„Annäherung an Joseph Beuys“ - Klingspor Museum · 1 Der Bildhauer Prof. Ewald Mataré lehrte...

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www.Klingspor-Museum.de 1 Der Bildhauer Prof. Ewald Mataré lehrte an der Düsseldorfer Kunstakademie. Bei ihm studierte Joseph Beuys von 1948 bis 1951. Ich selbst habe nach einem Studium in Wiesbaden von 1955 bis 1957 bei Mataré studiert. Die Zahl der Mataré – Schüler war klein und wir wurden gelegentlich in das Haus Mataré in Büderich eingeladen. Insbesondere bei diesen Treffen, aber auch auf der documenta 7, die ich 1982 mit meinen Studenten besuchte, bin ich Joseph Beuys mehrfach begegnet. Meine Stellung zu ihm war zwiespältig. Neben unumwundener Anerkennung seiner Bedeutung, hatte ich den Eindruck, daß viele seiner Aktionen zu Mißverständnissen führen mußten. Diesen Zwiespalt habe ich für mich verarbeitet, indem ich 1980 nach Abbildungen und der eigenen Erinnerung ein Portrait von Beuys in vier Variationen modelliert, in Bronze gegossen, teilweise versilbert und vergoldet habe. 1999 wurde ich gebeten, einen Vortrag über Beuys zu halten. Mir war klar, wie schwer es sein würde, in der gebotenen Kürze dem interessierten Laien ein Bild dieser überaus starken, schillernden Persönlichkeit zu vermitteln. Ich habe darum in meinem Vortrag alle Zitate von ihm oder über ihn sowie eigene Äußerungen vermieden, die es leicht machen könnten, diesen ungewöhnlichen Menschen voreilig zu beurteilen. Es handelt sich in der Tat, wie das Thema des Vortrags heißt, um eine „Annäherung an Joseph Beuys“ Zurzeit besteht die Bibliographie, die sich auf Beuys bezieht, aus über 100 Titeln, das heißt Katalogen oder Büchern. Mein Vortrag versucht, in der Kürze der Zeit einen ersten Einblick in das Leben und Werk von Joseph Beuys zu geben. Für eine vertiefende Beschäftigung mit dem bekanntesten deutschen Künstler der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts steht ebenso umfangreiche wie widersprüchliche Literatur auf

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Der Bildhauer Prof. Ewald Mataré lehrte an der Düsseldorfer Kunstakademie. Bei ihm studierteJoseph Beuys von 1948 bis 1951. Ich selbst habe nach einem Studium in Wiesbaden von 1955bis 1957 bei Mataré studiert. Die Zahl der Mataré – Schüler war klein und wir wurdengelegentlich in das Haus Mataré in Büderich eingeladen. Insbesondere bei diesen Treffen, aberauch auf der documenta 7, die ich 1982 mit meinen Studenten besuchte, bin ich Joseph Beuysmehrfach begegnet. Meine Stellung zu ihm war zwiespältig. Neben unumwundenerAnerkennung seiner Bedeutung, hatte ich den Eindruck, daß viele seiner Aktionen zuMißverständnissen führen mußten. Diesen Zwiespalt habe ich für mich verarbeitet, indem ich1980 nach Abbildungen und der eigenen Erinnerung ein Portrait von Beuys in vier Variationenmodelliert, in Bronze gegossen, teilweise versilbert und vergoldet habe.

1999 wurde ich gebeten, einen Vortrag über Beuys zu halten. Mir war klar, wieschwer es sein würde, in der gebotenen Kürze dem interessierten Laien ein Bild dieser überausstarken, schillernden Persönlichkeit zu vermitteln. Ich habe darum in meinem Vortrag alle Zitatevon ihm oder über ihn sowie eigene Äußerungen vermieden, die es leicht machen könnten,diesen ungewöhnlichen Menschen voreilig zu beurteilen. Es handelt sich in der Tat, wie dasThema des Vortrags heißt, um eine

„Annäherung an Joseph Beuys“

Zurzeit besteht die Bibliographie, die sich auf Beuys bezieht, aus über 100 Titeln, das

heißt Katalogen oder Büchern. Mein Vortrag versucht, in der Kürze der Zeit einen

ersten Einblick in das Leben und Werk von Joseph Beuys zu geben. Für eine

vertiefende Beschäftigung mit dem bekanntesten deutschen Künstler der 2. Hälfte

des 20. Jahrhunderts steht ebenso umfangreiche wie widersprüchliche Literatur auf

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dem Markt zur Verfügung. Man kann sich denken, daß bei so vielen

Veröffentlichungen auch viel Phantasie der Autoren mit eingeflossen ist. Meine

eigene Erinnerung spare ich mir deshalb bis zum Schluß auf. Stattdessen werde ich

Beuys selbst so häufig wie möglich zu Wort kommen lassen.

Zunächst nenne ich die äußeren Daten über das Leben von Joseph Beuys, soweit

sie unbestritten sind.

Er wurde am 12. Mai 1921 in Krefeld geboren, die Eltern wohnten in Kleve. In der

Nähe dieser Stadt eröffnete sein Vater 1930 eine Futtermittelhandlung. Joseph

wurde streng katholisch erzogen. Parallel zur Schule hat er regelmäßig das Atelier

des Bildhauers Achilles Moortgat (1881 – 1957) besucht. In der Hilterjugend hat er

sich wohl gefühlt, zumal die Flieger Modellbaukurse am Gymnasium und die

Jungflieger – Lehrgänge der HJ seinen Neigungen entgegenkamen. Nebenher hatte

er Klavier-unterricht und war an den naturwissenschaftlichen Fächern stark

interessiert. Zu seinem Elternhaus sagt er selbst: „Das Verhältnis zu meinen Eltern

kann man nicht als eng bezeichnen, im Gegenteil...“1). Nachdem er 1 Jahr vor dem

Abitur von zuhause durchgebrannt war, wollte sein Vater ihn als Lehrling in die nahe

gelegene Margarinefabrik schicken. Seine Lehrer hatten aber die vielseitigen

Begabungen erkannt und bestanden darauf, daß er Abitur machte.

„Als der Krieg in Polen begann“ so berichtet er „da leerten sich die Klassen, und es

war ganz klar, dass ich nicht zu Hause bleiben wollte.“2) Frühsommer 1940 meldete

Beuys sich freiwillig zur Luftwaffe. Er verpflichtete sich für 12 Jahre. Seine

Ausbildung begann im Frühjahr 1941 als Bordfunker in einem Sturzkampfge-

schwader in Posen. Während Sonderurlauben besuchte er die dortige Universität.

Sie war von den Nationalsozialisten zerschlagen worden und wurde unter der

Bezeichnung „Reichsuniversität Posen“ am 27. April 1941 feierlich „als Vorposten

des Großdeutschen Reiches auf der Wacht im Osten“ neu gegründet. Unter dem

Rektor Peter Carstens sollte „...das gesamte eurasische Gebiet...“ mit in die

„...Betrachtung und Behandlung...„ einbezogen werden. Sein Studienkamerad Heinz

Sielmann studierte dort 4 Semester. Beuys berichtet anläßlich einer Vorlesung über

Amöben von einer – so wörtlich – „schockartigen“ Erkenntnis, daß es in dieser Art

Wissenschaftsbetrieb nicht möglich sei, „...auf die zusammenführenden Kräfte...“ zu

kommen, „...die heute aktueller sind als je zuvor...“ (alle Angaben zum Studium in Posen s.3)

Den nachweisbaren Daten nach zu schließen, kann Beuys maximal 7 Monate in

Posen studiert haben, denn er wurde im Dezember 1941 bereits nach Erfurt verlegt.

