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Annette Kehnel Hg. Kredit und Vertrauen

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Annette Kehnel Hg.

Kredit und Vertrauen

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Kredit undVertrauen

Annette Kehnel Hg.

Band 2 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Annette Kehnel Hg.Kredit und VertrauenBand 2 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“

F.A.Z.-Institut für Management-,Markt- und Medieninformationen GmbHFrankfurt am Main 2009

ISBN 978-3-89981-237-4

F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen GmbHMainzer Landstraße 19960326 Frankfurt am Main

Gestaltung/Satz

Umschlag: F.A.Z., VerlagsgrafikTitelbild: Anja Schindler

Satz Innen: Ernst BernsmannDruck und Bindung: Messedruck Leipzig GmbH, Leipzig

Alle Rechte, auch des auszugsweisenNachdrucks, vorbehalten.

Printed in Germany

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Inhalt

Einleitung 9Annette Kehnel

Geld und Vertrauen 17Otmar Issing

Kunst und Markt – eine Mesalliance? 29Peter Raue

Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 37Rupert Graf Strachwitz

Unser täglich Ranking gib uns heute …“ 51Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele

„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ 79Alfred Kieser

„Vertrauen Sie niemandem, der Ihnen erzählt,er wisse, wie sich die Kurse entwickeln“ 87

Markus Glaser und Martin Weber

Trust – A Concept Too Many! 105Timothy W. Guinnane

Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 129Josef Zimmermann

Vertrauen in der Krise? Das ewige Karussell des Wertezerfalls 151Stefanie Unger

Markenbildung und die Gewinnungdes öffentlichen Vertrauens 157

Frank Merkel

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Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 167Konstantin Adamopoulos, Iria Budisantoso und Christoph Sextroh

Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 183Marc-Philippe Weller

Vertrauen statt Wissen –Qualität im Wissenschaftsjournalismus 197

Matthias Kohring

Unsicherheit und Vertrauen:Eine sozialpsychologische Perspektive 211

Jana Janssen, Christiane Schoel und Dagmar Stahlberg

Vertrauen und soziale Präferenzen:Die Sicht der experimentellen Wirtschaftsforschung 225

Klaus M. Schmidt

„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit,wenn ich noch einen habe“ 239

Jochen Hörisch

Die Kunstkreditkarte 245Iris Stephan, Angela Rohde, Ulrich Dohmen, Peer Boehm

Die Autoren 249

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Die Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ an der UniversitätMannheim ist ein gemeinsames Projekt der Philosophischen Fakultätund der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre, mit Unterstützung vonABSOLVENTUM MANNHEIM, der Freunde der Universität Mannheimund in Zusammenarbeit mit dem Bronnbacher Stipendium Mannheim.

„Unser gemeinsames Ziel ist es, statt Gräben zwischen Wirtschaft undKultur zu ziehen, Brücken zu schlagen, um ein beidseitig befruchtendesVerhältnis aufzubauen.“

Prof. Dr. Hans-Wolfgang Arndt, Rektor der Universität Mannheim

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Abbildung 1: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Grand Place I

Abbildung 2: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Grand Place II

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Einleitung

Annette Kehnel

Vertrauen hat Hochkonjunktur – als Managementkonzept, als Prinzipder Mitarbeiterführung oder als Grundprinzip der Markenbildung.Gleichzeitig sind die Gefahren von zu viel Vertrauen und zu wenig Kon-trolle in der aktuellen Finanzkrise nur allzu deutlich geworden. Undwährend die einen das Bekenntnis zum ökonomischen Wert des Ver-trauens einfordern, pochen die anderen auf Kontrolle. Auch in der For-schung ist Vertrauen ein brandaktuelles Thema. Es wird als Fort-schrittsfaktor und „Sozialkitt“ von Wirtschafts-, Politik- und Sozialwis-senschaften erforscht: Länder, in denen die Menschen einander ver-trauen, weisen ein höheres Wirtschaftswachstum und eine höheredurchschnittliche Lebenszufriedenheit auf.

Im zweiten Band der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ dis-kutieren Ökonomen, Künstler, Soziologen, Wirtschafts- und Finanzex-perten, Politikwissenschaftler und Studenten folgende Fragen: Wiefunktioniert Vertrauen? Ist Vertrauen nicht vielfach eine Ausrede fürTrägheit? Wäre der Markt überhaupt überlebensfähig, wenn die Akteurestatt Kapitalrenditen immer nur Vertrauenswürdigkeit im Sinn hätten?Und warum beschäftigt sich ausgerechnet die innovativste Spitzenfor-schung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit Vertrauen?„Kredit und Vertrauen“ sind hochaktuell.

Eine kurze Begriffsklärung vorab

Kredit und Vertrauen sind Begriffe des täglichen Sprachgebrauchs.Kredit – so die naheliegende Assoziation – gehört ins Bankwesen:Kreditgeber und Kreditnehmer trifft man im Bereich Finance. Kredit-würdigkeit und Kreditvergabekriterien werden geprüft und ent-wickelt. Kredite haben mit hartem Geschäft, mit Investitionen, mitInformation, mit Schulden und mit Werten zu tun. Vertrauen dagegengehört in den Bereich des Sozialen. Therapeuten, Sozialarbeiter, Pasto-ren, Eltern, Erzieher etc. sind zuständig. Vertrauen und Vertrauens-bruch sind eher Themen fürs Sofa, für Paare, etwas Privates jedenfalls.

Einleitung 9

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Kredit und Vertrauen gehören verschiedenen Sphären des täglichenLebens an.

Doch auch das Gegenteil lässt sich mit Fug und Recht behaupten. Kre-dit und Vertrauen gehören zusammen. Sprachgeschichtlich wurzelt derKredit im lateinischen credere, heißt zugleich glauben und vertrauen.Creditum ist das im guten Glauben Anvertraute. Gemeinsam mit anderenBegriffen des Banken- und Finanzwesens wie „Giro“, „Konto“, „Bank“oder „Kontor“ wurde „Kredit“ in Zeiten der wirtschaftlichen Expansionseit dem 13. Jahrhundert aus dem Italienischen in fast alle europäischenSprachen übernommen. Kredit setzt Vertrauen voraus und zählt zu denGrundprinzipen des Wirtschaftslebens und der Geschäftsbeziehungen.Nur derjenige Kaufmann konnte langfristig Erfolg haben, dessen Anse-hen (creditum) untadelig war.

Seit Beginn der Bankenkrise im September 2008, dem Zusammenbruchvon Lehman Brothers, wird die Zusammengehörigkeit der Begriffe ver-mehrt betont. Die Krise – so die Argumentation in den Medien – seidurch mangelnde Kontrolle und blindes Vertrauen ausgelöst worden.Wie konnte es geschehen, dass so viele vernünftige, rational denkendeund handelnde Privatleute, Banker, Investmentberater, Finanzexpertenetc. in Wertpakete investierten und Wertpakete schnürten, die – imNachhinein – mit ganz wenig Aufklärungsbedarf von jedem Kind alswertlos identifiziert werden können? Warum hat keiner die ungedeck-ten Tripple-A-Ratings hinterfragt? Wie kann der systematische Verzichtauf Information, wie kann das blinde Vertrauen der Fachleute erklärtwerden? Eine Vertrauenskrise? Der massive Vertrauensverlust unter denGeldinstituten wurde als verhängnisvolle Folge der Finanzkrise erkannt.Vertrauen ist nicht länger Privatsache. Blindes Vertrauen, der Verzichtauf adäquate Information, die unkritische Gewährung von Krediten,fehlendes Vertrauen, missbrauchtes Vertrauen und der Verlust an Ver-trauenswürdigkeit tauchen als Begriffe in jeder Fehleranalyse zur Kriseauf.

