Angeblich traut sich die Polizei nur noch in ... · Verkommt der Südosten Kreuzbergs zum Slum? Wo...

1
BEZIRKE SEITE 14 / DER TAGESSPIEGEL JD JL/ L^ 1 XV XV Xu Nr. 16 599 / SONNTAG, 7. FEBRUAR 1999 Angeblich traut sich die Polizei nur noch in Mannschaftsstärke in die Wrangelstraße. Was ist hier los? Verkommt der Südosten Kreuzbergs zum Slum? Wo arme Nicht-Deutsche neben nicht-reichen Deutschen leben E rkan kommt gleich zur Sache. Er legt seinen rechten Arm auf die linke Schul- ter des Besuchers, verlagert dahin sein Körpergewicht und fragt: „Du machst hier Interviews?" Richtig. „Bist du vom Fernse- hen?" Nein. Die zwei türkischen Mädchen, deren Gespräch mit dem fremden Gast Erkan abrupt unterbrochen hat, rufen: „Das ist der Tagesspiegel!" Erkan nickt und meint dann: „Das ist eine gute Zeitung". Danke. Sein Arm hebt sich, „gleich redest du mit mir, ja?" Ja. Die beiden Mädchen sind auch sofort einver- standen. Der 16jährige, kurzgeschorene Hauptschüler genießt Respekt in der „Nau- nyn Ritze", dem einzigen Jugendzentrum VON FRANK JANSEN weit und breit und mit Magnetkraft über die Naunynstraße hinaus. Erkan gehört zu den „36 Boys", einer Art B-Jugend der legendären Kreuzberger „36ers"-Gang. Viermal habe ihn die Polizei mitgenommen, immer ohne Grund, „ich hasse die". Eine urdeutsche Eckkneipe in der Wran- gelstraße. „Bitte schreiben Sie nicht den Na- men", der junge Wirt rückt seine Brille gera- de, „sonst stehn' mir die Türken aufm Hals". Letztes Jahr habe er die Polizei gerufen, weil ein Türke ihn mit einem Messer bedroht habe. „Der wollte die Leute zum Geldspiel auffordern, da hab' ich ihn rausgeworfen." Acht Beamte seien gekommen, „die haben den Türken mitgenommen. Plötzlich sind alle Türken aus ihren Kneipen herausgekom- men und haben gebrüllt, 'Scheiß Deutsche', 'Scheiß Bullen'". Ein Gast, etwa doppelt so alt wie der Wirt, mischt sich ein. „Mir harn' se im Dezember überfallen, drei Türken. Ick hab' meene Wohnung uffjeschlossen, da kamen die 'rin, ham mir den Mund zugehalten, buff, Brieftasche weg." Wirt und Gast sind sich ei- nig: Mit älteren Türken kann man auskom- men, doch alle jugendlichen, die „rumlun- gern" und keine Arbeit haben - „rausschmei- ßen". Der Wirt hat schon seine Unterschrift zur CDU-Kampagne gegen die doppelte Staatsangehörigkeit beigesteuert, seine tief- braungebrannte Frau wählt die 'Republika- ner'. Auch wegen der acht Einbrüche und Einbruchsversuche im letzten Jahr. Der Wirt ist bedient, „die Stimmung is' überall detsel- be. Demokratie jut und schön, aber wir sind die Angeschissenen". Die Wrangelstraße. Wie ganz Kreuzberg mit dem Image „die Bronx von Berlin" ge- schlagen, ähnlich wie Wedding und Neu- kölln, bei entsprechendem Schlagzeilenbe- darf. „Kreuzberg verslumt zunehmend", ha- ben Polizeibeamte, anonym, dem Tagesspie- gel im Januar erzählt. Das Quartier SO 36 „faule innerlich weg". Der Bereich um die Wrangelstraße werde „nur noch in Mann- schaftsstärke" aufgesucht. Andererseits sei im Wrangelkiez eine erstaunlich niedrige Kriminalitätsrate zu verzeichnen. Aber nur, weil die Bewohner „das alles unter sich re- geln". Behauptungen, die erschrecken, aber auch Ratlosigkeit hinterlassen. Was spielt sich in SO 36 und speziell der Wrangelstraße tatsächlich ab? Sind der polizeibe- kannte Erkan und die Rep-wählen- de Wirtsfrau typisch für „die" Tür- ken" und „die" Deutschen? Sicher ist erstmal nur eines: Wer sich in der Wrangelstraße umschaut, wird mit einer komplexen Multikulti- Szene konfrontiert. „Friedr. Heinrich Ernst / Graf von Wrangel / Generalfeldmarschall u. Ehrenbürger v. Berlin / * 1784 t 1877" ist auf dem Straßenschild zu lesen. Die nach dem Haudrauf- Offizier benannte Verkehrsader wirkt geographisch wie ein Relikt preußischer Strenge. Sie mißt exakt anderthalb Kilometer, verläuft schnurgerade (an der ehemaligen Wrangelkaserne vorbei), an den Endpunkten thront je ein altehr- würdiges Gotteshaus: im Nordwe- sten die St.-Thomas-Kirche, im Südosten die der Taborgemeinde. Die Straße ist eine der zentralen Le- benslinien des ehemaligen „SO 36", wie der südöstliche Teil Kreuzbergs bis zur Umstellung der Postleitzah- len offiziell hieß. Doch Essosechsn- dreißich lebt in den Köpfen weiter. Mit Legenden, Spannungen, Widersprüchen. In den meist 100 und mehr Jahre alten Mietskasernen der Wrangelstraße und ihrer näheren Umgebung wohnen rund 23 000 Menschen. Etwa die Hälfte sind „Personen nichtdeutscher Herkunftssprache", wie ein offiziöser Sammelbegriff für Ausländer, Dop- pelstaatler und eingebürgerte Bewohner mit nur noch deutschem Paß lautet. Davon haben 70 Prozent türkische (oder kurdische) Wur- zeln. Die Arbeitslosenquote ist mit 30 Pro- zent ungefähr doppelt so hoch wie in Berlin insgesamt. Bei der nichtdeutschen Bevölke- rung sind es 34 Prozent. Das Monatseinkom- men pro Haushalt liegt im Schnitt bei 2700 Mark, türkischerseits sind es 300 Mark weni- ger. Und noch ein Wert: Der Anteil junger Menschen an der Bevölkerung ist im Berliner Vergleich der vierthöchste. Bunter, aber auch fragiler kann ein Quartier kaum sein. Was sich schon am grellen Outfit der Wrangelstraße ablesen läßt. Ein