Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

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Idyllenjäger – Gottfried Keller als Maler 9 »Guten Morgen, Maler! Haben der Maler wohl geruht?« 1 Mit diesem Ausruf wird Heinrich Lee in Gottfried Kellers Ro- man Der grüne Heinrich von der Familie seines Onkels zum Frühstück begrüßt, als ihn seine Mutter nach dem frühen Schulverweis auf das Landgut des Oheims schickt. Land- schaftsmaler will er werden. Dieser Berufswunsch festigt sich, nachdem der ambitionierte Junge die idyllischen Landschaftsdarstellungen und bukolischen Szenerien von Salomon Geßner (1730-1788) zu Gesicht bekommt. Mehr noch als die Bilder inspiriert ihn aber dessen Brief über Landschaftsmalerei, in dem Geßner einem jungen Manne in einer vergleichbaren Situation guten Rat erteilt, so dass er für Heinrich schnell zum »Propheten« 2 wird: »Ich liebte sogleich diesen Mann«, der »ebenfalls ein hoffnungsloser Schüler gewesen, indessen er auf eigene Faust schrieb und künstlerischen Beschäftigungen nachhing« 3 . Bereits in der ersten Woche seines Aufenthaltes wird Heinrich von sei- nem Onkel zum »Hofmaler« ernannt. Als »Land und Forst- mann« 4 ist er es auch, der ihn zu Studien in die umlie- gende Natur schickt, denn beherrschendes Element seiner Bildwelt ist eine skurrile und morbide Phantastik. Mit dem Zeichnen, das ihm Ruhe und inneren Frieden beschert, hat Heinrich schon im mütterlichen Haushalt begonnen. 5 Stets ist das Malen für ihn dabei mit dem Gefühl der Lie- be verbunden. Besonders nach missliebigen Situationen, wie dem erzwungenen Schulaustritt, gewinnt er so das Vertrauen und die Liebe seiner Mutter zurück. Während seines Landaufenthaltes verliebt er sich in seine Cousine Anna, eine elfengleiche Madonnenfigur, und verkündet, Landschaftsmaler werden zu wollen. Und im Hause von Judith, einer weiteren entfernten Verwandten, die in dem erwachenden Manne erste erotische Regungen wachruft, hinterlässt er Farben und Pinsel, um wiederkehren und weitermalen zu können. Schließlich trifft Heinrich am Ende seiner künstlerischen Ausbildungszeit mit Dortchen Schönfund, der Tochter eines Grafen, eine weitere Liebe, die ihn nach der trostlosen Münchner Zeit nochmals zu bewegenden Landschaftsbildern animiert. Von Gefühlen beflügelt, kann er plötzlich so malen, wie er es sich im- mer gewünscht hat. Dabei ist sein Empfinden gepaart mit einer allumfassenden Aufgehobenheit in der Natur: »War- um sollte dies nicht ein edler und schöner Beruf sein, im- mer und allein vor den Werken Gottes zu sitzen […] Wenn man nur ein einfältiges Sträuchlein abzeichnet, so emp- findet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige, weil dersel- be so gewachsen ist und nicht anders nach den Gesetzen des Schöpfers; wenn man aber erst fähig ist […] derglei- chen aus seinem Inneren selbst hervor (zu) bringen […] so dünkt mir diese Kunst eine Art wahren Nachgenusses der Schöpfung zu sein« 6 . Mit der literarischen Figur des Malers Heinrich Lee be- leuchtet Gottfried Keller (1819-1890) sich selbst, denn auch er strebte mit 15 Jahren eine Karriere als Land- schaftsmaler an. Eine Entscheidung, die ihre Quelle eben- falls in seinem spirituellen Natur- und Weltverständnis findet. Bei aller dichterischen Freiheit – Keller selbst ver- wies stets auf den fiktionalen Charakter des Romans – , viele Entwicklungen im Grünen Heinrich entsprechen den realen Gegebenheiten in Kellers Leben, über die er in Brie- fen, Tagebüchern, Skizzen- und Studienbüchern berich- tet. Auch einige der Frauenfiguren, etwa die Mutter, Anna oder Dortchen Schönfund, gehen dementsprechend auf real existierende Frauen aus seinem Leben zurück. Anna wird offensichtlich nach dem Vorbild von Henriette Kel- ler entworfen, seiner ersten großen Liebe, die bereits im Alter von 19 Jahren stirbt, und Dorothea verweist auf Bet- ty Tendering, die große Liebe seiner Berliner Zeit. Judith Andrea Fromm IDYLLENJäGER – GOTTFRIED KELLER ALS MALER Knabe mit Vögeln in einem Wald (Kinderzeichnung), 1829/30, Bleistift und Aquarell, 10,3 x 8,1 cm

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I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 9

»Guten Morgen, Maler! Haben der Maler wohl geruht?«1 Mit

diesem Ausruf wird Heinrich Lee in Gottfried Kellers Ro-

man Der grüne Heinrich von der Familie seines Onkels zum

Frühstück begrüßt, als ihn seine Mutter nach dem frühen

Schulverweis auf das Landgut des Oheims schickt. Land-

schaftsmaler will er werden. Dieser Berufswunsch festigt

sich, nachdem der ambitionierte Junge die idyllischen

Landschaftsdarstellungen und bukolischen Szenerien von

Salomon Geßner (1730-1788) zu Gesicht bekommt. Mehr

noch als die Bilder inspiriert ihn aber dessen Brief über

Landschaftsmalerei, in dem Geßner einem jungen Manne

in einer vergleichbaren Situation guten Rat erteilt, so dass

er für Heinrich schnell zum »Propheten«2 wird: »Ich liebte

sogleich diesen Mann«, der »ebenfalls ein hoffnungsloser

Schüler gewesen, indessen er auf eigene Faust schrieb und

künstlerischen Beschäftigungen nachhing«3. Bereits in der

ersten Woche seines Aufenthaltes wird Heinrich von sei-

nem Onkel zum »Hofmaler« ernannt. Als »Land und Forst-

mann«4 ist er es auch, der ihn zu Studien in die umlie-

gende Natur schickt, denn beherrschendes Element seiner

Bildwelt ist eine skurrile und morbide Phantastik. Mit dem

Zeichnen, das ihm Ruhe und inneren Frieden beschert,

hat Heinrich schon im mütterlichen Haushalt begonnen.5

Stets ist das Malen für ihn dabei mit dem Gefühl der Lie-

be verbunden. Besonders nach missliebigen Situationen,

wie dem erzwungenen Schulaustritt, gewinnt er so das

Vertrauen und die Liebe seiner Mutter zurück. Während

seines Landaufenthaltes verliebt er sich in seine Cousine

Anna, eine elfengleiche Madonnenfigur, und verkündet,

Landschaftsmaler werden zu wollen. Und im Hause von

Judith, einer weiteren entfernten Verwandten, die in dem

erwachenden Manne erste erotische Regungen wachruft,

hinterlässt er Farben und Pinsel, um wiederkehren und

weitermalen zu können. Schließlich trifft Heinrich am

Ende seiner künstlerischen Ausbildungszeit mit Dortchen

Schönfund, der Tochter eines Grafen, eine weitere Liebe,

die ihn nach der trostlosen Münchner Zeit nochmals zu

bewegenden Landschaftsbildern animiert. Von Gefühlen

beflügelt, kann er plötzlich so malen, wie er es sich im-

mer gewünscht hat. Dabei ist sein Empfinden gepaart mit

einer allumfassenden Aufgehobenheit in der Natur: »War-

um sollte dies nicht ein edler und schöner Beruf sein, im-

mer und allein vor den Werken Gottes zu sitzen […] Wenn

man nur ein einfältiges Sträuchlein abzeichnet, so emp-

findet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige, weil dersel-

be so gewachsen ist und nicht anders nach den Gesetzen

des Schöpfers; wenn man aber erst fähig ist […] derglei-

chen aus seinem Inneren selbst hervor (zu) bringen […] so

dünkt mir diese Kunst eine Art wahren Nachgenusses der

Schöpfung zu sein«6.

Mit der literarischen Figur des Malers Heinrich Lee be-

leuchtet Gottfried Keller (1819-1890) sich selbst, denn

auch er strebte mit 15 Jahren eine Karriere als Land-

schaftsmaler an. Eine Entscheidung, die ihre Quelle eben-

falls in seinem spirituellen Natur- und Weltverständnis

findet. Bei aller dichterischen Freiheit – Keller selbst ver-

wies stets auf den fiktionalen Charakter des Romans – ,

viele Entwicklungen im Grünen Heinrich entsprechen den

realen Gegebenheiten in Kellers Leben, über die er in Brie-

fen, Tagebüchern, Skizzen- und Studienbüchern berich-

tet. Auch einige der Frauenfiguren, etwa die Mutter, Anna

oder Dortchen Schönfund, gehen dementsprechend auf

real existierende Frauen aus seinem Leben zurück. Anna

wird offensichtlich nach dem Vorbild von Henriette Kel-

ler entworfen, seiner ersten großen Liebe, die bereits im

Alter von 19 Jahren stirbt, und Dorothea verweist auf Bet-

ty Tendering, die große Liebe seiner Berliner Zeit. Judith

Andrea Fromm

Idyllenjäger – Gottfried Keller als Maler

Knabe mit Vögeln in einem Wald (Kinderzeichnung), 1829/30, Bleistift und aquarell , 10,3 x 8,1 cm

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d r . a n d r e a f r o M M10 I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 11

liegt offenbar kein Pendant im gelebten Leben zugrunde,

diese Romanfigur wurde wahrscheinlich durch das Bild

Judith (1840) von August Riedel angeregt, welches Keller

im Februar 1841 im Münchner Kunstverein sah. 1878/80

setzte Keller sein lang gehegtes Vorhaben um, und stellte

eine zweite Fassung des Grünen Heinrich fertig, die für ihn

die erste ersetzte. Viele Entwicklungsstadien bringt er hier

komprimierter auf den Punkt und löst das tragische Ende

der ersten Version zugunsten einer positiven Wendung

auf: Während der gescheiterte Landschaftsmaler Heinrich

Lee in der führen Romanfassung binnen weniger Tage

aus Schuld und Scham seiner Mutter gegenüber den Tod

findet, die aus Trauer um ihren Sohn und großen finan-

ziellen Entbehrungen gestorben war, überlebt Heinrich in

der zweiten Fassung und erringt sogar die Liebe Judiths.