Angesichts dieser widersprüchlichen Vielfalt am kollektiven Verständ-nishorizont lässt sich der Zusammenhang zwischen Kredit und Ver-trauen folgendermaßen konkretisieren: Kredit im engeren Sinne (= dieÜberlassung von Geld oder Werten auf Zeit an einen Dritten) und Ver-trauen (= ein Mechanismus der Komplexitätsreduktion, der Entschei-dungen auch in unüberschaubaren Situationen ermöglicht) sind unmit-telbar miteinander verknüpft. Besonders insofern, als wirtschaftlichesHandeln ein Handeln in komplexen Zusammenhängen meint.

Um mit dem Soziologen Niklas Luhmann zu sprechen: „Ohne Vertrauensind nur sehr einfache, auf der Stelle abzuwickelnde Formen menschli-cher Kooperation möglich.“ Wirtschaftliches Handeln erfordert Trans-

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aktionen, die das menschliche Handlungspotential über die elementa-ren Formen hinaus steigert, Transaktionen, die nicht stets aufs Neue dieVoraussetzungen und Folgen vorangegangener Entscheidungen in Fragestellen oder überprüfen können.

Vertrauen als Thema der Wissenschaft

In den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften wird Vertrauenals Wirtschaftsfaktor und „Sozialkitt“ schon seit langem erforscht. Ver-trauen ist kein privates Thema, kein exklusives Problem für Psychothe-rapeuten oder Moraltheologen, kein Refugium für spezielle Problemeder menschlichen Psyche. Das Thema Vertrauen hat Hochkonjunkturals Wirtschaftsfaktor. Man hat empirische Studien vorgelegt, die bele-gen, dass in Ländern, in denen die Menschen einander vertrauen, einhöheres Wirtschaftswachstum und eine höhere durchschnittliche Le-benszufriedenheit herrschen. Vertrauen in der Arbeitswelt steigert dieLeistungsfähigkeit. Entsprechend hat Vertrauen Hochkonjunktur in derErfolgsfaktorenforschung, als Managementdevise, als Prinzip der Mit-arbeiterführung, als Grundlage der Markenbildung, als Organisations-prinzip etc. Vertrauen beschäftigt Sozialpsychologen, Soziologen, Ver-haltensbiologen, Organisationstheoretiker etc. Vertrauen wird hiernicht länger als Privatsache oder ein Konzept für Seelsorger oder Bezie-hungsberater behandelt, sondern vielmehr als ein für Fortschritt,Wachstum und Wohlstand unentbehrlicher Erfolgsfaktor.

Auch Erkenntnisse aus der empirischen Sozialforschung und den Natur-wissenschaften können ins Feld geführt werden. Hier wird untersucht,unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, blind zu vertrauen,Risiken einzugehen, zu entscheiden und zu handeln sowie zu investie-ren ohne nachzufragen. Unter welchen Voraussetzungen verzichten sieauf weitere Informationen über das Zustandekommen der Entschei-dungsgrundlagen und der potentiellen Folgen ihrer Entscheidung? Mitden Oxytocinrezeptoren hat man die molekularen Grundlagen für Ver-trauen – allgemeiner gesprochen für gesteigerte Risikobereitschaft undfür Altruismus – gefunden. Oxytocin wird besonders dann ausgeschüt-tet, wenn Tiere oder Menschen auf Partnersuche sind. Verhaltensöko-nomen haben in Experimenten gezeigt, dass Mitspieler bei Vertrauens-spielen, in denen sich die Teilnehmer wechselseitig Geldbeträge über-eignen müssen, dann mehr übereignen, wenn man ihnen vorher Oxyto-cin verabreicht hat.

Das Wissen um die „Relevanz“ von Vertrauen ist natürlich wesentlichälter als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Das Ent-lastungsangebot im freiwilligen Verzicht auf Kontrolle war für den Men-

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schen schon immer verlockend und zugleich überlebensnotwendig. Indiesem Sinne wäre das sprichwörtlich seligmachende Gottvertraueneine altmodische Bezeichnung für das, was wir heute Überlebensstrate-gie nennen. Ohne ein grundständiges Zutrauen in die eigenen Erwar-tungen an die Welt wäre es auch dem modernen Menschen unmöglich,den Alltag zu bewältigen, einen Einkauf zu tätigen, in ein Auto zu stei-gen oder morgens sein Bett zu verlassen.

Vertrauen wäre demnach ganz allgemein eine soziale Tatsache, einempirisch unbestreitbares Faktum. Der Ruf nach mehr Vertrauen inaktuellen Wertedebatten scheint daher nicht ganz zutreffend. Ver-trauen ist genau genommen kein Wert, keine Tugend, kein Verdienst„an sich“. Die Luhmann’sche Rede vom Mechanismus der Komple-xitätsreduktion nimmt dem Begriff den moralischen Unterton. Ver-trauen ermöglicht die Steigerung der Handlungspotentiale eines sozia-len Systems. Vertrauen spart Zeit. Ganz neue Arten von Handlungen wer-den durch Vertrauen möglich, vor allem solche, die erst langfristig Erfül-lung in Aussicht stellen, Handlungen also, die nicht unmittelbarbefriedigen und daher künstlich motiviert werden müssen. Vertrauenbefähigt Menschen und Gesellschaften zu Handlungen, die langfristigeZwecke, Entlohnung oder Rendite verfolgen. Die Überlassung von Wer-ten an Dritte wäre demnach eine Form der Vergabe von Vorschussver-trauen, eine Form des Zukunftshandelns, das kreativ mit Wertenumgeht. Ob dieses Zukunftshandeln auf Zeitersparnis im Fegefeuer oderauf Steuerersparnis beim Finanzamt zielt, ist aus Sicht der Mediävistinnur eine Frage des Zeitgeistes.

Was bietet dieser Band?

