Andreas Rödder Deutschland einig Vaterland Die Geschichte ......auch die Jüngste das ihr gewidmete...

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495 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-56281-5 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Andreas Rödder Deutschland einig Vaterland Die Geschichte der Wiedervereinigung

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495 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-56281-5

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Andreas Rödder Deutschland einig Vaterland Die Geschichte der Wiedervereinigung

Vorwort VorwortVorwort

Alles kam anders als gedacht.Im neuen Europa, in dem die Blockgrenzen an Bedeutung verloren hatten– so stellten sich aufgeschlossene Zeitgenossen im Frühjahr 1989 dieWelt in zwanzig Jahren vor –, war Platz für «zwei freie deutsche Staa-ten»1 – die Bundesrepublik «in der westlichen, die DDR in der östlichen‹Subregion›»2 –, die «bei aller Treue zum je eigenen Bündnis» eine«fruchtbare und freundliche Nachbarschaft»3 entwickelt hatten. Nachdem lange erwarteten Führungswechsel war die DDR auf eine Reform-politik nach dem Vorbild Gorbatschows eingeschwenkt4, der die Sowjet-union auf dem Weg der marktwirtschaftlichen Modernisierung undDemokratisierung weit vorangebracht hatte.5 Auf westdeutscher Seitesetzten die Fortschritte im Verhältnis zur DDR die «Erfolgsgeschichte»des «Modells Deutschland» fort, das die mit Abstand stärkste Volkswirt-schaft in Europa stellte und sich seit den neunziger Jahren auf den ökolo-gischen Umbau der Industriegesellschaft konzentrierte, den die neueSPD-Regierung nach dem Wahlsieg über Helmut Kohl 1990 vorangetrie-ben hatte. Außenpolitisch war die Bundesrepublik zum amerikanischen«partner[] in leadership»6 aufgestiegen, während die Basis der westlichenFührungsmacht mit dem Schwinden militärischer Herausforderungenerodierte.7 Da «konfrontative Lösungen» in der Staatenwelt kaum mehrmöglich waren, vielmehr die wissenschaftliche, ökonomische und sozialeKraft im Innern über den Rang einer Weltmacht entschied8, hatte sichdas geeinte Europa als eigenständiger und selbstbewusster internatio-naler Akteur positioniert.

Im Herbst 1989 aber geriet der «Weltprozeß», wie Jacob Burckhardtüber hundert Jahre zuvor die «geschichtlichen Krisen» beschrieben hatte,«plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhun-derte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phäno-

mene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein.»9 Der Zusammen-bruch des sowjetischen Imperiums, das Ende des SED-Regimes und derDDR, schließlich die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staatenbeendeten binnen weniger Monate eine Epoche, die Europa und die Weltnach den verheerenden Kriegen und Krisen der ersten Jahrhunderthälfteim eisernen Griff des Ost-West-Konflikts gehalten hatte. Zugleich lag,was 1989/90 geschah, quer zu den großen Tendenzen der Zeit: gerade alsEuropa sich angesichts der mikroelektronischen Revolution und derwirtschaftlichen Internationalisierung, der Integration seiner Staaten unddes postmodernen Wertewandels von der Idee des Nationalstaats klassi-scher Prägung entfernte, wurde er in Deutschland wieder hergestellt –und dies auf eben jene Weise, die im Westen in längst vergangener Zeiteinmal erhofft und inzwischen als unrealistisch abgetan worden war. Diedeutsche Einheit war voller Merkwürdigkeiten.

«Deutschland einig Vaterland» ist eine jener Sentenzen, in denen sichdeutsche Geschichte wie in einem Brennglas bündelt: drei Worte aus demText der Hymne des sozialistischen deutschen Staates mit gesamtdeut-schem Anspruch, der angesichts der verfestigten Zweistaatlichkeit seitden siebziger Jahren nicht mehr gesungen wurde, wendeten sich schließ-lich gegen die DDR selbst, markierten die nationale Wende der fried-lichen Revolution hin zur deutschen Einheit – und bezeichneten im un-versehens vereinten Deutschland eine wesentlich schwierigere Aufgabe,als man es 1989/90 erwartet hatte.

Diese erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der Wiedervereini-gung von 1989/90 verfolgt einen vierfachen Anspruch. Erstens spanntsie einen thematischen Bogen von der Bürgerbewegung auf den Straßender DDR bis zu den Verhandlungen auf dem Parkett der internationalenDiplomatie und von den internationalen Rahmenbedingungen bis zurinneren Ausgestaltung der deutschen Einheit. Zweitens ist sie aus denverfügbaren Quellen geschrieben und führt drittens die Ergebnisse derweit verzweigten nationalen und internationalen Forschungen, die seit1989 bereits geleistet worden sind, in einer Synthese zusammen. Schließ-lich will sie, viertens, den zeithistorischen Gegenstand im historischenZusammenhang der deutschen und internationalen Geschichte des 19.und 20. sowie des beginnenden 21. Jahrhunderts verorten.

12 Vorwort

Was gibt es Schöneres, als sich nach Fertigstellung eines Buches bei den-jenigen zu bedanken, denen man vieles verdankt – oder diejenigen umEntschuldigung zu bitten, bei denen dies nötig geworden ist?

Während der gesamten Entstehungszeit habe ich mich stets auf denengagierten und zuverlässigen Einsatz der studentischen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter meiner Abteilung am Historischen Seminar derUniversität Mainz verlassen können; insbesondere Benjamin Conrad,Andreas Lutsch und Sarah Manns haben mich unermüdlich unterstützt.Dankbar bin ich den in der Bibliographie aufgeführten Interviewpartne-rinnen und -partnern für ihre freundliche Bereitschaft zu den Gesprä-chen, die mir immer wieder neue Aspekte und Perspektiven erschlossenhaben. In besonderem Maße habe ich von den Anregungen derjenigenprofitiert, die das Manuskript ganz oder in Teilen gelesen und kommen-tiert haben: Harald Biermann, Wolfgang Elz und Peter Hartmann, des-sen Expertise vor allem den außenpolitischen Passagen zugute gekom-men ist, und Hartmut Schiedermair, der die staats- und völkerrecht-lichen Passagen kritisch geprüft hat, wobei alle verbliebenen Fehlerallein in meiner Verantwortung liegen. Von indirekter, aber nicht zu un-terschätzender Bedeutung ist darüber hinaus der stets anregende Aus-tausch, für den ich mich, neben den Genannten, insbesondere KlausHildebrand, Eberhard Jäckel, auf den die erste Idee zu diesem Buch zu-rückgeht, Alexander Brakel, Sönke Neitzel, Martin Sabrow, Mary E. Sa-rotte, Joachim Scholtyseck, Hans-Peter Schwarz und Andreas Wirschingsowie meinen unverzichtbaren Ratgebern in allen Lebenslagen, UlrichBremauer und Thomas Christ, verbunden weiß.

