Anatomie des Neugeborenen unter besonderer...

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4 Osteopathische Medizin ORIGINALIA 13. Jahrg., Heft 2/2012, S. 4–8 , Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed * Prof. (RF) Dr. Matthias Beck ist Professor für Anatomie am Transfer-Institut für Klinische Anatomie der Steinbeis Hochschule Berlin (SBH) und am AVT-College für Osteopathische Medizin in Nagold. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Neuroanatomie. Er ist erster Präsident des Deutschen Verbandes für Osteopathische Medizin (DVOM) e.V. und Präsident des ERPO e.V. (European Register for Professional Osteopaths). 1 Aus dem Kopfmesenchym entwickeln sich die Deckknochen des Schädeldachs und die Muskulatur (epikranielle Muskulatur, Kaumuskulatur und mimische Gesichtsmuskulatur) sowie das Bindegewebe des Kopfes. Anatomie des Neugeborenen unter besonderer Berücksichtigung des Schädels und der oberen Halswirbelsäule Matthias Beck* Zusammenfassung Die Fontanellen und Syndesmosen der Calvaria sowie die Synchondrosen der Schädelbasis sind Zentren, durch deren Flexibilität sich der Schädel dem mütterli- chen Geburtskanal anpassen kann. Die Kenntnis der anatomischen Besonderhei- ten bildet die Basis für das Verständnis der Symptome, die im Falle eines Geburtstrau- mas auſtreten können. Schlüsselwörter Chondrokranium, Desmokranium, Fonta- nellen, Synchondrosen der Schädelbasis, Geburtstrauma, Plagiozephalie, Schieals, Lageasymmetrie Abstract e fontanels and the syndesmoses of the calvaria as well as the synchondroses of the cranial base act as areas of great flexibility and enable the cranial fault to adapt to the maternal labor channel during birth. e knowledge of the anatomical differences of the cranium and the cervical spine in this age build up the baseline for understand- ing the symptoms that may occur in case of birth trauma. Keywords Chondrocranium, desmocranium, fonta- nels, synchondrosis in the cranial base, trauma of birth, plagiocephaly, torticollis, abnormal position Einleitung Die Implementierung der osteopa- thischen Medizin in die Pädiatrie macht es notwendig, die Entwick- lung des kindlichen Körpers, im Be- sonderen jene des muskuloskeletta- len Systems, genauer zu betrachten, um die therapeutischen Behand- lungsansätze den altersspezifischen Besonderheiten anpassen zu können. Nachfolgend soll dies exemplarisch am Beispiel des Schädels und der Halswirbelsäule synoptisch entwi- ckelt werden. Embryonale Differen- zierung des Schädels An der Entwicklung des Schädels be- teiligen sich alle drei Keimblätter, al- lerdings in einem im Vergleich zum Rumpf verschiedenen Verteilungs- modus. Während das Mesenchym des Rumpfes aus dem Mesoderm stammt, werden große Anteile des Kopfmes- enchyms aus Zellen gebildet, die von der Neuralleiste (Neuroektoderm) ab- wandern. 1 Die Osteogenese des Schädels unter- liegt zwei gänzlich unterschiedlichen Entwicklungswegen. Die Calvaria (knöchernes Schädeldach) und der Gesichtsschädel gehen aus dem Des- mokranium hervor, während hinge- gen die Schädelbasis dem Chondro- kranium entstammt [8]. Entwicklung des Chondrokraniums Das Chondrokranium ist eine langge- streckte präformierte Knorpelplatte, die sich dorsal vom Tectum occipitale nach rostral bis in die interorbitonasa- le Region erstreckt. Sie lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen: die Regio parachordalis wird als Basalplatte aus dem nicht segmentierten paraxialen Mesoderm und aus dem sich nach kaudal anschließenden zervikalen So- mitenmaterial formiert. So entsteht zunächst die Pars basilaris des Os oc- cipitale. Wenig später umgreiſt dann eine von der Pars basilaris ausgehende Knorpelspange auch das Rückenmark und die Medulla oblongata, sodass sich das Tectum occipitale bildet. Die Regio praechordalis geht aus der Buccopharyngealmembran hervor. Sie entwickelt die Regio hypophysalis und interorbitonasalis. So entstehen der Corpus ossis sphenoidalis und das Os ethmoidale. An der Grenze zwischen der Prächordal- und der Basalplatte entwickelt sich im Rahmen der en- chondralen Ossifikation die Synchon- drosis sphenobasilaris. Von lateral her schiebt sich die Organkapsel des Laby- rinths und der Cochlea zwischen das Os occipitale und das sich entwickeln- de Os sphenoidale in die Schädelbasis ein. Diese geht eine zunächst durch Knorpel- und Bindegewebe vermittel- te Verbindung zum Os tympanicum und Os squamosum ein [12, 13].