Teil der Be- wohner läßt den sozialen Druck der Mietska- sernen an die Hauswände zischen. Wie in SO 36 überhaupt sind die Souterrains durchgän- gig bis auf Kopfhöhe graffitisiert. „Hier nie- mals Nazi-Schweine", „Ceylan seni sevmiyo- rum" (Ceylan, ich liebe dich nicht), „FUCK THE POLICE", „Yolumuz PIR Sultanlann Yolu- dur!" (Unser Weg ist der Weg des Pir Sultan; gemeint ist ein alevitischer Dichter, der vor 400 Jahren gelebt hat), „Wer sich nicht wehrt, landet am Herd!" „BULLE BUH!". „Berlin bleibt dreckig". Dazu die „tags" der Kunst- sprayer, große Buchstabenkombinationen, die manchmal kaum zu entwirren sind. Rat- los macht auch die riesige Parole an der WEDER IDYLL noch „gefährlicher Ort": Die Wrangelstraße, eine der Lebensadern des Kreuzberger Viertels SO 36. Fotos: Mike Wolff Hochbahn-Brücke, die parallel zur Skalitzer Straße die Wrangelstraße kreuzt: „Kampf dem Völkermord". Aber wo? Im eigentlichen Wrangelkiez, dem Geviert zwischen Spree, Bezirksgrenze zu Treptow, Görlitzer Park und Zeughofstraße, dominie- ren kleine Geschäfte. Altdeutsch, deutsch-al- ternativ, türkisch. „Yousef Einzel & Großhan- del Textilien", „Lukas Apotheke", „Türkiyem Coiffeur", „Ufuk Bäckerei", „Eier-Schulz", „Fisch-Schmidt", „Holz & Kohlen", „Biotopia Gemischtwaren Ladenkollektiv", „Bahia Hängematten", „Onur Air", „Bizim Bakal Obst und Lebensmittel". Ein „Call-Center" wirbt mit günstigen Telefontarifen, „Billigwie noch nie! Aserbaidschan 1,39 DM". Eckkneipen wie „Wrangel-Eck bei Ingrid und Rolf und „Zum alten Wrangel" ergänzen sich mit „Ala- nya Bistro" sowie anderen türkischen Loka- len. Eines hat erst kürzlich geöffnet und noch keinen Namen. Dennoch ist klar, welche Community hier verkehrt. Und welche nicht. Das Männercafe. Die etwa zehn Tische sind vollbesetzt mit qualmenden Männern. Spiel- karten zischeln über die Resopalplatten, el- fenbeinfarbene, dominoartige Steinchen klacken hin und her. Am letzten Tisch neben dem Fenster sitzen ein Maler, ein Frührent- ner, ein Heimerzieher, zwei Estrichleger. Das Alter: 26 bis 55. Jeder ist Türke. Ohne zweiten Paß. „Aber ick war fünf Jahre in der FPR", der Maler lacht. Allerdings habe er sich als einzi- ger Türke in der Freiwilligen Polizeireserve sehen Linksextremisten eine Brandflasche wert. Trotzdem: Eine Rückkehr in die Türkei kommt nicht in Frage, „ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft beantragt". Mehr Infor- mation muß nicht sein. Händedruck, Män- nerblick. Der Kaffee war umsonst. Etwa 100 Meter entfernt, in der Cuvrystra- ße, hin zum Görlitzer Park, breitet sich hinter den Gründerzeitfassaden ein großer, alter Backsteinblock aus. „Kerngehäuse - Leben und Arbeiten im Blockkern" steht auf den Ta- feln, die durch die Vorderhaus-Torein- fahrten zu erkennen sind. Die ehemalige Kindemähmaschi- nenfabrik wurde An- fang der achtziger ~~~~~~~ Jahre besetzt, ein großer Teil der einstigen Jungrebellen lebt noch heute hier. Die bürgerliche Presse bleibt weiterhin ungeliebt, doch eine Bewohnerin erklärt sich bereit, Einblick in Loft und Leben zu gewähren. Wenn der Name nicht genannt werde. Das Kollektiv hat sich zwar längst zum Ensemble arrivierter Kleinunternehmer und Jungfamilien gewandelt, ist aber als Kor- rektiv im Kopf noch präsent. Diese Art Nest- wärme hält offenbar viele Bewohner im Kerngehäuse. Was sich draußen tut, schreckt manche allerdings ab. „Das Kerngehäuse ist eine Idylle, wie ein Insel", sagt die junge Frau, „aber ich möchte gerne weg. Wenn dieses Die Lehrer zogen Messer, lange Nägel und Trommelrevolver ein KONTRASTE. Alternativszene und türkische Bevölkerung leben nebeneinander, kaum miteinander. nicht wohl gefühlt, „die anderen waren mehr rechts als normal". Der junge Erzieher mit den strähnigen schwarzen Haaren nickt, „Po- lizei is' sowieso Scheiße". Klack-klack-klack, alle Steinchen fliegen in die Mitte, werden von vielen Händen fix durchmischt. Dann geht's weiter. Vier Männer haben abgegriffe- ne Holzleisten vor sich, auf denen, vor den Blicken der Mitspieler geschützt, die Stein- chen nach Zahlen und Bildmotiven geordnet werden. „Det Spiel heißt 'Okey'", sagt der Ma- ler, ,,is' wie Romme". Allzuviel reden die Männer nicht. Teetrinken, Rauchen und Spie- len - das reicht. Au- ßerdem sind die Deutschkenntnisse begrenzt. Der Fremdling steht auf. „Das war mal eine deutsche Eckknei- ^~^^~~ pe". sagt der neue Besitzer. Mit einer Benennung habe er es nicht eilig, „vielleicht 'Wrangeltreff". Der 35jährige mit dem wilden, schwarzen Lok- kenschopf gibt sich cool. „Der Kiez ist gut, hier halten alle zusammen." Seinen Namen möchte der Wirt nicht verraten, üble Erfah- rungen stecken ihm noch in den Knochen. Zwei Jahre habe er in Sachsen-Anhalt, in Tan- germünde, ein Restaurant betrieben. „Neo- nazis haben mir die Scheiben durchschos- sen", da war Schluß. Was ist mit seiner ver- brannten Hand? „Das ist von der PKK." Er habe im Juli 94 in einer Kneipe gesessen, an der Skalitzer Straße. In dem Lokal verkehrten auch „Graue Wölfe". Die Anwesenheit türki- scher Rechtsextremisten war den kurdi- Ein Teil der Bewohner läßt den sozialen Druck an die Hauswände zischen