Unterstützt haben mich weiterhin Elena Kaplunovskaya mit derÜbersetzung von Dokumenten aus der Gorbatschow-Edition sowie diehilfsbereiten Damen und Herren in den Archiven. Auf Seiten des VerlagsC. H. Beck bin ich, neben Janna Rösch, Peter Schünemann und DetlefFelken, der die gesamte Entstehung des Buches mit großer Aufmerksam-keit und ebenso gutem wie wichtigem Rat begleitet hat, für die außer-ordentliche Sorgfalt und Umsicht besonders dankbar, mit der sie dasManuskript lektoriert haben.

Die Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat mir die Fertigstellungdes Manuskripts durch ein zusätzliches Forschungssemester ermöglicht.Dabei gilt meinen Kollegen Michael Kißener, Jan Kusber, der auch die

Vorwort 13

Passagen zur Sowjetunion im Manuskript gelesen hat, und MatthiasSchnettger mein Dank für ihr Interesse, ihren Rat und für ihr Verständ-nis, wenn ich mich auf verschiedenen Ebenen aus manchem habe zu-rückziehen müssen, um neben den wachsenden Verpflichtungen einerProfessur, gerade in den Aufbaujahren, dieses Buch zu schreiben.

Noch mehr hat die temporäre innere Emigration in die wissenschaft-liche Einsamkeit und Freiheit natürlich Silvana und unsere drei Töchterbetroffen. Immerhin ließ sich zur Rechtfertigung geltend machen, dassauch die Jüngste das ihr gewidmete Buch bekommen müsse. Auch wennes nicht ganz so spannend ist wie «Hörbe mit dem großen Hut», möge«Deutschland einig Vaterland» Maria eines Tages vermitteln, dass es einebedeutende Geschichte zu erzählen hat.

Mainz, im Januar 2009 Andreas Rödder

14 Vorwort

I. Tour d’horizon 1989:Ost und West am Vorabendder Epochenwende

Ost und West am Vorabend der Epochenwende

1. Zauberlehrling Gorbatschow:Die «Perestroika» und die Sowjetunion

Zauberlehrling Gorbatschow: Die «Perestroika» und die Sowjetunion

Am Anfang war Gorbatschow. Seine Politik setzte einen ungeplantenProzess in Gang, der binnen weniger Jahre in den Zusammenbruch dessowjetischen Imperiums führte und der die deutsche Wiedervereinigungerst möglich machte.1

Am 11. März 1985, nach den lähmenden Jahren alter und kranker Ge-neralsekretäre, nominierte das Politbüro der Kommunistischen Partei derSowjetunion den 54-jährigen Südrussen für das Amt des mächtigstenMannes der östlichen Welt. Intelligenter, gebildeter und weltläufiger alsdie typischen Vertreter der alten Riege, hatte Gorbatschow seinen zügigenpolitischen Aufstieg in der südrussischen Region Stawropol begonnen unddort, obgleich ursprünglich zum Juristen ausgebildet, als Experte fürLandwirtschaft reüssiert. Er fiel dem reformorientierten KGB-Chef JuriAndropow auf und wurde 1978 als Sekretär des Zentralkomitees fürLandwirtschaft in die Moskauer Zentrale berufen. 1980 rückte er in dasPolitbüro und somit in das Machtzentrum der Partei auf, deren Führunger im März 1985 übernahm und die er, wie das gesamte Land, grund-legend verändern sollte – ganz anders allerdings, als er es sich vorgestellthatte. Dies hing nicht zuletzt mit einem Grundzug seiner Persönlichkeitzusammen: dem permanenten Versuch, Unvereinbares zu vereinbaren –Marx und Markt, Leninismus und Demokratie. Offenheit, Abneigung ge-gen dogmatische Festlegungen und deren Durchsetzung mit Gewalt warendie eine Seite seiner Persönlichkeit – Unentschiedenheit, Widersprüchlich-keit und Sprunghaftigkeit die andere.2

Gorbatschow ging von der Diagnose einer schweren wirtschaftlichenKrise der Sowjetunion aus, und als Therapie verordnete er Reformen.Das Rezept setzte voraus, den Patienten für heilbar zu halten, und eben-dies tat Gorbatschow. Ziel seiner Reformpolitik war keineswegs, ein mo-ribundes System endgültig zum Kollaps zu bringen, sondern es zu rettenund den Kommunismus zu verbessern. Kein ideologieentleerter Zyniker,ebensowenig freilich ein marktwirtschaftlicher Demokrat westlicher Prä-gung, war Gorbatschow vor allem ein reformkommunistischer Idealist.Nur im festen Vertrauen auf den Sozialismus war er zu seiner weitrei-chenden und folgenreichen Reformpolitik überhaupt in der Lage.

Sie begann mit einer personellen Neustrukturierung der Parteikader.Ein umfangreiches Revirement an der Spitze der KPdSU und in den Pro-vinzen brachte Reformer wie Eduard Schewardnadse als Außenminister,Alexander Jakowlew als ZK-Sekretär für Ideologie und Propaganda oderBoris Jelzin als Parteichef von Moskau in Schlüsselpositionen. DieseMaßnahmen gingen mit einer zunehmenden öffentlichen Kritik an Amts-trägern einher, ganz im Sinne des Leitbegriffs «Glasnost», als Herstellungvon Transparenz, Offenheit und Öffentlichkeit. Wenn Gorbatschow da-bei von «Demokratie» sprach, die das Land so nötig habe «wie die Luftzum Atmen»3, dann deutete sich ein Verständnis dieses Begriffs an, dasüber die sozialistische Orthodoxie hinausging. Zugleich brachte «Glas-nost» ein unerwartetes Maß an Missständen zum Vorschein, das mit Ein-zelmaßnahmen allein, wie sich bald zeigte, nicht zu kurieren war.