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Am 16. März 1944 stürzte er auf der Krim ab. Tataren fanden die Maschine. Der

Pilot war tot, Beuys schwer verletzt. Die Tataren brachten ihn in ihr Lager, behandel-

ten ihn mit Fett und Honig und wärmten ihn mit Filzdecken. Über die Dauer, in der er

von den Tataren gepflegt wurde, gibt es unterschiedliche Angaben. Im Krankenbuch

( jetzt Berlin) und in seinem Soldbuch steht, daß er bereits am 17.3., d.h. nach 24

Stunden in das Feldlazarett 179 eingeliefert wurde. In den meisten Beuys – Biogra-

phien ist die Rede von 8 bis 12 Tagen. Solche – offensichtlich falschen - Angaben

hat Beuys weder bestätigt noch widerrufen. Der Aufenthalt bei den Tataren spielt in

späteren Beuys-Interpretationen eine beachtliche Rolle. Aus dem Lazarett entlassen,

ließ er sich zum Flugzeugführer ausbilden. Ab Februar 1945 ist er als Fallschirmjäger

an der Westfront. Kurz vor Kriegsende erhielt er das goldene Verwundetenabzei-

chen. Am 5. 8. 1945 wurde er aus der englischen Kriegsgefangenschaft entlassen.

1947 beginnt Beuys sein Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie, zunächst bei

Prof. Josef Enseling, ab 1948 bei Prof. Ewald Mataré. Bei ihm wird er 1951 Meister-

schüler, d.h. er erhält für 2 Jahre zusammen mit Erwin Heerich ein eigenes Atelier in

der Akademie. Danach hat er ein Atelier in Düsseldorf – Heerdt gemietet, wo Skulp-

turen im Stil der damaligen Zeit entstehen

(Abb. 1, „Symbol der Erlösung“ Nussbaumholz, 32 cm hoch, 1949 / 50).

Er verlobt sich, die Verlobung wird einige Zeit später wieder gelöst und dieser äußere

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Anlaß führt Beuys, der ohnehin zu der Zeit sehr labil war, in eine knapp zweijährige

Krise, die ihn an den Rand der Existenz bringt.

Anfang 1958 lernt er die Kunsterzieherin Eva Wurmbach kennen. Sie heiraten im

September 1959. Aus der Ehe stammen zwei Kinder.

1958 bewirbt sich Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie für eine Professur.

Die Berufung scheitert am Einspruch seines ehemaligen Lehrers Ewald Mataré.

1961 gelingt ein erneuter Versuch und er erhält den „Lehrstuhl für monumentale

Bildhauerei“. Ein Jahr später lernt er Nam June Paik kennen und schließt sich für

einige Zeit der Fluxusbewegung an.

1967 gründet Beuys die „Deutsche Studentenpartei“. Vier Jahre später wehrt er sich

dagegen, Studenten abzulehnen, die bei ihm studieren wollen. Der Streit mit dem

damaligen Wissenschaftsminister Johannes Rau eskaliert und Beuys wird am 10.

Oktober 1972 fristlos entlassen

(Abb. 2. „Beuys verlässt die Akademie“).

Beuys geht vor Gericht und 1978 endet der sechsjährige Prozess mit einem klaren

Sieg für ihn. Bei den Bundestagswahlen 1976 kandidiert Beuys für die

„nationalneutralistische, antigewerkschaftliche AUD“ 4) ( Aktionsgemeinschaft

Unabhängiger Deutscher ), die Ende der 70er Jahre in der Partei der Grünen

aufgeht.

Am 20. Februar 1974 gründen Joseph Beuys, Klaus Staeck, Gerhard Richter, Erwin

Heerich und Heinrich Böll die „Freie Internationale Hochschule für Kreativität und

interdisziplinäre Forschung“.

Im gleichen Jahr hat Beuys eine Ausstellung in der Galerie René Block in New York.

In Deutschland fand seine wohl bekannteste Aktion 1982 anläßlich der d 7 in Kassel

statt. 7000 Eichen sollten gepflanzt und mit je einer Basaltsäule gekennzeichnet

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werden.

(Abb. 3, 7000 Basaltblöcke vor dem Fridericianum in Kassel )

Die Hälfte wurden tatsächlich gepflanzt, die erste am 16. März 1982 von Beuys

selbst, auf den Tag genau 38 Jahre nach seinem Absturz auf der Krim.

Am 12. Januar 1986 wurde Beuys der Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg

verliehen, wohl die bedeutendste deutsche Auszeichnung für einen Bildhauer.

11 Tage später starb Joseph Beuys in Düsseldorf an einer unheilbaren Lungenkrank-

heit.

Bis hierhin scheinen die Fakten, - soweit ich recherchieren konnte - zweifelsfrei, mit

Ausnahme der sogenannten „Tatarenlegende“.

Nun möchte ich auf Einflüsse eingehen, die mit Sicherheit auf Beuys stark eingewirkt

haben. Daß ein dermaßen sensibler, begabter, offener Mensch unendlich viele Ein-

drücke gesammelt und mehr oder weniger verarbeitet hat, ist wohl ohne Frage.

Dennoch scheint es mir sinnvoll, einige herauszugreifen und ihre Vorgeschichte zu

erwähnen.

Um das Jahr 1910 wird in Europa auf den meisten Gebieten der Kultur ein Umbruch

deutlich. Ich muß mich hier auf die Bildende Kunst beschränken. Der französische

Maler Marcel Duchamp schuf seit 1911 einige Ölbilder, in denen er mehrere Phasen

einer Bewegung gleichzeitig darstellte und stand damit an der Spitze der Avantgarde.

Nach seinem 25. Geburtstag malte er kein Bild mehr. Ein Jahr später, 1913

als 26 -jähriger, zeigte er in einer Ausstellung in New York sein erstes ready-made,

das „Fahrrad – Rad“. 1917 reichte Duchamp ein Pissoir mit dem Titel „Fontäne“ bei

der Ausstellung der „Unabhängigen“ in New York ein

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und löste damit einen Skandal

aus. Seither gingen seine Ideen „...von Wortspielen aus und folgten einem Weg, der

sich nicht mehr an die allgemeine Logik hielt, aber im Ton unerschütterlicher

dialektischer Überzeugung vorgetragen wurden.“ 5) Das wird uns nachher an Beuys

erinnern.

Spätestens seit dieser Zeit kann man zwischen 3 Arten bildhauerischer Tätigkeit

unterscheiden: entweder, der Bildhauer stellt nach wie vor Plastiken oder Skulpturen

her, indem er Massen verformt und Oberflächen gestaltet, wie das die Bildhauer seit

10.000 Jahren getan haben. Oder er stellt „Objekte“ her, eventuell ganze

„Installationen“, führt Performances durch oder betätigt sich in anderer Weise als

Aktionskünstler. Schließlich findet man Lebenswege von Bildhauern, in denen sich

diese Ausdrucksformen mischen.