Haus woanders stünde, war' das kein The- ma". Im Wrangelkiez nerven Dreck, Kampf- hunde und „überall Hundescheiße". Es zögen vermehrt Leute aus, „die sich im Kiez aktiv am Leben beteiligt haben". Außerdem fehle der Nachwuchs - die Studenten wohnen heute lieber in Prenzlauer Berg und Mitte. Und mit den Türken habe auch die Alterna- tivszene kaum Berührung: „Es ist ein Neben- einander, eine Mischung gibt es nicht." An- dererseits ist im Kiez noch genug vom Charme der Anarchie übrig, „bei schönem Wetter gibt's hier immer noch unglaubliche Lebenslust, alle Leu- te sind auf der Stra- ße, sitzen in Cafes... woanders würde ich den Ausländeranteil vermissen. Das ist ~~"~^~ hier einfach ein bun- tes Bild." Der Schulleiter. „Ich habe das Gefühl, hier im Kiez herrscht viel Harmonie", sagt Jochen Lehmann. Der 60jährige Pädagoge mit dem eisgrauen Schnäuzer ist seit Schulgründung 1979 am „Oberstufenzentrum Handel I", 1991 übernahm er die Leitung. 5500 Schüler zählt der gigantische Schulkomplex in der ehemaligen Wrangelkaserne, einer turmbe- wehrten Backsteinburg zwischen Skalitzer und Zeughofstraße. Rund 700 Schüler sind „nichtdeutscher Herkunftssprache", also mehrheitlich Türken. „'95, '96 haben wir so um die zwanzig Gewalttaten gehabt", refe- riert Lehmann nüchtern, „das waren fast im- mer Schulfremde". Und eben Personen „nichtdeutscher Herkunftssprache". Doch Lehmann und sein Kollegium - „alles gestan- dene Alt-68er" - setzten sich zur Wehr. Mit Video- und Sofortbildkamera wurden Regelverstöße dokumentiert und der Polizei gemeldet. Obwohl ihnen mulmig zumute war, zogen die Lehrer Messer, lange Nägel und Trommelrevolver ein. Schließlich wurde mit der Schülerschaft eine „Verpflichtungs- erklärung" gegen Rauschgift, Waffen und Ge- walt vereinbart. Kaum einer hat nicht unter- schrieben. Lehmann: „Da geht jeder eine mo- ralische Verpflich- tung ein, auch vor seinen Mitschülern." Das Resultat: 1998 gab es nur noch eine schwere Körperver- letzung. Opfer war ein Lehrer, „der kommt nicht mehr wieder". Lehmann wirkt abgehärtet, er hat sich nicht einschüchtern lassen. „Man muß im Kiez die Bremsen zie- hen. Das spricht sich rum." Nachdenken. „99,9 Prozent der Schüler verhalten sich kor- rekt. Die große Gewalt geht zurück, aber auch die kleine muß man ernst nehmen." Die Polizei. Seit 12 Jahren ist Jürgen Born Kontaktbereichsbeamter in der Südwestecke des Wrangelkiezes. „Ich gehe da unbescha- det durch die Gegend. Die Leute kennen mich, natürlich wird man mal angepflaumt. Aber das ist heute überall Usus." Der kräftige, 51 Jahre alte Polizeioberkommissar mit den weißen Haaren strahlt Ruhe aus. „Die Türken haben eine andere Mentalität als wir, aber mir hat noch niemand den Schlips langgezo- gen oder an die Nase gegrabscht." Sicher, „die türkischen Jungs sind ein bißchen kess". Aber das Horrorszenario, das die anonymen Polizi- sten im Januar beschworen haben, ist Born völlig fremd. Auch seine Kollegen vom Ab- schnitt 53 können Sätze wie „nur in Mann- schaftsstärke in die Wrangelstraße" nicht mit ihren Erfahrungen in Einklang bringen. „Kommen Sie mal", der stellvertretende Abschnittsleiter Andreas Retschlag bittet in den Nebenraum. Da hängen drei große Tafeln an der Wand, auf jeder ist derselbe Plan von SO 36 zu erkennen. Für die registrierten Straftaten wurden Stecknadeln mit bunten Köpfen eingepiekt - ein paar Kfz-Delikte, Rauschgift-Vergehen rund um das Kottbus- serTor, Fahrraddiebstähle. Auf keiner der die Monate November bis Januar darstellenden Tafeln ist eine übermäßige Dichte zu erken- nen. Auch die Attacke auf die türkischstäm- mige Polizisten Nazan Demir war laut Ret- schlag ein Einzelfall. Der 40jährige Polizeirat hat ein anderes Problem: „Wenn ständig über Kriminalität geredet wird, bekommen wir eine self-fulfilling prophecy." Stattdes- sen wünsche er sich, daß die Bevölkerung Kontaktangebote der Polizei stärker an- nimmt. Von flächendeckender Strafvereite- lung durch Absprachen im „Ausländerghet- to" könne allerdings keine Rede sein. Epilog. Die Wrangelstraße ist nicht mit ei- nem Schlagwort zu erklären. Es handelt sich weder um einen „gefährlichen Ort" noch um eine harmonieselige Idylle. Die deutschen und türkischen Beratungsteams, die das ein- stige Jugendzentrum „Q-Free" nach dessen gewaltbedingter Schließung übernommen haben, sprechen von „Kiezidentität" und von steigender Scheidungsrate, gerade auch un- ter Türken. In der Fundamentalisten-Mo- schee nahe dem Spreeufer heißt es, „wir Tür- ken werden hier in Berlin nicht gemocht". Dann ist die Rede vom verletzten Stolz der Moslems, „wenn irgendwo ein Jude getötet wird, kommt gleich die NATO". Doch kaum jemand will weg. Auch die meisten der be- fragten türkischen und deutschen Einzel- händler nicht, „nein, wir kommen hier gut zurecht" - obwohl es, so der Tenor, „früher besser war". Trotz aller Spannungen und Wi- dersprüche scheint die Wrangelstraße nahe- zu kollektiv eine Grundregel zu akzeptieren: Die Regel sind wir. Weil wir anders sind als Restberlin. Ob „36-Boy" oder Sozialarbeiter, Kontaktbereichsbeamter oder Imam, Alter- nativmenschen oder türkische Groß- und