Im echten Leben nimmt alles noch einmal einen ganz an-

deren Verlauf: Nachdem Keller nach zwei rudimentären

Ausbildungen und einem Studienaufenthalt in München

von 1840 bis 1842 desillusioniert in seine Geburtsstadt

Zürich zurückkehrte, wo er zunächst an der Landschafts-

malerei festhielt, fand er über die politischen Dichtungen

von Anastasius Grün (1806-1876), Georg Herwegh (1817-

1875) und Ferdinand Freiligrath (1810-1876) zu seiner

Profession als Autor. Bereits 1843 begann er mit ersten

Aufzeichnungen für den Grünen Heinrich, die im Roman als

Jugendgeschichte, als Buch im Buch, erwähnt wird. Da-

mals, so ist in seiner Autobiographie zu lesen, plante Keller

»einen traurigen kleinen Roman […] über den tragischen

Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn, an welcher Mut-

ter und Sohn zugrunde gingen«7. In späteren Jahren wurde

Keller Staatsschreiber in Zürich und konnte der Mutter

und seiner Schwester Regula, die ihm nach dem Tod der

Mutter den Haushalt führte, ein wohlsituiertes Leben

bieten. Gelegentlich entstanden auch in späteren Jahren

noch Landschaftsaquarelle, die er an Freunde und Frau-

en verschenkte, in die sich der lebenslang Unverheiratete

verliebte, und in den Protokollheften, die er als Staats-

schreiber zu führen hatte, finden sich zahlreiche Land-

schaftsentwürfe und figürliche Skizzen.

Diese Zeichnungen in den frühen Skizzenbüchern und

späten Protokollheften machen deutlich, warum Keller als

Landschaftsmaler scheitern musste, denn seiner inneren

Bilder- und Phantasiewelt konnte diese Ausdrucksform

nicht genügen. In den düster blickenden Räubergestalten,

gehörnten Köpfen, geschwänzten Teufeln, ritterlichen

Minnesängern, Krüppeln, Bettlern, kämpfenden Skelet-

ten und Totenschädeln wird einerseits sein Drang zum

Erzählerischen erkennbar, andererseits kommt die Kehr-

seite der Natur, also auch das Traumhafte und Skurrile,

das Morbide und Abseitige zum Vorschein. Mehr noch, im

Grünen Heinrich baut Keller vor unseren Augen eine wah-

re Alchimistenküche auf, in der Heinrich die letzten Ge-

heimnisse lösen will. Nach der Anleitung eines theosophi-

schen Buches experimentiert er mit Wasser, Öl und Luft,

die die vier Elemente symbolisieren, und zeichnet »große

Sphären mit Kreisen und Linien […] Weltgegenden, Zo-

nen und Pole, Himmelsräume, Elemente, Temperamente,

Tugenden und Laster, Menschen und Geister, Hölle, Zwi-

Der Schnepfenkönig (Kinderzeichnung),

1829/30, Bleistift und aquarell , 10 x 8,3 cm

schenreich, die sieben Himmel, alles war toll und doch

nach einer gewissen Ordnung durcheinander geworfen«8.

Auch stellte Heinrich sich in jungen Jahren Gott als Hahn

oder Tiger vor, und die »sinnliche Natur« entwickelte sich

zu seinem »Märchen«9. Das Bizarre versuchte Keller zwar

immer wieder in seine Landschaftskompositionen einzu-

bauen, doch fand es gerade in seiner heroischen und my-

thologischen Landschaftsmalerei keinen Platz. Gespiegelt

sah er seine innere Welt in den somnambulen Traumsze-

nerien des Malerdichters E. T. A. Hoffmann (1776-1822)

und Jean Pauls (1763-1825). Neben Shakespeare, Goethe

und Schiller, Tieck, Wackenroder und Novalis, Eichendorff,

Uhland, Heine, Walter Scott und möglicherweise auch

Lord Byron, der zu den meist gelesenen Autoren der da-

maligen Zeit gehörte, beeinflussten sie Keller maßgeblich.

Hätte er sich in seinem malerischen Bestreben mehr auf

figürliche Darstellungen konzentriert, wäre es ihm mögli-

cherweise gelungen, auch in der Malerei einen Ausdruck

für seine inneren Gestalten zu finden. Jedoch wäre er in

seinem Bestreben seiner Zeit um ein Vielfaches voraus ge-

wesen. Der Symbolismus begann erst um 1880, und außer

dem Schweizer Historienmaler Johann Heinrich Füssli

(1741-1825), gab es für diese Form der Kunst so gut wie

keine Vorbilder. Füssli, der in England lebte und die Welt

der Träume, Visionen und des Grauens thematisierte, wur-

de durch Gespenstergeschichten und den späteren Kon-

takt zu William Blake (1757-1827) angeregt. Da die Natur

für Keller Projektionsfläche innerer Vorgänge blieb, konn-

te er das Figürliche als Ausdrucksform aber auch niemals

wirklich ernsthaft in Betracht ziehen. Mit Verwunderung

stellt dies auch Heinrich im Grünen Heinrich fest, als er am

Ende seiner Münchner Zeit anatomische Studien nach der

Figur des Borghesischen Fechters macht.

Ohne Titel (Promenierende Damen) (Kinderzeichnung), um 1829/30, Bleistift und aquarell , 8 x 10 cm

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d r . a n d r e a f r o M M12 I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 13

Der Maler Keller und der Dichter Keller existierten und

entwickelten sich dabei parallel und speisten sich aus

den gleichen Quellen. Nicht zuletzt zeigen das seine lite-

rarisch-poetischen Bildentwürfe, mit denen er seine

Kompositionen in Skizzenbüchern dokumentiert. Spätes-

tens hier wird erkennbar, dass Keller der Schriftstellerei

immer schon zugeneigt gewesen ist, sie aber nie als be-

rufliche Perspektive in Erwägung gezogen hat. Insofern

musste er als Maler versagen, um sich der Schriftstelle-

rei zuwenden zu können. Möglicherweise erschien ihm

ein Dasein als Schriftsteller auch nicht als ehrbarer oder

lukrativer Beruf, obgleich seine frühe Einschätzung über

den Beruf des Landschaftsmalers nicht besser ausfällt. In

seinem frühen dramatischen Entwurf Der Freund (1838)

bezeichnet er Landschaftsmaler als »Tagediebe, die nur

des Genusses willen leben, Idyllenjäger voll Abendroth

u. Mondschein!«10 Allerdings charakterisiert Keller mit

diesem Ausspruch die Vedutenmalerei seiner Zeit, die in

ihm abschätziges Missbehagen auslöste. Waren es für ihn

doch nur schnell und billig hingeworfene Massenproduk-

tionen, die die Fremdenverkehrsindustrie bedienten. Statt

Postkarten erwarben die Touristen damals Veduten, Land-

schaftsaquarelle oder kolorierte Umrissstiche, die in Mas-

se produziert wurden. Der Landschaftsmaler David Heß,

der zusammen mit Salomon Geßner zu den Begründern

der Schweizer Landschaftsmalerei gehört, verlieh ihnen

angesichts dieser Situation den pejorativen Beinamen

»Geographieillustrierer!«11. Keller hatte demgegenüber in

Öl gemalte Seelen- und Ideenlandschaften im Kopf, wenn

er von Landschaftsmalerei sprach. Verwirklicht sah er sie

in den klassizistisch-ideellen Landschaften Josef Anton

Kochs (1768-1839), Carl August Reinhardts (1818-1877) und

den Stimmungslandschaften Carl Rottmanns (1797-1850),

die in ihrer Anmutung mit den nordischen Romantikern

Caspar David Friedrich oder Philipp Otto Runge vergleich-

bar sind.

Kopfweide, 1835,

Bleistift und aquarell , 20,0 x 15,8 cm

Eine erste Begegnung mit einem Wandertheater, das im

Militärstall an der Bärengasse im Oktober 1832 Die Zauber-

flöte aufführte, hinterließen bei Keller, der dort als Statist

mitwirkte, tiefen Eindruck und führten zu ersten maleri-

schen und dichterischen Versuchen. »Als ich im dreizehn-

ten Jahr mit Nachbarssöhnchen die üblichen Puppen-

spiele betrieb und die Stücke zu fehlen begannen, erfand

und schrieb ich ohne Anstoß sofort eine Anzahl kleiner

Dramen, zu denen ich gleich die Szenerien herstellte«12.

Aufführungen der Jugenddramen, für die er auch Kulissen

anfertigte, fanden bei Nachbarskindern oder im eigenen

Zimmer statt. Neben Prosa und Gedichten entstanden in

der Zeit von 1832 bis 1838 u.a. Der Hexenbund, Fernando und

Bertha oder Geschwistertreue sowie die unvollendete Tragö-

die Der Tod Albrechts, des römischen Kaisers und der drama-

tische Entwurf Der Freund. Die Dekoration für die damals

ebenfalls entworfene »Teufels- und Höllenkomödie« mit

dem Titel Fridolin oder der Gang nach dem Eisenhammer be-

stand »ganz aus feurigen Wänden mit einem dunklen

Höhleneingange […], bekleidet mit Totengerippen«13.

Im Nachlass von Gottfried Keller haben sich drei frühe

Aquarelle erhalten, die er als Zehnjähriger für ein selbst-

verfertigtes Kinderbuch malte, und die bereits auf sein

Talent hinweisen. Auf eindrucksvolle Weise formuliert er

hier schon innere Vorgänge, die auch im Erwachsenenal-

ter seine großen Lebensthemen blieben: Natur und Magie,

Phantastik und Groteske sowie unerfüllte Verliebtheiten.