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Osteopathische MedizinO R I G I N A L I A

13. Jahrg., Heft 2/2012, S. 4–8 , Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed

* Prof. (RF) Dr. Matthias Beck ist Professor für Anatomie am Transfer-Institut für Klinische Anatomie der Steinbeis Hochschule Berlin (SBH) und am AVT-College für Osteopathische Medizin in Nagold. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Neuroanatomie. Er ist erster Präsident des Deutschen Verbandes für Osteopathische Medizin (DVOM) e.V. und Präsident des ERPO e.V. (European Register for Professional Osteopaths).

1 Aus dem Kopfmesenchym entwickeln sich die Deckknochen des Schädeldachs und die Muskulatur (epikranielle Muskulatur, Kaumuskulatur und mimische Gesichtsmuskulatur) sowie das Bindegewebe des Kopfes.

Anatomie des Neugeborenen unter besonderer Berücksichtigung des Schädels und der oberen HalswirbelsäuleMatthias Beck*

ZusammenfassungDie Fontanellen und Syndesmosen der Calvaria sowie die Synchondrosen der Schädelbasis sind Zentren, durch deren Flexibilität sich der Schädel dem mütterli-chen Geburtskanal anpassen kann. Die Kenntnis der anatomischen Besonderhei-ten bildet die Basis für das Verständnis der Symptome, die im Falle eines Geburtstrau-mas auft reten können.

SchlüsselwörterChondrokranium, Desmokranium, Fonta-nellen, Synchondrosen der Schädelbasis, Geburtstrauma, Plagiozephalie, Schiefh als, Lageasymmetrie

AbstractTh e fontanels and the syndesmoses of the calvaria as well as the synchondroses of the cranial base act as areas of great fl exibility and enable the cranial fault to adapt to the maternal labor channel during birth. Th e knowledge of the anatomical diff erences of the cranium and the cervical spine in this age build up the baseline for understand-ing the symptoms that may occur in case of birth trauma.

KeywordsChondrocranium, desmocranium, fonta-nels, synchondrosis in the cranial base, trauma of birth, plagiocephaly, torticollis, abnormal position

Einleitung

Die Implementierung der osteopa-thischen Medizin in die Pädiatrie macht es notwendig, die Entwick-lung des kindlichen Körpers, im Be-sonderen jene des muskuloskeletta-len Systems, genauer zu betrachten, um die therapeutischen Behand-lungsansätze den altersspezifi schen Besonderheiten anpassen zu können. Nachfolgend soll dies exemplarisch am Beispiel des Schädels und der Halswirbelsäule synoptisch entwi-ckelt werden.

Embryonale Differen -zierung des SchädelsAn der Entwicklung des Schädels be-teiligen sich alle drei Keimblätter, al-lerdings in einem im Vergleich zum Rumpf verschiedenen Verteilungs-modus. Während das Mesenchym des Rumpfes aus dem Mesoderm stammt, werden große Anteile des Kopfmes-enchyms aus Zellen gebildet, die von der Neuralleiste (Neuroektoderm) ab-wandern.1

Die Osteogenese des Schädels unter-liegt zwei gänzlich unterschiedlichen Entwicklungswegen. Die Calvaria (knöchernes Schädeldach) und der Gesichtsschädel gehen aus dem Des-mokranium hervor, während hinge-gen die Schädelbasis dem Chondro-kranium entstammt [8].