Kleinfamilien: Es gibt ein Gespür für den täg- lichen, indes kräftezehrenden Ausgleich. „Eins ist klar", Horst Panick, kiezgegerbter Leiter der Naunyn Ritze, hebt den Zeigefin- ger, „zurücklehnen is' nich'. Man muß immer aufpassen." Der Zeigefinger senkt sich, „und über manche Sachen spricht man nicht." Der „Held" war nur die „ScMisselfigur" Wie türkische Zeitungen über Krawall in Kreuzberg berichten VON SUZAN GULFIRAT „Kreuzberg'de gencler öfkeli" - Jugend- liche in Kreuzberg sind wütend, titelte die als national-konservativ geltende türki- sche Tageszeitung „Hürriyet" am 29. De- zember des vergangenen Jahres. Dieser und andere Berichte türkischer Massen- zeitungen über die Schlägerei zwei Tage zuvor in der Dresdener Straße regten Poli- zeibeamte auf. Einige von ihnen machten im Tagesspiegel anonym ihrer Wut über die Zustände im ehemaligen SO 36 Luft und gaben unter anderem den türkisch- sprachigen Medien die Schuld. Einige Zei- tungen seien „rassistische Hetzblätter". So habe „Hürriyet" nach den Auseinanderset- zungen in der Dresdener Straße die Tür- ken, die die Polizei angegriffen hatten, als „Helden" gefeiert Auch bei einer Ausspra- che zwischen den türkischen Jugendlichen und Polizeibeamten am vorletzten Sonn- abend in den Räu- men der Türkische Gemeinde in der Adalbertstraße fiel dieser Vorwurf. Über die Schläge- rei berichteten ~~^~^~ zwei türkische Ta- geszeitungen, die eigene Berlin-Redaktio- nen haben. „Türkische Jugendliche mit der Polizei aneinandergeraten," titelte die als liberal geltend „Milliyet" (Auflage: 16000) am 28. Dezember in ihrem Polizeibericht, „Chaos in Kreuzberg" schrieb „Hürriyet" (Auflage: 110 000). Am 29.12. folgten aus- führlich bebilderte Berichte mit den an der Schlägerei beteiligten Jugendlichen. „Die Schlägerei, bei der vier Beamte ver- letzt wurden, davon einer schwer, ist auf- grund einer Auseinandersetzung zwi- schen dem alkoholisierten 18jährigen Ali Y. und einem 30jährigen Deutschen ent- standen (...) Als die Polizei unbeteiligte Personen festnehmen wollte, die vor der Kneipe standen, begannen verbale Ausein- andersetzungen. Unterdessen hatte die Polizei den 35jährigen Serdar K., der als der 'ältere Bruder' der Jugendlichen be- kannt ist, zu Boden geworfen und auf ihn eingeprügelt. Zwischen den Jugendlichen, die sich in das Geschehen einmischten, und der Polizei kam es schließlich zur Schlägerei. Die Jugendlichen, deren Zahl mit 50 beziffert wird, haben vier Polizisten verletzt. Einer der Polizisten mußte zur stationären Behandlung ins Krankenhaus", schrieb „Milliyet" am 28. Dezember. Bei den Berichten am folgenden Tag ka- men die Jugendlichen ausführlich zu Wort, die an der Schlägerei beteiligt wa- ren. Sie äußerten sich zu den vorliegenden Polizeiangaben. „Hürriyet" zitierte den Be- schuldigten Ali Y.: „Der Mann war auch betrunken und hat eine Flasche nach mir geworfen. Ich habe mich mit einem Glas gewehrt. Aber so übertrieben, wie es die Polizei darstellt, war es nicht. Der Mann wollte keine Anzeige erstatten und so dachte ich, die Angelegenheit sei erledigt." Der Vorfall ist zustande gekommen, als die Polizei im Lokal Altinorduspor unseren Freund Sahidar C. angriff, der dazwischen gegangen war, als die Polizei auf mich losgehen wollte." Aus der Sicht von Polizisten wurden nicht befragt ^ Ä m t ^~^~^^~^-^^~~ Verantwortung für die Eskalation. Ge- meinsam mit seinen Freunden warf erder Polizei vor, unverhältnismäßig hart vorge- gangen zu sein. Außerdem sehe die Polizei in jedem türkischen Jugendlichen einen potentiellen Straftäter. In diesem Zusam- mehang fiel auch das Wort „kahraman", was wortwörtlich übersetzt „Held" bedeu- tet. Türkische Journalisten benutzen bei Polizeinachrichten häufig das Wort als Re- dewendung. Dann wird es allerdings wertneutral mit „Schlüsselfigur des Ge- schehens" übersetzt. Die beteiligten Poli- zeibeamten wurden nicht befragt. Über das Gespräch der türkischen Ju- gendlichen mit der Polizei am vorletzten Sonnabend hat lediglich „Milliyet" berich- tet, im wesentlichen wie deutsche Zeitun- gen. Der Text von „Hürriyet" ist, nach An- gaben von Mitarbeitern der Zeitung, durch einen produktionstechnischen Fehler so ins Blatt gekommen. Die Jugendlichen kamen ausführlich zu Wort, die «*»»»., Avrupa Gündemi vm 1 kadin He lericek arabatta kur$unlandi (¥»«**&£ f.(WC: Kreuzberg'de gencler öfkeli yitr&et, f%*>si^ K w « f : ' v »u&P&ytf s u ö u etwas« gDrtJvpgwj •/» kat» äav Ariut&otwv is yftwoawuSc-rtJö4«*aw&. Alt VÜimtte #fcl*fc «&&atei». <fc «36 fctytattrAiffiWJlR Jö*raa*«a*ss*;*tew«*&- texte»?«» MfröSäfriBiä &Ua «tt&tr Cfinw 4JKKK v*i.i«VJf tÖS kl*te* Sir *kf p- dn£rf> drei). 4<W4 vgJMUA ftnnnde atnau &&&*r tciü'itt tut*«« pati» sau f«!i« •?»5Si!iJÄ'«M\Ä<i<-J*tÄ$au' *ö;r!Mf&- CKa? tunuut. Turxtcr ü vHa&*tt KMitt* >«irMd)~ NEOEN süYiinrüujü? >ei*w**I<WS?ks*Ju<w. ... t*w JmratoMtr te* «nfu ot?j d&lari HU) y&Aj'«tf1 '-Asicat-. pnßu«? fins *>** kaputt^: OtAVÄVDÖCAmj^ y*&-ty &*a*KTMi r urt j#ra; GROSSZÜGIG BEBILDERTE BERICHTE erschienen in türkischen Zeitungen über die Schlä- gerei zwischen Polizisten und Jugendlichen. Montage: Druckpunkt/Mike Mühlbacher

