, Wissenschaft der Logik I, Einleitung, S. 34.46 Kants Kategorien werden in der objektiven Logik behandelt und aufgehoben.

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    Zur Charakteristik der Philosophie Hegels

    Selbstverhltnis die Wirklichkeit einer Sache, die nicht von auen zum Begriff

    gebracht werden kann. Die Wirklichkeit47 ist fr Hegel an sich schon der Begriff,

    in dem das Selbstverhltnis der Sache gesetzt ist.

    47 Frher sind als Formen des Unmittelbaren, Seyn und Existenz,

    vorgekommen; das Seyn ist berhaupt unreflectirte Unmittelbarkeit undUebergehen in Anderes. Die Existenz ist unmittelbare Einheit des Seyns undder Reflexion, daher Erscheinung, kommt aus dem Grunde und geht zuGrunde. Das Wirkliche ist das Gesetztseyn jener Einheit, das mit sichidentischgewordene Verhltni; es ist daher dem Uebergehenentnommen undseine Aeuerlichkeitist seine Energie; es ist in ihr in sich reflectirt; sein Daseynist nur die Manifestation seiner selbst, nicht eines Andern. (Hegel,Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 142,Anmerkung).

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    Spinozas Figuration in Hegels Geschichte der Philosophie

    Atheismus, Akosmismus und Pantheismus

    Der Atheismusvorwurf, den man Spinoza machte, wird von Hegel bestritten.

    Das Gegenteil sei der Fall: Es gibt bei Spinoza zu viel Gott in dem Sinne, da

    die endlichen Modi nicht gengend und rechtens behandelt werden, weil gerade

    Gott als dem Absolute zu viel Raum eingerumt wrde. Von daher ist Spinozas

    System nicht atheistisch, sondern wenn schon eher akosmistisch. Gott ist nur

    die eineSubstanz; die Natur, die Welt ist nach einem Ausdruck des Spinoza nur

    Affektion, Modus der Substanz, nicht Substantielles. Der Spinozismus ist also

    Akosmismus. Das Weltwesen, das endliche Wesen, das Universum, die

    Endlichkeit ist nicht das Substantielle, - vielmehr nur Gott. Das Gegenteil von

    alledem ist wahr, was die behaupten, die ihm Atheismus Schuld geben; bei ihm

    ist zu viel Gott.48

    Da Spinoza von einer absoluten Einheit ausgeht, vernichtet diese gewaltige

    Identitt alle besonderen Unterschiede der Modi; In die eineSubstanz gehen

    alle Unterschiede und Bestimmungen der Dinge und des Bewutseins nur

    zurck; so, kann man sagen, wird im Spinozistischen System alles nur in diesen

    Abgrund der Vernichtung hineingeworfen. Aber es kommt nichts heraus; und

    das Besondere, wovon er spricht, wird nur vorgefunden, aufgenommen aus der

    Vorstellung, ohne da es gerechtfertigt wre.49

    Diese unbegrenzte Totalitt lsst keine wirklichen Unterscheidungen in der

    Natur zu, nur deren modale Versionen. Was immer uns unterschieden und

    besonders vorkommt, ist aufgrund unserer bloen Wahrnehmung da, was

    Hegel als uerliche Reflexion bezeichnet; Was diesem Besonderen nun

    widerfhrt, ist, da es nur Modifikation der absoluten Substanz ist, nichtsWirkliches an ihm selbst sei; die Operation an ihm ist nur die, es von seiner

    Bestimmung, Besonderung zu entkleiden, es in die eine absolute Substanz

    48 Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III, S. 163.49 Ebd., S. 166.

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    Spinozas Figuration in Hegels Geschichte der Philosophie

    zurckzuwerfen. Dies ist das Unbefriedigende bei Spinoza. Der Unterschied ist

    uerlich vorhanden, bleibt uerlich, man begreift nichts davon.50

    Die einzelnen Modi sind nur vorbergehende Affektionen oder AusdrckeGottes, die anders als Substanz weder an sich existieren noch durch sich

    erkennbar sind; Das Einzelne als solches fllt in diese Modus; sie sind es,

    wodurch sich das, was einzeln genannt wird, unterscheidet. Es sind blo

    Modifikationen; was sich auf diesen Unterschied bezieht und dadurch

    besonders gesetzt wird, ist nichts an sich. Jede Modifikation ist nur fr uns,

    auer Gott; sie ist nicht an und fr sich.51 Gerade hierdurch, so Hegel, werde

    Spinoza dem Universum der endlichen Modi nicht gerecht. Mit anderen Worten,

    die ganze natura naturata hat keine Wirklichkeit an sich; Spinoza behauptet,was man eine Welt heit, gibt es gar nicht; es ist nur eine Form Gottes, nichts

    an und fr sich. Die Welt hat keine wahrhafte Wirklichkeit, sondern alles dies ist

    in den Abgrund der einen Identitt geworfen. Es ist also nichts in endlicher

    Wirklichkeit, diese hat keine Wahrheit; nach Spinoza ist, was ist, allein Gott.52

    Gleichzeitig ist aber dieses Verschwinden der einzelnen Modi bei Spinoza, so

    Hegel, die Strke Spinozas. Hegel sieht darin den Verdienst Spinozas, die

    Realitt prinzipiell als eine einzige Totalitt aufgefasst zu haben, in der Dualitt

    von Gott und Welt, von Schpfer und Geschpf, von Transzendentem undImmanentem darin berwunden ist; Es ist das Groartige der Denkungsart des