Der Band, den Sie hier in Händen halten, bietet Stimmen und Ergebnisseaktueller Forschungen zum Thema aus den verschiedensten Fachdiszi-plinen und aus den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens.Einschlägige Beiträge aus Politik und Öffentlichkeit eröffnen den Band:

Otmar Issing, der Vater des Euro, knüpft an die Frage nach dem Zusam-menhang zwischen „Geist und Geld“ – die Thematik des ersten Bandesder Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ – an und endet mitCicero, „De officiis“: „Keine Sache hält den Staat mehr zusammen alsVertrauen“. Der Anwalt der schönen Künste, Peter Raue, widmet sich derFrage: „Wie eigentlich funktioniert der Kunstmarkt?“. Rupert GrafStrachwitz fragt nach den politischen Implikationen des „Vertrauens“.Unter der Überschrift: „Unser täglich Ranking gib uns heute …“ disku-tieren Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegeleüber das Vertrauen in Ratings, Rankings, Evaluationen und andere

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Objektivitätsgeneratoren im Wissenschaftsbetrieb. Der Organisations-theoretiker Alfred Kieser hinterfragt erneut das Vertrauen in Leistungs-kennziffern und Ranglisten in der Wissenschaft, ja er behauptet, es seivöllig naiv. Friedrich Schillers klassische Unterscheidung zwischen dem„Brodgelehrten“ und dem „Philosophischen Kopf“ sei in dieser Hinsichtbis heute gültig. Die Mannheimer Finanzexperten Martin Weber undMarkus Glaser warnen vor zu viel Vertrauen in jene, die vorgeben zuwissen, wie sich die Kurse entwickeln. Timothy Guinnane, Wirtschafts-historiker aus Yale, vertritt die provokante These, dass Vertrauen imFinanzsektor ein überflüssiges Konzept sei. Josef Zimmermann fragtnach den Vorteilen einer vertrauensbasierten Hausbankbeziehunggegenüber der stets bedarfsorientierten Abdeckung des Finanzbedarfsim Alltagsgeschäft herkömmlicher Kreditinstitute. Stefanie Unger pro-blematisiert das maßlose Vertrauen in vermeintlich idyllische Zeiten inder Vergangenheit, als die freie Marktwirtschaft noch den Geboten derRücksichtnahme und Angemessenheit folgte. Frank Merkel untersuchtMarkenführung als ethisches Prinzip und fragt als Marketingfachmann,warum Vertrauen verpflichtet.

Konstantin Adamopoulos, Kurator des „Mannheimer Bronnbacher Sti-pendiums“, fragt nach dem stets prekären Verhältnis zwischen Ver-trauen und Innovation. Entsteht nicht dort Innovation, wo auf Kontrolleverzichtet wird? Die Mannheimer Bronnbacher Stipendiaten Iria Budi-santoso und Christoph Sextroh denken über jenen Vertrauensvorschussnach, der ihnen von Seiten des Kulturkreises der deutschen Wirtschaftentgegengebracht wird. Der Mannheimer Jurist Marc-Philippe Wellergeht der Frage nach, in welchem Verhältnis die Vertragstreue als nor-mative Größe („pacta sunt servanda“) und ihrem Gebrauch als Passe-partout in verschiedensten Argumentationszusammenhängen steht.Die Rolle von Vertrauen im Wissenschaftsjournalismus hinterfragt derMedien- und Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring in sei-nem Beitrag über Qualität im Wissenschaftsjournalismus.

Aus sozialpsychologischer Perspektive betrachten Jana Janssen, ChristianeSchoel und Dagmar Stahlberg das Problem der „gefühlten“ Unsicherheitim Hinblick auf individuelle Bedürfnislagen nach zuverlässigen und ver-trauenswürdigen Führungspersönlichkeiten. Klaus M. Schmidt hinter-fragt aus Sicht des Behavioural Economists den Homo oeconomicus alsFiktion der Standardökonomie und stellt fest, dass Vertrauen, dasBedürfnis nach Ausgeglichenheit und soziale Präferenzen eine zentraleRolle im aktuellen Verhalten seiner Probanden spielen. Jochen Hörischgeht aus von dem Faszinosum des „Wirtschaftsweisen“ und hinterfragtdas Vertrauen in institutionalisierte Instanzen vermeintlich zuverlässi-gen Wissens: „invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wennich noch einen habe“.

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Wirtschaft und Kultur bleiben im Gespräch. Wirtschaft braucht Kultur.Kultur braucht Wirtschaft. Die Gesellschaft braucht beides. Dieses Wis-sen wird an der Universität Mannheim großgeschrieben. Das Bronn-bacher Stipendium des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft hatdiese Erkenntnis in ein innovatives Förderprogramm übersetzt.

Der hier vorgelegte zweite Band der Mannheimer Reihe „Wirtschaft undKultur im Gespräch“ zum Thema „Kredit und Vertrauen“ hätte schondann seine Pflicht erfüllt, wenn damit die stereotypen Grenzen unseresAlltagsdenkens hinterfragt werden. Wenn es darüber hinaus gelänge, zuweiteren zukunftsträchtigen Experimenten und Krediten an den Gren-zen zwischen Wissenschaft, Kultur, Kunst und Wirtschaft zu inspirie-ren, dann wird die Zukunft zur Kür.

Fußnoten1 Luhmann, Niklas, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität,

Vierte Auflage, Stuttgart 2000, S. 117.

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Abbildung 3: Peer Boehm, Kunstkreditkarte:Geist und Geld I

Abbildung 4: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Geist und Geld II

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Geld und VertrauenGeld und Geist – Geld oder Geist?

Otmar Issing

Die Nationalökonomie verliert für den wahren Adepten niemals ihr Fas-zinosum. Das gilt im Besonderen für die „Politische Ökonomie“ imSinne der Klassiker. Es ist unserer Disziplin nicht gut bekommen, dasssie sich allzu lange und allzu sehr in der Spezialisierung isoliert und dasFeld der „Rahmenbedingungen“ anderen Fächern überlassen hat.

Als mich Frau Kollegin Kehnel auf diese Veranstaltungsreihe angespro-chen hat, konnte ich der Einladung nicht widerstehen. Erst recht nicht,als sie die Publikation „Geist und Geld“ erwähnte, die aus der erstenRunde hervorging. Schon seit langem beobachte ich die Diskrepanz zwi-schen der überwiegend feindlichen Einstellung der Vertreter der schö-nen Künste zum Geld und ihrer meist verborgenen, gelegentlich aberauch offen demonstrierten Gier nach dem angeblich verachtetenMedium.

Ich will es hier mit einem, allerdings besonders prominenten Beispielbewenden lassen. Als mir die Rechts- und WirtschaftswissenschaftlicheFakultät der Universität Bayreuth im Jahre 1996 die Würde eines Ehren-doktors verlieh, wählte ich für meinen Festvortrag den Titel „Wider dendämonischen Begriff des Geldes – diesseits und jenseits von Geldange-bot und Geldnachfrage“. Dies war auch als Huldigung an den GeniusLoci zu verstehen. Richard Wagner hatte nämlich am 14. Juni 1848 ineinem Vortrag vor dem „Vaterlandsverein“ in Dresden sein Publikummit folgenden Worten zum Beifall hingerissen.1

„Wir werden erkennen, dass die menschliche Gesellschaft durch dieTätigkeit des Geldes erhalten wird: wir werden den Grundsatz in klarerÜberzeugung feststellen, und Gott wird uns erleuchten, das richtigeGesetz zu finden, durch das dieser Grundsatz in unser Leben geführtwird, und wie ein böser nächtlicher Alb wird dieser dämonische Begriffdes Geldes von uns weichen mit all seinem scheußlichen Gefolge vonöffentlichem und heimlichem Wucher, Papiergaunereien, Zinsen undBankiersspekulationen.“2

Ich will erst gar nicht versuchen, die Logik in diesen Ausführungen auf-zuspüren – ein Unterfangen, das bei Wagner im Allgemeinen nicht sehr

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weit führt. Allen voran war er wie viele herausragende Musiker oder Lite-raten der festen Überzeugung, die Gesellschaft schulde ihm nicht nurdie Anerkennung für das Werk, sondern auch die Mittel für einenzumindest gehobenen Lebensstil. Wagner hat dies nicht nur vielfachgeäußert, sondern dieser Überzeugung auch kräftig nachgeholfen,indem er Gönner und Gönnerinnen ausgenutzt und Gläubiger betrogenhat.