Transcript of Angeblich traut sich die Polizei nur noch in ... · Verkommt der Südosten Kreuzbergs zum Slum? Wo...

BEZIRKESEITE 14 / DER TAGESSPIEGEL JD JL/ L^ 1 XV XV Xu Nr. 16 599 / SONNTAG, 7. FEBRUAR 1999

Angeblich traut sich die Polizei nur noch in Mannschaftsstärke in die Wrangelstraße. Was ist hier los? Verkommt der Südosten Kreuzbergs zum Slum?

Wo arme Nicht-Deutsche neben nicht-reichen Deutschen lebenE rkan kommt gleich zur Sache. Er legt

seinen rechten Arm auf die linke Schul-ter des Besuchers, verlagert dahin sein

Körpergewicht und fragt: „Du machst hierInterviews?" Richtig. „Bist du vom Fernse-hen?" Nein. Die zwei türkischen Mädchen,deren Gespräch mit dem fremden Gast Erkanabrupt unterbrochen hat, rufen: „Das ist derTagesspiegel!" Erkan nickt und meint dann:„Das ist eine gute Zeitung". Danke. Sein Armhebt sich, „gleich redest du mit mir, ja?" Ja.Die beiden Mädchen sind auch sofort einver-standen. Der 16jährige, kurzgeschoreneHauptschüler genießt Respekt in der „Nau-nyn Ritze", dem einzigen Jugendzentrum

VON FRANK JANSEN

weit und breit und mit Magnetkraft über dieNaunynstraße hinaus. Erkan gehört zu den„36 Boys", einer Art B-Jugend der legendärenKreuzberger „36ers"-Gang. Viermal habe ihndie Polizei mitgenommen, immer ohneGrund, „ich hasse die".

Eine urdeutsche Eckkneipe in der Wran-gelstraße. „Bitte schreiben Sie nicht den Na-men", der junge Wirt rückt seine Brille gera-de, „sonst stehn' mir die Türken aufm Hals".Letztes Jahr habe er die Polizei gerufen, weilein Türke ihn mit einem Messer bedrohthabe. „Der wollte die Leute zum Geldspielauffordern, da hab' ich ihn rausgeworfen."Acht Beamte seien gekommen, „die habenden Türken mitgenommen. Plötzlich sindalle Türken aus ihren Kneipen herausgekom-men und haben gebrüllt, 'Scheiß Deutsche','Scheiß Bullen'". Ein Gast, etwa doppelt so altwie der Wirt, mischt sich ein. „Mir harn' se imDezember überfallen, drei Türken. Ick hab'meene Wohnung uffjeschlossen, da kamendie 'rin, ham mir den Mund zugehalten, buff,Brieftasche weg." Wirt und Gast sind sich ei-nig: Mit älteren Türken kann man auskom-men, doch alle jugendlichen, die „rumlun-gern" und keine Arbeit haben - „rausschmei-ßen". Der Wirt hat schon seine Unterschriftzur CDU-Kampagne gegen die doppelteStaatsangehörigkeit beigesteuert, seine tief-braungebrannte Frau wählt die 'Republika-ner'. Auch wegen der acht Einbrüche undEinbruchsversuche im letzten Jahr. Der Wirtist bedient, „die Stimmung is' überall detsel-be. Demokratie jut und schön, aber wir sinddie Angeschissenen".

Die Wrangelstraße. Wie ganz Kreuzbergmit dem Image „die Bronx von Berlin" ge-schlagen, ähnlich wie Wedding und Neu-kölln, bei entsprechendem Schlagzeilenbe-darf. „Kreuzberg verslumt zunehmend", ha-ben Polizeibeamte, anonym, dem Tagesspie-gel im Januar erzählt. Das Quartier SO 36„faule innerlich weg". Der Bereich um dieWrangelstraße werde „nur noch in Mann-schaftsstärke" aufgesucht. Andererseits seiim Wrangelkiez eine erstaunlich niedrigeKriminalitätsrate zu verzeichnen. Aber nur,weil die Bewohner „das alles unter sich re-geln". Behauptungen, die erschrecken, aberauch Ratlosigkeit hinterlassen. Was spieltsich in SO 36 und speziell der Wrangelstraßetatsächlich ab? Sind der polizeibe-kannte Erkan und die Rep-wählen-de Wirtsfrau typisch für „die" Tür-ken" und „die" Deutschen? Sicherist erstmal nur eines: Wer sich inder Wrangelstraße umschaut, wirdmit einer komplexen Multikulti-Szene konfrontiert.

„Friedr. Heinrich Ernst / Graf vonWrangel / Generalfeldmarschall u.Ehrenbürger v. Berlin / * 1784t 1877" ist auf dem Straßenschildzu lesen. Die nach dem Haudrauf-Offizier benannte Verkehrsaderwirkt geographisch wie ein Reliktpreußischer Strenge. Sie mißt exaktanderthalb Kilometer, verläuftschnurgerade (an der ehemaligenWrangelkaserne vorbei), an denEndpunkten thront je ein altehr-würdiges Gotteshaus: im Nordwe-sten die St.-Thomas-Kirche, imSüdosten die der Taborgemeinde.Die Straße ist eine der zentralen Le-benslinien des ehemaligen „SO 36",wie der südöstliche Teil Kreuzbergsbis zur Umstellung der Postleitzah-len offiziell hieß. Doch Essosechsn-dreißich lebt in den Köpfen weiter.Mit Legenden, Spannungen, Widersprüchen.

In den meist 100 und mehr Jahre altenMietskasernen der Wrangelstraße und ihrernäheren Umgebung wohnen rund 23 000Menschen. Etwa die Hälfte sind „Personennichtdeutscher Herkunftssprache", wie einoffiziöser Sammelbegriff für Ausländer, Dop-pelstaatler und eingebürgerte Bewohner mitnur noch deutschem Paß lautet. Davon haben70 Prozent türkische (oder kurdische) Wur-zeln. Die Arbeitslosenquote ist mit 30 Pro-zent ungefähr doppelt so hoch wie in Berlininsgesamt. Bei der nichtdeutschen Bevölke-rung sind es 34 Prozent. Das Monatseinkom-men pro Haushalt liegt im Schnitt bei 2700Mark, türkischerseits sind es 300 Mark weni-ger. Und noch ein Wert: Der Anteil jungerMenschen an der Bevölkerung ist im BerlinerVergleich der vierthöchste. Bunter, aber auchfragiler kann ein Quartier kaum sein.