    Spinoza, auf alles Bestimmte, Besondere verzichten zu knnen und sich nur zu

    verhalten zu dem Einen, nur dies achten zu knnen.53

    Aus dem Gesagten geht hervor, da Hegel in Spinoza keinen Atheisten sehen

    konnte. Hegel entkrftet den Atheismus-Vorwurf: Da nun Denken und Sein an

    sich identisch sind, daraus hat man sogleich Atheismus ableiten wollen, indem

    das Geistige nicht vom Krperlichen verschieden, Gott also zur Natur

    50 Ebd., S. 166, f.51 Ebd., S. 179.52 Ebd., S. 195.53 Ebd., S. 167.

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    Atheismus, Akosmismus und Pantheismus

    herabgesetzt sei. Aber Spinoza setzt gar nicht Gott mit der Natur identisch,

    sondern das Denken. Gott aber ist eben die Einheit des Denkens und Seins;

    Gott ist die Einheit selbst, nicht eins von beiden. Und in dieser Einheit ist dieBeschrnktheit der Subjektivitt des Denkens und der Natrlichkeit

    untergegangen; nur Gott ist, alle Weltlichkeit hat keine Wahrheit.54 Unter einem

    bestimmten Aspekt trifft jedoch der Atheismus-Vorwurf gegenber Spinoza zu:

    Man sagt, der Spinozismus ist Atheismus. Dies ist in einer Rcksicht richtig,

    indem Spinoza Gott von der Welt, von der Natur nicht unterscheidet, indem er

    sagt, Gott ist die Natur, die Welt, der menschliche Geist, - das Individuum ist

    Gott expliziert in besonderer Weise. Man kann also sagen, es ist Atheismus;

    und man sagt dies, insofern er Gott nicht unterscheidet von dem Endlichen. Esist schon bemerkt, da allerdings die Spinozistische Substanz den Begriff von

    Gott nicht erfllt, indem er zu fassen ist als der Geist. Will man ihn aber

    Atheismus nennen nur deshalb, weil er Gott nicht von der Welt unterscheidet,

    so ist dies ungeschickt.55

    Auch an anderen Stellen verteidigt Hegel Spinoza gegenber dem Vorwurf des

    Atheismus bzw. des Pantheismus. Diesbezglich schreibt Hegel in seiner

    Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1830:Zur Erluterung von dem Uebersehen des negativen Moments kann

    beispielsweise der Vorwurf angefhrt werden, der dem Spinozismusgemacht

    wird, da er Pantheismus und Atheismus sey. Die absolute SubstanzSpinozas

    ist freilich noch nicht der absolute Geist, und es wird mit Recht gefordert, da

    Gott als absoluter Geist bestimmt werden msse. Wenn aber Spinozas

    Bestimmung so vorgestellt wird, da er Gott mit der Natur, mit der endlichen

    Welt vermische und die Welt zu Gott mache, so wird dabei vorausgesetzt, da

    die endliche Welt wahrhafte Wirklichkeit, affirmative Realitt besitze.

    Abgesehen davon, da Spinoza Gott nicht definirt, da er die Einheit Gottes

    und der Welt, sondern da er die Einheit des Denkens und der Ausdehnung

    (der materiellen Welt) sey, so liegt es schon in dieser Einheit, selbst auch wenn

    54 Ebd., S. 177.55 Ebd., S. 194, f.

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    Spinozas Figuration in Hegels Geschichte der Philosophie

    sie auf jene erste ganz ungeschickte Weise genommen wird, da in dem

    Spinozischen Systeme vielmehr die Welt nur als ein Phnomen, dem nicht

    wirkliche Realitt zukomme, bestimmt wird, so da dieses System vielmehr alsAkosmismusanzusehen ist.56

    Methode und Deduktion

    Spinozas Methode ist bekanntlich die geometrische. Diese Methode hat nach

    Hegel in der Philosophie keinen Platz, weil die Philosophie fr ihn die innere

    Bewegung ihres eigenen Gegenstandes darstellen mu. Die Methode, welche

    Spinoza zur Darstellung seiner Philosophie gebraucht, ist, wie bei Cartesius, diegeometrische, die des Euklides, die man um der mathematischen Evidenz

    willen fr die vorzglichste hlt, die aber, fr spekulativen Inhalt unbrauchbar,

    nur bei endlichen Verstandeswissenschaften an ihrem Orte ist.57

    Aus der Sicht Hegels ist die Methodenfrage keine bloe Formfrage, denn in

    seinem Denken fallen Form und Inhalt zusammen. Es scheint nur Mangel der

    uerlichen Form, ist aber Grundmangel. Spinoza geht in seiner mathematisch

    demonstrativen Methode von Definitionen aus; diese betreffen allgemeine

    Bestimmungen. Und diese sind geradezu aufgenommen, vorausgesetzt, nichtabgeleitet; er wei nicht, wie er dazu kommt. Die wesentlichen Momente des

    Systems sind in dem Vorausgeschickten der Definitionen schon vollendet

    enthalten, auf die alle ferneren Beweise nur zurckzufhren sind.58

    Die formal-deduktive Methode hat in der Mathematik eine andere Bedeutung

    und einen anderen Nutzen als in der Philosophie. In einer lngeren Passage

    fhrt Hegel die Differenzen der Anwendung der geometrischen Methode in der

    Mathematik und in der Philosophie aus: Das Mangelhafte ist, da er so mit

    Definitionen anfngt. In der Mathematik lt man es gelten, die Definitionen

    56 Hegel, Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 50, Anmerkung.57 Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III, S. 167.58 Ebd.