Dies gilt ebenso für den zweiten Leitbegriff, die «Perestroika» (Umge-staltung), die sich nicht nur an die Funktionäre, sondern an die gesamteBevölkerung richtete. Sie zielte in erster Linie auf verstärkte Eigenverant-wortung und individuelle Leistung. Daher begann sie mit einer Kampa-gne gegen den allgegenwärtigen Schlendrian am Arbeitsplatz und gegeneinen seiner Hauptverursacher: den Alkoholismus. Sie war symptoma-tisch für die unerwarteten Weiterungen und Konsequenzen der Reform-politik. Nachdem nämlich die Herstellung und der Verkauf von Alkoho-lika eingeschränkt worden waren, nahm die private Schwarzbrennereisprunghaft zu, während die Zuckervorräte knapp wurden und das Defi-zit im Staatshaushalt aufgrund der fehlenden Alkoholsteuern wuchs. Zu-dem war es mit der Bekämpfung des Alkoholismus allein nicht getan,denn dahinter taten sich grundsätzlichere Probleme auf, die weitere Re-

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formen notwendig machten. Einmal in Gang gesetzt, ging der Prozess im-mer weiter. Ein Ende war je länger, je weniger in Sicht.

In der Praxis führte das Ziel, Eigenverantwortung und individuelleLeistung zu stärken, zu einer Flut von Gesetzen zur marktwirtschaftlichenReform der sozialistischen Wirtschaftsordnung. Sie verordneten begrenztePrivatisierungen und Eigenständigkeit der Betriebe, Elemente von Marktund Konkurrenz. Aber sie verbanden sich nicht zu einem geschlossenen,geschweige denn funktionsfähigen Gegenentwurf zur überkommenenPlanwirtschaft oder zur westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsord-nung. Vielmehr unterhöhlten die Reformmaßnahmen die Grundlagen derzentralen Planwirtschaft und des politischen Systems. Teilweise brachblankes Chaos aus: Versorgungsengpässe und Schwarzmarkt, galoppie-rende Inflation und Streiks deuteten darauf hin, dass die Reformen einevon Gorbatschow und den Reformern nicht erwartete Eigendynamik ge-wannen.

Dasselbe gilt für die Geschichtsdebatte4. Als die sowjetische Regie-rung die bis dahin offiziell stets geleugnete Existenz des Geheimen Zu-satzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 öffentlicheingestand, gab sie eine kritische Diskussion des staatlich verordnetenGeschichtsbildes frei. Bald erreichte diese den «Großen VaterländischenKrieg» und blieb beim Stalinismus nicht stehen, sondern erfasste auchLenin und die Ursprünge der Sowjetunion. Die Geschichtsdebatte legtedie Axt an die Wurzeln der sowjetischen Staatsideologie.

Vor diesem Hintergrund artikulierten sich Oppositions- und Separa-tionsbewegungen, denen die Reformpolitik seit Mitte 1988 mit Demo-kratisierungsmaßnahmen zu begegnen suchte. Diese indessen unterhöhl-ten das Herrschaftsmonopol der Kommunistischen Partei und damit denKern des politischen Systems der Sowjetunion. Die Reformen gerietenaußer Kontrolle. Doch während Gorbatschow zunehmend ins Schussfeldder Kritik geriet und seine innere Basis zu erodieren begann, flogen ihmauf dem internationalen Parkett überschwängliche Sympathien zu.

Das Bemühen um internationale Entspannung war die äußere Seite dergenuin ökonomischen Reformpolitik. Mit dem ostmittel- und südost-europäischen Imperium und einem überdimensionierten militärisch-in-dustriellen Komplex, insbesondere mit dem Krieg in Afghanistan und der

Zauberlehrling Gorbatschow: Die «Perestroika» und die Sowjetunion 17

Raketenrüstung der siebziger Jahre, hatte sich die Sowjetunion giganti-sche Kosten aufgeladen. Weitere unabsehbare Ausgaben standen bevor,wenn der Kreml die Gegenoffensive des Westens kontern wollte, die mitder Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Westeuropa begon-nen hatte und mit dem Raketenabwehrsystem SDI das atomare Gleichge-wicht auszuhebeln drohte.5

Es lag in der Konsequenz der Reformpolitik, dass Gorbatschow, umSpielräume für innere Reformen zu gewinnen, äußere Entlastung suchte.1988 verfügte er den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanis-tan, wo der jahrelange Krieg Unsummen verschlang und offensichtlichnicht zu gewinnen war. Zugleich setzte er, als Voraussetzung für dringendnotwendige technologische und ökonomische Kooperation, auf Entspan-nung mit dem Westen und entwarf die Vision vom «Haus Europa», indem verschiedene Systeme Platz unter einem gemeinsamen Dach findensollten. Vor allem eröffnete er eine abrüstungspolitische Offensive, mitder er die sowjetische Raketenrüstung der siebziger Jahre umkehrte. DieAnnäherung zwischen den Regierungen der Sowjetunion und der USA,zwischen Gorbatschow und dem vermeintlichen kalten Krieger RonaldReagan in den Jahren 1986/87 war für die Zeitgenossen sensationell. Siegipfelte im sowjetisch-amerikanischen INF-Abkommen vom Dezember1987. Mit einem Federstrich verfügte es den Abbau der Mittelstrecken-raketen in Europa, um deren Stationierung an der Wende von den siebzi-ger zu den achtziger Jahren so erbittert gerungen worden war.