Alle drei Zeichnungen gehören dabei zu einer Bilderfolge.

In Knabe mit Vögeln in einem Wald (1829/30) stellt er einen

Jungen dar, der von Raben und Eulen verfolgt durch den

Wald flieht. Bei der Darstellung handelt es sich um eine

Adaption der Legende vom Heiligen Meinrad, bei der sich

der Knabe in der Rolle des Mörders zeigt. Meinrad, der sich

als Mönch in eine Einsiedelei im Wald nahe dem Zürich-

see zurückzog, wurde dort 861 erschlagen. Die Täter wur-

BegInn der ArBeIt. HABersAAt und seIne scHule –

Kindheit und Ausbildung bei Peter Steiger

Scheuchzerhaus in Glattfelden, 1834. Bleistift, 22 x 36 cm

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I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 15

den von Meinrads Raben bis nach Zürich verfolgt, ihres

Verbrechens angeklagt und hingerichtet. Wie der Knabe

trägt auch die phantastisch-groteske Figur in der zwei-

ten Zeichnung Schnepfenkönig (1829/30) einen gelben Frack

und eine rote Weste. Sie hat stelzenartige Beine, einen lan-

gen, kräftigen Schnabel, trägt eine Krone und ist mit einer

Keule bewaffnet. Krone und Keule zeichnen sich auch bei

dem Knaben mit Vögeln im Wald ab: die Krone an dem mit

Federn geschmückten Hut, die Keule in der rechten Hand.

Zudem wachsen ihm auf dem Rücken Flügel. In Analogie

zu den beiden Strophen auf der Rückseite14, verwandelt

sich der Knabe mit Hilfe seines Zauberhutes gerade in den

wehrhaften Schnepfenkönig. Keller, der die Wiederverhei-

ratung der Mutter 1826 als Liebesverrat empfand15, lebt in

diesen Selbstdarstellungen »Allmachtsphantasien«16 aus.

Durch die Metamorphose zum Schnepfenkönig kann er

sich gegen die Situation wehren und bleibt in seiner Meta-

morphose als Vatermörder unerkannt, wodurch er seiner

Bestrafung entgeht. Das wegweisende Trauma der uner-

füllten Liebe zur Mutter zeigt sich in auch in der dritten

Zeichnung, in der der Schnepfenkönig zwei attraktiven

Damen in biedermeierlichen Kleidern begegnet. Er muss

ungeliebt bleiben, da sein absonderliches Äußeres - das

Antlitz ist vogelähnlich - Liebe unmöglich macht. Darüber

hinaus mag in diesen frühen Phantasien bereits der Drang

verborgen liegen, seiner Mutter und auch seinen Lehrern

zu zeigen, dass er die »Normen der Umwelt«17 sprengen

kann. Möglicherweise entschloss sich Keller auch des-

halb im Alter von 15 Jahren, nachdem er die Schule we-

gen der Teilnahme an einem Schüleraufstand gegen einen

unbeliebten Lehrer verlassen musste, Landschaftsmaler

zu werden. Er wollte sowohl seinem Naturgefühl Aus-

druck verleihen, der unbewussten dauernden »Phantasie-

beschäftigung mit dem symbolischen Ersatz des Mutter-

leibes«18, als auch Liebe und Anerkennung erringen.

Während sich Keller bei seinem Onkel in Glattfelden auf-

hielt, bemühte sich seine Mutter um einen geeigneten

Lehrmeister für Landschaftsmalerei. Diese stand im Ver-

gleich zur Historien - oder Genremalerei in der damaligen

Schweiz im Vordergrund des Interesses. Dennoch war die

Findung eines Ausbildungsplatzes nicht einfach, da Zürich

um 1830 noch eine Kleinstadt mit etwas mehr als zehn-

tausend Einwohnern war, in der die Kunst nur wenig oder

gar nicht gefördert wurde. Immerhin gab es seit 1787 eine

Künstlergenossenschaft und seit 1799 fanden alljährlich

Kunstausstellungen statt. Die Mutter gelangte schließlich

an den Maler, Drucker, Lithographen und Kupferstecher

Peter Steiger (1804-1874), bei dem Keller sich von Sep-

tember 1834 bis zum Sommer 1836 als billige Arbeitskraft

verdingen musste. Steiger lebte mit Frau und Tochter am

Züricher Predigerkirchhofe und unterhielt eine Werkstatt

für Flachmalerei, in der kolorierte Kupferstiche und Aqua-

relle von Schweizer Ansichten für die Tourismusbranche

hergestellt wurden. Ob sie auch Verbindungen zu renom-

mierten Schweizer Vedutenkünstlern aufgenommen hat-

te, kann nicht nachgewiesen werden. Möglich gewesen

wären Johann Ulrich Burri (1802-1870), Johann Heinrich

Reutlinger (1802-1868) oder Johann Jacob Meyer (1787-

Föhre, 1836, Bleistift und aquarell , 23,9 x 20,7 cm

Eberjagd (Der Paffe), um 1836/37, erstes skizzenbuch, Bleistift und aquarell , 20,5 x 17 cm

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I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 17

1858), der damals zu den besten Landschaftsmalern der

Schweiz gehörte. Nicht in Betracht kamen Johann Jacob

Wetzel (1781-1834), der bereits 1834 starb, Johann Jakob

Ulrich (1798-1877), der sich in Paris aufhielt, oder Jakob

Wilhelm Huber (1787-1871), der in Neapel und Pompeji

arbeitete.

Wie Gottfried Keller über Peter Steiger gedacht haben

mag, lässt sich der Figur des Meister Habersaat aus dem

Grünen Heinrich ablesen. Dort wird der Meister unverhoh-

len als Scharlatan und Pfuscher charakterisiert, der einen

»wunderlichen Kunstspuk«19 betreibt und seine Lehrlinge

und Angestellten finanziell und existentiell ausbeutet.

Heinrich erhält weder technische Anleitung noch das er-

forderliche Naturstudium. Immerhin, unter Habersaats

Vorlagen findet er Blätter bedeutender Künstler wie Clau-

de Lorrain (1600-1682), Salvator Rosa (1615-1673) oder Ja-

cob Ruisdael (1629-1682), die die Landschaftsmalerei des

18. und 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflussten, und

deren Vorlagen er mit Tusche kopiert. Bereits von seinem

Onkel erhielt Heinrich eine Mappe mit Arbeiten von Geß-

ner, Anthonie Waterloo (1609-1676) und Carl August Rein-

hardt (1818-1877), wobei eine Radierung von Reinhardt

besonderen Eindruck hinterlässt. Zudem beschäftigt sich

Heinrich mit Denis Diderots (1713-1784) Versuch über die

Malerei, ein wegweisendes Buch, das sich auch im Reise-

gepäck Kellers befand.

Durch den nicht stattfindenden Unterricht blieb Keller

weit hinter seinen künstlerischen Möglichkeiten zurück

und sein Autodidaktentum brach sich weiterhin Bahn in

einer eigentümlichen Phantastik, die sich nicht selten in

Form von fratzenartigen Baumstämmen und Felsen zeig-

te. Auch im Grünen Heinrich geht der Titelheld mit einer

»unseligen Pinselgewandtheit«20 vor, die jegliche »Na-

turwahrheit« vermissen lässt, und die er als sonderbar

und krankhaft einstuft: »Er [Habersaat] ermunterte mich,

hohle, zerrissene Weidenstrünke, verwitterte Bäume und

abenteuerliche Felsgespenster aufzusuchen mit den bun-

ten Farben der Fäulnis und des Zerfalls […] Doch die Na-

tur bot sie mir nur spärlich«21. So fertigt er Zeichnungen

nach eigener Erfindung an und kreiert neben »wunderli-

chen Landschaftsstudien« noch viel wunderlichere Men-

schen.22 Der Onkel in Glattfelden, der ihn immer wieder

zu naturnahen Skizzen auffordert, deckte den Schwindel

wahrscheinlich auch im realen Leben Kellers auf, wie an

der detailgetreuen Bleistiftskizze des Scheuchzerhauses mit

seiner nächsten Umgebung zu sehen ist, die wahrschein-

lich im Herbst 1834 entstand. Eine Brücke führt über die

Glatt, die damals noch in nächster Nähe des Hauses floss.

Das Haus seines Onkels, das 1956 abgerissen wurde, ist

hinter hohen Bäumen versteckt. Rechts wird die Vorder-

front der Mühle sichtbar, im Hintergrund eine Kirche und

Fechtende Skelette / Totenschädel, um 1836/37, erstes skizzenbuch, Bleistift, 20,5 x 17 cm

Der Landschaftsmaler in Nöten (Der geplagte Landschaftsmaler),

um 1836/37, erstes skizzenbuch, Bleistift, 20,5 x 25,9 cm

Page 6: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 19Eiche, 1836, Bleistift und aquarell , 25 x 18,7 cm

weitere Häusergiebel. Obwohl Keller in den Wäldern am

Zürichberg nach der Natur arbeitete, am Wolfbach, an der

Sihl und der Glatt, wo er Rotbuchen und Eichen, Föhren

(Waldkiefern), Weiden, Erlen, Eschen, Pappeln, Linden und

Birken, Bärenklau, Brennnesseln, Huflattich und Sauer-

ampfer sowie Baumwurzeln, Steine und Felsen an Bach-

betten malte, blieb das Phantastische und Bizarre prägen-

des Charakteristikum der Zeichnungen der Steiger-Zeit.

Die aquarellierte Bleistiftzeichnung Kopfweide von 1835

zeigt einen naturfremden, ausgehöhlten Baumstamm,

aus dem Zweige sprießen, die ihn bekrönen. Ähnlich

überspannt und seltsam erscheint auch die Föhre in ei-

nem anderen Aquarell vom Juli 1836. Die Rinde wie die zu

zwei Seiten ausgerichteten Äste und die üppige Baumkro-

ne schaffen einen anthropomorphen Duktus. Ein falscher

Einsatz des Lichts lässt die Äste hell und geschält erschei-

nen. Das Aquarell Eiche (1836) entbehrt durch Standort,

Wuchs und Ausformung von Ästen und Blätterkrone

ebenfalls elementarer Naturnähe. Auch zwei im Sommer

1837 am Wolfbach entstandene Aquarelle, Baumwurzeln

am Bachbett und Felsblöcke am Bachbett weisen deutliche

Spuren des Grotesken auf.