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    Methode und Deduktion

    sind Voraussetzungen; Punkt, Linie werden vorausgesetzt. In der Philosophie

    soll der Inhalt als das an und fr sich Wahre erkannt werden. Einmal kann man

    die Richtigkeit der Nominaldefinition zugeben, so da das Wort Substanzdieser Vorstellung entspreche, welche die Definition angibt. Ein anderes ist es,

    ob dieser Inhalt an und fr sich wahr sei. Solche Frage macht man bei

    geometrischen Stzen gar nicht. Bei philosophischer Betrachtung ist dies aber

    die Hauptsache. Das hat Spinoza nicht getan. Er hat Definitionen aufgestellt,

    welche diese einfachen Gedanken erklren, als Konkretes darstellen. Aber das

    Erforderliche wre gewesen, zu untersuchen, ob dieser Inhalt wahrhaftig wre.

    Scheinbar ist nur die Worterklrung angegeben; aber der Inhalt, der darin ist,

    gilt. Aller andere Inhalt wird nur darauf zurckgefhrt; so ist dieser erwiesen.

    Aber von dem ersten Inhalt ist aller andere abhngig (exrttai bei

    Aristoteles).59

    Hegel betont mehrmals, da die geometrische Methode die

    Inhaltsbestimmungen auer Acht lsst, weil sie diese nicht bewltigen kann;

    mathematisches Erkennen und Methode ist blo formelles Erkennen und ganz

    und gar unpassend fr Philosophie. Das mathematische Erkennen stellt den

    Beweis an dem seienden Gegenstande als solchem dar, gar nicht alsbegriffenem; es fehlt ihm durchaus der Begriff, der Inhalt der Philosophie ist

    aber der Begriff und das Begriffene.60

    Schon Kant hat eine mathematisch-deduktive Methode fr die Philosophie

    abgelehnt. Er sieht die Methode der Philosophie in der allmhlichen

    Selbstexplikation der Vernunft.61 Hegel fhrt noch einige andere Grnde an,

    die ein von vorneherein vorausgesetztes Verfahren ausschlieen.

    1. Die Verifikation in der Philosophie hngt vom systematischen Kontext ab und

    ist ohne volle Entfaltung dieses Kontextes nicht zu handhaben. In diesem Sinnesagt er: das Wahre ist das Ganze.

    59 Ebd., S. 172.60 Ebd., S. 187.61 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A725-737 / B 752-766.

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    Spinozas Figuration in Hegels Geschichte der Philosophie

    2. Die Bedeutung und die Wahrheit der philosophischen Begriffe beinhalten die

    logische Genese dieser Begriffe; mit anderen Worten, eine Idee kann nicht als

    ein einzelner Schlu mitgeteilt werden.3. In der formal-deduktiven Methode gehrt der Proze der Beweisfhrung nicht

    zum nachfolgenden Schlu, dessen Wahrheit und Bedeutung nicht von seiner

    Genese abhngt. Der Beweis hat ) die schiefe Stellung, als ob jenes Subjekt

    an sich wre. Sie selbst sind im Grunde aufgelst, Moment; im Urteil Gott ist

    Einer ist das Subjekt selbst allgemein, jenes Subjekt lst sich in der Einheit auf.

    ) Es liegt die schiefe Stellung zugrunde, da der Beweis anderswoher geholt,

    wie in der Mathematik aus einem vorhergehenden Satze, der Satz nicht durch

    sich selbst begriffen wird; er ist gleichsam Nebensache. Das Resultat als Satzsoll die Wahrheit sein, ist aber nur das Erkennen. ) Die Bewegung des

    Erkennens, als Beweis, fllt auer dem Satze, der die Wahrheit sein soll.62

    In diesem Zusammenhang zeugt das formal-logische Instrumentarium in Form

    der Definitionen, Lehrstzen und Beweise von einem uerlichen Verhltnis

    zwischen Vorgehensweise und Folge. Diese Methode wird deshalb von Hegel

    als eine dem Verstand zugehrige Methode bezeichnet. Die geometrische

    Methode gehrt der Weise des verstndigen Erkennens an.63

    4. Genau deshalb knnen die einzelnen Definitionen und Lehrstze keine

    organische Einheit darstellen und beschreiben. Denn die organische Totalitt ist

    die lebendige Wirklichkeit und nur als solche der Gegenstand der Philosophie,

    die fr Hegel auf konkreter Vernunft und nicht auf formalen Verstand mit seiner

    deduktiv-formalen Methode beruht.64 Die Philosophie soll die immanente

    Bewegung der Sache selbst verfolgen oder genauer nur diese sein und von

    daher gilt fr ihn:

    62 Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III, S. 189.63 Ebd., S. 163.64 Von der andern Seite ist es eben so wichtig, da die Philosophie darberverstndigt sey, da ihr Inhalt kein anderer ist, als der im Gebiete deslebendigen Geistes ursprnglich hervorgebrachte und sich hervorbringende, zurWelt, uern und innern Welt des Bewutseyns gemachte Gehalt, - da ihrInhalt die Wirklichkeit ist. (Hegel, Enzyklopdie der philosophischenWissenschaften im Grundrisse, 6).

