Andri Perl. Die Luke. Roman

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Andri Perls zweiter Roman »Die Luke« ist eine Liebeserklärung an sein eigenes Viertel in der Stadt. Perl kombiniert ein Kabinett von präzise gezeichneten Charakteren mit der latenten Spannung eines guten Kriminalromans und lässt die Geschichte um eine Luke in einem Mietshaus kreisen. In konsistentem Stil und eleganter Sprache beschreibt er die ganz normalen Menschen und Tragödien. Mit subtilen dramaturgischen Kniffen und in gepflegtem Ton versteht es Perl, das Alltägliche zu verdichten und Spannung zu entwickeln. Perls Figuren wachsen einem sofort ans Herz, man hofft das Beste für sie, freut sich mit ihnen, leidet mit ihnen und will vor allem nicht, dass dieses Buch je zu Ende geht.

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Der zwanzigste September

In diesen lichten Tagen nach einem lichten Sommer ist er in die Verges-

senheit der Stadt geraten, schläft er tief unten auf dem Grund des Sees.

Schon morgen aber kann er erwachen: der Nebel. Wie eine trittunsichere

Amphibie nach der Verwandlung wird er seinen nassen Schlupfwinkel zu-

nächst kaum verlassen und sich nur in der Dämmerung zeigen. Einzelne

Schwaden in der Frühe, am Abend, entlang der Gewässer. Nicht der Rede

wert. Bald allerdings gleichen sich Tag und Nacht, und je länger die Nächte

dauern, desto schwächer wärmt die Sonne die Landschaft zwischen den

Hügelketten, desto eher sättigt Feuchtigkeit die Atmosphäre. Nun braucht

bloß noch lauere Meeresluft aus dem Süden auf die kühlen, bodennahen

Luftschichten zu sinken, damit der Himmel für Wochen verschwindet.

Dass das schöne Wetter anhält, kann natürlich auch sein; sogar bis in den

Oktober hinein könnte es sich vor der kommenden Kaltfront retten, vermu-

ten die Meteorologen vom staatlichen Fernsehen. Und sind die Blätter der

Bäume nicht noch ziemlich grün? Die Wespen nicht immer noch ärgerlich

flügge? Dringt die Helligkeit nicht immer noch früh durchs Wohnzimmer-

fenster, so wie jetzt? – Doch, aber man darf ihm einfach nicht trauen, dem

Nebel, erst recht nicht während seiner Absenz.

Ottavio Solari zieht also die Reservierungsbestätigung für die ersten beiden

Übernachtungen aus dem Gerät und legt sie auf den Ausdruck des Flugti-

ckets. Eine Liste mit den wichtigsten Nummern, die er führt, seit ihm ein-

mal das Telefon gestohlen wurden, druckt er ebenfalls. Dann fährt er den

Computer herunter. Er schiebt ihn ins Schutzetui, rollt das Kabel gleichmä-

ßig auf und verstaut alles in der Schreibtischschublade. Die Dokumente hat

er beisammen. Als er durch den neuen Pass blättert, um die Fotografie mit

dem Geburtsdatum zu vergleichen, lächelt er über seine eigene Eitelkeit.

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*

Es ist kurz nach acht. Die Tür zur Wäscherei in der Höfestraße steht offen,

weshalb die Klingel stumm bleibt. Ottavio Solari weicht einem hölzer-

nen Waschzuber aus, der gut zwei Jahrhunderte alt sein muss, und sieht

sich um. Auf dem Tresen stapeln sich Prospekte eines Goldakquisiteurs

und Werbung für das Konzert einer Folkloreband. An einem Korkbrett

hängen Zeichnungen von Ümits Zwillingstöchtern. Solari möchte seinen

Leinenanzug und das anthrazitgraue Jackett abholen, es bedient gerade

niemand die Kasse. Eine Weile betrachtet er die aneinandergereihten

Stoffe in ihren Klarsichthüllen, wobei er überlegt, ob er nicht noch ein

paar leichte Hemden kaufen sollte beim Herrenausstatter gegenüber dem

Kino Astra. Wobei er zudem überlegt, wie der Herrenausstatter gegen-

über dem Kino Astra neuerdings heißt.

»Hallo? Ümit?«

Eine junge Frau, die er hier bisher nie gesehen hat, schiebt den Kunst-

perlenvorhang zur Seite, raunzt etwas nach hinten, indem sie kurz den

Kopf wendet, und kommt mit einem Waschbrett unter dem Arm aus dem

Nebenraum. Nach einem Morgengruß schlendert sie hinter der Theke

hervor, um das Waschbrett in den Zuber zu stellen.