Joseph Beuys hat bis zu seiner Krise 1955 – 1957 Plastiken und Skulpturen im

traditionellen Sinn hergestellt. Seither verfolgte er den Weg, den Duchamp und

andere während des 1. Weltkrieges begonnen haben.

Mehrfach wurde Beuys auf diese Nähe angesprochen, aber er hat sich eindeutig von

Duchamp distanziert. „Duchamp hat nichts erreicht, weder in politischer Hinsicht,

noch im Hinblick auf Entwicklungen innerhalb der ästhetischen Sphäre....Duchamp

ging davon aus und wollte das Bürgertum schockieren, und aus dem Grunde

zerstörte er seine Kräfte, die wirklich abgestorben waren;...Sein <Pissoir> war eine

wirkliche Offenbarung, etwas, das damals zweifellos eine erhebliche Bedeutung

hatte,...“. Über den weiteren Verlauf sagte Beuys „Duchamp war einfach am Ende,

er hatte keine Ideen mehr, er war nicht mehr in der Lage, etwas Wichtiges

hervorzubringen“. 6)

Als zweiter wesentlicher Einfluß muß Rudolf Steiner genannt werden. Er wurde 1861

in Kroatien geboren, studierte Mathematik und Naturwissenschaften und war der

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Begründer der Anthroposophischen Gesellschaft, der Waldorfschulen und des

Goetheanums in Dornach / Schweiz. Zu seinen 5 Hauptwerken gehört das 1902

erschienene Buch „ Das Christentum als mystische Tatsache“. Einiges von und über

Steiner hatte Beuys bereits während seines Studiums gelesen. Nach der schweren

Krise 1955 – 57 griff er darauf zurück. Er sagte über sich selbst „Ich war lange Zeit

immer vom Willen beherrscht, bis ich merkte, daß ich vor einer Krise stand und mich

zugrunde gerichtet hätte, wenn ich auf dem Punkt stehen geblieben wäre....Ich hätte

auch Boxer werden können, so waren meine Absichten.“ Auf die Frage „Auf welchem

Punkt glauben Sie heute zu stehen?“ antwortete er 1973: „Jemand anderer sollte für

mich antworten. Trotzdem glaube ich heute, ein umfangreiches Wissen über diese

Kräfte zu haben, über die Wirkungsvielfalt der Kräfte. Ich bin langsam zu Bewußtsein

gekommen.“ 7)

Die „Wirkungsvielfalt der Kräfte“ wird von Karin von Maur mit dem Satz erläutert:

„Das Universum stellte sich ihm als < ein Gewebe aus Kraftzusammenhängen > dar,

in dem sich zwischen den materiellen und immateriellen Substanzen und Polaritäten

mikrokosmische und makrokosmische Prozesse sowie sichtbare und unsichtbare

Substanzumwandlungen abspielen.“ 8) Solche Gedanken stehen Rudolf Steiner sehr

nahe.

Zu der Literatur, die Beuys beeinflußt hat, gehören unter anderen Schriften des Zen

– Buddhismus, Konfuzianismus, Islam, der Rosenkreuzer – Bruderschaft, der

Theosophie, aber auch des Marxismus und Wirtschaftstheorien des Kapitalismus.

Autoren, auf die er sich immer wieder berief, waren außer Steiner vor allem Leonardo

da Vinci, Schiller, Nietzsche, Freud und C. G. Jung. Außerdem hat er sich im Laufe

der Jahre ein hohes Maß an naturwissenschaftlichen Kenntnissen angeeignet.

Besonders hervor gehobene Namen von Autoren naturwissenschaftlicher Literatur

konnte ich bei ihm nicht finden.

Auf seine naturwissenschaftliche Bildung möchte ich nun näher eingehen. Er hat

nämlich gleichzeitig versucht, klar definierte Begriffe und somit die Grundlage

jeglicher wissenschaftlicher Arbeit zu irritieren, wenn nicht sogar zu zerstören.

Und das nicht etwa aus Unvermögen, sondern aus der Überzeugung heraus, daß die

moderne, analysierende, exakte Wissenschaft die Menschheit in den Ruin treibt.

Selbst, wenn er mit dieser Annahme recht haben könnte – ich denke etwa an

die unabsehbaren Folgen angewandter Atomphysik oder Genforschung – muß die

Frage erlaubt sein, ob es Sinn macht, diesen Gefahren durch Naturmythen zu

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begegnen. Er hat die Begriffe aus Naturwissenschaft und Naturmythos mit freien

Phantasien so vermischt, wie er sie gerade zur Durchsetzung seiner Theorien

gebrauchen konnte.

Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen. Die Bienen und die Hasen spielen in

seiner Theorie und seiner künstlerischen Praxis eine große Rolle. In einem Gespräch

aus dem Jahr 1975 sagt er, dass „...die Biene in einem Umraum zu leben liebt, der

gewissen organischen Wärmecharakter hat...Und da kommt schon zum Ausdruck,

was mich interessiert hat bei den ganzen Skulpturen: der allgemeine

Wärmecharakter. Ich habe später so eine Art plastische Theorie, wo der

Wärmecharakter, die Wärme-Skulptur eine große Rolle spielt, ausgebildet, die sich

schließlich auf das ganze Soziale ausdehnt.... Und in diesen ganzen

Zusammenhängen muß man das sehen mit der Biene....Die wilden Bienen arbeiten

ähnlich wie die Wespen, ziemlich anarchistisch. Da gibt es nur sehr ungeregelte

kleine Wabenformen. Der Bienenstock, so wie wir ihn heute kennen, ist eine uralte

Kulturform, das heißt, er ist abgeleitet von einer Wildform der Wespen, die in

Pflanzen leben oder meistens in Bäumen.“ Die Ausführungen enden mit dem Satz

„...der Mensch ist praktisch auch ein Bienenschwarm, Bienenstock.“ 9)

Zoologisch gesehen, ist es ein Unding, Bienen und Wespen so dicht einander

zuzuordnen. Wespen bauen ihre Nester keineswegs aus Wachs, das zu bilden sie

nicht in der Lage sind, sondern aus „zerkauten“ Holzfasern. Auch ihre Ernährung

weicht weit von der der Bienen ab, und das Speichern von Honig oder ähnlichen

Vorräten für das Überleben des Volkes im Winter ist ihnen nicht möglich. Während

Bienen als „Völker“ mit einer großen Anzahl von Individuen und einer Königin

überwintern, was sie in die Lage versetzt, bereits die frühblühenden Pflanzen zu

bestäuben, überlebt von einem Wespennest nur die Königin an einem geschützten

Ort, um im Frühjahr einen neuen Nestbau zu beginnen und nach und nach aus ihren

Nachkommen ein Volk zu entwickeln.