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    Methode und Deduktion

    5. Form und Inhalt, Methode und Gegenstand sind nicht trennbar. Ist die

    Methode die Darstellung der Sache selbst mit ihren Widersprchen und

    Entwicklungen, dann kann sie nur retrospektiv sein und nicht in Form einesuerlichen Verfahrens von vorneherein festgelegt werden. Philosophie

    berlsst es ihrem Gegenstand, sich allmhlich selbst zu gestalten und die

    dabei sich ergebende Gestalt nennt man Methode.

    Die Auffassung des Absoluten in einer starren Form

    Der nchste Kritikpunkt Hegels betrifft Spinozas Verstndnis der Negation,

    denn fr ihn kulminieren bei dieser Bestimmung dessen methodische undinhaltliche Probleme: Das Prinzip der Subjektivitt, Individualitt, Persnlichkeit

    findet sich dann nicht im Spinozismus, weil die Negation nur so einseitig

    aufgefat wurde.65

    Nach Hegel ist das Fehlen von doppelter Negation und dialektischer Logik auch

    fr das Fehlen von Subjektivitt, Individualitt und Persnlichkeit in der

    Substanz verantwortlich; Der Verstand hat Bestimmungen, die sich nicht

    widersprechen. Die Negation ist einfache Bestimmtheit. Die Negation der

    Negation ist Widerspruch, sie negiert die Negation; so ist sie Affirmation,ebenso ist sie aber auch Negation berhaupt. Diesen Widerspruch kann der

    Verstand nicht aushalten; er ist das Vernnftige. Dieser Punkt fehlt dem

    Spinoza, und das ist sein Mangel.66

    Spinoza versteht die einzige Substanz als reines Sein und einfache Identitt,

    die nicht Produkt eines Selbstdifferenzierungsprozesses ist. Die absolute

    Substanz wird gerade nicht wie bei Hegel- als Rckkehr zum Selbst oder als

    Bewegung der Selbst-Entzweiung, aus der als Ergebnis eine Selbst-

    Identifikation gefolgert wird, erklrt. Dabei wird die Identitt der Substanz in

    Form der (starren) Definitionen schon von vorneherein gegeben und zwar fr

    Hegel auf eine unmittelbare Weise, die jegliche Differenzierung logisch

    65 Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III, S. 164.66 Ebd.

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    Spinozas Figuration in Hegels Geschichte der Philosophie

    unmglich macht; Die absolute Substanz ist das Wahre, aber sie ist noch nicht

    das ganze Wahre; sie mu auch als in sich ttig, lebendig gedacht werden und

    eben dadurch sich als Geist bestimmen. Die Spinozistische Substanz ist dieallgemeine und so die abstrakte Bestimmung; man kann sagen, es ist die

    Grundlage des Geistes, aber nicht als der absolut unten festbleibende Grund,

    sondern als die abstrakte Einheit, die der Geist in sich selbst ist.

    Wird nun bei dieser Substanz stehen geblieben, so kommt es zu keiner

    Entwicklung, zu keiner Geistigkeit, Ttigkeit. Seine Philosophie ist nur starre

    Substanz, noch nicht Geist; man ist nicht bei sich.67

    Die einzige Substanz schliet also in sich keine Negation ein und ist als

    Totalitt absolute Affirmation. Die absolute Affirmation lsst keine Unterschiedeund Differenzen zu, und so Hegel, verhindert die Vereinzelung der Substanz zu

    Modi, die durch eine lebendige Bewegung produziert werden.

    Im Grunde kann von der absoluten Substanz nicht ausgegangen werden, weil

    der Substanz das Prinzip der Selbstexplikation oder, Hegelisch gesprochen,

    das Prinzip der Unterscheidung an ihr selbst fehlt. Dieser Vorwurf wird in der

    Logik so formuliert: Es kann ebenso wenig etwas aus demselben

    hervorbrechen, als etwas in daelbe einbrechen kann; bey Parmenides wie bey

    Spinoza soll von dem Seyn oder der absoluten Substanz nicht fortgegangenwerden zu dem Negativen, Endlichen. Wird nun dennoch fortgegangen, was

    wie bemerkt, von dem beziehungs- hiemit fortgangslosen Seyn aus nur auf

    usserliche Weise geschehen kann, so ist dieser Fortgang ein zweyter, neuer

    Anfang. Es ist di ein Fortgehen der ussern Reflexion, welches ebenso

    wohl das, womit es als einem Absoluten anfngt, wieder verneint, - das

    Entgegensetzen ist die Negation der ersten Identitt, - als es sein zweytes

    Unbedingtes sogleich ausdrcklich zugleich zu einem Bedingten macht. Wenn

    aber berhaupt eine Berechtigung wre, fortzugehen, d. i. den ersten Anfang

    aufzuheben, so msste es in diesem ersten selbst liegen, da ein Anderes sich

    darauf beziehen knnte; es msste also ein Bestimmtes seyn. Allein fr ein

    solches gibt sich das Seynoder auch die absolute Substanz nicht aus; im

    67 Ebd., S. 166.

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    Die Auffassung des Absoluten in einer starren Form

    Gegenteil. Es ist das Unmittelbare, das noch schlechthin Unbestimmte.68 Im

    Folgenden soll nun dazu die Position Spinozas dargestellt werden.