Offenbar begann Keller während seiner Ausbildung bei

Steiger auch mit den verstiegenen und skurrilen Zeichnun-

gen in seinen Skizzenbüchern, von denen im Grünen Hein-

rich berichtet wird: »Die Frauensleute hingegen ärgerten

sich über meine Vagabunden, Kesselflicker und Fratzen-

gesichter«23. Tatsächlich zeichnete er Bettler, Vagabunden,

Fratzengesichter, Kesselflicker und die ehrbare Welt von

Rittern und Minnesängern. Beeinflusst durch die Dichtung

Sir Walter Scotts (1771-1832) taucht auch »Ministrel« in

seiner Bilderwelt auf, ein ehrwürdiger, lang-bärtiger Greis

mit Lockenhaar, federgeschmücktem Barett, Schwert und

Laute. Bei der Eberjagd wird ein Kleriker von Bauernbur-

schen mit einer Frau im Wald ertappt und verprügelt, und

ein nacktes Kind, welches auf einem Baum sitzt, pinkelt

ihm auf die Glatze. Ein Beleg für die Antipathie, die Kel-

ler dem Pfaffentum seit dem frühen Kindesalter entgegen

brachte, und die sich auch Jahre später in Teufelpfaff (1845)

demonstriert, einer Türbemalung Kellers in Glattfelden.

Besonders possenhaft sind ein Totenkopf mit Leiter, aus

dessen Augen ein Mann heraustritt, der eine Narrenkap-

pe trägt, und zwei gegeneinander antretende Skelette mit

riesigen Schädeln: Das eine gestiefelt und gespornt mit

Säbel, das andere mit Höckerschädel, Entenbein und ei-

nem platt gedrückten Kopf. Einst hatte Keller in der Nacht

auf dem Züricher Krautgartenfriedhof einen Totenschädel

geraubt, nach dem er anatomische Studien fertigte.24 Auf

diesen Schädel nimmt Keller in der Zwiehahn-Episode in

der zweiten Fassung des Grünen Heinrich Bezug und schil-

dert, dass Heinrich von Anfang bis Ende seiner Reise das

an Hamlet gemahnende Memento mori mit sich führt:

»Dieser Schädel diente seit einiger Zeit zur Zierde meiner

Arbeitskammer, sowie auch zum angehenden Studium

der menschlichen Gestalt […] Ich hatte den Überrest in der

Ecke eines Friedhofes bemerkt […] es war der Schädel ei-

nes jungen Mannes und wies noch alle Zähne auf«25. Auch

fand Keller beim Spielen mit Freunden auf dem Dachbo-

den als Kind das anonyme Kinderporträt Das Meretlein. Es

zeigt ein Mädchen mit einem Totenkopf, das später in die

Meretlein-Episode im Grünen Heinrich eingeht. Mit dieser

»Knochenromantik«, in der »sogar leblose Gegenstände,

wie Meerschiffe […] skelettiert […] auf dem Meere als To-

tenschiff spuken«26, spielt Keller einmal mehr auf die Li-

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Baumwurzeln am Bachbett, 1837,

Bleistift und aquarell , 17,1 x 14 cm

Felsblöcke im Bachbett, 1837,

Bleistift und aquarell , 18,7 x 14,9 cm

Huflattich, 1935, Bleistift und aquarell , 14,3 x 20,8 cm

teratur der englischen Romantik an. Der Gedanke an »das

fliegende Gerippe einer Krähe«, dessen »Schatten […] über

Heinrichs Seele lief«27, weist er aber auch auf tief sitzende

Ängste hin, die nicht zuletzt in Bezug zu seiner Malerexis-

tenz stehen. Vermutlich 1836 entstand die Zeichnung Der

Landschaftsmaler in Nöten. Sie zeigt einen Künstler, der an

einem auf der Staffelei stehenden gerahmten Ölbild malt.

Maler und Bild sind über und über mit Teufeln besetzt,

wobei einer sogar in das Bild hinein malt. Immer wieder

finden sich aber auch frühe dichterische Entwürfe in den

Skizzenbüchern, wie Eine Nacht auf dem Uto von 1836/37,

einer gedichteten Bildkomposition, in der Keller seinem

heroischen Landschaftsempfinden Ausdruck verleiht. Als

Schlussvignette malt er sich selbst auf dem Berg liegend,

rechts geht die Sonne auf, links der von einer Sichel be-

krönte Mond unter.

Wie im Roman beschrieben, verließ Keller Steiger wahr-

scheinlich schon vor Beendigung des zweiten Lehrjahres

und richtete sich in der Dachkammer des mütterlichen

Hauses ein Atelier ein. Wie aus seinen Skizzenbüchern

hervorgeht, schrieb er in der darauf folgenden, fast ein-

jährigen Malpause viel. Wenn er zeichnete, benutzte er

Materialien wie Kohle und Kreide. Zudem fand eine the-

oretische Auseinandersetzung mit dem 1822 erschienen

Kunstgespräch in der Alphütte von David Heß statt, das ne-

ben Geßners Ausführungen über die Landschaftsmalerei

zu seiner Bibel wurde.28 In Aufzeichnungen von 1835 be-

schäftigt er sich darüber hinaus mit ziehenden Wolken,

die er von seinem Dachfenster aus gut beobachten konn-

te, und machte sich Notizen über Hauptformen und ihre

durchschnittliche Größe.

Teufelpfaff, 1845, Pinsel auf tannenholz

(fragment einer türfüllung in Glattfelden),

39 x 41 cm

Page 8: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 23

Sein Zusammentreffen mit Rudolf Meyer (1803-1857), sei-

nem zweiten Lehrer, schildert Keller im Roman Der grüne

Heinrich als göttliche Fügung. Tatsächlich legten die Monate

des Unterrichts bei Meyer von Juni 1837 bis März 1838 die

wesentlichen Grundlagen seiner künstlerischen Ausbil-

dung. Im Roman wird Meyer, der sich zu Studienzwecken

häufig in Paris und Italien, dem Mekka der Landschafts-

malerei, aufhielt, mit dem Namen »Römer« verewigt, un-

ter dem er damals in Zürich wohl auch bekannt war. Als

Römer wird er im Grünen Heinrich ebenfalls zum Steiger-

Adepten. Tatsächlich studierte Meyer bei Johann Jacob

Wetzel (1781-1834) in Zürich, der in den 1820er Jahren ein

Ansichtenwerk über die Schweizer Seen veröffentlichte,

und anschließend bei Gabriel Lory Vater (1763-1840) und

Gabriel Lory Sohn (1784-1846) in Bern, die in der Aquarell-

vedute tonangebend waren. Neben François Diday (1802-

1877) gehörten sie zu den führenden Landschaftsmalern

der Schweiz. Diday hatte zusammen mit seinem Schüler

Alexandre Calame (1810-1864) Mitte der 1830er Jahre in

Genf das erwachende Zeitalter des Alpinismus und der

wilden Romantik des Hochgebirges in die Malerei einge-

bracht. Am 17. Juni 1835 hatte Keller vermutlich in einer

Kunstausstellung Bilder Didays und Calames gesehen, die

er im Grünen Heinrich zum Ideal erhebt. Meyer, der unter

Schizophrenie und Verfolgungswahn litt, wanderte nach

dem Unterricht nach Bern und Lausanne weiter. 1845 wur-

de er endgültig in ein Züricher Spital aufgenommen, wo

er 1857 starb. Für Meyer stand die realistische Naturbeob-

achtung im Vordergrund seiner Arbeit. Er ging mit Keller

in die freie Natur, unterrichtete ihn in Perspektive, Licht-

und Schattenwirkung, unterwies ihn in der Aquarellmale-

rei, ließ ihn nach seinen Vorlagen kopieren und regte ihn

zu eigenen Kompositionen an. Wie im Roman berichtet,

greift Römer schroff in Heinrichs Zeichnungen ein, um

jede Regung von Phantastik zugunsten einer reinen Na-

turbeobachtung zu unterbinden. Schonungslos übermalt

er die Bildstellen mit Bleistift und kritisiert den anmaßen-

den Spiritualismus. Mit dem Landschaftsideal Reinhardts

oder Rottmanns, die für Keller zum Inbegriff seiner Land-

schaftsauffassung wurde, hatte Römer wenig im Sinn. Im

Grünen Heinrich warnt er seinen Schüler Heinrich sogar

vor der klassisch-ideellen Landschaftsdarstellung, da er

die künstlerische Neigung seines Eleven deutlich spürt:

»Solche Bilder sehen aber eher wie geschriebene Gedichte

[…] aus […] Wenn sie in Rom wären und die Arbeiten des

alten Kochs oder Reinhardts sähen, so würden sie, Ihrer

deutlichen Neigung nach, sich entzückt den alten Käu-

zen anschließen; es ist aber gut, daß sie nicht dort sind,

denn dies ist eine gefährliche Sache für einen jungen

Künstler. Es gehört dazu […] ein großer Stil, welcher nur in

dem Werte einer ganz reichen Erfahrung bestehen kann

[…] und mit allem diesem ist man erst zu einer ewigen

Sonderlingsstellung und Armut verdammt, und das mit

Recht, denn die ganze Art ist unberechtigt und töricht!«29

Auch als Heinrich seine Sehnsucht nach »guter Leinwand

und Ölfarben«30 ausspricht, tadelt ihn der Lehrer, dass

er sich offenbar »zu etwas Höherem berufen fühle«31. Er

selbst benötigt zur reinen »Künstlerschaft« nur »weißes

Papier« und »englische Farbtäfelchen«. Die Diskussion um

Aquarell- oder Ölmalerei gehörte damals zur Tagesord-

nung. Am Ende des 18. Jahrhunderts gewann die Aqua-

rellmalerei besonders durch die Reiseaquarelle William

Turners (1775-1851) an Einfluss, da sie einen schnellen

Herstellungsprozess, niedrige Materialkosten und gute

Absatzmöglichkeiten versprach. Wie ein Brief an den Ju-

gendfreund Johann Müller vom 20. Juli 1839 verrät, malte

Keller bereits in Zürich in Öl. Das früheste bekannte Ölge-

mälde, Well- und Wetterhorn, ebenfalls nach einer Vorlage

eIn Wunder und WIrklIcHer MeIster –

Unterricht bei Rudolf Meyer

An der Sihl, 1837, Bleistift und aquarell , 28,7 x 22,6 cm

Page 9: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

d r . a n d r e a f r o M M24 I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 25

von Meyer gefertigt, entstand 1840. Deutliche Fortschritte

des Meyer-Adepten, was die konkrete und strenge Natur-

beobachtung betrifft, zeigen sich in den Aquarellen und

eigenen Kompositionen wie An der Sihl und Ziehbrunnen

auf dem Stock in der Enge, die Keller im August 1837 fer-

tigte und mittels einer Bleistiftzeichnung vorbereitete.