Entwicklung des Chon drokraniumsDas Chondrokranium ist eine langge-streckte präformierte Knorpelplatte, die sich dorsal vom Tectum occipitale nach rostral bis in die interorbitonasa-le Region erstreckt. Sie lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen: die Regio parachordalis wird als Basalplatte aus dem nicht segmentierten paraxialen Mesoderm und aus dem sich nach kaudal anschließenden zervikalen So-mitenmaterial formiert. So entsteht zunächst die Pars basilaris des Os oc-cipitale. Wenig später umgreift dann eine von der Pars basilaris ausgehende Knorpelspange auch das Rückenmark und die Medulla oblongata, sodass sich das Tectum occipitale bildet. Die Regio praechordalis geht aus der Buccopharyngealmembran hervor. Sie entwickelt die Regio hypophysalis und interorbitonasalis. So entstehen der Corpus ossis sphenoidalis und das Os ethmoidale. An der Grenze zwischen der Prächordal- und der Basalplatte entwickelt sich im Rahmen der en-chondralen Ossifi kation die Synchon-drosis sphenobasilaris. Von lateral her schiebt sich die Organkapsel des Laby-rinths und der Cochlea zwischen das Os occipitale und das sich entwickeln-de Os sphenoidale in die Schädelbasis ein. Diese geht eine zunächst durch Knorpel- und Bindegewebe vermittel-te Verbindung zum Os tympanicum und Os squamosum ein [12, 13].

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Abb. 1: Das Kopfmesenchym entwickelt sich unter dem Einfl uss des Herzens zum Chondrokranium. 1 Processus maxillaris, 2 Processus mandibularis, 3 zweites Kiemenbogensegment, 4 drittes Kiemenbo-gensegment, 5 viertes Kiemenbogensegment, 6 Somiten, 7 Knos-pen der oberen Extremität, 8 linker Ventrikel, 9 rechter Ventrikel, 10 embryonaler Schwanz (Os coccygis), 11 Haftstiel

Abb. 2: Mediosagittalschnitt durch die Schädelbasis eines reifen Neugeborenen. 1 Synchondrosis sphenobasilaris, 2 Synchondrosis intrasphenoidalis, 3 Hypophyse, 4 Os ethmoidale (liegt knorpelig vor), 5 Crista galli, 6 Os vomer

Das Os temporale entwickelt sich aus drei Teilen, die später miteinander verwachsen. Es sind das Os petrosum (Organkapsel), das Os squamosum und das Os tympanicum (Ring um die Membrana tympani). Der Proces-sus mastoideus entsteht erst deutlich später, ausgehend von Teilen des Os squamosum und Os petrosum. Die sich dabei entwickelnde Pneumatisie-rung des Knochenfortsatzes (Masto-idzellen) hängt wesentlich von der re-gelhaft en Belüft ung des Cavum tym-pani ab. Aus diesem Grund können rezidivierende Tubenfunktionsstö-rungen und Mittelohrentzündungen die Entwicklung des Knochenfortsat-zes beeinfl ussen. Da die drei Teile des Os temporale zum Zeitpunkt der Geburt noch keine stabile knöcherne Verbindung mitei-nander entwickelt haben, kann sich unter dem Einfl uss von Kräft en einer intrauterinen Zwangslage (Mehr-lingsschwangerschaft ) oder unter der Geburt (v.a. wenn sie instrumentiert erfolgt) ein intraossärer Strain zwi-schen ihnen entwickeln. Die Tatsache, dass sich große Anteile der Schädel-basis im Sinne der Ersatzknochenbil-dung aus dem Mesenchym zunächst

zu Knorpelgewebe entwickeln und erst dann, ausgehend von multiplen Knochenkernen, der eigentliche Kno-chen gebildet wird, bedingt sich durch den Wachstumsdruck des Herzens, das sich direkt unter der Schädelbasis entwickelt und erst später in das Me-diastinum absinkt (Abb. 1).2 Dieser Prozess ist zum Zeitpunkt ei-ner termingerechten Geburt noch nicht abgeschlossen, sodass sich zwi-schen und in den Knochen der Schä-delbasis noch Knorpelfugen (ver-gleichbar mit den Epiphysenfugen der langen Röhrenknochen) befi nden. Diese sind wesentlich für das spätere Wachstum der Schädelbasis und ent-wickeln unter der Geburt Zentren er-höhter Flexibilität, die für die Anpas-sung des kindlichen Kopfes an Größe und Form des mütterlichen Geburts-kanals wichtig sind. Regelhaft fi ndet man zu diesem Zeit-punkt der Entwicklung in der Schädel-basis die Synchondrosis intraoccipita-lis anterior und posterior, die Syn-chondrosis sphenobasilaris und den Rest einer Knorpelfuge zwischen dem Prä- und dem Postsphenoid. Der sich aus dem Chondrokranium entwi-ckelnde Anteil des Os occiptale besteht

also aus vier Teilen und ist nach dorsal hin fl exibel mit dem interparietalen squamösen Teil des Knochens (er ent-wickelt sich desmal) sowie rostralwärts über die Synchronosis sphenobasilaris mit dem Corpus ossis sphenoidale ver-bunden.3 Dies gestaltet die Schädelba-sis sehr fl exibel (Abb. 2).