Ich sehe hier die Wurzel für die feindselige Haltung vieler Künstler undIntellektueller gegenüber der Marktwirtschaft beziehungsweise demKapitalismus: Das Geld weilt meist nicht dort, wo der Geist herrscht. Vonda ist es nicht weit bis zum Verdacht, mit dem „Geist“ sei es dort nichtweit her, wo der Mammon zu Hause ist. Wem fielen dazu nicht sofortBeispiele ein. So ist auch zu erklären, warum die Großverdiener unterden Künstlern und Literaten, die es ja durchaus gibt, oft besondersrabiat „antikapitalistische“ Parolen pflegen – man will sich schließlichvor falschem Verdacht schützen. Aber reicht das schon für die Antithese„Geist oder Geld“?

Heißt es aber nicht schon in der Bergpredigt (Matthäus, 6.24): „Nie-mand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen undden anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den ande-ren verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ In dieSprache der weniger Gläubigen übersetzt: Wer als Künstler oder Intel-lektueller nicht genug Geld hat, verdankt dies seinem elitären Dienst anhöheren Dingen.

Grundlage des Vertrauens

Bevor ich mich weiter in philosophischem Dilettantismus verliere, willich mich auf das Thema meines Vortrages konzentrieren: „Geld und Ver-trauen“. Geld braucht Vertrauen, das ist so offensichtlich, dass ich mitdiesen drei Worten eigentlich meinen Vortrag beginnen und zugleichbeenden könnte. Vielleicht lohnt es sich aber doch, ein wenig darübernachzudenken, worauf dieses Vertrauen gebaut ist. Warum verkaufe ichein wertvolles Bild und nehme dafür Papier entgegen? Weil auf denEuroscheinen Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zen-tralbank, unterschrieben hat?3

Aber wofür steht diese Unterschrift? Gehen Sie einmal in die Kaiser-straße 29 in Frankfurt und versuchen Sie, eine Euronote einzulösen.Wenn Sie Glück haben, schickt man Sie einfach weg und ruft nicht denArzt. Auf der Pfund-Sterling-Note der Bank of England befindet sichneben dem Bild der Queen Elizabeth und der Unterschrift des ChiefCashier der ominöse Satz: „I promise to pay the bearer on demand the

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sum of twenty pounds.“ Machen Sie den Versuch in der ThreadneedleStreet in London, und man wird Ihnen bestenfalls den Schein gegeneinen neuen mit der gleichen Aufschrift umtauschen. In den USA unter-schreibt auf den Dollarscheinen nicht der Notenbankpräsident, son-dern der Secretary of the Treasury, also der Finanzminister. Dafür stehtauf der Rückseite: „In God We Trust“. Ich will nicht behaupten, derDollar benötige göttlichen Beistand, doch darf die Frage erlaubt sein,wie das Vertrauen in Gott der amerikanischen Währung helfen soll?Und: Warum hat man noch nichts von einer Klage der Atheisten gegendiese Praxis gehört?

Im Papierstandard unserer Zeit erreicht das Geld den Zenit der Abhän-gigkeit vom Vertrauen der Menschen. Hinter dem Papiergeld stehtzunächst einmal: nichts. Die Notenbank als Schöpfer des Geldes unter-liegt keinerlei Einlösungspflicht. Das ändert allerdings nicht unbedingtetwas daran, dass Vorstellungen einer Art „Deckung“ kaum auszurottensind. Der damalige Bundesbankpräsident Blessing hatte beispielsweiseimmer wieder einmal die Bevölkerung mit dem Hinweis beruhigt, derDM-Bargeldumlauf sei zu mehr als 100 Prozent durch Gold und Devisen„gedeckt“. De facto verkörpert das Geld einen Anspruch an das realeSozialprodukt, dessen Wert vom Preisniveau abhängt.

Es ist hier nicht der Ort, den einzelnen Facetten der Geschichte des Gel-des nachzugehen. Der Ursprung des Geldes dürfte in der Verwendungals Rangzeichen und Schmuck sowie für sakrale Zwecke zu suchen sein.4

Den Schritt von dieser Zwecksetzung hin zu einem Mittler des Tauschessehen die Vertreter der Konventionstheorie in einer Übereinkunft, diedurch den aufkommenden Fernhandel erforderlich wurde. „Man kamdaher überein, behufs Tausches gegenseitig eine Sache zu geben undanzunehmen, die selbst zu den nützlichen Dingen zählte und bei ihrerVerwendung im Verkehr am leichtesten zu handhaben war, wie es Eisen,Silber und dergleichen ist. Zuerst bestimmte man sie einfach nachGröße und Gewicht, schließlich aber drückte man ihr ein Zeichen auf,um sich das Messen und Wägen zu ersparen, indem die Prägung als Zei-chen ihrer Quantität galt.“5

Carl Menger hält die Auffassung für widerlegt, „dass das Geld das Pro-dukt einer allgemeinen Übereinkunft oder positiver Gesetzgebung (alsodas Ergebnis von vornherein des Zieles und der Mittel bewusster staat-licher und gesellschaftlicher Maßregeln) … sei.“6 Vielmehr sei das Gelddas Ergebnis eines allmählichen gesellschaftlichen Fortschrittes, Folgeeiner entstehenden Gewohnheit.

Diese Erklärung liegt auf der Linie der britischen Philosophen, die denUrsprung von Institutionen nicht in rationalen Entwürfen sehen, son-dern darlegen, „wie Nationen im Dunkeln auf Einrichtungen stoßen, die

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in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durch-führung eines menschlichen Plans“7.