»Ist für das Schaufenster«, erklärt sie.

»Das habe ich mir gedacht. Schöne Stücke. Wo haben Sie die denn ge-

funden?«

»Weiß gar nicht genau. Mein Onkel hat sie aufgetrieben.«

»Ach so. Ist er auch hier?«

»Nein, er arbeitet heute nicht. Wie kann ich helfen?«

Sie nimmt den Abholschein, den ihr Solari hinstreckt, und verschwindet

zwischen den Kleiderbahnen. Die setzen sich in automatische Bewegung.

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Währenddessen begutachtet Solari den ausgelaugten Holzrat genauer.

Die Fassreifen des Bottichs sind etwas rostig, versteht sich, aber sonst …

Ümit hatte zwar stets ein gutes Auge auf den Flohmärkten, hier jedoch

richtiges Glück: Solche Gegenstände findet man vor allem bei den Auk-

tionshäusern im Netz, aufgrund der Abbildungen könnte man sich auch

täuschen. Besser, der Besitzer der Wäscherei hätte ihn, seinen Nachbarn

von der Antiquitätenhandlung, zusätzlich um Rat gefragt.

»Der Anzug und dieses Jackett?«

»Genau. Vielen Dank.«

»Dann ist das okay. Danke auch und einen schönen Tag.«

Seit Ümit vermehrt Scherereien mit Geschäftsleuten zu beklagen hat, die

ihre Hemden nicht mehr abholen, wenn sie beinahe von einem Tag auf

den anderen ins Ausland versetzt werden, gilt in der Wäscherei Voraus-

bezahlung. Auch für Solari, der sich gegen eine Ausnahme davon gewehrt

hat.

»Ihnen auch einen schönen Tag. – Sagen Sie, Sie arbeiten noch nicht lan-

ge hier, oder?«

»Nein, das ist erst meine zweite Woche«, antwortet die junge Frau, bange,

ob sie nicht irgendeinen dummen Fehler begangen hat.

»Ich führe den Laden gleich nebenan und habe Sie noch nie gesehen, des-

halb die Neugier. Richten Sie Ihrem Onkel einen Gruß von mir aus. Von

Ottavio. Und sagen Sie ihm, dass ich doch eine Woche länger gebucht

habe, so wie er es mir geraten hat. Nicht dass er sich Sorgen macht um

mich.«

*

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Den Anzug und das Jackett über der Schulter fühlt Ottavio in der Hosen-

tasche nach dem Schlüsselbund. Obschon er gestern Abend aufgeräumt,

abgestaubt und die Bodenplatten gewischt hat und obschon an der Glastür

neben der Wäscherei bereits das Schild hängt, das auf die Betriebsferien

hinweist, betritt er nochmals das Ladenlokal der Antiquitäten und De-

votionalienhandlung Solari. Gründlich streift er seine Schuhe am borsti-

gen Teppich ab, wozu kaum Notwendigkeit besteht, denn zwischen dem

Mietshausausgang und den Geschäftseingängen misst der Weg nicht weit:

nur die Breite der Einfahrt in den Innenhof plus diejenige der Fensterfront

seines Ladens. Dennoch begutachtet er seine Sohlen, bevor er zum halb-

mannshohen Tresor geht, einem teakhölzernen Repräsentationsmöbel mit

mehreren Stahlfächern, das mehr Wert hat als das meiste, was der Antiqui-

tätenhändler je in ihm aufbewahrte. Bargeld bringt er nämlich ohne Ver-

zug zur Kantonalbankfiliale um die Straßenecke. Nun steckt er einen Stift,

klein und doppelbärtig, in die dafür gefertigte Öffnung, mit einem Dreh die

Mechanik des Zahlenschlosses zu entriegeln.

Ihre Jahrgänge reihen sich zur Kombination, doch beim Drehen des Räd-

chens denkt er nur mehr selten an die einstigen Liebschaften jenseits der

Alpen. Er denkt nur mehr selten an die Briefnachrichten, selten an die Küs-

se, an den Reiz, selten an den Platz beim Fluss, seltener noch an all die ver-

schuldeten Tränen. Sein Verhältnis zur Nostalgie ist gespalten: Einerseits

verdankt er ihr aufseiten von Teilen der Kundschaft Teile seines Verdiensts,

andererseits würde er letztlich gar nichts verdienen, verginge die Zeit nicht

nach und nach. Ihr hinterherzutrauern, liegt ihm fern. Höchstens das Kurz-

zeitgedächtnis von vor manchen Jahren hätte er gerne zurück. Im Tresor

lagern neben etwas Silberschmuck wichtige Geschäftsunterlagen wie die

Inventarlisten. Ottavio Solari zweifelt, ob er die gestrige Lieferung eingetra-

gen hat: ein gut erhaltenes Röhrenradio Marke Telefunken. Hat er? Er hat.