Was sich schon am grellen Outfit derWrangelstraße ablesen läßt. Ein Teil der Be-wohner läßt den sozialen Druck der Mietska-sernen an die Hauswände zischen. Wie in SO36 überhaupt sind die Souterrains durchgän-gig bis auf Kopfhöhe graffitisiert. „Hier nie-mals Nazi-Schweine", „Ceylan seni sevmiyo-rum" (Ceylan, ich liebe dich nicht), „FUCKTHE POLICE", „Yolumuz PIR Sultanlann Yolu-dur!" (Unser Weg ist der Weg des Pir Sultan;gemeint ist ein alevitischer Dichter, der vor400 Jahren gelebt hat), „Wer sich nicht wehrt,landet am Herd!" „BULLE BUH!". „Berlinbleibt dreckig". Dazu die „tags" der Kunst-sprayer, große Buchstabenkombinationen,die manchmal kaum zu entwirren sind. Rat-los macht auch die riesige Parole an der

WEDER IDYLL noch „gefährlicher Ort": Die Wrangelstraße, eine der Lebensadern des Kreuzberger Viertels SO 36. Fotos: Mike Wolff

Hochbahn-Brücke, die parallel zur SkalitzerStraße die Wrangelstraße kreuzt: „Kampfdem Völkermord". Aber wo?

Im eigentlichen Wrangelkiez, dem Geviertzwischen Spree, Bezirksgrenze zu Treptow,Görlitzer Park und Zeughofstraße, dominie-ren kleine Geschäfte. Altdeutsch, deutsch-al-ternativ, türkisch. „Yousef Einzel & Großhan-del Textilien", „Lukas Apotheke", „TürkiyemCoiffeur", „Ufuk Bäckerei", „Eier-Schulz",„Fisch-Schmidt", „Holz & Kohlen", „BiotopiaGemischtwaren Ladenkollektiv", „BahiaHängematten", „Onur Air", „Bizim Bakal Obstund Lebensmittel". Ein „Call-Center" wirbtmit günstigen Telefontarifen, „Billigwie nochnie! Aserbaidschan 1,39 DM". Eckkneipenwie „Wrangel-Eck bei Ingrid und Rolf und„Zum alten Wrangel" ergänzen sich mit „Ala-nya Bistro" sowie anderen türkischen Loka-len. Eines hat erst kürzlich geöffnet und nochkeinen Namen. Dennoch ist klar, welcheCommunity hier verkehrt. Und welche nicht.

Das Männercafe. Die etwa zehn Tische sindvollbesetzt mit qualmenden Männern. Spiel-karten zischeln über die Resopalplatten, el-fenbeinfarbene, dominoartige Steinchenklacken hin und her. Am letzten Tisch nebendem Fenster sitzen ein Maler, ein Frührent-ner, ein Heimerzieher, zwei Estrichleger. DasAlter: 26 bis 55. Jeder ist Türke. Ohne zweitenPaß. „Aber ick war fünf Jahre in der FPR", derMaler lacht. Allerdings habe er sich als einzi-ger Türke in der Freiwilligen Polizeireserve

sehen Linksextremisten eine Brandflaschewert. Trotzdem: Eine Rückkehr in die Türkeikommt nicht in Frage, „ich habe die doppelteStaatsbürgerschaft beantragt". Mehr Infor-mation muß nicht sein. Händedruck, Män-nerblick. Der Kaffee war umsonst.

Etwa 100 Meter entfernt, in der Cuvrystra-ße, hin zum Görlitzer Park, breitet sich hinterden Gründerzeitfassaden ein großer, alterBacksteinblock aus. „Kerngehäuse - Lebenund Arbeiten im Blockkern" steht auf den Ta-feln, die durch dieVorderhaus-Torein-fahrten zu erkennensind. Die ehemaligeKindemähmaschi-nenfabrik wurde An-fang der achtziger ~~~~~~~Jahre besetzt, eingroßer Teil der einstigen Jungrebellen lebtnoch heute hier. Die bürgerliche Presse bleibtweiterhin ungeliebt, doch eine Bewohnerinerklärt sich bereit, Einblick in Loft und Lebenzu gewähren. Wenn der Name nicht genanntwerde. Das Kollektiv hat sich zwar längstzum Ensemble arrivierter Kleinunternehmerund Jungfamilien gewandelt, ist aber als Kor-rektiv im Kopf noch präsent. Diese Art Nest-wärme hält offenbar viele Bewohner imKerngehäuse. Was sich draußen tut, schrecktmanche allerdings ab. „Das Kerngehäuse isteine Idylle, wie ein Insel", sagt die junge Frau,„aber ich möchte gerne weg. Wenn dieses

Die Lehrer zogen Messer,lange Nägel und

Trommelrevolver ein

KONTRASTE. Alternativszene und türkische Bevölkerung leben nebeneinander, kaum miteinander.

nicht wohl gefühlt, „die anderen waren mehrrechts als normal". Der junge Erzieher mitden strähnigen schwarzen Haaren nickt, „Po-lizei is' sowieso Scheiße". Klack-klack-klack,alle Steinchen fliegen in die Mitte, werdenvon vielen Händen fix durchmischt. Danngeht's weiter. Vier Männer haben abgegriffe-ne Holzleisten vor sich, auf denen, vor denBlicken der Mitspieler geschützt, die Stein-chen nach Zahlen und Bildmotiven geordnetwerden. „Det Spiel heißt 'Okey'", sagt der Ma-ler, ,,is' wie Romme". Allzuviel reden dieMänner nicht. Teetrinken, Rauchen und Spie-len - das reicht. Au-ßerdem sind dieDeutschkenntnissebegrenzt. DerFremdling steht auf.

„Das war mal einedeutsche Eckknei- ^~^^~~pe". sagt der neueBesitzer. Mit einer Benennung habe er esnicht eilig, „vielleicht 'Wrangeltreff". Der35jährige mit dem wilden, schwarzen Lok-kenschopf gibt sich cool. „Der Kiez ist gut,hier halten alle zusammen." Seinen Namenmöchte der Wirt nicht verraten, üble Erfah-rungen stecken ihm noch in den Knochen.Zwei Jahre habe er in Sachsen-Anhalt, in Tan-germünde, ein Restaurant betrieben. „Neo-nazis haben mir die Scheiben durchschos-sen", da war Schluß. Was ist mit seiner ver-brannten Hand? „Das ist von der PKK." Erhabe im Juli 94 in einer Kneipe gesessen, ander Skalitzer Straße. In dem Lokal verkehrtenauch „Graue Wölfe". Die Anwesenheit türki-scher Rechtsextremisten war den kurdi-

Ein Teil der Bewohner läßt densozialen Druck an dieHauswände zischen

Haus woanders stünde, war' das kein The-ma". Im Wrangelkiez nerven Dreck, Kampf-hunde und „überall Hundescheiße". Es zögenvermehrt Leute aus, „die sich im Kiez aktivam Leben beteiligt haben". Außerdem fehleder Nachwuchs - die Studenten wohnenheute lieber in Prenzlauer Berg und Mitte.Und mit den Türken habe auch die Alterna-tivszene kaum Berührung: „Es ist ein Neben-einander, eine Mischung gibt es nicht." An-dererseits ist im Kiez noch genug vomCharme der Anarchie übrig, „bei schönemWetter gibt's hier immer noch unglaubliche

Lebenslust, alle Leu-te sind auf der Stra-ße, sitzen in Cafes...woanders würde ichden Ausländeranteilvermissen. Das ist

~ ~ " ~ ^ ~ • hier einfach ein bun-tes Bild."