Diese Erklärung verbindet Menger mit der überraschenden Schlussfol-gerung, „Vertrauen“ sei für die Erklärung des Geldes ebenso unzuläng-lich wie überflüssig.8

Es sei einmal dahingestellt, ob nicht schon der Fernhandel, der Han-del mit Fremden, nicht auf gegenseitigem Vertrauen basiert und daherauch die gegenseitige Anerkennung von „Geld“ Vertrauen voraussetzt.Solange als Geld Güter fungieren, die wie Gold und Silber von Naturaus knapp sind, bleiben die Anforderungen an das notwendige Ver-trauen auf die Verlässlichkeit des Reinheitsgehalts oder des Gewichtsvon Münzen beschränkt. Die geschichtliche Erfahrung liefert aller-dings hinreichend viele Beispiele dafür, dass die Verwendung edlerMetalle keine Garantie für gutes Geld ist. „Denn überall in der Welthaben Herrscher und unabhängige Staaten in ihrer Habsucht undUngerechtigkeit das Vertrauen der Menschen missbraucht, indem sienach und nach den ursprünglichen Metallgehalt ihrer Münzen her-abgesetzt haben.“9

Gleichwohl hat die Vorstellung lange dominiert, das Geld bedürfe einesmateriellen Ankers. In seinem Buch „Das Geld“ berichtet D. H.Robertson: „Man erzählt von einem Bergwerksbesitzer in Johannesburg,der ein Glasauge hatte, dass er dieses, wenn ihn die Geschäfte fortriefen,auf einen erhöhten Platz niederlegte. Solange nun das Auge des Herrnauf ihnen ruhte, fuhren die Arbeiter fort, … zu arbeiten. Aber eines Tagesging einer der Arbeiter, mutiger als die übrigen, an die allsehende Halb-kugel heran und bedeckte sie mit einer umgestülpten Zigarettendose,worauf dann er und seine Genossen sich prompt davonmachten undsich betranken. Ähnlich wie in dieser Erzählung würde es dann herge-hen, wenn jeder Anschein eines Goldstandards vernichtet würde.“10

Dem heutigen Leser des ansonsten immer noch interessanten Autorsdürfte es allerdings schwerfallen, dieses Argument ernst zu nehmen.Wie kann man Vertrauen durch einen Schwindel erzeugen, zumaleinen, der derart leicht zu durchschauen ist?

Zerrüttung der Währung in der Hyperinflation

Nachdem sich das Geld im Laufe der Geschichte zunehmend von der Bin-dung an Gold oder Silber löste, hat der Faktor „Vertrauen“ immer mehran Bedeutung gewonnen. Im reinen Papierstandard, der heute weltweitherrscht, gibt es vor allem keine „natürliche Bremse“ an der Noten-presse. Dem Missbrauch sind damit Tür und Tor geöffnet.

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Erwartungsgemäß hat der Staat in vielen Ländern und zu allen Zeitendie Notenpresse bedient, um seine Ausgaben zu „finanzieren“. UferloseAusweitung der Geldmenge, Inflation und Zerrüttung der Währungwaren oft die Folgen. Deutschland steht mit der Hyperinflation nachdem Ersten Weltkrieg mit an der Spitze dieser Tabelle. Im Oktober 1923lag die monatliche (!) Inflationsrate bei rund 32.000 Prozent.11 Unter sol-chen Umständen kann es nicht überraschen, dass die Mark weitgehendihre Geldfunktionen verlor. Wer den Anspruch durchsetzen konnte,ließ sich in Devisen oder realen Gütern bezahlen. Wer die sich am Endeminütlich entwertende Mark erhielt, versuchte, sie so schnell wie mög-lich loszuwerden. Die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes stieg unterdiesen Umständen ins Unermessliche. Als Recheneinheit wurde dieMark von Indexierungen und Wertsicherungsklauseln der verschie-densten Art (z.B. Weize- oder Roggenanleihen) abgelöst. In seiner Ent-scheidung vom 28. November 1923 erklärte schließlich sogar das Reichs-gericht, das Festhalten am (Nominal-)Prinzip „Mark = Mark“ verstoßegegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

Die wirtschaftlichen, sozialen und schließlich politischen Folgen dervollständigen Zerrüttung des Geldwesens waren verheerend. Die Pro-duktion geriet immer mehr ins Stocken. Eine vernünftige Kalkulationwar kaum mehr möglich, die Rationalität des Wirtschaftens war durchden faktischen Ausfall der Geldwirtschaft gravierend beeinträchtigt.Während der Staat sich entschuldete, waren die Opfer der Inflation vorallem die Sparer, die zur Alterssicherung in traditioneller Weise ingutem Glauben Staatsanleihen erworben hatten, deren Wert jetzt aufnull gesunken war.

Niemand hat anschaulicher als Stefan Zweig in seinem Buch „Die Weltvon Gestern – Erinnerungen eines Europäers“ den Kontrast zwischenStabilität und Inflation beschrieben. Im „goldenen Zeitalter der Sicher-heit“, wie er die Phase gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Aus-bruch des Ersten Weltkrieges nennt, lohnte es sich, Geld Jahr für Jahr insicheren Anlagen zu investieren. Diese Welt ging in der Hyperinflation1922 und 1923 unter:

„Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnisgerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie dieInflation. Denn der Krieg, so mörderisch er gewesen, er hatte immerhinStunden des Jubels geschenkt mit Glockenläuten und Siegesfanfaren. Undals unheilbar militärische Nation fühlte sich Deutschland durch die zeit-weiligen Siege in seinem Stolz gesteigert, während es durch die Inflationsich einzig als beschmutzt, betrogen und erniedrigt empfand; eine ganzeGeneration hat der deutschen Republik diese Jahre nicht vergessen undnicht verziehen und lieber seine Schlächter zurückgerufen.“12

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Einen krasseren Vertrauensverlust in Staat und Währung kann man sichkaum vorstellen. Ein Neubeginn konnte danach nur über eine grundle-gende Reform gelingen. In Deutschland geschah dies durch die Ausgabeder Rentenmark zum Kurs von 1 Billion gegen die alte Währung. Dasneue Geld gewann schnell Vertrauen. Dazu trug die Vorstellung bei, dieRentenmark sei durch „Grund und Boden gedeckt“. Entscheidend waraber, dass die Reichsbank die Diskontierung von Schatzanweisungen desReiches einstellte. Damit war die Defizitfinanzierung durch die Noten-presse beendet und damit die entscheidende Quelle der vorangegange-nen Inflation stillgelegt. (Im Oktober 1923 waren gerade noch 1 Prozentder Ausgaben des Reiches durch Steuern gedeckt.)

Am Extrem der Hyperinflation sind die Konsequenzen instabilen Geldesbesonders deutlich zu verfolgen. Die Sparer, die vorher in gutem Glau-ben öffentliche Anleihen gekauft haben, werden vollständig um ihr Ver-mögen gebracht und fühlen sich vom Staat betrogen.

Vertrauen in das Geld

Vertrauen in das Geld, das heißt Vertrauen in die Erhaltung des Geld-wertes, ist ein unverzichtbares Erfordernis einer Gesellschaft freier Bür-ger. Die Möglichkeit, privates Geldvermögen zu bilden und insoweitfinanzielle Unabhängigkeit zu erhalten, ist ein unverzichtbares Ele-ment individueller Freiheit. In diesem Sinne ist Dostojewskis Charakte-risierung des Geldes als „geprägte Freiheit“ zu verstehen.