    68 Hegel, Wissenschaft der Logik I, Die objektive Logik, S.82.

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    Spinozas Methode

    Die Ethik, Spinozas Hauptwerk trgt im Untertitel mit geometrischer Methode

    begrndet, und nicht nur dort kennzeichnet er seine Methode als geometrisch.

    Der Titel einer anderen Abhandlung von ihm heit: Descartes Prinzipien der

    Philosophie auf geometrische Weise begrndet, obgleich seine Philosophie

    nicht cartesianisch war und auch keine geometrische Methode in seinen

    politischen Traktaten verwendete. Die Klarheit der deduktiven Methode,

    geschuldet den Definitionen, Axiomen und Postulaten der Euklidschen

    Geometrie, hat fr das Interesse einiger anderer Philosophen seit dem 17.

    Jahrhundert gesorgt.69

    Es mu jedoch gefragt werden, was Spinoza unter der geometrischen Methodeverstand, und warum er sie berhaupt anwendete.

    Spinoza selbst macht Tschirnhaus gegenber ein relevantes Zugestndnis: Die

    mathematische Beweisfhrung und die philosophische Entwicklung sind nicht

    identisch.70 Trotz dieser Einwnde erblickt er jedoch in der geometrischen

    Methode dasjenige Mittel, mit Hilfe dessen gewisse Eigenschaften des realen

    Seienden und des absoluten Seins erschlossen werden knnen. Obwohl man

    bei der geometrischen Methode ausgehend von einer bestimmten Definition

    grundstzlich nur auf eine einzige Eigenschaft schlieen kann.

    Die Ableitung von der Definition ist nur die Explikation und die Entfaltung der

    Definition, weil die Definition die Sache erschpfend beschreiben mu. Dabei

    sind die Eigenschaften nichts anderes als die Wirkungen, die schon in ihrer

    Ursache in Form und Inhalt der Definitionen angelegt sind. Schaut man sich die

    Funktion der Definitionen genau an, dann kann man den Vorwurf Hegels teilen:

    Die wesentlichen Momente des Systems sind in dem Vorausgeschickten der

    69 Die s. g. geometrische Methode wird spter seine Kritiker finden: Es kannkeinen Satz geben, in Folge dessen allererst die Welt mit allen ihrenErscheinungen da wre: daher lt sich nicht eine Philosophie, wie Spinozawollte, ex firmis principiisdemonstrirend ableiten. Auch ist die Philosophie dasallgemeinste Wissen, dessen Hauptstze also nicht Folgerungen aus einemandern, noch allgemeineren, seyn knnen. (Schopenhauer, Die Welt als Willeund Vorstellung, GA, Bd. 1, S. 130).70 Spinoza, Briefwechsel, Briefe 82, von Tschirnhaus, und 83, an Tschirnhaus.

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    Spinozas Methode

    Definitionen schon vollendet enthalten, auf die alle ferneren Beweise nur

    zurckzufhren sind.71

    Nichtsdestotrotz unterscheidet Spinoza zwischen dem Wesen und den

    Eigenschaften der Sache: Um eine Definition vollkommen nennen zu knnen,

    mu sie das innerste Wesen einer Sache ausdrcken und verhten, dass wir

    an dessen Stelle nicht gewisse Eigenschaften nehmen.72 Genau in diesem

    Sinne ist der Hinweis Spinozas auf das geometrische Modell zu verstehen. Es

    erfordert die Przision, Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit Schritt fr Schritt als

    notwendige Bedingungen fr die adquateBeschreibung der Gegenstnde und

    eben deswegen auch die Gelassenheit bei der Behandlung der Dinge, die inverschiedenen Graden Leidenschaften auslsen. Sind die Definitionen

    solcherart, dann handelt es sich bei der Ethik um ein zirkulres System, das

    vollstndig geschlossen ist. Weil im Grunde alles Notwendige in Form der

    Definitionen schon gesagt ist, was das Wesen der Sache anbetrifft. Von daher

    ist die Deduktion im Sinne Spinozas der notwendige Prozess, um die Sache zu

    explizieren. Dennoch konstatiert Hegel, da mit den Definitionen das

    Eigentliche schon ausgesprochen ist; Die ganze Spinozistische Philosophie ist

    in diesen Definitionen enthalten; dies sind aber allgemeine Bestimmungen undso im ganzen formell.73

    Die Deduktion ergibt sich aus der Notwendigkeit der Explikation der Sache, die

    schon in Konturen bei der Definition eine noch nicht explizite Gestalt hat, aber

    vorweg festgelegt ist. Das ist der Grund dafr, da die Definition der

    unendlichen Substanz am Beginn der Ethiksteht: Definition der absoluten

    71 Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III, S. 167.72 Spinoza, Abhandlung ber die Berichtigung des VerstandesS. 71. Es mudarauf hingewiesen werden, da die Ideen in der Ausgabe der Abhandlungber die Berichtigung des Verstandes, herausgegeben von KonradBlumenstock (Opera Werke von WBG) flschlicher Weise als Vorstellungenbersetzt werden. In der Felix Meiner Ausgabe der Abhandlung ber dieVerbesserung des Verstandes, herausgegeben von Wolfgang Bartuschat wirdperceptio als Wahrnehmung statt Wissen bersetzt. Von daher bin ichgezwungen, mal diese, mal die andere Ausgabe heranzuziehen und zu zitieren.73 Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III, S. 172.