Gorbatschows Popularität im Westen erreichte einen Höhepunkt, alser am 7. Dezember 1988 vor den Vereinten Nationen von der «Entideo-logisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen»6 sprach und somitdem Ost-West-Konflikt von sowjetischer Seite die Grundlage entzog.Diese unablässigen «Charme-Offensiven»7 trieben die im Januar 1989neu ins Amt gekommene amerikanische Regierung des PräsidentenGeorge Bush im «Kampf um die Weltöffentlichkeit»8 in die Defensive. Eswar eine der vielen Paradoxien in der Geschichte des Ost-West-Konflikts:was den Kremlherren im Vollbesitz ihrer politischen Kräfte nie gelungenwar, vermochte Gorbatschow im Moment der Schwäche – erstmals ge-wann ein Sowjetführer breite internationale Zustimmung, als Hoffnungs-träger und Symbol der Entspannung.

Dies gilt nicht zuletzt für die Öffentlichkeit der Bundesrepublik, wo

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Gorbatschow bei seinem Staatsbesuch im Juni 1989 wahre Begeiste-rungsstürme entfachte. Die Sowjetunion sei bestrebt, «den Partner BRDenger an sich zu binden», sagte Gorbatschow selbst gegenüber der in die-sen Angelegenheiten stets höchst misstrauischen DDR-Führung9. Legen-däre Bedeutung, jedenfalls in der Erinnerung Helmut Kohls, hatte einvertrauliches abendliches Gespräch zwischen Bundeskanzler und Gene-ralsekretär im parkartigen Garten des Bundeskanzleramtes am Rhein.Beide erzählten einander von ihren Eltern, ihren Erfahrungen im Krieg, inder Stalin- und in der Hitlerzeit. Als das Gespräch auf die deutsche Fragekam, wurden einmal nicht die üblichen Floskeln ausgetauscht. Kohlsagte, wie er sich erinnert, «so sicher wie der Rhein zum Meer fließt, sosicher wird die deutsche Einheit kommen», und Gorbatschow habe nichtwidersprochen10. Intern ließ Gorbatschow im Sommer und frühenHerbst 1989 eine gewisse, wenn auch nicht konkrete Offenheit erkennen;im Falle einer anhaltenden Annäherung in Europa «könne die Fragemöglicherweise eines Tages anders stehen. Aber dies sei heute kein Pro-blem der aktuellen Politik.»11 Offiziell blieb es unterdessen bei derSprachregelung von der unumgänglichen Anerkennung der «Realitäten»– des Status quo der deutschen Zweistaatlichkeit.12

Allem Anschein nach ahnte Gorbatschow nichts von den Entwicklungen,die seine Politik in Bewegung setzte. Bis in den Herbst 1989 war er offen-kundig optimistisch, sein Herkuleswerk vollbringen zu können, wie ernoch Anfang November gegenüber dem neugewählten SED-General-sekretär Egon Krenz bekundete: Er wolle «nicht sagen, in der Sowjetunionhabe man die Perestroika schon voll gepackt. Das Pferd sei gesattelt, aberder Ritt noch nicht vollendet. Man könne immer noch abgeworfen wer-den. Andererseits seien bereits umfangreiche Erfahrungen gesammeltworden, die große Bedeutung haben. Jetzt beginne in der Sowjetunion dieEtappe der vertieften Arbeit zur Fortsetzung der Umgestaltung.»13

Dass er im Herbst 1989 die Kontrolle über die Vorgänge in Osteuropaverlor, zunächst im sowjetischen Imperium und dann in der Sowjetunionselbst, traf Gorbatschow unvorbereitet: «man sei offensichtlich», so Alex-ander Jakowlew im Dezember 1989, «an die neue Revolution etwasromantisch herangegangen und habe unterschätzt, welch große Wider-stände auf ihrem Weg entstehen»14. Was im Herbst 1989 und dann bis

Zauberlehrling Gorbatschow: Die «Perestroika» und die Sowjetunion 19

1991 im Machtbereich der Sowjetunion geschah, hatte Gorbatschownicht gewollt. Er wurde zum Zerstörer wider willen, zum Liquidator einesohnehin maroden Systems, das allerdings keineswegs alternativlos demUntergang geweiht war. Über Jahrzehnte hinweg hatte das sowjetischeSystem gegen alle ökonomische Vernunft existieren können, und trotzaller Strukturprobleme waren es konkrete politische Entscheidungen, diejene Krise auslösten, die sie verhindern sollten. Gorbatschows historischeBedeutung liegt darin, dass er zum einen jenen Prozess in Gang setzte, derin der Revolution von 1989 kulminierte. Zum anderen verzichtete er, alser, dem Zauberlehrling gleich, die Kontrolle über den Prozess verlor, aufden Einsatz militärischer Gewalt, um die Entwicklung aufzuhalten oderumzukehren.

2. Strukturkrise und Orthodoxie, Resignation undOpposition in der DDR

Strukturkrise und Orthodoxie in der DDR

Perestroika sollte in der DDR nicht sein. Sich der Reformpolitik zuverweigern, war die wohl folgenreichste Entscheidung der überaltertenSED-Führung in der Ära Gorbatschow. Sie klammerte sich an die über-kommenen Strukturen des sozialistischen deutschen Staates auf der ideo-logischen Grundlage des Marxismus-Leninismus unter der verfassungs-mäßig verbrieften Führung durch die Sozialistische Einheitspartei. IhrGeneralsekretär war der starke Mann im Staat, das Zentralkomitee derPartei war dem Ministerrat, der Regierung des Staates, übergeordnet,und das Politbüro des ZK, der kleine Zirkel führender Parteifunktionäreder SED, das eigentliche Entscheidungszentrum der DDR. Der Staatspar-tei waren auch die vier sogenannten Blockparteien untergeordnet, die mitder SED und weiteren Massenorganisationen in der «Nationalen Front»zusammengeschlossen waren. Der Staatssozialismus beherrschte nichtnur den Staat, sondern durchdrang auch die gesamte Gesellschaft undbestimmte die weitgehend verstaatlichte, zentral gelenkte Planwirtschaft.«Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert», so kom-mentierte Politbüromitglied Kurt Hager die Reformpolitik Gorbat-schows im April 1987, «sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfallsneu zu tapezieren?»15