Denn Keller malte sowohl bei seinen Aquarellen, als auch

seinen Ölbildern niemals alla prima. Beim ersten Bild hat

Keller seinen Standort unterhalb der heutigen Gänziloo-

brücke in der Gemeinde Enge eingenommen, den Blick

flussaufwärts nach Südwesten gewendet. Im Hintergrund

erscheinen Uetliberg mit Albiskette mit Fallätsche. Die

linke Bildhälfte mit dem Engemer Hölzli ist nach Bruno

Weber jedoch freie Zutat, wie auch der anthropomorph

gebildete Felsen, der auf frühere Entwürfe zurückgeht. Die

zweite Komposition stellt den Eichberg in Enge dar, der

sich am Westhang des Moränenhügels an der Sihl bei Bru-

nau befindet. Am Ziehbrunnen ist deutlich zu erkennen,

dass Keller mit Licht und Schatten experimentiert und die

Wirkung des Schlagschattens einsetzt. Das Aquarell Aga-

ve mit Ruine kopierte Keller nach einer Vorlage von Meyer

und übernahm dessen große Genauigkeit in der Naturbe-

obachtung. Keller, der selbst nie nach Italien gereist war,

läßt seinen Protagonisten im Grünen Heinrich die folgenden

Sätze denken: »Durch diese Beschäftigung war ich wun-

derlicherweise im Süden weit mehr heimisch geworden,

als in meinem Vaterlande. Da die Sachen, nach welchen

ich arbeitete, alle unter freiem Himmel und sehr trefflich

gemacht waren, auch die Erzählungen und Bemerkungen

Römers fortwährend meine Arbeit begleiteten, so ver-

stand ich die südliche Sonne, jenen Himmel und das Meer

beinahe, wie wenn ich sie gesehen hätte«32. Zurück in die

Realität: Keller absolvierte bei Meyer viereinhalb Mona-

te bezahlten Unterricht, bevor dieser 1838 das Verhältnis

löste. Wie aus einem Brief an Meyer hervorgeht, war die

Unterrichtszeit de facto allerdings kürzer, da Keller immer

nur halbe Wochen Unterricht hatte und vor Neujahr meh-

rere Wochen zu Hause geblieben war. Deshalb forderte

Keller von Meyer nach Gesprächen mit der stets besorgten

und sparsamen Mutter Geld zurück, was die Beziehung

aber nicht belastete, wie aus einem Brief Meyers vom 27.

Mai 1838 hervorgeht. Im Grünen Heinrich allerdings erhält

Heinrich von Römer einen bitterbösen Abschiedsbrief. Am

17. Mai 1938 war Keller zum ersten Mal mit zwei Land-

schaftsdarstellungen auf der Kunstausstellung der Künst-

lergesellschaft in Zürich vertreten, wo er die nach Meyer

kopierte Landschaft Ansicht des Wetterhorns nach R. Majer

zeigte. Beide Werke sind nicht erhalten. Konstatiert wer-

den kann, dass Keller Meyer sein gesamtes künstlerisches

Wissen zu verdanken hatte, mit dem er letztlich auch in

München operierte. Die Bilanz des Meyer-Unterrichts fällt

im Romankontext dementsprechend aus: »Ich hatte bei

Römer einen entscheidenden Fortschritt gemacht, mein

ganzes Können und meinen Blick erweitert, und es war

gar nicht zu berechnen und schon gar nicht mehr zu den-

ken, wie es ohne dies alles mit mir hätte gehen sollen«33.

Dennoch, und dies beschreibt Keller ebenfalls im Grünen

Heinrich, übertünchen Skurrilität und Romantik immer

wieder die realistische Naturanschauung. Diese Verknüp-

fung von romantischer Empfindung und realistischer

Betrachtung, durch die sich Kellers Malerei auszeichnet,

schlägt sich später auch in seiner Dichtung nieder. Mögli-

cherweise trug Meyer, der als Römer bereits 1838 in dem

frühen dramatischen Entwurf Der Freund als Maler auftritt,

entscheidend zur literarischen und poetischen Selbstfin-

dung bei, die parallel zur Malerei verlief, ohne dass Keller

ein besonderes Augenmerk darauf legte.

Kopfweiden, 1837, Bleistift und aquarell , 29,2 x 22 cm

Nach dem Fortgang Meyers wendete sich Keller der Lek-

türe von Hauff, Balzac, Hugo, Goethe und Shakespeare zu.

Schnell zog es ihn aber schon bald wieder in die umliegen-

de Natur, wo bedeutende Kompositionen angeregt wurden.

Mit dem Bild Kirchhof von Richterswil (1838) setzt er seiner

Jugendliebe Henriette Keller ein Denkmal, die am 14. Mai

1838 im Alter von nur 19 Jahren an Lungentuberkulose in

Zürich starb. Im zweiten Skizzenbuch verweist ein weite-

rer Eintrag und das Gedicht Das Grab am Zürichsee (1838)

ebenfalls auf den Tod der nicht mit Keller verwandten und

teilweise in Kellers Elternhaus wohnhaften jungen Frau:

»Den 14ten Mai 1838. Heute starb Sie!« Keller, der ihr sei-

ne Gefühle nicht offenbart hatte, hielt auch mit dem Bild

die Erinnerung wach, auf dem er ihre frische, mit weißen

Rosen und einem Anker geschmückte Grabstätte abbildet,

die sie sich mit ihrem Großvater teilt. In Schneemassen

erstickt, erstarren seine Gefühle, Bäume und Natur wer-

den zu Eis. Über der 1905 abgebrochenen Dorfkirche und

dem 1472 errichteten barocken Turm wird der Blick auf

den Zürichsee, auf Berge und Himmel freigegeben. Mit

dem Bild Staubbach (1838) lehnt sich Keller an die Darstel-

lungen des Alpinismus von Diday und Calame an. Hinter

einer grünen Alm mit Wiesen, Bäumen und Alphütte er-

hebt sich ein monumentales Gebirgsmassiv. Das Brücken-

motiv Herrenwiesbrücke (Teufelsbrücke) von 1840 verweist

auf die Zukunft, denn im gleichen Jahr brach Keller zu

seinem Studienaufenthalt nach München auf. Die Brücke,

die sich als steinernes Monument über die Glatt zwischen

Bülach und Glattfelden erhebt, ist ein letztes Bild seiner

Heimat und versinnbildlicht möglicherweise die Überwin-

dung von inneren Unwägbarkeiten. Obwohl im Roman der

Rhein gemeint ist, könnte eine Passage im Grünen Heinrich

dieses Bild beschreiben: »Etwa fünf Stunden später fuhr

ich über eine lange hölzerne Brücke. Als ich mich aus dem

Schlage bog, sah ich einen starken Strom unter mir da-

her ziehen, dessen an sich klargrünes Wasser, das junge

Agave mit Ruine (Kopie nach Rudolf Meyer), 1838, Bleistift und aquarell , 20,8 x 27,6 cm

Page 10: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 27

Buchenlaub, das die Uferhänge bedeckte, sowie die tiefe

Bläue des Maihimmels vermischt widerstrahlend […] daß

der Anblick mich wie ein Zauber befiel«34. Längst beseelt

von einer idealen Landschaftsmalerei á la Rottmann, die

er in München zu vervollkommnen suchte, kann von ei-

ner genauen Naturbeobachtung auch im Hinblick auf

diese letzten Züricher Bilder nicht die Rede sein. Sinn der

Kunst, so schreibt Keller in einem Brief vom 14. Mai 1838,

sei das Ideal: »Schöne Kunst ist diejenige, die das hohe

Ziel hat, die Menschheit zu veredeln, ihr das Schöne, Wah-

re, Erhabene zu zeigen, ihren Sinn für die Natur zu we-

cken, das Laster in seiner ganzen Häßlichkeit darzustellen

– mit einem Worte, den Menschen auf den Punkt zu erhe-

ben, für den ihn der Schöpfer bestimmt hat«35. Mit dem im

Frühjahr vom Onkel Scheuchzer ausbezahlten väterlichen

Erbe in Höhe von 150 Gulden machte sich Keller im April

1840 auf den Weg nach München.