Der Schulleiter. „Ich habe das Gefühl, hierim Kiez herrscht viel Harmonie", sagt JochenLehmann. Der 60jährige Pädagoge mit demeisgrauen Schnäuzer ist seit Schulgründung1979 am „Oberstufenzentrum Handel I",1991 übernahm er die Leitung. 5500 Schülerzählt der gigantische Schulkomplex in derehemaligen Wrangelkaserne, einer turmbe-wehrten Backsteinburg zwischen Skalitzerund Zeughofstraße. Rund 700 Schüler sind„nichtdeutscher Herkunftssprache", alsomehrheitlich Türken. „'95, '96 haben wir soum die zwanzig Gewalttaten gehabt", refe-riert Lehmann nüchtern, „das waren fast im-mer Schulfremde". Und eben Personen„nichtdeutscher Herkunftssprache". Doch

Lehmann und sein Kollegium - „alles gestan-dene Alt-68er" - setzten sich zur Wehr.

Mit Video- und Sofortbildkamera wurdenRegelverstöße dokumentiert und der Polizeigemeldet. Obwohl ihnen mulmig zumutewar, zogen die Lehrer Messer, lange Nägelund Trommelrevolver ein. Schließlich wurdemit der Schülerschaft eine „Verpflichtungs-erklärung" gegen Rauschgift, Waffen und Ge-walt vereinbart. Kaum einer hat nicht unter-schrieben. Lehmann: „Da geht jeder eine mo-

ralische Verpflich-tung ein, auch vorseinen Mitschülern."Das Resultat: 1998gab es nur noch eineschwere Körperver-letzung. Opfer warein Lehrer, „der

kommt nicht mehr wieder". Lehmann wirktabgehärtet, er hat sich nicht einschüchternlassen. „Man muß im Kiez die Bremsen zie-hen. Das spricht sich rum." Nachdenken.„99,9 Prozent der Schüler verhalten sich kor-rekt. Die große Gewalt geht zurück, aber auchdie kleine muß man ernst nehmen."

Die Polizei. Seit 12 Jahren ist Jürgen BornKontaktbereichsbeamter in der Südwesteckedes Wrangelkiezes. „Ich gehe da unbescha-det durch die Gegend. Die Leute kennenmich, natürlich wird man mal angepflaumt.Aber das ist heute überall Usus." Der kräftige,51 Jahre alte Polizeioberkommissar mit denweißen Haaren strahlt Ruhe aus. „Die Türkenhaben eine andere Mentalität als wir, abermir hat noch niemand den Schlips langgezo-gen oder an die Nase gegrabscht." Sicher, „dietürkischen Jungs sind ein bißchen kess". Aberdas Horrorszenario, das die anonymen Polizi-sten im Januar beschworen haben, ist Bornvöllig fremd. Auch seine Kollegen vom Ab-schnitt 53 können Sätze wie „nur in Mann-schaftsstärke in die Wrangelstraße" nicht mitihren Erfahrungen in Einklang bringen.

„Kommen Sie mal", der stellvertretendeAbschnittsleiter Andreas Retschlag bittet inden Nebenraum. Da hängen drei große Tafelnan der Wand, auf jeder ist derselbe Plan vonSO 36 zu erkennen. Für die registriertenStraftaten wurden Stecknadeln mit buntenKöpfen eingepiekt - ein paar Kfz-Delikte,Rauschgift-Vergehen rund um das Kottbus-serTor, Fahrraddiebstähle. Auf keiner der dieMonate November bis Januar darstellendenTafeln ist eine übermäßige Dichte zu erken-nen. Auch die Attacke auf die türkischstäm-mige Polizisten Nazan Demir war laut Ret-schlag ein Einzelfall. Der 40jährige Polizeirathat ein anderes Problem: „Wenn ständigüber Kriminalität geredet wird, bekommenwir eine self-fulfilling prophecy." Stattdes-sen wünsche er sich, daß die BevölkerungKontaktangebote der Polizei stärker an-nimmt. Von flächendeckender Strafvereite-lung durch Absprachen im „Ausländerghet-to" könne allerdings keine Rede sein.

Epilog. Die Wrangelstraße ist nicht mit ei-nem Schlagwort zu erklären. Es handelt sichweder um einen „gefährlichen Ort" noch umeine harmonieselige Idylle. Die deutschenund türkischen Beratungsteams, die das ein-stige Jugendzentrum „Q-Free" nach dessengewaltbedingter Schließung übernommenhaben, sprechen von „Kiezidentität" und vonsteigender Scheidungsrate, gerade auch un-ter Türken. In der Fundamentalisten-Mo-schee nahe dem Spreeufer heißt es, „wir Tür-ken werden hier in Berlin nicht gemocht".Dann ist die Rede vom verletzten Stolz derMoslems, „wenn irgendwo ein Jude getötetwird, kommt gleich die NATO". Doch kaumjemand will weg. Auch die meisten der be-fragten türkischen und deutschen Einzel-händler nicht, „nein, wir kommen hier gutzurecht" - obwohl es, so der Tenor, „früherbesser war". Trotz aller Spannungen und Wi-dersprüche scheint die Wrangelstraße nahe-zu kollektiv eine Grundregel zu akzeptieren:Die Regel sind wir. Weil wir anders sind alsRestberlin. Ob „36-Boy" oder Sozialarbeiter,Kontaktbereichsbeamter oder Imam, Alter-nativmenschen oder türkische Groß- undKleinfamilien: Es gibt ein Gespür für den täg-lichen, indes kräftezehrenden Ausgleich.„Eins ist klar", Horst Panick, kiezgegerbterLeiter der Naunyn Ritze, hebt den Zeigefin-ger, „zurücklehnen is' nich'. Man muß immeraufpassen." Der Zeigefinger senkt sich, „undüber manche Sachen spricht man nicht."