Hasen sind für Beuys ein Symbol für die Reinkarnation d. h. für die Seele eines

Menschen, die sich bei der Zeugung mit der Materie verbindet, um auf dieser Erde

für die Dauer eines Menschenlebens heimisch zu werden. Als Begründung nennt er

die enge Verbindung zwischen Tier und Mutterboden, da der Hase sich Gänge und

Höhlen baut, in denen er wohnt. Natürlich denkt Beuys dabei an Kaninchen, deren

Junge unterirdisch, nackt und blind geboren werden, während Hasen bekanntlich nie

Gänge graben und ihre Jungen sehend und mit Fell oberirdisch zur Welt bringen. Der

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Grund, warum Beuys Hasen und Kaninchen einfach gleichsetzt, ist naheliegend. In

der Geschichte der Symbole spielt der Hase als Fruchtbarkeitssymbol in vielen

Kulturen eine große Rolle. Denken sie nur an den Osterhasen. Kaninchen haben

dagegen nahezu keine symbolische Bedeutung. Da Beuys für seine Argumentation

die unterirdischen Gänge in Verbindung mit den Hasen gut gebrauchen kann, mischt

er kurzerhand Hasen und Kaninchen.

Fehlinterpretationen dieser Art sind in den zahlreichen Beuysschen Reden keines-

wegs die Ausnahme. Ich würde dem keine größere Bedeutung beimessen, und ich

käme mir mit diesen Einwänden kleinlich vor, wenn Beuys ausschließlich als

Künstler aufgetreten wäre. Da aber sowohl er, als auch seine Protagonisten immer

wieder seine hohe naturwissenschaftliche Bildung betonen, macht er sich selbst, was

das anlangt, in meinen Augen unglaubwürdig. Er ist natürlich immer wieder in den

öffentlichen Diskussionen auf Widersprüche dieser Art hingewiesen worden. Für

solche Fälle „...hatte er sich eigens eine hübsche Floskel ausgedacht, die in ihrer

Ambivalenz nicht zu übertreffen ist: < Jajajajaja, nänänänänä!>. Da er gerne lachte

und schlagfertig war, zog er immer wieder die Lacher auf seine Seite.“ 10)

( Abb. 5 Heftumschlag )

Man muss ihm außerdem zugestehen, daß in diesem Verhalten eine gewisse

Konsequenz liegt, denn da er die Klarheit und zwingende Logik in der Verwendung

wissenschaftlicher Begriffe ablehnte, konnte man auch nicht erwarten, dass er sich in

seinen eigenen Reden daran hielt.

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Von solchen Provokationen abgesehen, hatte er ernst zu nehmende und hohe Ziele,

auf die ich jetzt zu sprechen komme. Ich beginne mit dem berühmt berüchtigten Satz

„jeder Mensch ist ein Künstler.“ Er wurde lange vor Beuys in ähnlicher Weise von

anderen formuliert (z. B. von Kurt Schwitters) nur hat Beuys ihn dermaßen publik

gemacht, dass der Satz jetzt ihm allein zugeschrieben wird.

Von Joseph Beuys wurde schon das Denken als Plastik aufgefaßt. Da im Übrigen die

Gestaltung aller Lebensbereiche sowie des Zusammenlebens zwischen den

Menschen kreativ erfolgen sollte, und Kreativität von Beuys mit Künstlertum

gleichgesetzt wurde, war für ihn jeder kreativ denkende Mensch ein Künstler. Beuys

sagt mit Recht, daß jeder Mensch kreative Fähigkeiten hat, die häufig nur verschüttet

sind, und daß es gilt, die auszubilden und zu fördern, wo immer es geht. Kreativität

ist in den meisten Berufen gefragt und heute notwendiger denn je.

„Der Begriff Kunst muß“ - nach Beuys – „auf die menschliche Arbeit schlechthin

angewendet werden. Das Kreativitätsprinzip ist“...in seiner religiösen Sicht...

„identisch mit dem Auferstehungsprinzip - die alte Form ist erstarrt und muß in eine

lebendige, durchpulste Gestalt, die Leben, Seele und Geist fördert, umgewandelt

werden. Das ist (- auf einen kurzen Nenner gebracht- d.Vf.) der <erweiterte

Kunstbegriff>, den Beuys als sein bestes Kunstwerk bezeichnet hat. Für ihn ist das

keine Theorie, sondern eine Grundformel des Seins, die alles verändert. Der

<erweiterte Kunstbegriff> führt unweigerlich zu dem, was Beuys die <Soziale

Plastik > nennt.“11), auf die ich nun zu sprechen komme.

Er möchte damit nahezu die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit erfassen.

In einem System – so sagt er, „...das die hemmungslose Gewinnsucht zum legitimen

Wirtschaftsprinzip macht, bleibt sicherlich wenig Raum für Gleichberechtigung,

Humanität und für Moral...Materiell wird das System immer mehr und mehr leisten

und dem Menschen anbieten. Seelisch wird es den Menschen immer mehr

vernichten.“12) Beuys starb 1986 und die vergangenen 23 Jahre haben ihm Recht

gegeben.

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( Abb. 6, Beuys in der Diskussion, 5. 12. 1968 )

Nach Beuys‘ Auffassung kann dieses System nur überwunden werden, indem die

Wähler massenweise die Wahlen verweigern und stattdessen Volksabstimmungen

fordern, die uns bekanntlich laut Grundgesetz zustehen. Er fordert: „Volksveto und

Abwahl muß jeden Tag möglich sein.“13) Wenn uns dieser Umschwung nicht gelingt

– so meint Beuys – dann sind wir am Ende. Der Anstoß dafür muß und kann - seiner

Auffassung nach - nur die Kunst sein.

Sein Vorbild ist die Dreigliederung der Gesellschaft, wie Rudolf Steiner sie im

Revolutionsjahr 1919 entworfen hat. Steiner forderte damals einen Sozialismus für

das Wirtschaftsleben, Demokratie für das Rechts – und Staatsleben sowie Freiheitund Individualismus für das Geistesleben. 14)

Voraussetzung für solche tiefgreifenden Veränderungen ist nach Beuys

die Beseitigung der Verhärtungen und Verkrustungen in unserem Geistesleben.

Da seine Vorträge eng mit seiner künstlerischen Arbeit verbunden waren, erklärte er

sie anhand von Bildern oder führte sie direkt vor. Beliebtes Beispiel war ihm das Fett,

denn das nimmt von sich aus eine andere Form an, wenn Wärme zugeführt wird:

es schmilzt bekanntlich. Aus der geformten Masse muß erst eine chaotische,

ungeformte, fließende Masse werden, ehe es zu einer umfassenden Veränderung

kommen kann.

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Wärme, das bedeutet für Beuys „...soziale Wärme. Es ist wohl haargenau dasselbe,

was die eigentliche Liebessubstanz ist. Sie hat sakramentalen Charakter. ... Es ist

eine höhere Form von Wärme.“15)

Beuys sieht seine Aufgabe darin, ein Modell für die zukünftige Gesellschaft zu

entwickeln, das in dem herrschenden Wissenschaftsbegriff keinen Raum hat.

Es soll für die Menschen eine neue Beziehung zu einer geistigen Welt herstellen.