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    Spinozas Methode

    Substanz am Anfang der Ethikund die Definitionen am Anfang jedes Kapitels.

    Das Beginnen mit der einen Substanz hat nicht nur formale und methodische

    Grnde, sondern auch inhaltliche. Weil, wenn alles in Gott ist, und unendlich

    Vieles auf unendliche Weise aus Gott folgt, wie es in den Lehrstzen 15 und 16

    des ersten Teils der Ethik gesagt wird, dann ist Gott oder die Substanz der

    ontologische Ausgangspunkt. Der ontologische Ausgangspunkt ist notwendig

    und einzig allein mit Gott als einziger unbedingter Substanz gegeben.74

    Die Anwendung der geometrischen Methode bei Spinoza gndet in drei

    inhaltlichen Merkmalen seiner Philosophie, die ihn zwingen, die Geometrie alsVorbild zu nehmen:

    1. Genau wie in der Geometrie gibt es auch in der Philosophie Spinozas

    kein Ursache-Wirkungsverhltnis. Das Dreieck, das oft bei ihm als

    Beispiel genommen wird, ist nicht die Ursache dafr, da die Summe

    seiner Winkel zwei rechten Winkeln gleich ist, und diese Winkelsumme

    ist keine Wirkung des Dreiecks als Ursache, sondern das Wesen des

    Dreiecks besteht gerade darin, da es solche Eigenschaften hat. Also es

    handelt sich um eine Wesensnotwendigkeit. Ananlog dazu ist das

    Verhltnis zwischen der absoluten Substanz und ihren Modi ein

    Wesensverhltnis, so da diese Modi aus der Natur der Substanz mit

    einer Notwendigkeit folgen, wie aus der Natur des Dreiecks von

    Ewigkeit her und in alle Ewigkeit folgt, da dessen drei Winkel zwei

    rechten Winkeln gleich sind.75 Die Modi sind von daher genau sowenig

    Wirkungen der Substanz, wie die Winkelsumme des Dreiecks die

    Wirkung des Dreiecks ist. Die Rede von Ursache und Wirkung bei

    Spinoza ist deswegen irrefhrend und nicht rechtig, weil der Begriff

    74 Deleuze sieht die Sache anderes: In der Ethik geht er aus vonirgendwelchen substantiellen Attributen, um bei Gott als Substanzanzukommen, die konstituiert wird von allen Attributen. (Gilles Deleuze,Spinoza, Praktische Philosophie, S. 148).75 Spinoza, Ethik, I, Propositio 17, Scholium.

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    Spinozas Methode

    causa sui nicht die Verursachung in dem Sinne beinhaltet, da Gott oder

    die Subsatnz etwas anderes als Wirkung aus sich heraus setzt. Gott ist

    die Ursache aller Modi in dem Sinne, in welchem Gott die Ursache

    seiner selbst heit, mu er auch die Ursache aller Dinge heien.76

    Damit wird gesagt, da das Verhltnis zwischen der einen Substanz und

    den Modi, wie beim Dreieck hinsichtlich seiner Winkelsumme, nicht ein

    Kausalittsverhltnis, sondern ein onto-logisches Verhltnis ist, welches

    auch als Implikationsverhltnis bezeichnen werden kann, in dem Sinne,

    da alle Aussagen, die darber gemacht werden knnen, dieses

    Verhltnis explizieren.77

    2. Der zweite Grund der Ntzlichkeit der Geometrie fr Spinoza liegt an der

    Krperlichkeit der unendlichen Substanz. Die Extensio ist eine

    Bestimmung der unendlichen Substanz. Die Ausgedentheit der

    existierenden unendlichen Substanz hat aber Implikationen fr die Ideen,

    denn Spinoza geht von einem Parallelismus der beiden Attribute aus:

    Die Ordnung und Verknpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung

    und Verknpfung der Dinge.78

    3. Der letzte Grund liegt am gemeinsamen Merkmal von Geometrie und

    Spinozas Philosophie, wo die Gegenstnden keinen anderen ueren

    Zweck auer sich selbst haben. Krzer formuliert: Es gibt weder in der

    Geometrie noch im Denken Spinozas ein Telos. Damit wird gesagt, da

    weder ein Dreieck noch irtgendwelche Modi einen Zweck auer sich

    selbst verfolgen. Die Sache ist nicht um Willen einer anderen Sache da,

    sondern fr sich selbst. Das Telos ist nur die Entwicklung der Sache

    selbst.

    76 Ebd., I, Propositio 25, Scholium.77 Heidelinde Beckers, Die Egalitt der Dinge - Versuch eines ontologischenAnarchismus, S. 96.78 Spinoza, Ethik, II, Propositio 7.

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    Spinozas Methode

    Spinoza bezeichnet auch die wahre Methode als reflexive Erkenntnis im Sinne

    einer Idee der Idee.79 Ginge es in der Methodenfrage um die Gewissheit der

    Erkenntnis, dann msste man zur Gewissheit seiner Ideen gelangen. Aber die

    Gewissheit ist nichts anders als die objektive Wesenheit80 der Dinge selbst.