Staubbach, 1838, Bleistift und aquarell , 28,1 x 21,6 cm

Kapelle, 1838, Bleistift, 22,5 x 26,3 cm

Kirchhof von Richterswil, 1838, Bleistift und aquarell, 16,4 x 24,5 cm

Herrenwiesbrücke (Teufelsbrücke) über die Glatt zwischen Bülach

und Glattfelden, 1840, Bleistift und aquarell , 36 x 32,8 cm

Ziehbrunnen auf dem Stock in der Enge, 1837, Bleistift und aquarell , 29,3 x 22,5 cm

Page 11: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 29

Mit Sehnsucht blickte Keller damals wie viele andere

junge Künstler im provinziellen Zürich auf die deutsche

Kulturmetropole München, wo sich unter König Ludwig I.

eine Kunstentwicklung nach dem Vorbild der italienischen

Renaissance vollzog, die München zur wichtigsten Kunst-

metropole im 19. Jahrhundert werden ließ. Dem Künstler

kam bei diesem Unternehmen eine herausragende Stel-

lung zu, war er doch Konstrukteur dieses neuen Zeitgeis-

tes, der das Bild der Stadt und die Vorstellungen von Kunst

und Poesie entscheidend prägte. Auf seinen Reisen nach

Italien und Rom konnte Ludwig deutschstämmige Künst-

ler für seinen Traum eines verklärten, antiken München

begeistern: Einerseits die Nazarener Peter von Cornelius

(1783-1867), Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) und

Johann Friedrich Overbeck (1789-1869), die sich in ihrer

Kunst der katholischen Seite der Romantik hingaben, an-

dererseits die großen Bildner der Ideal- und Stimmungs-

landschaften Josef Anton Koch (1768-1839), Johann Chris-

tian Reinhardt (1761-1847) und Carl Rottmann (1797-1850).

In Italien erwarb er aber auch Werke für seine Antiken-

sammlung, für die Leo von Klenze (1784-1864), der Archi-

tekt des Münchner Klassizismus, als Aufbewahrungsort

1830 die Glyptothek fertig stellt, deren Räume von Cor-

nelius mit mythologischen Szenen ausgemalt wurden,

und die mit den später erbauten Propyläen und der Neu-

en Staatsgalerie ein Ensemble bildete. Hier hielt Ludwig

seine Abendgesellschaften ab, und führte seine Gäste im

Fackelschein durch die Säle. Mit seinem »verhüllten To-

tenkopf in der Hand«36 kommt Heinrich im Grünen Heinrich

ebenfalls am Abend in München an und beschreibt den

Glanz der gelobten und neu gestalteten Stadt: »Da glühten

im letzten Abendscheine griechische Giebelfelder und go-

tische Türme; Säulenreihen tauchten ihre geschmückten

Häupter noch in den Rosenglanz, helle gegossene Erzbil-

der, funkelneu […] indessen bemalte offene Hallen schon

durch Laternenlicht erleuchtet waren«37. Als Ausdruck

seiner romantischen vaterländischen Gedanken und sei-

nes Widerstandes gegen Napoleon plante Ludwig bereits

1807 ein Walhalla, ein monumentales Denkmal zu Ehren

deutscher Geistesgrößen. In diesen Rahmen gehört auch

das Dürerfest mit seinen Maskenzügen, die am 17. Feb-

ruar und 2. März 1840 in München stattfanden, und bei

dem Ludwig die Worte äußerte: »Ich bin kein Gast, ich ge-

höre zu Euch«38. Keller räumt diesem Feste zu Ehren Alb-

recht Dürers im Grünen Heinrich viel Platz ein. Eingebettet

in die Liebeshändel seiner Münchner Freunde, Lys und

Ferdinand, lässt der mit einem Narrenkostüm bekleidete

Heinrich das Zunftwesen, die Künstler des Goldenen Zeit-

alters sowie Gestalten der griechischen und nordischen

Mythologie vorbeiziehen und trifft sogar auf den König.

Die literarischen Schilderungen sind allerdings reine Fikti-

on, denn Keller, der erst im April 1840 in München eintraf,

hatte am Dürerfest nicht teilgenommen. Als umfassen-

des Bild seines romantischen Gedankengutes und seiner

Kunstauffassung, in der Geschichte, Nation, Natur und

Künstler zu einer Einheit werden, hat es aber sowohl für

den Roman als auch für das reale Leben Kellers große Be-

deutung. In seinem in München gemalten Bild Heroische

Landschaft (1842), wie den später in Zürich entstandenen

ossianischen Landschaften und der Mittelalterlichen Stadt

(1843), setzte er diese Gedanken malerisch um. Ausge-

hend vom Rousseauschen Ideal »Zurück zur Natur" blick-

te man Anfang des 19. Jahrhunderts in der Landschafts-

malerei auf das ländliche Leben, das von intellektuellen

und zivilisatorischen Einflüssen noch unberührt war,

und das den Menschen in einer Art vorzivilisatorischer

Ursprünglichkeit zeigt. Die Gebrüder Grimm begannen

mit dem Sammeln von ländlichem Kulturgut – Märchen

AM Musenorte UND iM ARKADiEN DER KUNST –

Studienaufenthalt in München

Johann Conrad Werdmüller (1819-1892): Gottfried Keller in München, porträtiert im Alter von 22 Jahren, 1841, radierung, 52 x 33 cm

Page 12: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

d r . a n d r e a f r o M M30 I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 31

und Volksliedern – das zum nationalen Anliegen wurde

und die Themenstellung in Literatur und Malerei nach-

haltig beeinflusste. In der Folge bevölkerten romantische

Darstellungen mittelalterlicher Helden und Sagen die

Bildwelten, etwa bei Eugen Napoleon Neureuther (1806-

1882) und Moritz von Schwind (1804-1871). Das ländliche

Kulturgut, verstanden als archetypisches und kollektives

Unterbewusstsein, wurde zur historischen, nationalen

und religiösen Idee stilisiert, die Natur zum göttlichen Ur-

sprung aller Dinge. Im Grünen Heinrich nimmt Keller u.a.

mit dem Begriff »geognostische Landschaft«39 auf diese

zeitgenössischen Tendenzen Bezug.

Peter von Cornelius, den Keller als Wegbereiter der

»herrliche(n) Richtung« in der Kunst Münchens feierte40,

avancierte in der Folge zur leitenden Persönlichkeit der

Münchner Kunstszene und sah die Erneuerung der deut-

schen Kunst in der Anknüpfung an die große Freskomale-

rei Giottos und Raffaels, die er durch Aufträge Ludwigs in

großer Form verwirklichen konnte. 1824 hatte Cornelius

die Leitung der Kunstakademie übernommen, was neben

Um- und Neubesetzungen bei den Lehrkörpern ein Jahr

später zur Schließung der Klasse für Landschaftsmalerei

führte. Erst mit der Übernahme der Akademieleitung

durch Friedrich von Gärtner (1791-1847) im Jahre 1842,

also dem Jahr, in dem Keller zurück nach Zürich ging, wur-

de das Fach der Landschaftsmalerei wieder eingeführt,

das bis dato von Wilhelm von Kobell (1766-1855) geleitet

wurde. Keller knüpfte wahrscheinlich aus diesem Grunde

keinerlei Kontakte zur Akademie, doch möglicherweise

kam auch hier sein Autoritätsproblem zum Tragen, waren

doch seine Freunde, die Schweizer Historien- und Genre-

maler Johann Salomon Hegi (1814-1896) und Emil Ritt-

meyer (1820-1904), Schüler bei Wilhelm von Kaulbach

(1805-1874), dem späteren Akademiedirektor, so dass er

hier leicht hätte anknüpfen können, zumal die Münchner

Kunst ihn außerordentlich beeindruckte: »Die deutsche

Kunst, welche in München einen Hauptsitz hat, machte

gleich zu Anfang einen gewaltigen Eindruck auf mich, und

mein Geschmack bildete sich ziemlich schnell aus. Ich

war aber ohne Empfehlungen gekommen, lebte ohne nä-

here Bekanntschaft mit ausgezeichneten Künstlern, auf

der Akademie war für die Landschaftsmalerei gar kein

Lehrer, noch Raum: so war ich mir wieder selbst überlas-

sen«41. Im Juli 1840 wurde er stattdessen Mitglied im

Münchner Kunstverein, »welches […] der einzige Weg ist,

seine Bilder zu verkaufen«42, wie er an seine Mutter

schrieb. Der Kunstverein war nach der Schließung der

Landschaftsklasse an der Akademie 1824 entstanden und

ein Ausstellungs- und Begegnungsort der Genre- und

Landschaftsmaler, die dem klassizistischen Kunstideal

der Akademie entgegen standen und von Ludwig als

zweitrangig angesehen wurden. Für Ludwig spielten le-

diglich die Ideallandschaften Rottmanns eine Rolle, den er

mit der Ausmalung der Hofgartenarkaden beauftragte, um

den Bürgern die geschichtsträchtigen Orte der Mensch-

heit zu zeigen, wobei es weniger um die Landschaft als

vielmehr um die Verschmelzung des Ereignisses mit der

Landschaft ging. Nach 28 Motiven aus Italien in den Jah-

Asamschlösschen Maria Einsiedel, 1840, Bleistift und aquarell, 21,7 x 28,5 cm, gottfried-keller-stiftung, deponiert in der Zentralbibliothek Zürich

Asamschlösschen Maria Einsiedel, 1840, Bleistift, 21,7 x 28,5 cm

Uferlandschaft mit Angler, 1841, Ölhaltige farbe auf Gewebe, 46,3 x 56,7 cm, gottfried-keller-stiftung, deponiert in der Zentralbibliothek Zürich

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d r . a n d r e a f r o M M32 I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 33

ren 1830 bis 1833 verwirklichte Rottmann einen Griechen-

landzyklus, der in den Schriften Winckelmanns und in

Hölderlins Hyperion eine poetische Überhöhung findet.

Rottmann, der eine Vormachtstellung in der Münchner

Landschaftsmalerei einnahm, und dessen Werke Keller

im öffentlichen Raum bewunderte, blieb also das große

Vorbild. Und dass Keller, der Berühmtheit anstrebte, sich

vor diesem Hintergrund nicht den freien Landschaftsma-

lern um den Kunstverein anschloss, die nach dem Vorbild

von Barbizon als Plein-Air-Maler in die Umgegend von

München zogen, wo bereits seit 1824 die Künstlerkolonie

auf Herrenchiemsee existierte, versteht sich von selbst.