Beuys will, „...daß das ein Bildungsprozeß ist, d.h., daß er ( der Mensch, d. Vf.) sich

darin findet als unabhängig von Gott, von alten Zusammenhängen, daß er diese

Verbindungen aber auf einer höheren Ebene, nachdem er sich sozusagen befreit

hat, wiederfinden muß,...“16)

Es versteht sich von selbst, daß eine Veränderungsstrategie, wie sie von Beuys

angestrebt wurde, im Kindergarten ansetzen und bis zum Abschluß in den

Hochschulen konsequent durchgezogen werden müßte, wenn sie Sinn machen soll.

Beuys hat seine Vorstellungen für diesen pädagogischen Aufbau entworfen, und da

er keine Chance sah, in die Kindergärten und Schulen einzugreifen, hat er die ersten

praktischen Konsequenzen als Professor an der Staatlichen Kunstakademie Düssel-

dorf gezogen. Dort hatte er bereits knapp 400 Studentinnen und Studenten in seiner

Bildhauerklasse und nahm weitere 142 vom Staat abgelehnte Bewerber auf, „...um

mit dieser Aktion das Recht auf gleiche Bildungschancen durchzusetzen und gegen

die Anwendung des Numerus clausus im kreativen Bereich Akademie zu

protestieren.“17)

Beuys war ein äußerst engagierter, fleißiger und ausdauernder Pädagoge. Parallel

zu der Arbeit an der Kunstakademie plante er seit 1971 eine <Freie Akademie>.

Seine pädagogischen Vorstellungen haben große Ähnlichkeit mit den Zielen des

Schriftstellers und Reformpädagogen Leo Weismantel, (1888 – 1964). Die Künste

sollten bei beiden in alle Schulfächer integriert werden. Auf diese Weise müßte

erreicht werden, daß sich die jungen Menschen wieder ein ganzheitliches Weltbild

erarbeiten können und der zerstörerischen Aufsplitterung in unzusammenhängen-

des Einzelwissen entgehen.

Es gibt allerdings entscheidende Unterschiede. Weismantel kam von einem liberalen

katholischen Christentum her. Beuys als Anthroposoph abstrahierte „...von der

leiblichen Gestalt und historischen Person Jesu, die sich ( für ihn ) durch das

<Mysterium von Golgatha> ein für allemal in eine allgegenwärtige <Christuskraft>

verwandelt hat."18)

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Beuys meint, “Die Kirche hindert daran, zu einer christlichen Gesellschaftsordnung

zu kommen.“ Sie „...hat den Auftrag nicht erfüllt, den Christus ihren Mitgliedern

gab.“20)

Entsprechend der pädagogischen Planung predigt Beuys seinen erweiterten

Kunstbegriff als einzig möglichen Weg, um einer völligen Verhärtung im Geist zu

entgehen. „Ohne diese Erweiterung des Kunstbegriffes mit dieser Perspektive

werden Menschen keinen Grund mehr haben, Bilder zu malen. Dann läuft sich das

tot.“ 21) Erst, wenn „...die Soziale Skulptur als Grundlagenwissenschaft“22) erreicht

ist, sieht Beuys wieder einen Sinn darin, über Plastiken nachzudenken, wie sie seit

30.000 Jahren von Menschen in allen Kulturen hergestellt worden sind.

Mehrfach taucht der Begriff des <dritten Weges> auf, den Beuys anstrebt. Als er

seine Theorien formulierte, herrschte Kalter Krieg. Im Gespräch mit Rainer

Rappmann sagte er „Wir sind richtig, und ihr seid falsch...das kann nicht gehen.“ 23)

Gleichgesinnte fand er seit 1971 im Internationalen Kulturzentrum Achberg am

Bodensee. Es ging darum, jenseits von kapitalistischen und kommunistischen

Gesellschaftsordnungen einen dritten Weg zu finden. Diese Forderung klingt

versöhnlich und keineswegs provokant. Aber im Detail und in der Absolutheit,

in der Beuys sie vortrug, war sie kolossal herausfordernd. Z.B. verlangt er einen

gewandelten Geldbegriff 24), damit Eigentum, Profit und Lohnabhängigkeit über-

wunden werden. Als Begründung sagt er „...daß es ein Wirtschaftsleben geben wird

in Zukunft, wenn die Mehrheit sich so verhält, wie ich es ihr rate, daß diese Wirtschaft

dann den Bedürfnissen der Menschen dient und nicht den Bedürfnissen einer

Minderheit für ihren eigenen Profit.“ 25)

Auch zwischen der These des Marxismus, „Die Produktionsweise des materiellen

Lebens bestimmt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß“26) und dem

Idealismus des 19. Jahrhunderts, der davon ausgeht, daß es der Geist ist, der sich

den Körper schafft, sucht Beuys einen dritten Weg. Er erklärt ihn anhand seiner

Bilder: Der kalte, berechnende, analysierende Intellekt, der nicht nach dem

Mitmenschen fragt, ist für ihn der Kältepol. In dessen Nähe hat weder die Kunst noch

die Kreativität der Menschen, noch ihre Freiheit eine Chance. Gegenüber befindet

sich der Wärmepol, der Inbegriff des Lebens, der Liebe, aber auch des Chaos‘. Die

Bienen schaffen zwischen diesen Polen die ideale Mitte. Sie verwenden für ihre

Waben das Sechseck, also eine kristalline Form, wie man sie z.B. bei Bergkristallen

findet. Während aber der Kristall in Beuys‘ Augen so tot ist, wie das heutige

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naturwissenschaftliche Denken, füllt die Biene ihre Wabe mit einem Ei, also mit

Leben, oder mit Honig, der für Beuys der Inbegriff einer lebenspendenden Masse ist.

Sein Gedankengut der Sozialen Plastik hat er seit Mitte der 70 er Jahre in den

verschiedenen alternativen Gruppierungen vorgetragen, der ökologischen

Bewegung, der Frauenbewegung, den Menschenrechtsbewegungen in Ost und

West, der Dritte – Welt – Bewegung und der anthroposophischen Gesellschaft,

um nur einige zu nennen. 27)

Bei den Grünen, die anfangs das Konzept „Einheit in der Vielfalt“ angestrebt hatten,

setzte sich Beuys vehement dagegen ein, zunächst das politisch Machbare zu

versuchen. Dazu wäre ein Minimalkonsens erforderlich gewesen und er hatte

die Befürchtung, daß „...jede Gruppe sozusagen ihr Bestes aus ihrer Programmatik

abschneiden muß“ 28), um denselben zu erreichen. Sie wissen, daß sich bei den

Grünen die Realos durchgesetzt haben, die Beuys‘ Vorstellungen nicht teilen

konnten.

In einem Gespräch mit Rainer Rappmann am 14.11.1975 berichtet Beuys voller

Hoffnung davon, daß sich sein Gedankengut eventuell in Irland verwirklichen läßt.