    Die Gewissheit und die wahren Ideen sind identisch. Die Methode ist vielmehr

    das Begreifen dessen, was eine wahre Idee ist, was dadurch geschieht, da sie

    diese Idee von den anderen Wahrnehmungen unterscheidet und in ihrer Natur

    untersucht, mit dem Ziel, da wir daraus unsere Macht des Begreifens

    kennenlernen, und auch, da wir [unseren] Geist derart zusammenhalten, da

    er nach der erwhnten Norm alles begreift, was zu begreifen ist.81 Die

    geometrische Methode nimmt im philosophischen Gesamtwerk Spinozas

    verschiedene Gestalten an.

    Die Abhandlung ber die Verbesserung des Verstandesunterscheidet zwischen

    vier Arten der Erfassung oder des Wissens (perceptio):

    1. Erfassung durch Hrensagen. Wir haben eine Perzeption von den nie

    gesehenen Personen durch Erzhlung oder Schrift. Diese Perzeptionen

    sind die problematischsten, denn sie werden sich durch weiteres Hren

    und Lesen ndern. Deswegen sind sie auch nicht geeignet zurErkenntnis des hchsten Gutes. Denn bekanntlich gibt es auch darber

    verschiedene Interpretationen.

    2. Wissen durch unbestimmte Erfahrungen. Unbestimmt sind diese

    Erfahrungen, weil sie zufllig sind und wir keine anderen Erfahrungen

    haben. Die Unbestimmtheit drckt sich auch in der Instabilitt der aus

    solchen Erfahrungen entspringenden Urteile aus, insofern bereits die

    folgende Erfahrung der vorausgehenden widersprechen kann.

    Unbestimmt sind sie auch, weil sie, wegen ihres zuflligen Charakters,

    zur Bestimmung des Wesens der Dinge nicht beitragen knnen. Es ist

    zwar nicht so, da man ohne Bercksichtigung dieser Perzeptionen und

    79 Spinoza, Abhandlung ber die Verbesserung des Verstandes, S. 33.80 Spinoza, Abhandlung ber die Berichtigung des VerstandesS. 29.81 Spinoza, Abhandlung ber die Verbesserung des Verstandes, S. 33.

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    Spinozas Methode

    Erfahrungen seinen Alltag meistern wrde, aber fr die Erkenntnis und

    die Erlangung des hchsten Gutes sind diese Perzeptionen nicht

    hilfreich.3. Es gibt eine dritte Art des Wissens, bei der zwar der Verstand ttig am

    Werke ist, aber nicht ausreichend, um eine Sache zu definieren.

    Solcherart Wissen nennt Spinoza inadquate Idee von der Sache. Das

    ist der Fall, wenn von der Wirkung auf die Ursache geschlossen wird.

    Denn das Wesen der Wirkung kann nicht das Wesen der Ursache

    offenbaren. Oder wenn aus Allgemeinen das Besondere bestimmt wird.

    Diese Art des Wissens ist auch nicht ausreichend fr die

    Wesensbestimmung der Sachen, weil es immer nur die Dinge in ihremVerhltnis zu uns oder zu anderen Dingen, d.h. relativ bestimmen kann

    ohne falsch zu sein. So knnen zwar gewisse Handlungen eines

    konkreten Menschen auf seine bestimmten kulturellen und

    weltanschaulichen Einstellungen zurckgefhrt werden, aber darber

    erhlt man noch keine einzige Aussage ber das Wesen dieses

    Menschen.

    4. Es gibt schlielich die Erkenntnis des Wesens der Sache,82 und diese ist

    uns nur in ihrem Wesen adquat gegeben. Die Sache kann jedoch auch

    aus der Erkenntnis ihrer nchsten Ursache begriffen werden.

    In dem Traktat Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glck

    benennt Spinoza Meinung, berzeugung und klare Erkenntnis als differente

    Formen der Erkenntnis. Meinung nennen wir die erste, weil sie dem Irrtum

    unterworfen ist und niemals statthat bei etwas, dessen wir sicher sind, sondern

    nur dort, wo von Vermuten und Annehmen die Rede ist. berzeugung nennen

    wir die zweite, weil die Dinge, die wir blo mit der Vernunft erfassen, von uns

    nicht eingesehen werden, sondern uns blo durch verstandesmige

    berzeugung bekannt sind, da es so und nicht anders sein mu. Klare

    Erkenntnis aber nennen wir das, was nicht durch vernunftgeme

    82 Hegelisch gesprochen, wird das Denken hier das Denken der Sache selbst.

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    Spinozas Methode

    berzeugung, sondern durch ein Fhlen und Genieen der Sache selbst

    entsteht, und diese geht weit ber die andern.83 In der Ethik verwendet

    Spinoza fr diese Erkenntnisweisen durchgngig andere Bezeichnungen.