Entwicklung des SchädeldachsDie Deckknochen des Schädeldachs (Ossa parietale, frontale, squamosum und die Alae majores ossis sphenoida-lis) sowie die Knochen des Gesichts-schädels (mit Ausnahme des Os eth-moidale) unterliegen einer desmalen Osteogenese. Ausgehend von ihren Knochenkernen entwickeln sie sich in einer zweischichtigen aus Bindegewe-be bestehenden Membran (Ektome-ninx), die später das Perikranium (Pe-riost) und für die Augen- und die Schädelhöhle das Endost bzw. das en-dostale Blatt der Dura mater encepha-li bildet [7,  14]. Zwischen den Kno-chen des Schädeldachs entstehen auf diese Weise zunächst Brücken aus Bindegewebe. Diese haben die Funkti-

2 Zellen des Mesenchyms diff erenzieren sich unter dem Einfl uss von Druck zu knorpelbildenden Zellen.3 Der aus dem Chondrokranium hervorgehende Teil des Os occipitale besteht aus der Pars basilaris, den beiden Partes condylares und dem Tec-

tum occipitale.

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on einer Syndesmose und fi nden sich dort, wo zu einem späteren Zeitpunkt in der Entwicklung eine Schädelnaht die Knochen im Sinne einer Synostose miteinander verbindet. Zwischen den Korrespondenzfl ächen mehrerer Schädelknochen (z.B. zwi-schen den Ossa parietalia und fronta-lia) entwickeln sich größere bindege-webige Brücken, die Fontanellen4. Unter der Geburt ermöglichen diese gemeinsam mit den Syndesmosen zwischen den Deckknochen der Cal-varia die Anpassung des Diameter suboccipito-bregmaticus an den Ge-burtskanal der Mutter und werden somit zu einem wichtigen geburts-mechanischen Faktor. Nach der Ge-burt, im Lauf des ersten Lebensjah-res, sind sie für das schnelle Größen-wachstum des Gehirnschädels maß-gebend. Erst gegen Ende des neunten Lebensmonats ist am Rande der Schädelknochen eine beginnende Dentierung zu erkennen.

Geburtstrauma des SchädelsIn Abhängigkeit von der Größe des Kindes, vor allem von seinem Kopf-umfang, und den geburtsmechanisch wirksamen Diametern des mütterli-chen Beckens kommt es unter der Ge-burt zu einer mehr oder weniger aus-geprägten Verformung des in sich fl e-xiblen Schädels. Dies ist zunächst als physiologische und viskös-elastische Adaptation an die Gegebenheiten des Geburtskanals zu verstehen und an sich nicht pathologisch. Die sichtbare Folge dieser auf den kindlichen Schä-del einwirkenden Kräft e ist das Caput succedanium, das als Folge des Drucks gegen die Zervix der Gebärmutter vie-le Neugeborene ziert, sich aber in der Regel postpartal nach wenigen Tagen wieder zurückentwickelt. Sind die de-formierenden Kräft e jedoch intensiver

und entsprechen nicht den physiologi-schen Vektoren, wie z.B. im Falle eines vorderen Asynklitismus5 (Naegele-Obliquität), so kann unter dem Ein-fl uss der Wehentätigkeit das ventrale Os parietale am Vorderrand der Be-ckeneingangsebene (oberer Scham-beinast und Symphyse) einem erhebli-chen Druck ausgesetzt sein, bis der Kopf dann schließlich mittels des Knopfl ochmechanismus das Hinder-nis auf dem Weg ins kleine Becken überwunden hat. Da der Schädel in einem solchen Fall auch einer prolongierten Kompressi-on ausgesetzt ist, können die Ränder der Deckknochen wie Kontinental-platten übereinandergeschoben wer-den – man bezeichnet dies als Overri-ding. Nicht selten kommt es dabei zu einer Abscherung des Periosts vom Schädelknochen und einer Einblutung zwischen Periost und Knochen. Es entwickelt sich ein Kephalhämatom. Im Gegensatz zum Caput succedani-um, das mit einer serösen Infi ltration der Subcutis oberhalb des Levels der Galea aponeurotica einhergeht und die Grenzen der Schädelknochen re-