„In Zusammenhang mit der EG wurde dann eine Studie erarbeitet, die sich auf die

Möglichkeit einer freien Universität in Dublin bezieht...Was dort das Problem ist, ist

mir manchmal sehr viel mehr bekannt, als den Iren selbst. Ich habe also den Effekt

erzielt, daß ich meine Ideen mit Erfolg unterbringen konnte und daß es dort unter

Umständen jetzt zu einer Gründung kommt. Das spielt sich aus der westlichen, ganz

speziell aus der keltischen Spiritualität ab, was man ganz klar wissen muß. Und

dieses Keltische ist im Augenblick in einer Randsituation.“ 29)

In diesem Zitat wird deutlich, daß Beuys in sein Konzept ständig sehr frühes, oft

vorgeschichtliches und mythisches Gedankengut mit einbezieht. Man ahnt aber auch

die Überschätzung seiner eigenen Möglichkeiten. Von einer der geplanten Schulen

oder Hochschulen aus sollten die ganzen Fragen der Freiheit, der Demokratie und

des Sozialismus weltweit über freies Satelittenfernsehen ausgestrahlt werden,

von New York, Tokio und Berlin aus, „global“. Wie er es vor 25 Jahren schon

gefordert hat.

In der Zeitschrift <Pardon> Nr. 3, März 1972 schrieb H.M.Broder „Wer den Politiker

Joseph Beuys angreift, tut ihm einen Gefallen: Denn der Politiker Beuys ist dabei,

den Ruf des Künstlers Beuys zu ruinieren.“30)

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Eingedenk dieses Satzes will ich mich den Rest der verbleibenden Zeit weitgehend

auf seine Objekte, Installationen und Aktionen konzentrieren, auch wenn man

bezweifeln muß, ob sich Beuys der Künstler von Beuys dem Politiker überhaupt

sinnvoll trennen läßt.

Als erstes wähle ich ein Objekt aus den Jahren 1962 – 63, eine „Kreuzigung“

(Abb.7 42,5 cm hoch).

Sie sehen eine senkrechte Latte, die für das Kreuz steht. Davor ist eine zweite Latte

mit Elektrokabeln angebunden, sie soll den Corpus darstellen. Zwei Flaschen, wie sie

für Blutkonserven damals üblich waren, stehen rechts und links, anstelle von

Johannes und Maria. Blut, das bedeutet Lebenskraft, im Gegensatz zu dem

abgestorbenen Holz in der Mitte. Rechts hängt eine Nadel an einem Faden, sie

erinnert an den Lanzenstich. Anstelle der Köpfe der drei Personen finden wir

Zeitungsfetzen, einmal senkrecht angeheftet, zweimal waagerecht auf die Flaschen

gelegt. Darauf ist je ein rotes Kreuz gemalt, die Farbe wie von getrocknetem Blut. Die

Schrift auf den Zeitungsfetzen, soweit man sie lesen kann, ergibt Worte wie „Zentral“,

„ Pfund“, „effektive Zunahme“, „Verlobung“, „Schuld“. Dem Betrachter ist es

anheimgestellt, sie zu deuten.

Alles in allem ein Objekt aus Müll unserer Wegwerfzivilisation. Karin von Maur

schreibt dazu „So verliert das Kunstwerk seinen immanenten und autonomen

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Charakter; es wird zu einem durchlässigen <Vehikel> für Ideen und Empfindungen,

die es speichert und aussendet.“31)

In meinem Buch „Plastisches Gestalten“ habe ich 1984 den Vorschlag gemacht,

man möge in Zukunft vor allem zwischen dem werkimmanenten und dem moment-

historischen Wert eines Kunstgegenstandes unterscheiden lernen. Ich halte das

nach wie vor für erstrebenswert. Wenn Karin von Maur den Verlust des werk-

immanenten Charakters in einem Atemzug damit nennt, daß das Kunstwerk zu

einem durchlässigen Vehikel für Ideen und Empfindungen wird, dann ist die Frage

erlaubt, ob an die Stelle ein momenthistorischer Wert getreten ist. Wenn ja, dann

sehe ich ihn darin, daß Beuys dazu beigetragen hat, die Objektkunst von den

Werken des Dadaismus zu lösen und vom Anspruch her gleichrangig neben andere

Kunstwerke zu stellen.

Willi Rotzler hatte 1972 in seinem Standardwerk „Objektkunst“ geschrieben, daß

diese Kunstgattung wahrscheinlich am Ende sei. Beuys hat uns eines besseren

belehrt, indem er Objekte hergestellt hat, die kein auch noch so anspruchsvolles

Thema scheuen.

1964 hat Beuys sein berühmtes Objekt, den „Fettstuhl“hergestellt.

(Abb. 8)

Dazu sagte er selbst „Das Fett nimmt den Weg von einer chaotischen zerstreuten,

energieungerichteten Form zu einer Form. Dann tritt es auf in der berühmten

Fettecke, die jetzt den menschlichen Körper in einer Gegend anschneidet, wo

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gewisse emotionale Kräfte zu Hause sind.“32) Da lachte er und mit ihm lachten alle

im Saal.

Ein Jahr später führte er in der Düsseldorfer Galerie Schmela eine Aktion durch.

Zum leichteren Verständnis erinnere ich an Beuys‘ Gedanken über den Hasen.

„Der Hase hat direkt eine Beziehung zur Geburt...Für mich ist der Hase das Symbol

für die Inkarnation. Denn der Hase macht das ganz real, was der Mensch nur in

Gedanken kann. Er gräbt sich ein, ... er inkarniert sich in die Erde“33).

Dass der Honig für Beuys der Inbegriff von vitalem Stoff ist, sagte ich bereits.

Die Düsseldorfer Aktion hieß „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“.

( Abb. 9 )

Beuys hatte seinen Kopf mit Honig bestrichen und den mit Blattgold belegt.

Das bedeutet, er hat seinen Intellekt vitalisiert, den kristallinen, verhärteten Charakter

des Gedankens verwandelt. Auf dem Arm trägt er einen toten Hasen, wie einen

Säugling. Dem erklärt er sehr liebevoll, aber ohne daß man etwas hört, die Bilder in

der Galerie. Mitten in der Galerie liegt ein verdorrter Tannenbaum. Ab und zu

unterbricht Beuys die Führung und steigt mit dem toten Tier auf dem Arm über

diesen Baum.

Mit solchen Aktionen will Beuys im Menschen Gegenbilder erzeugen,

die seiner Meinung nach verschüttet sind. Dazu arbeitet er - wie er sagt – nicht mit

Symbolen, sondern mit Material. Als Franz Marc Anfang des Jahrhunderts Pferde

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blau gemalt hat, war das auch nicht symbolisch gemeint, etwa BLAU, als die Farbe

der Treue. Es war das Material des Malers.

Schließlich will ich eine Aktion beschreiben, die Beuys in New York 1974 mit dem

Titel „I like America and America likes Me“ durchführte.

( Abb. 10 )

Er war damals auf der Höhe seines Ruhmes und einige Zeit lang der höchst bezahlte

Künstler der Erde.

Beuys flog nach U.S.A. und hielt sich im Flughafengebäude die Augen zu, da er

Amerika nicht sehen wollte. Er wurde in weiße Tücher eingewickelt – so Gieseke –

bei Peter Schata ist dagegen die Rede von Filz – und dann auf einer Bahre mit

einem Krankenwagen und Sirenengeheul in die Galerie René Block geschafft.

Dort war ein Raum mit vergitterten Fenstern vorbereitet, in dem ein Kojote auf Beuys

wartete. In dem Raum angekommen wurde Beuys ausgepackt, öffnete die Augen

und lebte dann 3 Tage und Nächte mit dem Kojoten zusammen. Bei Alfred

Nemeczek (in Nr. 2 der Zeitschrift art aus dem Jahr 1983 Seite 74) ist die Rede von 7 Tagen.