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Ohne Logik war die Haltung der SED-Führung nicht, denn sie warsich der Gefahren wohl bewusst, die der sowjetische Reformkurs für diesozialistischen Regime allgemein und für die DDR im Besonderen mitsich brachte. «Wenn sich die ökonomische Basis kapitalistisch gestaltet»,so der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Harry Tisch, «kann sich dersozialistische Überbau nicht halten.»16 Im Alleinvertretungsanspruch aufdie Wahrheit aber, erzwungen durch die Verbindung von Fürsorge für dasKonforme und Unterdrückung des Dissenten, lagen die spezifische Ge-stalt, der totalitäre Kern und die ideologischen Lebensgrundlagen nichtnur des Regimes, sondern zugleich – anders als in jedem anderen Ost-blockstaat – des gesamten Staates. Wurde die sozialistische Ideologie inFrage gestellt, dann stand in der DDR nicht nur ein Regime oder eineStaatsform zur Disposition, sondern der Staat selbst.17

Unterdessen wuchsen ihre inneren Schwierigkeiten, insbesondere imwirtschaftlichen Bereich. Nach dem Machtwechsel von Walter Ulbrichtzu Erich Honecker hatte die SED 1971, in der Hoffnung, durch verbes-serte Lebensbedingungen die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen, dieMaxime der «Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik» ausgegeben.Sie umfasste ein Bündel von Sozialleistungen, vom Wohnungsbau übereine Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestrenten bis zum Ausbau desErholungswesens. Ihr Problem war freilich von Anfang an die Finanzier-barkeit, denn die Wirtschaftskraft der DDR blieb stets hinter den hohenErwartungen zurück – die Arbeitsproduktivität lag, wie sich im Nachhin-ein zeigte, bei weniger als 30 Prozent des Niveaus der Bundesrepublik.18

Da die Investitionsausgaben zugunsten von Sozial- bzw. Konsumaus-gaben massiv vernachlässigt wurden, kam die gesamte Infrastruktur desLandes herunter oder wurde gar nicht erst entwickelt: die Produktions-anlagen waren völlig veraltet, allerorten verfiel die Bausubstanz, ebensodas Straßen- und Schienennetz, auf dem technisch rückständige Automo-bile und vernachlässigte Züge verkehrten, die Kommunikationsnetze be-fanden sich auf dem Niveau der Vorkriegszeit, und die Umwelt litt unterschwersten Belastungen, vor allem durch die allenthalben riechbare Ver-feuerung von Braunkohle. Dass die DDR auf einer verfallenden schwer-industriellen Stufe stehen geblieben war und in den achtziger Jahren denAnschluss an die technologisch-ökonomische Entwicklung verlor, die imWesten den Sprung in das digitalisierte Dienstleistungszeitalter tat, dass

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der starre Plan und der Zentralismus grundsätzlich ineffizient arbeiteten– all dies schürzte einen Knoten fundamentaler Probleme.

Eine Drosselung der sowjetischen Ölexporte, steigende Rohölpreiseund hohe Kreditzinsen führten die DDR schon Anfang der achtzigerJahre in eine akute Liquiditätskrise, die sie nur mit Hilfe zweier bundes-deutscher Kredite in Höhe von insgesamt 1,95 Mrd. DM (= 1 Mrd. Euro)überwinden konnte. Die Verschuldung der DDR im Westen stieg unter-dessen steil an. Vor allem der «Bereich Kommerzielle Koordinierung» be-schritt immer verstiegenere Wege der Finanz- und Devisenbeschaffung,sei es durch Verkäufe von zumeist über Enteignungen eingetriebenen Anti-quitäten und Kunstgegenständen oder von Blutkonserven in den Westen,durch Import von Müll aus der Bundesrepublik, durch Abschöpfung derDevisenbestände in Privathand über die Intershop-Läden in der DDR –oder durch den regelrechten «Verkauf» von politischen Häftlingen an dieBundesrepublik. Als «müheloses Einkommen BRD»19 verbuchte dieDDR-Führung diese westlichen Transferzahlungen, und in Bonn fand siefür das normal gewordene Groteske durchaus manches Verständnis undUnterstützung.20

Lösen ließen sich die Finanzprobleme der DDR auf diese Weise aller-dings nicht. Als Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Staatlichen Plan-kommission, dem Politbüro Ende Oktober 1989 eine «Analyse der öko-nomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen»21 vorlegte, war diesein verspäteter Offenbarungseid: Von einem «funktionierende[n] Systemder Leitung und Planung» könne keine Rede sein. «Die Konzentrationder ohnehin zu geringen Investitionen auf ausgewählte Zweige hat zumZurückbleiben in anderen Bereichen […] geführt. Dazu kommt, daßgroße Investitionsobjekte mit bedeutendem Aufwand nicht den geplantenNutzen erbracht haben.» Das Hauptproblem lag dabei in der Verschul-dung im Westen, mit der die nicht aus eigenen Leistungen erwirtschafteteSozialpolitik finanziert worden war: von 2 Mrd. Valutamark im Jahr1970 war sie auf 49 Mrd. im Jahr 1989 und somit «auf eine Höhe gestie-gen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt.» Und dann folgteder schonungslos desillusionierende Satz: «Allein ein Stoppen der Ver-schuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um25–30 % erfordern und die DDR unregierbar machen.»

War der Untergang der DDR im Jahr 1989 also schon aus wirtschaft-

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lichen Gründen vorprogrammiert? Aus der Rückschau mag es fast soscheinen – und doch war die Zukunft für die Zeitgenossen offen. DieDDR stand 1989 vor einer bedrohlich herannahenden Zahlungsunfähig-keit, nicht aber vor dem unmittelbaren Bankrott. Die Zeiten konnten sichändern, und noch mochte es für wirtschaftliche Reformen nicht zu spätsein, zumal das Scheitern der Perestroika noch keineswegs ausgemachtwar – und dass Reformen einer sozialistischen Wirtschaftsordnungdurchaus funktionieren konnten, zeigte später der chinesische Fall. Zu-dem besagte die Erfahrung, dass im Zweifelsfall die Bundesrepublik hel-fen würde. Für die Zeitgenossen in West und Ost jedenfalls galt die DDRtrotz aller bekannten Strukturprobleme nach wie vor als lebens- und leis-tungsfähige Wirtschaftsmacht. Und was ihre fatale Verschuldung betraf,so wurde in der Bonner Ministerialbürokratie Anfang 1988 die Ansichtvertreten, sie habe «sich zwar erhöht, ist aber im Verhältnis zum Gesamt-umfang des Handels keinesfalls besorgniserregend»22.