gelhaft überschreitet, zeigt sich das Kephalhämatom als prall-elastische Schwellung, die durch diese begrenzt ist (Abb. 3). Oft geht das Kephalhäma-tom mit kleinen Fissuren am Rand der Schädelknochen einher. Auch ein epidurales Hämatom mit Raumforderung und eine Adipone-crosis subcutanea sind als Komplika-tion möglich. Da die Schädelknochen des Neugeborenen einerseits eine sehr feste Verbindung mit dem endostalen Blatt der Dura mater encephali ein-gehen und anderseits durch die syndesmotischen Brücken in diesem Lebens alter eine nicht geringe Ver-schieblichkeit untereinander aufwei-sen, führt das Persistieren einer Overriding-Position auch zu einer Veränderung im Spannungsbild der pachymeningealen Duplikaturen [6] und damit im ungünstigsten Fall zu einer Reduktion des venösen Flow-Profi ls in den eingeschlossenen Sinus durae matris [4, 11]. Im Bereich der Schädelbasis nehmen die Synchondrosen, wie vergleichs-weise in der Calvaria die Fontanellen und die Syndesmosen zwischen den

4 Es existieren zum Zeitpunkt der Geburt sechs Fontanellen: Fonticulus anterior, posterior, sphenoidalis rechts und links und Fonticulus mastoi-deus rechts und links.

5 Ein vorderer Asynklitismus liegt vor, wenn das ventral ausgerichtete Os parietale beim Eintritt des kindlichen Kopfes in die Querovalität der Beckeneingangsebene mit dem oberen Schambeinast und der Symphyse kontaktiert. Meist ist der sagittale Diameter der Beckeneingangsebene im Verhältnis zum transversalen Diameter des kindlichen Kopfes zu klein. Die Syndesmose zwischen den beiden Parietalknochen (die spätere Sagittalnaht) ist zum Promontorium hin ausgerichtet. Die beiden Ossa parietalia können die Beckeneingangsebene nur nacheinander passieren (Knopfl ochmechanismus). Während beim vorderen Asynklitismus das Hindernis meist überwunden und eine Spontangeburt möglich ist, erweist sich der hindere Asynklitismus (Litzmann-Obliquität) als erheblich schwieriger und führt nicht selten zu einer Entbindung durch Kaiserschnitt.

Abb. 3: Overriding in der Syndesmose zwischen den beiden Parietalknochen. 1 Caput succedanium, 2 Kephalhämatom, 3 Hämatom zwischen Galea aponeurotica und Periost, 4 Epiduralhämatom, 5 Sinus sagittalis superior, 6 Parietalknochen

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Deckknochen, den Druck und die eventuell entstehenden Scherkräft e ei-ner geburtsmechanisch induzierten Verformung des Schädels auf [18]. Wenngleich auch die Synchondrosen eine nicht geringe Flexibilität besitzen und damit viskös-elastisch zu reagie-ren in der Lage sind, kann eine exzes-sive und prolongierte Kompression des Schädels zu einer viskös-plasti-schen Verformung der Synchrondro-sen führen.6  Damit verändert sich auch die Relation der über die Syn-chondrose miteinander in Verbindung stehenden Anteile der Knochen der Schädelbasis (Abb. 4). Da die Schädelbasis in ihrem ventra-len Aspekt als Interface zwischen dem Neuro- und dem Viszerokrani-um zu verstehen ist, kann sich einem pachymeningealen Torsionsmodell7

folgend daraus auch eine Plagioze-phalie entwickeln, die mit zuneh-mendem Größenwachstum des Schä-dels in den ersten Lebensmonaten an Ausprägung gewinnt. Bei dieser mög-lichen Erklärung für das Entstehen einer Plagiozephalie darf jedoch kei-nesfalls die diff erenzialdiagnostische