Beuys versucht, mit dem Tier Kontakt zu bekommen, er hat im Raum einen Ballen

Stroh, ein Paar Handschuhe, eine große Filzbahn, einen Trinknapf, einen langen

oben um 180 o gekrümmten Stock, ein Triangel um den Hals und 50 Exemplare des

„Wall Street Journal“. Von außen ist ein Tonbandgerät vorbereitet, das ab und zu

Turbinengeräusche in den Raum sendet. Die ganze Aktion wird gefilmt...... Am Ende

wird Beuys wieder eingepackt, an den Flughafen gefahren und nach Deutschland

zurück transportiert.

Beuys hatte große Vorbehalte gegen die U.S.A. Anfang der 80er Jahre sang er als

Werbung für die Friedensbewegung das Lied:

Aus dem Lande, das sich selbst zerstört

und uns den way of life diktiert

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da kommt Reagan mit Waffen und Tod

doch wir wollen Sonne statt Reagan.

Dieser Aversion hat er in der Aktion 1974 bereits Luft gemacht, indem er den

U.S.Amerikanern ihre Vergangenheit vorhielt. Der Kojote steht für die Tiere und

Indianer Amerikas, die seit dem Vordringen der Weißen gejagt worden sind.

Mit diesem Präriewolf tut er sich zusammen und demonstriert das gute,

vorkolumbianische Zusammenleben zwischen Mensch und Natur.

Dabei paßt es natürlich zu seinem Vorhaben, daß der Kojote auf die bekannteste

amerikanische Wirtschaftszeitung pinkelt, aber das sind – ebenso wie der Hin – und

Rücktransport - nur Randerscheinungen. Wesentlich ist, daß er in einer hochzivili-

sierten Umgebung ein Gegenbild entwirft, um damit in den Köpfen der Menschen

etwas zu bewirken. Ob das einem Deutschen zustand, der das Dritte Reich und die

Judenverfolgung miterlebt hat, darf man fragen.

Beuys wollte unter anderem – wie Marcel Duchamp – gegen die bürgerliche Welt

und den Kunstbetrieb agieren. Dabei ist beiden nicht erspart geblieben, daß sie von

diesem Allesfresser konsumiert worden sind. Duchamp hat kein Hehl daraus ge-

macht, daß er sein Pissoir nicht für Kunst hält. Es wurde nach den ersten Protesten

dennoch für horrende Summen vermarktet. Beuys war von vornherein cleverer.

Er hat den Kunstmarkt durchschaut und für seine Zwecke genutzt. Z.B. hatte er einen

Spürsinn dafür, welche Objekte sich zur Vervielfältigung als Multiple eignen, ohne

künstlerisch ihre Qualität einzubüßen. Er war in Verhandlungen ebenso geschickt wie

manuell und liebte den Kontrast zwischen Luxus und Askese. Gelacht hat er für sein

Leben gern, hat gut gekocht und gerne gefeiert. Im täglichen Leben hat er Haken

geschlagen, wie sein Vorbild, der Hase. Dadurch konnte man ihn so schwer greifen.

Bei seiner vielseitigen, enormen Begabung, seiner Schlagfertigkeit und seinem

Selbstdarstellungstrieb war er schwer zu fassen. Gesprächspartnern gegenüber,

denen er sich überlegen fühlte, war er unendlich geduldig. Traf er auf einen, der ihm

gewachsen war, wurde er bissig und ironisch. So ist es verständlich, daß Jappe

seinem Buch über ihn den Titel gab „Beuys packen“. Nach Meinung des engsten

Freundes von Beuys, Erwin Heerich, ist es die beste Beschreibung von Beuys, die es

gibt.

Ich bin nie einem Menschen begegnet, der eine so starke Ausstrahlung hatte.

Sie war geradezu messianisch. Ob man sie als angenehm oder unsympathisch

empfand, war davon abhängig, ob man bereit war, sich seinem schamanistischen

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Auftreten unterzuordnen. Bei Schauspielern und Sängern spricht man von

„Bühnenpräsenz“. Wenn Beuys die Bühne betrat, war der Raum in seiner Richtung

gepolt. Dem konnte sich niemand entziehen. Die Kehrseite war seine Egomanie, die

bis zu maßloser Selbstüberschätzung ausarten konnte. 34)

Er war der festen Überzeugung, die Welt verändern zu müssen und zu können.

Wenn es ihm einmal nicht gelang, im Mittelpunkt zu stehen, wurde er unleidlich. Der

Zeitgeist kam ihm entgegen, da in der Gesellschaft ein Bedürfnis nach Magie in

irgendeiner Form vorhanden war. Seine Mystifizierung vorchristlicher, germanischer

Überlieferungen haben ihm viele übel genommen. So kam es lange nach seinem

Tod zu dem Buch „Flieger, Filz und Vaterland, eine erweiterte Beuysbiographie“ von

Gieseke und Markert, das leider neben wesentlicher kritischer Klärung auch viel

unnötigen Sarkasmus enthält. Er selbst verteidigte sein Vorgehen mit dem Satz „Ich

wende mich zwar zurück, gehe zurück, suche ebenso das Existierende zu erweitern,

indem ich es nach vorn durchbreche. Auf diese Weise werden alte mythische Inhalte

aktuell.“35)

Durch solche Äußerungen und seine Nähe zur Aktionsgemeinschaft Unabhängiger

Deutscher (AUD) wird Beuys politisch sehr skeptisch betrachtet und gelegentlich der

rechten Szene zugeordnet. Noch 8 Jahre nach seinem Tod hat man in Paris die erste

große Ausstellung seines Werkes attackiert. 36) Seine

Art hat auch viele schwache Persönlichkeiten angezogen. Er war ein Komet mit

einem großen Schweif.

Sieht man die Wissenschaft als den Versuch eines objektiven Erkenntnisweges

und die Künste als subjektiven Erkenntnisweg, so hat Beuys dies zu mischen

versucht und hat für sich vielleicht erreicht, was sein Ziel war: kosmische

Zusammenhänge zu erfassen. Sein zweites Ziel aber, sie zu vermitteln, scheint mir

nur sehr begrenzt gelungen. Er war wie eine hervorragende, äußerst sensible

Antenne, mit einem mäßigen Tuner und einem starken Lautsprecher.

„Der interessierte Beobachter konnte über Jahrzehnte hinweg verfolgen, wie Beuys

sich in wechselnden und immer neuen Medien ausdrückte, in Zeichnungen,

Plastiken, Objekten, Environments, in Aktionen, Filmen, Videos, Texten,

Schallplatten und schließlich in Vorträgen und Diskussionen. Ein ganzer Fächer

künstlerischer Aktivitäten kann ausgebreitet werden. Ein fast unüberschaubares und

vielschichtiges Oeuvre ist entstanden. Dilettantisches Stückwerk, uneinheitlich,

widersprüchlich, voller einander aufhebender Aussagen, wirr, träumend, chaotisch.