Gleichwohl beschleunigten die massiven ökonomischen Probleme die fi-nale Krise der DDR. Bereits während der achtziger Jahre zerfiel mit derVerschlechterung der Versorgungslage auch jene gesellschaftliche «Nor-malisierung»23, die sich nach dem Mauerbau im Jahr 1961 verbreitethatte – wobei sowohl die Quellen als auch die gesicherten Kenntnisseüber die Gesellschaft des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates be-schränkt sind, weil es der DDR an systematischer Beobachtung durch un-abhängige Sozialwissenschaften sowie an freien öffentlichen Debattenmangelte, während die Wahrnehmungen im Westen hochgradig beein-trächtigt und verzerrt waren.

Nachdem die ostdeutsche Gesellschaft seit Kriegsende große Teileihrer Eliten verloren hatte und durch die sozialistische Umgestaltung inhohem Maße entbürgerlicht worden war, hatten sich in der DDR eineparteigebundene Elite und ein System von Privilegien und Benachteiligun-gen ausgebildet, das sich nach Loyalität zu Staat und Partei bemaß. Bishin zur Alltags- und Freizeitgestaltung war die Gesellschaft vom Staats-sozialismus durchdrungen; der diktatorische Obrigkeitsstaat bevormundetedie Menschen durch alles regulierende sozialstaatliche Fürsorge einerseitsund einen immer weiter ausgebauten, zunehmend verselbständigten undstets präsenten Überwachungs- und Repressionsapparat andererseits.

Strukturkrise und Orthodoxie in der DDR 23

Als mit der Mauer die Alternative verbaut worden war, die DDR zuverlassen, hatte sich die Mehrheit der Gesellschaft innerhalb des Vorgege-benen arrangiert und angepasst, Routine und Normalität im Hinblickauf Lebensformen und Lebensgefühl ausgebildet, allerdings in einereigentümlichen Spaltung der Lebensführung. Im öffentlichen Raum, indem der SED-Staat mit sozialistischen Parolen und Symbolen, Ritualenund Handlungsformen legitimierende Zustimmung heischte, praktizier-ten die meisten Ostdeutschen Konformität, während sie sich getrennt da-von Parallelwelten privater Rückzugsräume und begrenzter Autonomieeröffneten, in denen Familie, Freundschaften und Schrebergärten eine be-sondere Rolle spielten.

Dass die ostdeutsche Sozialkultur im Vergleich zur individualisiertenund pluralisierten bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft eher traditio-nell und obrigkeitlich wirkte, wirft die Frage auf, ob auch in der DDR einWertewandel stattfand, wie er im Westen in den sechziger Jahren einge-setzt hatte24. Als einer der wenigen zeitgenössischen Beobachter in derDDR stellte Walter Friedrich, der Direktor des Leipziger Zentralinstitutsfür Jugendforschung, in einer Expertise für Egon Krenz im November1988 «grundlegende Veränderungsprozesse im Denken, Fühlen und Ver-halten» fest.25 Dem westlichen «Wertewandel» nicht unähnlich und in

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Verschlechterung der Versorgungslage: Selbst für Grundnahrungsmittel müssen DDR-Bürger anstehen, wie hier 1981 in Dresden.

wesentlichem Maße auch aus dem Westen über die Grenzen geschwappt,lief dieser «Mentalitätswandel» allerdings langsamer und zeitversetzt abund behielt in höherem Maße traditionelle Autoritäts- und Pflichtwertebei. Er schlage sich, so Friedrich, darin nieder, dass die Menschen zuneh-mend die «Anerkennung ihrer Ansprüche und Persönlichkeit», ihrer Indi-vidualität und Selbstbestimmung und auch «Lebensgenuß» einforderten,sich gegen entmündigende «Bevormundung» und «Dirigismus» wendetensowie «nach echter gesellschaftlicher Mitverantwortung» drängten. So-zialistische Werte im engeren Sinne, wie die Anerkennung des Marxismus-Leninismus als Lebensphilosophie oder die hergebrachten Feindbilder,«verlieren jedoch gegenwärtig stark an Attraktion.» Darüber aber werde,so Friedrich weiter, in der DDR kaum gesprochen, erst recht nicht offi-ziell. Kein Wunder: wenn er forderte, «wir sollten den Status quo unsererGesellschaft mehr relativieren», dann legte er Sprengstoff an die Funda-mente der DDR, in der die Zukunft keine für Neues offene Perspektivewar, sondern absehbare, vorgegeben gefüllte Zeit. Auch in dieser Hinsichtoffenbarte sich die «konstitutive Widersprüchlichkeit»26 des zweitendeutschen Staates, in dem eine spezifische Mischung von Modernisierungund Modernisierungsverhinderung gewaltige Diskrepanzen schuf, nichtzuletzt zwischen staatlich-parteilicher Propaganda und ökonomisch-ge-sellschaftlicher Realität.

Ein weiteres kam hinzu: auch wenn in der DDR der höchste Lebens-standard innerhalb des Ostblocks herrschte, so stand der Bevölkerungdas Gegenbild der hochentwickelten, wohlhabenden Bundesrepublik vorAugen, zumal vor dem Hintergrund der zunehmenden Versorgungsmän-gel und des niedrigen Lebensstandards und angesichts der unüberseh-baren Zeichen des Stillstands und des Rückschritts in den achtziger Jah-ren. So stieg mit der Unzufriedenheit auch die Zahl der Ausreiseanträge,trotz der zu erwartenden Repressionen, von 21 500 im Jahr 1980 aufüber 110 000 acht Jahre später. Dass die DDR-Führung in höherer ZahlAusreisen genehmigte, insbesondere in zwei Wellen 1984 und 1988, öff-nete allerdings kein Ventil, durch das die Unzufriedenheit abfloss. Wieein Sog zog es vielmehr nur noch höhere Antragszahlen nach sich.