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Zeige- und Mittelfinger der linken Hand halten noch immer den Kleider-

haken, während er den Safe wieder schließt. Früher war das Nachführen

der Inventarliste eine Selbstverständlichkeit, seit einigen Monaten, da er

bloß noch vereinzelt Ankäufe tätigt, muss er sich wieder bewusst daran

erinnern. Nicht mehr lange. Den Lagerraum im Untergeschoss, nur über

eine steile Treppe zu erreichen, hat er nach der Hüftoperation frühzeitig

an einen befreundeten Berufskollegen weitervermietet. Nächsten Som-

mer hört Solari ganz auf. Dann wird er fünfundsiebzig.

*

Zwei Aufzüge fahren im Mietshaus. Ihre Kabinen bedrücken einen mit

Enge, mit Schäbigkeit geradeso. Es riecht nach altem, kaltem Zigaret-

tenrauch. Zuneigungsbekundungen ritzen und zeichnen die rostroten

Wände. Jolanda, du geile Sau. Zuneigungsbekundungen, Flüche, die

Kürzel der Quartierjugend und der rivalisierenden Fußballklubs, diver-

se Hakenkreuze, die wiederum wütend übermalt wurden. Solari hat die

Knöpfe beider Aufzüge gedrückt. Insgeheim hofft er auf den linken, weil

beim rechten der Boden leicht nachgibt, sobald man hineinschreitet. Das

verunsichert ihn stärker, als er sich eingestehen will. Langsam schmerzen

die Finger vom Draht des Kleiderhakens.

*

Gemächlich brodelt der Kaffee durch das Steigrohr der Mokkakanne.

Die Rosinen, die sich der Antiquitäten- und Devotionalienhändler in den

Mund steckt, waren bis eben das Überbleibsel eines Geschenkkorbs, den

er von einer Kundin erhalten hatte. Sie war überzeugt davon, ein galicis-

ches Steinkreuz habe ihre Gicht gelindert. Solari hebt die Augenbrauen,

wenn er daran denkt. Dass er Andachtsgegenstände verkauft, begründet

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sich nicht in seinem Wunderglauben, und dass das Steinkreuz aus der

Nähe von Santiago stammt, war eine dürftig begründete Mutmaßung. Er

hatte es auf dem Flohmarkt beim Schulhaus Buchenhof erworben.

Der Duft. Unzweifelhaft brüht Solari den besten Espresso in seinem Be-

kanntenkreis, wovon er sich an diesem Morgen die zweite Tasse eingießt.

Sie steht ohne Untersatz auf der Küchenablage. Über die Küchenablage

hinweg schaut er aus dem frisch geputzten Fenster. Er mag die Aussicht

vom dritten Stock auf die verkehrsberuhigte Mettlerstraße, besonders um

diese Zeit, die den Gehsteig sachte belebt. Eine Parkbuße wird ausge-

sprochen, ein Kinderwagen gebremst, da Schuhe geschnürt werden müs-

sen, der Platz unter dem Vordach des Bordells wird gefegt. Eine Häuser-

zeile weiter arbeiten die beiden Architektinnen und ihre Gehilfen bereits

emsig; damit das auch alle bemerken, fehlen im Büro die Vorhänge. Eine

Parkbuße mehr, zugleich rieselt Zucker in die Tasse, Zucker in die Tasse,

Zucker in die Tasse.

*

Viel zu viel Gerümpel, der Preis für die Ordnung in der Zweizimmerwoh-

nung und nicht etwa Ausschussware des Geschäfts, füllt Ottavios Keller-

abteil. Im schummrigen Verschlag stemmt dieser einen Liegestuhl gegen

die eingerollte Gästematratze und angelt hinter den Blumenkisten nach

seinem Koffer. Unter ziemlicher Anstrengung, aber behutsam zieht er ihn

hervor, danach lässt er den Liegestuhl zurücksinken. Irgendwo rutschen

einige Kartons noch tiefer in die Dunkelheit. Einerlei. Zufrieden rollt er

den robusten Schalenkoffer auf den Korridor, wirft nochmals einen Blick

auf das Durcheinander und verriegelt das Abteil.

Im kargen Vorraum zu den Kellergängen, der im Atomkrieg vielleicht

als Bunkerschleuse dienen würde, klebt ein grell orangefarbenes Band,

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das vor einer Videoüberwachung warnt, die es offensichtlich nicht gibt,

also auch niemanden darin hemmt, seinen Sperrmüll hier zu deponieren.