Als Befreiungsschlag von der Aquarellmalerei, die ihn zu

sehr an die in Massen produzierte topografische Vedute

erinnerte, strebte Keller große Bildformate an und legte

sein Augenmerk zunehmend auf die Arbeit mit Ölfarben.

Er sprach sich gegen kleine Bildgrößen aus, die sich durch

die biedermeierliche Landschaftsmalerei eines Cantius

Dillis (1779-1856), Johann Cornrad Dorner (1809-1866), Wil-

helm von Kobell oder Max Josef Wagenbauer (1775-1829)

beim Publikum des Kunstvereins größter Beliebtheit er-

freute. Ein tragischer Fehler, denn nur so hätte er Kunst-

verkäufe erzielen können; zumal das Malen mit Ölfarben

kostspieliger war und Keller in München an der Armuts-

grenze lebte. Möglicherweise begriff Keller dies aber als

einzigen Ausweg aus seiner finanziellen Misere, denn die

Aquarelle, die er im Kunstverein ausstellte, verkauften

sich nicht. Schnell verbrauchte sich überdies sein Vorrat

an Pflanzen- und Landschaftsstudien, die er aus der

Schweiz mitgebracht hatte, und ihm fehlten die monetä-

ren Mittel, um in die Umgebung zu reisen und neue anzu-

fertigen. Fachlichen Rat und Unterstützung erhoffte sich

Keller von dem Schweizer Wilhelm Scheuchzer (1803

-1866), einem entfernten Verwandten, und dem Darm-

städter Maler Julius Lange (1817-1878). Die Verbindung zu

Lange endete allerdings mit einer herben Enttäuschung,

kopierte dieser doch Kellers Komposition Waldlandschaft

(1841) und verkaufte sie zu einem stolzen Preis im Münch-

Entwurf zur Heroischen Landschaft, 1841, schwarze Kreide, aquarell in Graugrün, sepia und deckweiss auf gelbgrauem Papier, 59,8 x 80,5 cm Heroische Landschaft, 1842, Öl auf leinwand, 87,7 x 116,3 cm, gottfried-keller-stiftung, deponiert in der Zentralbibliothek Zürich

ner Kunstverein, während Keller leer ausging. Vollkom-

men entmutigt zog Keller es stattdessen vor, mit seinen

Schweizer Künstlergenossen in der näheren Umgebung

zechend umherzuziehen. Sein Münchner Leben als

»Schiffbrüchiger« beschreibt er 1841 in frühen Gedichten.

Zu seinem engeren Freundeskreis zählten damals neben

Johann Salomon Hegi und Rittmeyer der Historien- und

Genremaler Eduard Süffert (1818-1874), Rudolf Leemann

(1812-1865) und der Kupferstecher Conrad Werdmüller

(1819-1892), die Keller in Zeichnungen und einer Radie-

rung porträtierten. Oft besuchten die Freunde ein belieb-

tes Ausflugslokal in der Nähe der von Egid Quririn Asam

(1692-1750) erbauten Kirche Maria Einsiedel bei Thalkir-

chen am Westufer der Isar südlich von München. In der

Nähe befand sich das Asamschlösschen, das um 1730 er-

baute Landhaus von dessen Bruder, des Malers und Bild-

hauers Cosmas Damian Asam (1686-1739), das Keller in

seinem Aquarell Asamschlösschen Maria Einsiedel (1840) bei

einem der vielen Besuche abbildet. Mit großer Finesse in

der Bildaufteilung und in luftiger und leichter Lavierung

des Pinsels, fängt Keller das Motiv der spätbarocken Archi-

tektur ein, die mit dem umliegenden Garten ein Gesamt-

kunstwerk bildet. Farbe und Licht suggerieren südliches,

italienisches Flair. Möglicherweise ebenfalls bei einem

Ausflug entstanden ist die idyllische Uferlandschaft mit

Angler (1841), die das reichlich mit Schilf und Bäumen be-

wachsene Ufer eines Flusslaufs zeigt. Am rechten Ufer

sitzt ein Angler, am linken Flussufer wird in einiger Entfer-

nung ein Bauernpaar sichtbar. Da Keller in der Figurendar-

stellung sehr ungeübt war, malten wahrscheinlich seine

Freunde die Staffagefiguren in die Landschaften hinein.

Möglicherweise hat Emil Rittmeyer, der Keller auch bei an-

deren Gemälden unterstützte, den Angler und das Paar

hinzugefügt. Vor seiner Rückkehr nach Zürich versuchte

Keller auch Hegi dafür zu gewinnen, der damals in Genf

studierte. Im Grünen Heinrich beschreibt Keller noch weite-

re Bilder, in die ein junger Landsmann und Akademie-

schüler Figuren hinein malt und die der »Kopfmaler«43

Page 14: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

d r . a n d r e a f r o M M34 I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 35

Heinrich ohne eine einzige Naturstudie anfertigt. Erwähnt

wird an dieser Stelle auch die Mittelalterliche Stadt (1843),

deren Vorarbeiten Keller im Roman in die Münchner Zeit

verlegt, möglicherweise, um seine künstlerischen Einflüs-

se zu schildern. Mit den Beschreibungen von nahezu abs-

trakten Arbeiten, Passagen, die er in der zweiten Roman-

fassung gekürzt hat, bezieht sich Keller auf Diskurse, die

zu seiner Zeit bereits geführt wurden, und die sich mit der

Frage nach der Ungegenständlichkeit in der Malerei ausei-

nander setzten. Im Grünen Heinrich stößt Erikson in Hein-

richs Atelier auf Darstellungen von geometrischen Linien-

und Formgebilden, die konstruktivistische Tendenzen

vorweg zu nehmen scheinen. Keller, der mit dem Bild des

Künstlers als Schöpfergott spielt, überträgt hier jedoch in

ironischer Weise philosophische Grundgedanken auf die

Malerei, die ihn im Zusammenhang mit der Religionskri-

tik Ludwig Feuerbachs (1804-1872) beschäftigten, der sei-

ne Sicht auf Gott und Religion radikal veränderte: »Wohl-

an! Du hast Dich kurz entschlossen und alles

Gegenständliche hinausgeworfen […] sind sie nicht der

Beweis, wie Logik und Kunstmäßigkeit erst im Wesenlo-

sen recht ihre Siege feiern, im Nichts sich Leidenschaften

und Verfinsterungen gebären und sie glänzend überwin-

den? Aus Nichts hat Gott die Welt geschaffen! Sie ist ein

krankhafter Abszeß dieses Nichts, ein Abfall Gottes von

sich selbst. Das Schöne, das Poetische, das Göttliche be-

steht eben darin, daß wir uns aus diesem materiellen Ge-

schwür wieder ins Nichts zurückabstrahieren, nur dies

kann eine Kunst sein!«44

Landschaft mit Gewitterstimmung,1842/43, Bleistift und aquarell , 35,2 x 46,8 cm

Im Laufe der Zeit zog sich die finanzielle Schlaufe mehr

und mehr zu. Keller musste seine gesamten Studien an

einen Trödler verkaufen und machte Schulden bei Freun-

den, die er nur begleichen konnte, weil seine Mutter eine

Hypothek auf das Haus aufnahm. Nachdem er zum Brot-

erwerb Fahnenstangen bemalt hatte, die anlässlich der

Hochzeit des bayrischen Kronprinzen Maximilian mit

Prinzessin Marie von Preußen im Oktober 1942 hergestellt

wurden, versuchte er das Blatt mit dem Ölbild Heroische

Landschaft noch einmal zu wenden, um »den ganzen Som-

mer über wie ein König leben zu können«45 . Es ist zwei-

fellos ein Hauptwerk Kellers, für das er eine poetische

Bildidee und zwei Vorstudien entwarf und das größte je

ausgestellte Bild. Den Preis setzte er entsprechend der

Monumentalität an. Deutlich durch die Stimmungsland-

schaften Rottmanns angeregt sowie durch die Ansicht des

heiligen Berges Tabor in Galiläa, die er in Meyer’s Universum

von 1836 gesehen hat46, gestaltet Keller eine menschen-

leere Ideal- und Ideenlandschaft, in der Licht und Farbe

wie bei seinem Vorbild dazu eingesetzt werden, Stim-

mungen auszudrücken. Charakteristische Naturmerkma-

le werden herausgestellt, verklärt und monumentalisiert

sowie große Licht- und Schattenmassen verteilt. Das Licht

fällt ebenso wie bei Rottmann von der Seite ein und mar-

kiert verschiedene Raumebenen, die das Bild in Vor-, Mit-

tel- und Hintergrund trennen und Raumtiefe suggerieren.

Plastische Klarheit und die geheimnisvolle Dunkelheit der

nicht beleuchteten Bildsequenzen lösen einander ab. Wie

in seinen übrigen Werken verleiht Keller auch dem Ge-

wässer eine besondere Bedeutung, das sich hier im Kom-

plementärkontrast zu den Grün- und Ockerwerten des

Bildes befindet. Es scheint sich um eine kleine Bucht zu

handeln, die das Wasser des im Hintergrund erkennbaren

Meeres, über dem schwere Kumuluswolken hängen, auf-

fängt. Wie Carl Gustav Carus (1789-1896) sah auch Keller,

der fast in jedem seiner Bilder Gewässer darstellte und

auch selten in der Dichtung darauf verzichtete, dieses Ele-

ment als ein Hauptbestandteil jeder Landschaft an. Und

da er seine Werke nach bestimmten Gedankenstrukturen

komponierte und keine Naturnähe avisierte, weisen seine

topographischen Ansichten oft selbst dort Gewässer auf,

wo ansonsten gar keine zu finden sind. Denn das Wasser,

in dem sich die Unendlichkeit des Himmels abzeichnet,

ist ihm jenseits der Realität immer zugleich Spiegel un-

endlicher Sehnsucht. Doch aus nicht nachvollziehbaren

Gründen gelangte gerade die Heroische Landschaft nicht in

den Verkauf und wurde ihm einen Tag vor seiner Abrei-

se aus München beschädigt zurückgesandt. Die erhoffte

Wendung in seiner Malerkarriere und die finanzielle Ent-

lastung trat nicht ein. Einzig die wohlwollenden Worte

des Historienmalers Ludwig Vogel (1788-1879), den Kel-

lers Mutter um eine fachliche Äußerung zu dem Bilde bat,

blieben als Erfolgsmeldung übrig. Bis auf das Gewölk, das

zu »schwer und zu dick« wäre, so Vogel, »verräth das Bild

sehr viel Fassungskraft und Erfindergeist«47. Nachdem sei-

ne gesamte Habe verkauft war, musste Keller sich depri-

miert auf den Weg in seine Heimat machen.