Im Laufe der achtziger Jahre machte sich Opposition in der DDR be-merkbar: der öffentlich bekundete, politisch begründete und mit der

Strukturkrise und Orthodoxie in der DDR 25

Mobilisierung Gleichgesinnter verbundene Versuch, sich der totalitärenMacht zu widersetzen27, im Unterschied zum Verhalten der Mehrheit derBevölkerung, das durch eine «weitgehende äußere Systemförmigkeit beigleichzeitiger innerer Distanzierung»28 gekennzeichnet war.

Oppositionelle Gruppen und Dissidenten formierten sich in ersterLinie im Umfeld der evangelischen Kirchen. Ursprünglich als Friedens-bewegung organisiert, wandten sie sich seit den mittleren achtziger Jah-ren, insbesondere nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986, vor-nehmlich ökologischen und Menschenrechtsfragen zu. Ihre Zielvorstel-lungen gingen freilich, wie im Falle der Friedensgemeinschaft Jena, überdas konkrete Einzelanliegen hinaus: deren Grundsätze aus dem Jahr198329 zielten auf «aktive Auseinandersetzung mit persönlichen undgesellschaftlichen Lebenssituationen und Strukturen» (und somit auf dieBereitschaft zur Systemkritik), auf die «Kennzeichnung der Militarisie-rung im gesamten Leben» (gegen den propagierten «Friedensstaat»DDR), auf «persönliche Freiheit des Einzelnen» und «Mündigkeit»,«eigenständige Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit» (und somitauf Freiheit des Individuums entgegen dem absoluten Wahrheitsanspruchder Partei), auf «Bereitschaft zur Auseinandersetzung und Dialogfüh-rung», auf «Offenheit für Neues und Andersdenkende» (und somit aufPluralismus anstelle sozialistischen Konformitätszwangs) sowie auf«Harmonie zwischen Menschen und Natur/Umwelt» (und somit gegendie umweltzerstörenden Folgen der sozialistischen Wirtschaftsform).

Unter dem Eindruck der Reformpolitik Gorbatschows formierte sichdie Opposition schließlich als Demokratiebewegung30, und so trat amEnde der achtziger Jahre die paradoxe Situation ein, dass die Sowjet-union zur Referenzgröße eher für die Opposition als für das Regimewurde, für das Moskautreue doch Zeit seines Lebens das Maß allerDinge gewesen war. Die Oppositionsgruppen stellten die Grundlagen desSED-Staates in Frage, ohne freilich die westlich-marktwirtschaftlicheLebensform anzustreben. Ihr Leitbild lag in einem «Sozialismus mitmenschlichem Antlitz» in Verbindung mit «christlicher Ethik, Abrüs-tungsengagement und Sorgen um die Gefährdung der Existenz derMenschheit»31. Eine Wiedervereinigung Deutschlands zählte daher nichtzu ihren Zielen, vielmehr wurde die deutsche Zweistaatlichkeit auch vonder ostdeutschen Opposition in aller Regel akzeptiert.

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Diese stand in den achtziger Jahren freilich am Rande der Gesellschaft.Mit einem Mobilisierungspotential von höchstens 5000 Personen32 warsie vorderhand keine wirkungsvolle politische Kraft. Nichtsdestowenigerfürchtete das Regime, so der stellvertretende Minister für Staatssicherheitim Jahr 1985, einen «Durchbruch im Sinne des politischen Pluralismusnach bürgerlichem Muster im Sinne der sogenannten Liberalisierung undDestabilisierung der politischen Machtverhältnisse», wenn es «auch nureiner dieser Gruppierungen» gelänge, «sich als legale Einrichtung zu eta-blieren»33. So versuchte die Staatsmacht, die oppositionellen Gruppenvon innen her zu zersetzen, und griff spätestens mit der wachsenden Prä-senz oppositioneller Kräfte seit Ende 1987 zu verschärfter Unterdrückungdurch den aufwändig ausgebauten Apparat des Ministeriums für Staatssi-cherheit. Dieser bediente sich eines Arsenals von Maßnahmen, die keineGrenze zur Privatsphäre kannten, von Observierungen und alltäglichenEinschüchterungen über psychologischen Terror und Zermürbungskam-pagnen bis hin zur Anwendung physischer Gewalt und zu Anschlägen.Als die DDR-Führung am 4. Juni 1989 die gewaltsame Niederschlagungder Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Pekingöffentlich begrüßte, war dies als Drohung dessen zu verstehen, was auchin der DDR denkbar wäre.

In der Bundesrepublik fanden die oppositionellen Bewegungen An-sprechpartner zumeist nur bei den Grün-Alternativen und in den Kir-chen. Bundesdeutsche Politiker anderer Couleur und Amtsträger hieltensich angesichts der zunehmenden offiziellen Kooperation mit der DDRgegenüber der inneren Opposition zurück. Die Parteiführung der SPDhatte in den achtziger Jahren mit der SED über den «Streit der Ideolo-gien und die gemeinsame Sicherheit» verhandelt, und gerade nach ErichHoneckers Besuch in der Bundesrepublik im Herbst 198734 reiste einewachsende Zahl von westdeutschen Ministerpräsidenten, nicht ohne ob-ligatorischen Fototermin, nach Ost-Berlin. Diese Zusammenarbeit nahmzuweilen erstaunlich vertrauliche Formen an. Als der CSU-AbgeordneteEduard Lintner, der als Kritiker der Situation der Menschenrechte in derDDR hervortrat, im Mai 1988 die DDR besuchen und dort auch den op-positionellen Pfarrer Rainer Eppelmann treffen wollte, bereitete die SEDein Einreiseverbot vor. Um einen Eklat zu verhindern, half der Leiter desArbeitsstabs Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt mit dem Rat, den

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Abgeordneten nicht einfach zurückzuschicken, sondern eine «elegantereLösung» zu suchen – die Ost-Berlin mit einer Absage aus «Kapazitäts-gründen» dann auch fand35.