    In der Ethikspricht er wieder von 4 Arten der Erkenntnis, aber eigentlich handelt

    es sich um 3 Erkenntnisarten. Denn der erste Fall erweist sich in der Ethikals

    Sache des Krpers (Extensio), anders als in der Abhandlung ber die

    Verbesserung des Verstandes. Denn die Vorstellungen bzw. die

    Vorstellungsbilder, - die keine Ideen sind, - sind in der Ethik nichts als

    Affektionen des eigenen Krpers, wie er an mehreren Stellen betont.84 Verhilft

    der erste Fall der Perzeption oder Erkenntnis aus vager Erfahrung demErkennenden nicht zu einer Begriffsbildung, sollte man konsequenter Weise

    hier nur die anderen drei Erkenntnisarten in Betracht ziehen. Spinoza

    bezeichnet sie als Erkenntnis der ersten Gattung, Erkenntnis der zweiten

    Gattung und intuitive Erkenntnis: Aus allem, was im Vorhergehenden gesagt

    ist, wird deutlich, da wir vieles erfassen und Universalbegriffe bilden: 1. aus

    den Einzeldingen, die sich durch die Sinne verstmmelt, verworren und ohne

    Ordnung dem Verstand darstellen (siehe Zusatz zu Lehrsatz 29 dieses Teils);

    daher pflege ich solche Wahrnehmungen Erkenntnis aus vager Erfahrung zu

    nennen; 2. aus Zeichen, z. B. daraus, da wir beim Hren oder Lesen von

    Worten uns der betreffenden Dinge erinnern und gewisse Ideen von ihnen

    bilden, denen hnlich, durch die wir uns die Dinge vorstellen (siehe Anmerkung

    zu Lehrsatz 18 dieses Teils); diese beiden Arten, die Dinge zu betrachten,

    werde ich knftig Erkenntnis erster Gattung, Meinungoder Vorstellungnennen;

    83 Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glck,S.59, f.84 Um nur ein Beispiel zu erwhnen: Denn wir machen die Erfahrung, da dieKinder, weil ihr Krper fortwhrend wie im Gleichgewicht ist, allein schondeshalb lachen oder weinen, weil sie andere lachen oder weinen sehen. Auchsuchen sie das, was sie andere tun sehen, sofort nachzuahmen, und ebensobegehren sie alles fr sich, wovon sie sich vorstellen, da sich andere daranerfreuen, weil eben die Vorstellungen der Dinge, wie gesagt, Affektionen desmenschlichen Krpers selbst sind oder Modi, durch die der menschliche Krpervon ueren Ursachen affiziert und disponiert wird, dies oder jenes zu tun.(Spinoza, Ethik, III, Propositio 32, Scholium).

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    Spinozas Methode

    3. schlielich daraus, da wir Gemeinbegriffe und adquate Ideen von den

    Eigenschaften der Dinge haben (siehe Zusatz zu Lehrsatz 38, Lehrsatz 39 mit

    Zusatz und Lehrsatz 40 dieses Teils); diese Art werde ich Vernunft oderErkenntnis zweiter Gattung nennen. Auer diesen zwei Erkenntnisgattungen

    gibt es, wie ich im folgenden zeigen werde,

    noch eine andere, dritte, die ich das intuitive Wissen nennen werde. Diese

    Gattung des Erkennens schreitet von der adquaten Idee des formalen Wesens

    einiger Attribute Gottes fort zur adquaten Erkenntnis des Wesens der Dinge.85

    Das Hrensagen als eine Erfassungsweise in der Abhandlung ber die

    Verbesserung des Verstandeswird hier unter die Erkenntnisder ersten Gattung

    subsumiert. Diese erste Gattung als empirisches Wissen ist nicht seltenverworren und von daher heit sie bei Spinoza auch inadquate Erkenntnis.

    Ihre Verworrenheit ist der Sinnlichkeit geschuldet, die sie begleitet und in der

    sie verwurzelt ist.

    Die Vernunft ist die adquate Erkenntnis der Gemeinbegriffe, die der zweiten

    Gattung der Erkenntnis angehren. Diese Gemeinbegriffe sind nicht nur den

    verschiedenen Modi des Attributes Extensio als Objektdinge gemeinsam,

    sondern auch den verschiedenen Modi der beiden Attribute, Extensio und

    Cogitatio, also den erkennenden Subjekten. Hieraus folgt, da es gewisse

    Ideen oder Begriffe gibt, die allen Menschen gemeinsam sind. Denn alle Krper

    stimmen (nach Hilfssatz 2) in manchen Punkten berein, die (nach dem vorigen

    Lehrsatz) von jedermann adquat oder klar und deutlich begriffen werden

    mssen.86 Dennoch sind die Gemeinbegriffe und die Begriffe, die durch

    Abstraktion gebildet werden, verschieden. Die intuitive Erkenntnis grndet auf

    Vernunfterkenntnis87, aber gleichsam berschreitet sie diese auch. Denn bei

    dieser Erkenntnisart geht es um das Wissen der Wesenheiten der Einzeldinge

    als einzelner Modi. Sind die einzelnen Modi Affektionen der Attribute der einen

    85 Ebd., II, Propositio 40, Scholium II.86 Ebd., II, Propositio 38, Corollarium.87 Das Bestreben oder die Begierde, die Dinge nach der dritten Gattung derErkenntnis zu erkennen, kann nicht aus der ersten, wohl aber aus der zweitenGattung der Erkenntnis entspringen. (Ebd., V, Propositio 28).

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    Substanz, dann erkennt man Gott eigentlich nur in der Erkenntnis dieser

    Wesenheiten.