Abgrenzung einer partiellen Kranio-synostose übersehen werden. Wenn-gleich deren Pathoätiologie nicht restlos geklärt ist, darf man nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse kei-nesfalls davon ausgehen, dass es sich alleine um die Folge eines Ge-burtstraumas oder um einen Strain der Synchondrosis sphenobasilaris handelt. Vielmehr sind eine genetisch fi xierte Veränderung spezifi scher Re-zeptoren („fi broblast growth factor receptor“ [FGFR] 1–3), welche die Aktivität von Fibroblasten in den Syndesmosen zwischen den Deck-knochen der Clavaria regulieren, in Koexistenz mit weiteren disponieren-den Faktoren wie einer Hypothyreo-se, einer Hyperkalzämie, einer Sichel-zellanämie und einem pathologisch erniedrigten intra kraniellen Liquor-druck nachgewiesen [3,  18]. Somit erfordert eine Kraniosynostose als Ursache einer Plagiozephalie auf-grund ihrer Irreversibilität defi nitiv ein nicht ausschließlich osteopathisch defi niertes Th erapieregime.Mit dem Durchtritt des kindlichen Kopfes durch die längsovale Beckenaus-

gangsebene und die nachfolgende Ent-wicklung der ventralen Schulter unter der Symphyse hindurch sind eine Ex-tension und Rotation der Halswirbel-säule verbunden [17]. Zu diesem Zeit-punkt der Entwicklung sind weder das Os occipitale noch der Atlas knöchern vollständig durchbaut.8 Daher werden als mögliche Folgen einer Überzeich-nung dieser Torsionskräft e, die dabei auf den Schädel und die Halswirbelsäu-le einwirken können, die mechanische Irritation der Nerven und Gefäße disku-tiert, die durch das Foramen jugulare und den Canalis hypoglossus der Pars condylaris ossis occipitalis hindurch verlaufen. Symptome wie Trinkschwä-che, Schluckstörungen (IX. und XII.  Hirnnerv), Hyperexzitabilität und funktionelle Störungen des gastrointes-tinalen Trakts (X. Hirnnerv), Tonusver-änderungen des M. sternocleidomastoi-deus sowie des M. trapezius mit reakti-ven Bewegungsdefi ziten der oberen Halswirbelsäule und der Tendenz zum Schiefh als sowie der Lageasymmetrie (XI.  Hirnnerv) werden als Folge einer solchen Irritation postuliert9. Nahezu keines der Neugeborenen zeigt jedoch – und dies ist ein Glück – wirklich klinisch neurologisch fassba-re Symptome einer Entrapement-Sym-ptomatik dieser Nerven. Die propa-gierte Kompression im Bereich der Schädelbasis mit reaktiver Demyelini-sierung und nachfolgend konduktiver Leitungsstörung ist also sehr unwahr-scheinlich als Ursache der oben ge-nannten Symptome anzusehen. Denk-bar wäre hingegen eine durch die Ex-pression von Zytokininen verursachte Veränderung des Bindegewebes in den peripheren Hüllstrukturen der Nerven infolge der mechanischen Belastung im Bereich ihrer Durchtrittsstellen durch die Schädelbasis [19]. Wenn-gleich ein solches Reaktionsmodell

Abb. 4: CT der Schädelbasis (axial) eines vier Monate alten Kindes mit Plagiozephalie. In-traossärer Strain in der Synchondrosis intraoccipitalis posterior rechts und Lateral-Strain rechts mit geringer Ausprägung. 1 Synchondrosis intraoccipitalis anterior, 2 Synchondro-sis intraoccipitalis posterior, 3 Synchondrosis sphenobasilaris

6 In den Weekly Podcasts des Transferinstituts für klinische Anatomie der Steinbeis-Universität Berlin (www.anatomisches-institut.de) können sich die Leser diese Flexibilität am Beispiel eines Neugeborenenschädels ansehen.

7 Dieses Modell folgt der Annahme, dass sich Torsionen der Schädelbasis durch die intensive Verlinkung der Schädelknochen mit der Dura mater encephali im Sinne eines Gürtels auf die Entwicklung der sich zwischen ihrem endostalen Blatt und dem Periost desmal entwickelnden Schädel-knochen auswirkt. Dies ist eine sehr logische und im klinischen Kontext nachvollziehbare Annahme, die bislang jedoch ihren wissenschaft lichen Beweis noch schuldet.

8 Der Atlas besteht zu diesem Zeitpunkt wie auch das Os occipitale aus vier nicht fest miteinander verwachsenen Teilen: dem hinteren und vorderen Altlasbogen und den beiden Massae laterales.