In vielen Ländern verlangt inzwischen allein schon die Demografieeinen Ausbau der privaten Altersvorsorge. Vertrauen in die Stabilität desGeldwertes spielt dabei eine entscheidende Rolle. In 20 bis 30 Jahren,den Zeiträumen, um die es sich bei der finanziellen Absicherung für dasAlter (mindestens) dreht, führen bereits vermeintlich „mäßige“ Infla-tionsraten zu einer weitgehenden Erosion des Realwertes des Geldver-mögens. Schon bei einer verschiedentlich als „akzeptabel“ apostro-phierten Preissteigerungsrate von jährlich 5 Prozent hat das Geld nach20 Jahren fast zwei Drittel seiner Kaufkraft verloren, nach 30 Jahren sindes sogar mehr als drei Viertel.

Diesem rechnerischen Wertverlust steht entgegen, dass sich die Anlegernicht dauerhaft betrügen lassen – das berühmte Wort Abraham Lincolnserfasst diesen Zusammenhang zutreffend – und entsprechend ihrenInflationserwartungen einen „Zuschlag“ im Nominalzins verlangen. Obdiese Rechnung im Nachhinein betrachtet aber immer voll aufgeht,muss bezweifelt werden. Einmal kann es zu unerwarteten Inflations-schüben kommen, so dass die tatsächlich erzielte reale Verzinsung hin-ter den Erwartungen zurückbleibt. Zudem wirkt die Besteuerung von

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Zinserträgen nach dem Nominalwertprinzip in hohem Maße verzer-rend, denn hier wird nicht danach differenziert, ob Zinseinkünfte nurinflationär aufgebläht sind oder ob es sich um reale Erträge handelt.Derjenige Teil der Zinseinnahmen, der einen bloßen Inflationsausgleichbewirkt, wird also voll besteuert.

Ich möchte diesen Effekt anhand eines einfachen Beispiels illustrieren:Eine Geldanlage mit einem Nominalzins von 5 Prozent erbringt beiPreisstabilität und einem Steuersatz auf Zinseinkommen von 50 Prozenteine Realverzinsung von 2,5 Prozent. Um die gleiche Realverzinsung beieiner Inflationsrate von 5 Prozent zu erzielen, müsste der Nominalzinsnach Steuern auf 7,5 Prozent steigen, vor Steuern insgesamt also 15 Pro-zent betragen. Oder anders betrachtet: Jeder Prozentpunkt Inflationschlägt voll – und nicht nur anteilig nach Steuern – auf die reale Ver-zinsung durch. Die Geldentwertung verstärkt damit den steuerlichenZugriff auf die Zinseinkünfte, und zur faktischen Enteignung durchnegative Realverzinsung nach Steuern ist es nur noch ein relativ kleinerSchritt.

Es liegt auf der Hand, dass Inflation – gepaart mit den geschildertensteuerlichen Effekten – die Ersparnisbildung behindert und gesamt-wirtschaftlich zu einem suboptimalen Kapitalstock führt. Geldvermö-gensbildung in gesamtwirtschaftlich wünschenswertem und individu-ell optimalem Umfang setzt also Geldwertstabilität – oder genauergesagt, Vertrauen in die künftige Stabilität des Geldes – voraus.

An dem genannten kleinen Rechenbeispiel wird bereits erkennbar, wiestark moderne Volkswirtschaften auf dem Nominalprinzip – etwa„Mark = Mark“ basieren: Die Mark oder der Euro von heute entsprechender Mark oder dem Euro von morgen. Dieser Grundsatz durchziehtnicht nur das Steuerrecht, sondern das ganze System von Abgaben undLeistungen. In den meisten Auffassungen, nach denen „ein wenig Infla-tion gar nicht so schlimm ist“ – oder sogar noch positive Wirkungenhaben soll –, wird dieser Aspekt völlig ausgeblendet. Empirische Unter-suchungen belegen jedoch, dass die gesamtwirtschaftlichen Kostenselbst als „mäßig“ erachteter Inflationsraten von beispielsweise 4 Pro-zent erheblich sind, bezieht man die Verzerrungen mit ein, die aus derAnwendung des strikten Nominalprinzips im Abgaben- und Transfersys-tem resultieren.13

Die Vorteile der Geldwirtschaft gegenüber dem Naturaltausch liegen aufder Hand. Jedoch nur stabiles Geld kann die Funktionen als Rechenein-heit, Tausch- und Zahlungsmittel sowie Wertaufbewahrungsmittel opti-mal erfüllen. Irving Fisher bemerkt lapidar: „We have standardised everyother unit in commerce except the most important and universal unitof all, the unit of purchasing power. What business man would consent

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for a moment to make a contract in terms of yards of cloth or tons ofcoal, and leave the size of the yard or the ton to change?“14

Über Indexierung lassen sich die negativen Wirkungen der Inflation teil-weise vermeiden. Jedoch kann ein auch noch so ausgeklügeltes undumfassendes System – das logischerweise zusätzliche Kosten verursacht– nur ein unvollkommener Ersatz für stabiles Geld sein.

Ein instabiler Geldwert verursacht volkswirtschaftliche Kosten, schafftVerzerrungen im Tauschverkehr und Unsicherheiten bei Investitions-entscheidungen. Das Vertrauen in das Geld leidet im Allgemeinen erstdann, wenn diese Kosten so hoch werden, dass sie den einzelnen Akteu-ren bewusst werden.15

Vertrauen durch die Währungsverfassung

Nach den negativen historischen Erfahrungen wächst nicht von unge-fähr die Sorge um die künftige Stabilität des Geldes mit der Höhe derStaatsschuld. Wenn die Bedienung der Staatsschuld einen immer höhe-ren Anteil an den Steuereinnahmen erfordert, liegt es dann nicht nahe,den Ausweg über höhere Inflation zu suchen? Hat sich nicht der Staatgerade in Deutschland in einer Generation zweimal seiner Schuld ent-ledigt (1923/1948)?

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende desZweiten Weltkrieges kann als historisch herausragendes Beispiel dafürgelten, wie grenzenloses Misstrauen in die Währung durch neues, sta-biles Geld überwunden werden kann. Die Währungsreform von 1948markiert den totalen Bruch mit der Vergangenheit und den Beginneiner neue Ära. Dank der strikt auf die Erhaltung des Wertes der neuenWährung ausgerichteten Politik der Bank deutscher Länder/Bundes-bank galt die D-Mark schließlich als eine der stabilsten Währungen derWelt.16 Das grenzenlose Vertrauen der Deutschen in ihre Währung unddie für ihre Stabilität verantwortliche Institution, die Deutsche Bun-desbank, veranlassten Jacques Delors zur halb ironischen, halb bewun-dernden Bemerkung: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alleglauben an die Bundesbank.“

Dieser Einstellung der deutschen Öffentlichkeit habe ich einmal – wohl-gemerkt als Bundesbanker, der mit Überzeugung dieser Institutionangehörte – „pathologische Züge“ attestiert. Diese Charakterisierungbezog sich auf die besonderen Umstände der deutschen Nachkriegsge-schichte. Der Zusammenbruch 1945 und der vorangegangene Terror desNaziregimes hatten den Deutschen jegliches Nationalbewusstseingenommen. Die D-Mark stand dann als Symbol für den wirtschaftlichen

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Erfolg, der dem Lande schließlich weltweit Anerkennung verschaffte.Die Plakate in den Straßen von Leipzig im Herbst 1989 mit der Auf-schrift: „Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zur D-Mark“ belegen, dass die besondere Beziehung der Deutschen zur D-Marksich auch durch Trennung und Mauer nicht aufhalten ließ.