Während die Opposition langsam aus dem Raum der evangelischen Kir-chen heraustrat, wurden diese vom Regime an die kürzere Leine genom-men und suchten ihrerseits Konflikte mit der Staatsmacht einstweilen zuvermeiden. Die Position der Kirchen in der Staats- und Gesellschaftsord-nung war seit jeher besonders prekär gewesen. In der marxistisch-leni-nistischen Erwartung ihres Absterbens trachtete ihnen das Regime nachder Existenz, musste sich jedoch, als die Utopie nicht wie erwartet Wirk-lichkeit wurde, mit ihrem vorläufigen Dasein abfinden. Dabei wurdenkirchliche Traditionen wie Erstkommunion und Konfirmation nach undnach durch staatliche Rituale wie die Jugendweihe abgelöst. Zudemwurden Christen politisch und gesellschaftlich benachteiligt, womit das

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Protokollarische Ehren: Bundeskanzler Helmut Kohl empfängt den Staatsratsvorsitzendenund SED-Generalsekretär Erich Honecker am 7.September 1987 in Bonn.

SED-Regime den allgemeinen Säkularisierungsprozess seinerseits be-schleunigte.

Die Minderheit der katholischen Kirche hatte sich in eine selbstge-wählte Ghettorolle begeben. Dabei hielt sie sich, obgleich sie das sozialis-tische System grundsätzlich ablehnte, auch gegenüber den Protestbewe-gungen unter protestantischem Dach fern. Der Protestantismus arran-gierte sich demgegenüber in seinen Stammlanden – in unterschiedlichemAusmaß – als «Kirche im Sozialismus»36. Diese Formel brachte das Ar-rangement der Kirchen mit dem Staat ebenso zum Ausdruck wie die fak-tische Anerkennung ihrer Existenz durch die SED. Auf der Grundlageexpliziter Systemloyalität gewannen die Evangelischen Kirchen Hand-lungsspielräume, deren Grenzen indessen stets die SED zog. In diesemRahmen blieben die Kirchen die einzigen weitgehend unabhängigen Insti-tutionen, in denen freier Meinungsaustausch möglich war. Zugleichwurden sie flächendeckend von der Staatssicherheit unterwandert, vonGemeindemitgliedern und Pfarrern bis an die Spitze: der Konsistorialprä-sident des Evangelischen Konsistoriums Berlin-Brandenburg, ManfredStolpe, wurde ebenso als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS geführt wie derGeneral-Superintendent des Sprengels Berlin in der Evangelischen KircheBerlin-Brandenburg, Günter Krusche, oder der Bischof der EvangelischenLandeskirche Greifswald, Horst Gienke. Vertraulichkeiten zwischen denVerhandlungspartnern aus Staat und Kirche stellten sich ein.

So trug die «Kirche im Sozialismus» einen Januskopf: «Widerpartstaatlicher Allmacht»37 und Dach für oppositionelle Gruppen auf dereinen Seite, Verhandlungspartner und teils gar konspirativer Helfer vonSED und Staatssicherheit auf der anderen. Zwangsläufig war ihr Ver-hältnis zu den Oppositionsgruppen, die sich unter ihrem Dach sammel-ten, ambivalent und problembeladen. Vor diesem Hintergrund spieltendie Evangelischen Kirchen im Jahr 1989 eine ebenso zentrale wie zwie-spältige Rolle.

Das Legitimationsdefizit war für das SED-Regime stets ein Problem ge-wesen, erträglich freilich, solange die Fundamente des politischen Sys-tems trugen. Unter dem Druck der wachsenden ökonomischen Problemeund der Auswirkungen der Reformen in der Sowjetunion gerieten eben-diese Grundlagen jedoch ins Wanken. Letztlich besaß die SED-Führung

Strukturkrise und Orthodoxie in der DDR 29

keine systemwahrenden Konzepte für eine eigene Gestaltung des Wan-dels. Die zunehmende Resignation innerhalb der breiten Bevölkerung,die Aktivierung der Opposition und verschärfte Repressionen durch dasreformunwillige Regime – all dies häufte am Ende der achtziger JahreKonfliktstoffe in bald kritischer Masse an.

Im Nachhinein ist diese Bündelung von Problemen leicht als existenz-gefährdende Strukturkrise erkennbar. Für den historischen Moment hin-gegen stand die DDR weder im Osten noch im Westen in Frage, auchnicht für den zeitweilig in die Bundesrepublik abgeschobenen DDR-Op-positionellen Wolfgang Templin: «Bei aller Dynamik der Reformbewe-gungen in der Sowjetunion und Ländern wie Polen und Ungarn und derCSSR und DDR als Bremsern ist von einem Zerfall der Blockstrukturennoch lange nicht zu sprechen.» Seine Zukunftsperspektive hielt sich sehrviel näher an die Realitäten: «Wenn der wachsende Druck aus der Bevöl-kerung, die Initiativen der unabhängigen Bewegung und die verborgenenReformkräfte der Partei endlich zueinander finden, wird die DDR ihreneigenen Weg zur Demokratie gehen.»38

Was in dem knappen Jahr zwischen den Vierzig-Jahres-Feiern am7. Oktober 1989 und dem Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober1990 tatsächlich geschah, war aus allen ostdeutschen Perspektiven imSommer 1989 schier undenkbar. Kaum anders verhielt es sich in der Bun-desrepublik.

3. «Modell Deutschland»: Die Bundesrepublik im Boom«Modell Deutschland»

1989 feierte die Bundesrepublik ihren vierzigsten Geburtstag. Der alsProvisorium gegründete Weststaat hatte sich verfassungspolitisch undpolitisch-kulturell, ökonomisch und gesellschaftlich, im Innern und nachaußen etabliert und prosperierte. Allerorten wurde Bilanz gezogen, undfast überall war der Tenor positiv, ja hymnisch.

Die Bundesrepublik, so resümierte Karl Dietrich Bracher, einer derNestoren der bundesdeutschen Politikwissenschaft, «gewann mit derzügigen Entwicklung und ihrer Stabilisierung als eine parlamentarischeDemokratie […] eine neue, adäquatere Rolle als mittlere Macht miteinem engen Verhältnis zu Westeuropa, in freiheitlicher Selbsteinschät-

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