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Der Kritiker steht hilflos davor, lächelt nachsichtig oder wird wütend und spritzt

Gift.“37) Ich ertappe mich immer wieder dabei, daß ich Beuys vehement verteidige,

wenn er als Scharlatan abgetan wird, und ihn ebenso vehement angreife, wenn er in

den Himmel gehoben wird.

( Abb. 11 „Josephslegende“ vier Beuys-Portraits von Wolf Spemann, 1980, Bronze,

Blattgold, Blattsilber )

Jetzt, 23 Jahre nach seinem Tod, d.h. eine knappe Generation später, kann man

erkennen, daß er in mancher Hinsicht weit in die Zukunft gesehen hat. Sei es, daß

man an den heutigen Stand der Chaostheorie denkt, oder z.B. an den Neuro-

physiologen John C. Eccles, oder an den Biochemiker und Zellbiologen Rupert

Sheldrake. Eccles, 1903 in Melbourne geboren, erhielt 1963 für die Entdeckung der

Ionenströme zur Impulsübertragung an den Synapsen des Zentralnervensystems

den Nobelpreis. Er ist Vertreter des „dualistischen Interaktionismus“ und wendet sich

damit gegen den heute noch vorherrschenden monistischen Materialismus. – Rupert

Sheldrake ist 1942 in Nottinghamshire, England, geboren. Seine Forschungen bauen

u. a. auf Eccles auf und befassen sich vorwiegend mit „Formenbildungsursachen“.

Die Hypothese geht davon aus, daß es morphogenetische Felder und Resonanzen

gibt, die die gesamte Evolution auf dem Planeten mitbestimmen. Sollte sich diese

Hypothese durch weitere Forschungen erhärten lassen, so müßten die

Naturwissenschaften in Zukunft über den Materialismus weit hinaus denken, - soweit

ich als Laie das der Literatur entnehmen kann. Die sogenannten exakten

Naturwissenschaften, deren Sicht Beuys als unzureichend monierte, würden sich

dann in eine Richtung bewegen, die Beuys bereits vor 40 Jahren erahnt und

angemahnt hat.

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Freilich sind die Thesen der Naturwissenschaftler Eccles und Sheldrake – um nur

zwei der führenden Köpfe dieser Entwicklung zu nennen, - und die Visionen des

Mystikers Beuys noch schwer vereinbar. Für Beuys war kurz vor seinem Tod die

Reinkarnation eine unumstößliche Tatsache. Ich zitiere ihn ein letztes Mal “Der Tod

ist ein Mittel, um das Bewußtsein zu entwickeln, um zu einem höheren Leben

vorzudringen: einem höheren Leben, das ist wichtig.“38)

( Abb. 12 )

Anmerkungen

1) Götz Adriani, in: Bastian, S.89

2) Beuys, in: Gieseke, S.46

3) alle Angaben zum Studium in Posen siehe Gieseke S.53 ff

4) „Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“, Gieseke, S.141

5) Lebel, S. 49

6) Beuys, in: Zweite, S.77 und 78

7) ebenda, S.74 f

8) Karin von Maur, in: Bastian, S.47

9) Beuys, in: Stachelhaus, S.74 ff

10) Stachelhaus, S.86

11 ) Stachelhaus, S.82

12 ) Beuys, in: Harlan, S.32

13) Beuys, in: Harlan, S.34

14 ) vgl. Steiner, Rudolf, die Erziehungsfrage als soziale Frage, Dornach 21971, S.16 f

15 ) Beuys im Gespräch mit Rappmann, in: Harlan, S.20

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16 ) Beuys, in: Adriani, S.45

17 ) Adriani, S.166

18 ) Karin von Maur, in: Bastian, S.46

19 ) Beuys, in: Harlan, S.17

20 ) Beuys, in: Harlan, S.52

21 ) Beuys, in: Harlan, S. 21

22 ) ebenda

23 ) Beuys, in: Harlan, S.42

24 ) vgl. ebenda, S.29

25 ) Beuys, in: Adriani, S.164

26 ) Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 41963, S.15

27 ) vgl. Rappmann, in: Harlan, S.62

28 ) Beuys: Wie funktioniert Freiheit, in: Zitty, Berliner Stadtzeitung, S.28, zitiert nach Harlan, S.62

29 ) Beuys, in: Harlan, S.40 f

30 ) Broder, H.M. : Die Revolution aus dem Filzhut, in: Pardon Nr. 3, März 1972

31 ) Karin von Maur, in: Bastian, S.51

32 ) Beuys, in: Stachelhaus, S.92

33 ) Beuys in Harlan, S.92

34 ) Aussage Günther Haese, Interview H. Lukowsky

35 ) Beuys, in: Kunstverein St. Gallen, 1971

36 ) vgl. Gieseke, S. 171 und Jappe, S.279

37 ) Schata, in: Harlan, S.75

38 ) Beuys, in: Zweite, S.81

im gesamten Text: fett gedruckte Hervorhebungen von W. Spemann

Dieser Text wurde 2000 im Auftrag von Herrn Friedolf Fehr, Mosbach / Baden erarbeitet,

anschließend mehrfach ergänzt und an verschiedenen Orten vorgetragen, unter anderen im

Klingspor-Museum Offenbach.

Verwendete Literatur:

Adriani, Götz / Konnertz, Winfried / Thomas, Karin: Joseph Beuys, Düsseldorf 1973

Bastian, Heiner: Joseph Beuys, Skulpturen und Objekte, Katalog der Ausstellung im

Martin – Gropius – Bau , Berlin, 1988

Cooke, Lynne und Kelly, Karen: Joseph Beuys, Zeichnungen zu den beiden 1965

wiederentdeckten Skizzenbüchern „ Codices Madrid“ von Leonardo da Vinci,

Haus der Kunst, München, 1999

Damus, Martin: Funktionen der Bildenden Kunst im Spätkapitalismus, Ffm., 1973

Dürr, Hans – Peter und Gottwald, Franz – Theo: Rupert Sheldrake in der Diskussion,

Bern, München, Wien, 1997

Eccles, John C. :Wie das Selbst sein Gehirn steuert, München, 3 2000

Freie Volkshochschule Argental e.V. :Joseph Beuys, Aktive Neutralität, Wangen 1989

Gieseke, Frank und Markert, Albert: Flieger, Filz und Vaterland, eine erweiterte

Beuys-Biographie, Berlin, 1996

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Harlan , Volker / Rappmann, Rainer / Schata, Peter: Soziale Plastik, Materialien zu

Joseph Beuys, Achberg 1976,3 1984

Jappe, Georg: Ressource Kunst, Köln 1989

Jappe, Georg: Beuys packen, Regensburg 1996

Lebel, Robert: Duchamp, von der Erscheinung zur Konzeption, Köln 1962

Nolte, Jost: Kollaps der Moderne, Hamburg 1989

Rotzler, Willy: Objekt – Kunst, von Duchamp bis Kienholz, Köln 1972

Spemann, Wolf: Plastisches Gestalten – anthropologische Aspekte, Hildesheim 1984, 21990

Sheldrake, Rupert: Das Gedächtnis der Natur, Bern, München, Wien 1988

Stachelhaus, Heiner: Joseph Beuys, Düsseldorf 21988

Zweite, Armin: Beuys zu Ehren, München 1986