Die Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag Anfang der neunzigerJahre wurden wesentlich beeinflusst durch die Erfolgsgeschichte derBundesbank und ihrer Währung. Nur auf diesem Fundament stimmtendie anderen Länder einem Statut für die künftige Europäische Zentral-bank zu, das im Kern einer Kopie des Bundesbankgesetzes gleicht.Während zu diesem Zeitpunkt die anderen nationalen Notenbankenmehr oder weniger der Regierung unterstellt waren, hatte die Bundes-bank in der Praxis den Beweis geliefert, dass nur eine unabhängigeNotenbank stets die für die Erhaltung der Stabilität des Geldes notwen-digen Entscheidungen treffen kann.17

Das Statut der Europäischen Zentralbank spiegelt auch den Erkennt-nisstand der Wissenschaft wider. Geldwertstabilität verlangt im Papier-standard folgende institutionelle Elemente:

1. Unabhängigkeit der Notenbank bei ihren geldpolitischen Entschei-dungen.

2. Preisstabilität als Mandat.

3. Das Verbot der monetären Finanzierung der Aufnahme von Schuldendurch die öffentliche Hand.

Nur auf diesem Fundament und dank wegweisender Entscheidungender EZB war es möglich, dass der Übergang von den nationalen Währun-gen auf den Euro derart reibungslos vor sich ging.18 Wer hätte es fürmöglich gehalten, dass die neue Währung vom ersten Tag an das glei-che Vertrauen genoss wie die D-Mark? Die langfristigen Zinsen wurdendurch den Wechsel ebenso wenig tangiert wie die Inflationserwartun-gen.

Fazit

Der Weg der Geschichte ist gesäumt von Währungen, die in Inflationenuntergegangen sind. Die Erkenntnis, dass die Aushöhlung des Geldwer-tes nichts anderes als Betrug an der Bevölkerung darstellt, stammt nichterst aus unseren Tagen. Schon Nikolaus Oresmus, der Bischof vonLisieux (1325 – 1382), hat dieses Verdikt in seinem Traktat über Geldbe-wertungen ausgesprochen. Jede Zerrüttung des Geldwesens zerstörtauch das Vertrauen in den Staat, der schließlich immer als Verursacher

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anzusehen ist. „Überall und zu allen Zeiten waren die Regierungen dieHauptursache der Geldentwertung.“19 Nicht von ungefähr wird Leninder Satz zugeschrieben: „Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören,muss man ihr Geldwesen verwüsten.“20

In seinem politischen Vermächtnis „De officiis“ schreibt Cicero: „KeineSache hält den Staat mehr zusammen als Vertrauen.“ Vertrauen in dasGeld, seinen Wert, ist und bleibt ein Prinzip, das weit über den Bereichdes Ökonomischen hinausreicht.

Wer dieses Vertrauen zerstört, lädt große Schuld auf sich. In seiner Gött-lichen Komödie lässt Dante den Münzfälscher Adam von Brescia mit auf-geblähtem Wanst – inflatus! – im siebten Höllenkreis des 10. Grabens fürseinen Frevel büßen. Diese Drohung hat freilich – bisher jedenfalls –noch keinen Eingang in die Sanktionen für die gefunden, die für dieInflation verantwortlich zu machen sind.

Fußnoten1 Wapnewski, P., Richard Wagner – Die Szene und ihr Meister, 2. Auflage, München 1983,

S. 149.

2 Wagner, R., Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtume gegenü-ber?, in: J. Kapp (Hg.), Richard Wagners gesammelte Schriften, 12. Band, Leipzig, S. 11.

3 Im Sinne von Knapps staatlicher Theorie des Geldes läge die Antwort auf der Hand. „DasGeld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung.“ Knapp, G. F., Staatliche Theorie des Geldes,Leipzig 1905, S. 1 (und S. VI).Nicht zuletzt Hyperinflationen haben gezeigt, dass dieserAnsatz formal-rechtlicher Art zu kurz greift; das staatliche Geld wird im Zahlungs-verkehr mehr und mehr nicht mehr anerkannt. Die moderne Geldtheorie erklärt dasGeld mit seinen Funktionen. „Geld ist, was Gelddienste leistet.“ Die staatliche Aner-kennung bleibt akzessorisch.

4 Siehe Laum, B., Heiliges Geld, Tübingen 1924; Davies, G., A History of Money: Fromancient times to the present day, University of Wales, 3. Auflage, 2002.

5 Aristoteles, Politik, Übersetzt von E. Rolfes, Hamburg, 1981, S. 19, Erstes Buch, 9. Kapi-tel, 1257, S. 35–40.

6 Menger, C., Geld, in: ders., Gesammelte Werke, F. A. Hayek (Hg.), Band IV, Schriften überGeld und Währungspolitik, 2. Auflage, Tübingen 1970, S. 16.

7 Ferguson, A., Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, deutscheÜbersetzung V. Dorn, 2. Auflage Jena 1923, S. 171.

8 Menger, ibid., S. 17.

9 Smith, A., Der Wohlstand der Nationen, aus dem Englischen übertragen von H. C. Reck-tenwald, München 1974, S. 26. Smith weist in diesem Zusammenhang z.B. darauf hin,dass der römische As gegen Ende der Republik nur noch ein Vierundzwanzigstel sei-nes Anfangswertes hatte und statt einem Pfund nur noch eine halbe Unze wog.

10 Robertson, D. H., Das Geld, 2. Auflage, Wien 1935, S. 147.

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11 Für eine kurze Darstellung und weitere Literaturhinweise siehe: Issing, O., Einführungin die Geldpolitik, 6. Auflage, München 1996, S. 18ff.

12 Zweig, S., Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt 1995, S. 359.

13 Siehe dazu: Feldstein, M. (ed.), The Costs and Benefits of Price Stability, Chicago and Lon-don 1999.

14 Fisher, I., A Remedy for the Rising Cost of Living: Standardising the Dollar. AmericanEconomic Review, Supplement, March 1913, p. 27.

15 Zu dieser Thematik und zur Begründung einer niedrigen, möglichst wenig volatilenPreissteigerungsrate als Ziel der Geldpolitik siehe: Issing, O., Why Price Stability?, in:ECB, Why price stability?, A. G. Herrero et al. (eds.), Frankfurt 2001, S. 179 ff.

16 Siehe: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark, München 1998.

17 Siehe dazu: Issing, O., Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität, Stuttgart1993. Von den Konflikten mit der Bundesregierung bleibt vor allem die berühmteGürzenich-Rede von Bundeskanzler Adenauer unvergessen.

18 Issing, O., Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft, München 2008.

19 Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, 413.