Kommt er daran vorbei, belustigt Solari dieses Band jedes Mal, und jedes

Mal nimmt er sich vor, Hans, der den Hauswartsposten hält, darauf an-

zusprechen. Nachdenklich, weshalb er es nie getan hat, setzt er den Fuß

auf die erste Stufe. Leider ist das Treppensteigen unvermeidbar, der Lift

fährt nur bis ins erste Untergeschoss, der Keller liegt noch tiefer. Aber

Solari hat ja keine Eile. Er greift nach dem Handlauf, wie es die Unfallver-

sicherung auf sämtlichen Plakatwänden der Stadt empfiehlt.

Nachdem er den Absatz vor dem nächsten Treppenlauf erreicht hat, hält

er kurz inne neben einer Metallklappe im Beton, die sich kraft zweier gro-

ber Hebel öffnen lässt. Es ist die Einstiegsluke in einen schmalen Flucht-

tunnel aus den Rettungsräumen. Die zuständige Einheit der Zivilschutz-

organisation hat den Durchgang seit Ewigkeiten nicht mehr kontrolliert,

geschweige denn vom Unrat gesäubert, weil die ganze Anlage längst keine

Rolle mehr spielt in den Szenarien der Katastrophendienste. Und Hans

Segmüller, den Ottavio vor dem Abflug heute Nachmittag wohl gar nicht

mehr sieht und wegen der Videoüberwachung ärgern kann, Hans Seg-

müller also halst sich ohnehin zu viel Arbeit auf, als dass er sich auch

noch um die Luke kümmern wollte. Ein sicheres Versteck. Für drei Wo-

chen sicher. Der Antiquitätenhändler widersteht seinem Kontrolltrieb

und trägt den Koffer hoch zur Kellertür.

*

Um einem Zweig etwas Wohlgeruch abzugewinnen, reibt er ihn zwi-

schen den Fingerbeeren. Topferde und ätherische Öle. Den Salbei und

den Thymian hat er vorhin auf die Küchenablage ans Licht gestellt; den

Rosmarinstrauch, er leidet besonders unter etwaiger Nässe, holt Solari

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soeben vom bescheidenen Balkon ins Wohnzimmer. Nicht dass er für sei-

nen pollo arrosto, den er in der Nebelzeit häufiger als sonst zuzubereiten

pflegt, auf Beutelgewürze zurückgreifen muss. Hans hat ihm ungeachtet

der vielen Arbeit versprochen, die Zimmerpflanzen zu wässern und die

Kräuter im Auge zu behalten. Mit ihm verbindet ihn nicht allein die Tat-

sache, dass er auf derselben Etage wohnt, sondern eine Freundschaft, die

sich im Laufe der Jahre abgekühlt hat, doch immer noch für gute Worte

und Dienste bürgt.

*

Lediglich drei Querstraßen vom Hotel entfernt leuchteten damals Ne-

onschleifen den verheißungsvollen Namen einer Bar in den Abend. Weil

Hans die süßen Mischgetränke und den Zuckerrohrschnaps in der Ur-

laubswoche zuvor nur anstandshalber gekostet hatte, bestellten sie ameri-

kanisches Bier. Endlich konnte auch er sich entspannen, man sah es ihm

an. In Rio fürchtete er andauernd, überfallen oder wenigstens überlistet

zu werden, dieses Städtchen im Hinterland hingegen behagte ihm, und

wiewohl er – eine Frage des Berufsethos – noch weit mehr auf Reinlich-

keit hielt als Ottavio, behagten ihm auch die abgewetzten, fleckigen Ses-

sel. Die beiden versuchten, sich die Orte in Erinnerung zu rufen, die sie

an jenem Tag mit dem Mietwagen durchquert hatten. Die Aussprache des

brasilianischen Portugiesisch bereitete Hans dabei insofern keine Mühe,

als er sich keine Mühe gab, es fehlerfrei auszusprechen.

Ottavio Solari hatte seinen zurückhaltenden Nachbarn, der auf die vier-

zig zuging, gedrängt, sich endlich wieder einmal ausgiebig zu erholen und

mit ihm nach Brasilien zu reisen. Das würde ihm guttun, Kultur und Son-

ne. Leute kennenzulernen, Feste zu feiern. Nach der Lektüre eines dicken

Katalogs erklärte sich Hans einverstanden. Allerdings löste sich seine

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Klammheit nicht einfach mit Ferienbeginn und Ottavio begann ernsthaft,

die meisten von Hans‘ Eigenarten als unweigerliche Folge seines Ausse-

hens zu deuten. Er macht es bis heute. Denn auch wenn es ihm leid tut:

Hans ist nun mal hässlich geblieben. Nicht nur wegen der Lippenspalten-

narbe oder dem Schnauzbart, der sie zu kaschieren versucht.