Der „Held" war nurdie „ScMisselfigur"

Wie türkische Zeitungen über Krawall in Kreuzberg berichten

VON SUZAN GULFIRAT

„Kreuzberg'de gencler öfkeli" - Jugend-liche in Kreuzberg sind wütend, titelte dieals national-konservativ geltende türki-sche Tageszeitung „Hürriyet" am 29. De-zember des vergangenen Jahres. Dieserund andere Berichte türkischer Massen-zeitungen über die Schlägerei zwei Tagezuvor in der Dresdener Straße regten Poli-zeibeamte auf. Einige von ihnen machtenim Tagesspiegel anonym ihrer Wut überdie Zustände im ehemaligen SO 36 Luftund gaben unter anderem den türkisch-sprachigen Medien die Schuld. Einige Zei-tungen seien „rassistische Hetzblätter". Sohabe „Hürriyet" nach den Auseinanderset-zungen in der Dresdener Straße die Tür-ken, die die Polizei angegriffen hatten, als„Helden" gefeiert Auch bei einer Ausspra-che zwischen den türkischen Jugendlichenund Polizeibeamten am vorletzten Sonn-abend in den Räu-men der TürkischeGemeinde in derAdalbertstraße fieldieser Vorwurf.

Über die Schläge-rei berichteten ~~^~^~zwei türkische Ta-geszeitungen, die eigene Berlin-Redaktio-nen haben. „Türkische Jugendliche mit derPolizei aneinandergeraten," titelte die alsliberal geltend „Milliyet" (Auflage: 16000)am 28. Dezember in ihrem Polizeibericht,„Chaos in Kreuzberg" schrieb „Hürriyet"(Auflage: 110 000). Am 29.12. folgten aus-führlich bebilderte Berichte mit den an derSchlägerei beteiligten Jugendlichen.

„Die Schlägerei, bei der vier Beamte ver-letzt wurden, davon einer schwer, ist auf-grund einer Auseinandersetzung zwi-schen dem alkoholisierten 18jährigen AliY. und einem 30jährigen Deutschen ent-standen (...) Als die Polizei unbeteiligtePersonen festnehmen wollte, die vor derKneipe standen, begannen verbale Ausein-andersetzungen. Unterdessen hatte diePolizei den 35jährigen Serdar K., der alsder 'ältere Bruder' der Jugendlichen be-kannt ist, zu Boden geworfen und auf ihn

eingeprügelt. Zwischen den Jugendlichen,die sich in das Geschehen einmischten,und der Polizei kam es schließlich zurSchlägerei. Die Jugendlichen, deren Zahlmit 50 beziffert wird, haben vier Polizistenverletzt. Einer der Polizisten mußte zurstationären Behandlung ins Krankenhaus",schrieb „Milliyet" am 28. Dezember.

Bei den Berichten am folgenden Tag ka-men die Jugendlichen ausführlich zuWort, die an der Schlägerei beteiligt wa-ren. Sie äußerten sich zu den vorliegendenPolizeiangaben. „Hürriyet" zitierte den Be-schuldigten Ali Y.: „Der Mann war auchbetrunken und hat eine Flasche nach mirgeworfen. Ich habe mich mit einem Glasgewehrt. Aber so übertrieben, wie es diePolizei darstellt, war es nicht. Der Mannwollte keine Anzeige erstatten und sodachte ich, die Angelegenheit sei erledigt."Der Vorfall ist zustande gekommen, als diePolizei im Lokal Altinorduspor unserenFreund Sahidar C. angriff, der dazwischen

gegangen war, alsdie Polizei auf michlosgehen wollte."Aus der Sicht von

Polizisten wurden nicht befragt ^ Ä m t^ ~ ^ ~ ^ ^ ~ ^ - ^ ^ ~ ~ Verantwortung für

die Eskalation. Ge-meinsam mit seinen Freunden warf erderPolizei vor, unverhältnismäßig hart vorge-gangen zu sein. Außerdem sehe die Polizeiin jedem türkischen Jugendlichen einenpotentiellen Straftäter. In diesem Zusam-mehang fiel auch das Wort „kahraman",was wortwörtlich übersetzt „Held" bedeu-tet. Türkische Journalisten benutzen beiPolizeinachrichten häufig das Wort als Re-dewendung. Dann wird es allerdingswertneutral mit „Schlüsselfigur des Ge-schehens" übersetzt. Die beteiligten Poli-zeibeamten wurden nicht befragt.

Über das Gespräch der türkischen Ju-gendlichen mit der Polizei am vorletztenSonnabend hat lediglich „Milliyet" berich-tet, im wesentlichen wie deutsche Zeitun-gen. Der Text von „Hürriyet" ist, nach An-gaben von Mitarbeitern der Zeitung, durcheinen produktionstechnischen Fehler soins Blatt gekommen.

Die Jugendlichen kamenausführlich zu Wort, die

• « * » » » . ,

Avrupa Gündemi uüvm1 kadin Helericekarabattakur$unlandi

(¥»«**&£ f.(WC:

Kreuzberg'de gencler öfkeliyitr&et, f%*>si K w « f : ' v »u&P&ytf suöu etwas« gDrtJvpgwj •/» ka t» ä a v

Ariut&otwv is yftwoawu Sc-rtJö 4«*aw&.Alt VÜimtte #fcl*fc «&& ate i» . <fc «36fctyta ttr AiffiWJlR Jö*raa*«a*ss*;*tew«*&-

texte»?«» MfröSäfriBiä &Ua «tt&tr Cfinw

4JKKK v*i.i«VJf tÖS kl*te* Sir *kf p-

dn£rf> drei). 4<W4 vgJMUA ftnnndea t n a u &&&*r tc iü ' i t t tut*«« pati»sau f«!i« •?»5Si!iJÄ'«M\Ä<i<-J*tÄ$au'*ö;r!Mf&- CKa? tunuut. Turxtcr ü&» vHa&*tt KMit t* >«irMd)~

NEOEN süYiinrüujü?

>ei*w**I<WS?ks*Ju<w. ...

t*w JmratoMtr te* «nfu ot?j

d&lari HU) y&Aj'«tf 1 '-Asicat-.pnßu«? fins * > * * kaputt^:

OtAVÄVDÖCAmj^

• y*&-ty &*a*KTMi r ur t j#ra;

GROSSZÜGIG BEBILDERTE BERICHTE erschienen in türkischen Zeitungen über die Schlä-gerei zwischen Polizisten und Jugendlichen. Montage: Druckpunkt/Mike Mühlbacher