9 In Zusammenhang mit der oft mals zu beobachtenden Parallelität im Auft reten dieser Symptome wurde der Begriff des KISS-Syndroms (Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung ) geprägt. Ein Terminus, der zwar einerseits die Vielfalt der möglichen Symptome verdeutlich, anderseits aber im Verständnis vieler Th erapeuten ihre Rückführbarkeit auf ein einziges Problem – nämlich eine Funktionsstörung der Kopfgelenke – vorspiegelt. Dies ist eine unzulässige Reduktion der Komplexität solcher Symptome, zumal dieses Syndrom in der ICD 10 bislang keine Verschlüsselung gefunden hat.

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eher mit der Tatsache eines hochregu-lierten Tonus der Muskulatur verein-bar ist, bleibt bislang jedoch auch diese Erklärung ihren Beweis schuldig.10

Bei dem Versuch, die empirisch posi-tiven Reaktionen der Säuglinge auf die Behandlung des Schädels und der Halswirbelsäule zu erklären, darf auch die Tatsache, dass diese Symptome Ausdruck einer Regulationsstörung und einer noch nicht stabilen Mutter-Kind-Beziehung sein können, nicht außer Acht gelassen werden. Die Tonus asymmetrie der Extremitäten-, Nacken- und Rumpfmuskulatur – die im Verlauf der Behandlung ihr Muster wechseln können – korreliert nicht zuletzt mit einer Labilisierung der motorischen Kontrolle durch ihre Umstellung von einer zunächst spina-len auf eine subkortikale Kontrollebe-ne zwischen der 9. und 12. Lebenswo-che [2,  5]. Die Integration dieser Be-trachtungsebene erklärt auch, weshalb nachweislich ca. 80% der betroff enen Säuglinge mit Ende des ersten Lebens-jahrs klinisch unauff ällig sind – und dies auch ohne therapeutische Inter-vention11 [9, 10, 15].Persistieren jedoch zervikale Bewe-gungseinschränkungen und Tonus-veränderungen im M. sternocleido-mastoideus, müssen diff erenzialdiag-nostisch Ursachen wie eine Blockwir-belbildung, eine Atlasassimilation und Hämatome im Muskel sowie Fraktu-ren der Klavikula als mögliche Ursa-chen ausgeschlossen werden.

Verletzungen der Nerven

Kommt es im Verlauf der Geburt zu Komplikationen, die eine Instrumen-tierung notwendig machen, können auch Verletzungen des N. facialis (Forceps) und des Plexus brachialis (Erb- und Klumpke-Lähmung) auf-treten [1]. Vor allem der tiefe Quer-

stand ist diesbezüglich problematisch, da er einerseits zu einem Geburtsstill-stand führen kann und anderseits im Fall einer Entwicklung von Kopf und Schulter des Kindes durch den Ge-burtshelfer mit einer erheblichen me-chanischen Stressbelastung für Hals-wirbelsäule und Plexus brachialis ver-bunden ist.

Zusammenfassung

Das muskuloskelettale System eines Kindes besitzt gegen Ende der Schwan-gerschaft und zum Zeitpunkt seiner Geburt die Flexibilität, auf intrauterine und geburtsmechanisch assoziierte Kräft e zu reagieren. Jene Bereiche des Körpers, die unter der Geburt einer besonders exponierten Belastung aus-gesetzt sind, können im Fall eines un-günstigen oder forcierten Geburtsver-laufs mit funktionellen oder morpho-logischen Veränderungen reagieren. Davon sind im Besonderen der Schä-

del, die Halswirbelsäule und der Ple-xus brachialis betroff en. Die Osteopa-thie ist mittels ihrer manuellen Unter-suchungs- und Behandlungstechniken in der Lage, diese Zonen veränderter Mobilität in den Geweben unter der Berücksichtigung diff erenzialdiagnos-tischer Betrachtungen zu identifi zie-ren und nicht invasive Behandlungs-strategien zu entwickeln, die sich ideal mit neurophysiologischen Förde-rungs- und Behandlungskonzepten kombinieren lassen.

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Prof. (RF) Dr. Matthias BeckLeibnizstr. 772202 Nagold

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10 Im Fall einer konduktiven Leitungsstörung wäre der Muskeltonus paretisch erniedrigt.11 Trotz dieser positiven Aussicht einer Remission der Symptome erscheint eine Nihilierung der Notwendigkeit zur Intervention bei bestehender

Symptomatik ethisch kaum vertretbar.