Wie er nach der dritten Flasche Bier vom Pissoir in die Bar zurückkehr-

te, wunderte sich Solari umso mehr. Hans unterhielt sich angeregt mit

der Bardame über Volleyball. Sein Englisch klang täuschend ähnlich wie

seine paar Brocken Portugiesisch oder sein Schweizerdeutsch, aber er

kannte einige Spieler und wusste, dass die Nationalmannschaft Brasili-

ens seit siebenundsechzig ausnahmslos alle Südamerikameisterschaften

gewonnen hatte, zumindest bei den Herren. Lívia offerierte eine Runde.

Den Sommer darauf flog Ottavio wieder alleine in den Urlaub. Hans um-

sorgte zu Hause seine Frau und seinen neugeborenen Sohn Gilberto, des-

sen Namen er perfekt aussprechen konnte.

*

Auch dieses Jahr wird Ottavio alleine reisen. Er bestimmt aus dem Bücher-

regal die Zerstreuung für den Flug und engt sie in den kleinen Rucksack,

den er nun der Auslegeordnung auf dem Bett beifügt, über den Toiletten-

artikeln und der Wäsche. Damit sie möglichst wenig Platz einnehmen, hat

er die Stöße der gebügelten Unterhosen und -hemden abermals gebügelt.

Auf dem Kopfkissen schichten sich die Oberhemden. Den Plan, neue zu

kaufen, hat er verworfen, dafür ist ihm der Name des Herrenausstatters

inzwischen eingefallen: Mercier. Die einzige Jeans, die er besitzt, liegt be-

reits im Koffer, die luftige Baumwollhose ebenfalls. Der Anzug und das

Jackett verhängen im Türflügel des Schranks den Spiegel. Ehe Solari sie

nach der Weise, wie er es im Militärdienst erlernte, zusammenschlägt,

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sollte er noch eine Krawatte auswählen. Besser zwei. Sorgfältig kämmt er

seine Sammlung durch, wägt die Anlässe ab, die eine Krawatte erfordern,

diejenigen, die eine Krawatte erlauben. Am besten also drei oder vier. Das

Ultramarin der seidenen, die er sich zum Siebzigsten leistete, könnte zum

Leinenanzug passen, Seide und Leinen, Leinen und Seide, puh …

Da fällt dem Antiquitätenhändler ein, dass ihn auch Anlässe erwarten, die

eine Badehose erfordern. Das Landhaus außerhalb von Belo Horizonte

verfügt schließlich über ein Schwimmbecken. Er ärgert sich. Neue Hem-

den nicht zwingend, fraglos jedoch hätte er eine neue Badehose auftreiben

sollen. Jetzt bleibt nicht mehr genug Zeit dafür. Er kennt seine Schwank-

heit, sieht voraus, dass die Entscheidung für ein passendes Modell erst

nach wiederholtem Meinungswechsel fiele. Die Zugfahrt zum Flughafen

aber will er auf keinen Fall zu spät antreten, weshalb die sonnenbleiche

Speedo noch einmal zu Ehren kommt. Aus der Küche schleppt er einen

Schemel herbei, um an das oberste Brett des Wandschranks zu gelangen,

wo die Badeutensilien weggepackt sind. Eigentlich mutet er seinen nack-

ten Bauch der Öffentlichkeit nur noch ungern zu; dem heißen Sommer

zum Trotz schwamm er nicht ein einziges Mal im See. Doch das abge-

schiedene Landhaus bewirkt eine andere Sachlage. Eine gänzlich andere

Sachlage. Ob das Strandtuch überhaupt in den Koffer passt? Braucht er

überhaupt eines? Wer einen Pool hat, hat doch auch Tücher.

Indes er sich das durch den Kopf gehen lässt und sich auf dem Schemel

nach der Sporttasche reckt, fängt sein Mobiltelefon an, Lucio Battisti zu

spielen. »La canzone del sole« aus der Lendengegend. Ottavio Solari ver-

sucht, die Badetasche aus dem Schrank zu zerren und zugleich den An-

ruf entgegenzunehmen. Eine schlechte Idee, insbesondere für jemanden,

dessen Balance ohnedies an den Nachwehen eines Hüfteingriffs krankt.

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Gebunden ISBN 978-3-905801-90-3E-Book ISBN 978-3-905801-91-0

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