Page 15: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 37

Noch in München oder bereits in Zürich fertigte Keller das

Bild Landschaft mit Gewitterstimmung (1942/43), in welches

er ein Selbstbildnis integriert. Obgleich die darin gezeigte

Figur von hinten zu sehen ist, erkennt man deutlich die

Gegenstände Kellers, die er sich in einem Brief vom 14.

Mai 1840 von seiner Mutter erbeten hatte: »Malerschirm

mit dem langen eisenbeschlagenen Stocke und den zwei

Riemlein«49. Auch im Grünen Heinrich taucht in Heinrichs

frühen malerischen Entwürfen oft ein Wanderer auf, mit

dem er »sein eigenes Wesen ausdrückte« und der eine

»Reisetasche auf dem Rücken«50 trägt. Mit seiner Studien-

tasche, an der ein Feldstuhl und eine Flöte befestigt sind,

mit Hut und grünem Anzug bekleidet, machte sich Kel-

ler auf den Heimweg. Er erscheint als Repoussoirfigur im

Bildvordergrund und beschreitet einen an Feldern entlang

führenden Weg, der zu einem See und einer kleinen Ka-

pelle führt. Der wolkenverhangene Gewitterhimmel wirkt

entsprechend der Lage Kellers bedrohlich und Unheil ver-

kündend, und lässt den Wanderer in seiner Existenz nich-

tig erscheinen. Im Bildmittelpunkt klart sich der Himmel

aber bereits wieder auf. Erste Sonnenstrahlen brechen

durch und lassen den See in glänzendem Licht erstrahlen.

Sie erhellen auch die unter einem Baum stehende Kapel-

le, die im Zusammenspiel mit der Natur zum Symbol des

Göttlichen und der Hoffnung wird. In Zürich beschäftigte

sich Keller weiterhin mit Malerei, bevor er zur Dichtung

fand, und griff mit den im Roman beschriebenen Wer-

ken Ossianische Landschaft mit Reiter (1843) und Ossianische

Landschaft mit Hünengrab (1843) Themen und Zeitströmun-

gen auf, die in München vorherrschten; in diesem Fall also

Motive aus den Gesängen des Ossian, einer angeblichen

Figur aus der gälischen Mythologie, die allerdings von dem

Schotten James Macpherson (1736-1796) 1760 geschrieben

wurden, der behauptete diese gesammelt und vom Gäli-

schen ins Englische übersetzt zu haben: »Da waren zwei

Kartons, eine altdeutsche Auerochsenjagd in einem von

Formen angefüllten gewaltigen Bergtale, und ein germa-

nischer Eichenwald mit Steinmälern, Heldengräbern und

Opferaltären51. Ein weiteres Hauptwerk Kellers, in der alle

romantischen Einflüsse sich vereinigen, ist die Mittelalter-

liche Stadt, für die er am 8. August 1843 sowohl eine poe-

tische Bildidee im Skizzenbuch notierte als auch Skizzen

und Detailskizzen von Blumen, Bäumen und Figuren anfer-

tigte. Im Grünen Heinrich wird es in einem Atemzug zusam-

Ossianische Landschaft mit Hünengrab, 1843, deckfarben

auf zwei aneinander geklebten Blättern, 41 x 49,3 cm

Ossianische Landschaft mit Reiter, 1843, deckfarben auf zwei

aneinander geklebten Blättern, 37,8 x 46 cm

Vorstudie Ossianische Landschaft mit Reiter, 1843, Bleistift, 35,7 x 29,1 cm

IcH HABe nun MAl grossen drAng ZuM dIcHten48 -

Rückkehr nach Zürich und späte Zeit

Page 16: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

d r . a n d r e a f r o M M38 I d y l l e n j ä g e r – G o t t f r i e d K e l l e r a l s M a l e r 39

men mit den ossianischen Landschaften erwähnt: »Hinter

diesen Fahnen […] ragte an der Wand eine dritte über sie

hinaus, in gleicher Weise angelegt, aber noch ohne Farben

[…]. Eine von gewaltigen breiten Linden umgebene kleine

Stadt […] dicht gedrängt mit zahlreichen Türmen, Giebel-

häusern, Wimpergen, Zinnen und Erkern. Man sah in die

engen, krummen und mit Treppen verbundenen Gassen

hinein, auf kleine Plätze, wo Brunnen standen, und durch

die Glockenstuben des Münsters hindurch, hinter welchen

die hellen Sommerwolken zogen […], die sich in die Luft

hinaus profilierten und Gesellschaften kleiner Männlein

meiner eigenen Arbeit beherbergten«52. Wie Keller selbst

– er verwendete die Fassaden zweier romanischer Kölner

Patrizierhäuser, die er in Sulpiz Boisserées Architekurwerk

über Denkmale der Baukunst vom 7. bis zum 13. Jahrhundert

am Niederrhein von 1833 gesehen hatte –, errichtet Hein-

rich die fiktive Stadt »mit Hilfe eines architektonischen

Sammelwerks«53, vermengt gotische Baustile und stellt

vorn eine sich mit bewaffneten Stadtknechten kreuzen-

de mittelalterliche Hochzeit dar, die über eine Fallbrücke

kommt. Anregungen für das Bild, für das er aufgrund der

Monumentalität ein Atelier anmieten musste, bekam Kel-

ler bereits in einer Münchner Ausstellung im August 1842,

in der er das Gemälde Deutschland im Mittelalter von Dani-

el Fohr (1801-1862) sah. Keller, der die Mittelalterliche Stadt

in der zweiten Fassung des Grünen Heinrich nur am Rande

erwähnt, und das Panorama in der ersten Romanfassung

zur Beschreibung der Geburtsstadt seines Vaters benutzt,

formuliert mit diesem Bild seine Vorstellungen einer Ver-

quickung von Staat, Religion und Natur. Urwüchsige Na-

tur und Bäume, insbesondere die von Keller favorisierte

Föhre, werden zum Symbol für Gesetz und Beständigkeit,

also für Werte, die auch für die Menschen gelten sollten.

In den Waldliedern, die er mit anderen Naturgedichten im

August 1845 schreibt, heißt es: »Arm in Arm und Kron an

Krone steht der Eichenwald verschlungen«54.

Mit den Bildern, die Keller in dieser an Enttäuschungen

reichen Zeit herstellte, hoffte er sich das Geld für die Rück-

ideale Baumlandschaft, 1849, Bleistift und aquarell , 34,0 x 47,5 cm

kehr nach München verdienen zu können, begann aber

auch erstmals ein Tagebuch zu führen und verfolgte die

Idee, seine persönliche Geschichte einer gescheiterten

Malerlaufbahn dichterisch umzusetzen. Zudem schrieb er

Naturgedichte, da er seinen Empfindungen durch die

Dichtkunst schon immer schneller Ausdruck verleihen

konnte als durch die Malerei. Des Weiteren las er mit Be-

geisterung hochaktuelle politische Texte von Anastasius

Grün, Herwegh und Freiligrath, die im Zuge der Unruhen

in ganz Europa entstanden, und die die Veränderungen

durch die Pariser Julirevolution beschworen. Gedanken,

den Beruf des Malers aufzugeben und sich ganz dem Dich-

ten zu verschreiben, kamen Keller deshalb recht bald. »Im

Frühling 1843 wachte mein Schöpfungstrieb wieder auf;

da ich aber im Malen keinen Trost und Erfolg empfand,

verfiel ich unwillkürlich und unbewusst aufs Versmachen

und entdeckte höchst verwundert, dass ich reimen könne!

[…] Endlich hieß es, ich sei ein ‚Dichter‘, und von da an

kam ich in ausgezeichnete, ehrenvolle Gesellschaft […]

Das Malen nun an den Nagel gehängt, wenigstens als Be-

ruf«55. Am 3. Februar 1844 hatte Keller mit seinem Jesuiten-

lied, das in der von Emanuel Scherb herausgegebenen Wo-

chenzeitschrift Die freie Schweiz erschien, bereits die erste

literarische Veröffentlichung und war »sehr verwundert

über die Leichtigkeit«56, mit der er politische Verse schrei-

ben konnte. 1845 nahm er am 30./31. März als Freischärler

am zweiten Freischarenzug teil, mit dem Ziel, die konser-

vative Regierung des Kantons Luzern zu stürzen und die

Jesuiten zu vertreiben. Im selben Jahr wurde eine erste

Sammlung von Gedichten publiziert, die mit Lieder eines

Autodidakten überschrieben ist. Ein Jahr später konnte er

seine 21 Liebeslieder herausgegeben, die durch seine ver-

storbene Jugendliebe Henriette Keller inspiriert sind, und

die Feuer-Idylle. Schnell sprach sich sein Name nun auch in

Gelehrtenkreisen herum. 1848 erhielt Keller ein Reise-

stipendium und entschloss sich statt in den Orient nach

Heidelberg zu gehen, wo er die Badische Revolution haut-

nah miterlebte. Unterstützung und geistigen Austausch

Sommerlandschaft am Zürichsee, 1849, Bleistift und aquarell , 27,6 x 18,8 cm

Page 17: Andrea Fromm, Idyllenjäger. Gottfried Keller als Maler

Mittelalterliche Stadt, 1843, Bleistift, feder und tusche, 90 x 157 cm