20 Zitiert nach: Eucken, W., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Tübingen1955, S. 255.

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Abbildung 5: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Kunstmarke I

Abbildung 6: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Kunstmarke II

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Kunst und Markt – eine Mesalliance?Wer statt der Kunst dem Kunstmarkt vertraut,kauft faule Kredite

Peter Raue

Das Verhältnis „Kunst und Markt“ ist ebenso untrennbar eng wie unheil-bar gegensätzlich. Werke der bildenden Kunst sind Raritäten, grundsätz-lich nicht beliebig vermehrbar – somit „knappe Ware“ – und lösenBegehrlichkeiten aus. Der Markt ist mitbestimmt von Menschen, diehohe und höchste Beträge in den Erwerb von Kunstwerken investieren,wobei die Motivationen dieser Handlung – Kunstliebe oder Kapitalan-lage – kaum auszumachen und nur individuell zu bestimmen sind.Damit hat sich der Kunstmarkt von heute weit entfernt vom nachwir-kenden, romantischen Bild des armen, besessenen, verkannten Kunst-genies: „e-a-f“ – einsam, aber frei.

Der „Kunstmarkt“ ist ein relativ modernes Wort. In den sechziger Jah-ren etablieren sich erstmals die Kunstmessen in Köln und Basel – bisheute haben sich in wohl allen größeren Hauptstädten derartige Ver-anstaltungen etabliert –, und alle schlüpfen sie unter die Dachmarke„Kunstmarkt“. Dieser sich weltweit schnell etablierende Kunstmarktentwickelte jene Tendenzen, die heute sein Erkennungsmerkmal sind:Es sind nur wenige, die Höchstpreise der Contemporary Art zahlen. DieTendenz, in geradezu absurde Preishöhen für moderne Kunst zu inves-tieren, hält unvermittelt an und längst erzielen die Stars der SzenePreise, die kaum für einen Rembrandt, Caspar David Friedrich oderMenzel gezahlt werden. Diesem Phänomen liegt eine so merk- wie frag-würdige Übereinkunft der Sammlerwelt zugrunde: dass wir heute –international und global vernetzt – wissen, wer die Großen unserer Zeitsind. Irrtum ausgeschlossen!?

Die Geschichte jedenfalls lehrt anderes: Sie ist ein Kontinuum derFehlurteile. Nur ein Blick in das 19. Jahrhundert: Monet, Courbet,Cézanne, Gauguin oder van Gogh – sie alle wurden zu ihrer Zeit ver-kannt. Unter den damals von Kunstkennern ausgewählten Werken fürdie berühmten Pariser Salons des 19. Jahrhunderts findet sich kaum ein– aus heutiger Sicht – bedeutendes Werk. Weder die Realisten noch dieImpressionisten fanden Anerkennung. Die Gefahr, dass auch unsereGegenwart an den wirklichen Meisterwerken vorbeisammelt, ist schondeshalb nicht zu leugnen.

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Doch das scheint keinen Galeristen, keinen Sammler zu irritieren. Siealle sind fest davon überzeugt, die größten Künstler unserer Zeiterkannt zu haben, und widmen ihnen ganze Säle in den Museen undSammlungen, weil doch die anderen Sammler und Galeristen (und als-bald Museen) dieselben Künstler ausstellen. Warhol und Twombly, Rich-ter und Kiefer, Hirst und Koons, Rauch und Doig sind die Heiligen unse-rer Tage, und ihre Werke werden verehrt wie die Schwarze Madonna vonTschenstochau.

Der Kunstmarkt folgt der Logik:„Was teuer ist, muss auch gut sein“Die großen und großzügigen Privatsammler, ob Erich Marx, FriederBurda, Udo und Anette Brandhorst oder Friedrich Christian Flick, sam-meln mehr oder weniger das Gleiche. Und es ist kaum anzunehmen,dass sie alle dieses aus der in einsamer Kunstbetrachtung gewonnenenErkenntnis der höchsten Qualität der Arbeiten tun. Nahe liegt vielmehrder Verdacht, dass bei vielen Käufern auch das Gefühl mitbestimmendist, den geltenden Geschmackskonventionen genügen zu wollen. DieKunstgemeinde, die in wenigen Wochen Künstlerinnen und Künstler zuhöchstbezahlten Weltstars macht, ist klein und verschworen. Wer dazu-gehören möchte, kann es sich nicht leisten, auf den Erwerb von Kiefer,Richter und Koons zu verzichten. Wenn wir von 20 Galeristen sprechen,die bestimmen, was weltweit führend ist, dann ist die Zahl wohl hochgegriffen. Allein der Zugang eines Künstlers zu einer dieser Galerienzündet die Preisrakete mit der Folge, dass der Galerist problemlos dieSammler für seinen neuen Künstler findet.

Meine These: Mangels nachprüfbarer Qualitätskriterien definiert derMarkt den Rang der Kunst und nicht die Kunst den Preis der Werke. DerKunsthandel mit der teuersten Kunst wird von der stillschweigendenÜbereinkunft einiger Weniger bestimmt.

Ein Bespiel: Als Anette und Udo Brandhorst 1993 eine Stiftung für ihreSammlung gründen, besitzen sie noch kein einziges Werk von Warhol.Das erste Bild dieses Künstlers erwerben sie vier Jahre später, 1997.Bereits zehn Jahre nach der Stiftungsgründung zieren die Sammlung40 Arbeiten von Warhol, wohl weil alle „Sammlerkollegen“ ihn auchzum Größten (und Teuersten) erklären! Eine Sammlung zeitgenössi-scher Kunst der Öffentlichkeit ohne Warhol zu präsentieren, dasscheint ähnlich undenkbar wie ein Weihnachten ohne Christbaum.

Die Inkunabeln der Moderne erzielen Summen, die für kein Kunstwerkder vergangenen 200 Jahre bezahlt werden würden. Jackson PollocksNo. 5 aus dem Jahre 1948 wird 2006 für 140 Millionen Euro verkauft. Die-

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sen Preis erzielt kein Dürer, kein Caravaggio. Gibt es dafür eineErklärung? Einen Qualitätsmaßstab? Der selbst ernannte Malerfürstund langjährige Akademiepräsident in Düsseldorf, Markus Lüpertz, for-muliert in einer trefflichen Polemik: „Sie können doch ein Bild von Ger-hard Richter, das sechs, acht, zehn Millionen kostet, nicht mehr beur-teilen. Da können Sie doch nicht mehr sagen, das ist schlecht.“ DemMainstream der Sammler folgt der Mainstream der Kritiker – und umge-kehrt. Längst hat der Kunstmarkt den Merkvers: „Was gut ist, ist auchteuer“ pervertiert in die Erkenntnis: „Was teuer ist, muss deshalb gutsein“ (das ist ähnlich wie beim Rotwein, scheint mir).

Ein weiteres Beispiel: Es ist noch nicht lange her, da wurde bei Christie’sin London Martin Kippenbergers „Paris Bar“ für 2,5 Millionen Pfundeinem amerikanischen Sammler zugeschlagen. Christie’s bot das Bildim Katalog an mit dem Vermerk „Öl auf Leinwand, 1991, Martin Kip-penberger“. Diese Angaben enthielten einen kleinen und einen großenFehler. Der kleine: Das Bild ist in Acryl und nicht in Öl gemalt. Dergrößere Fehler: Das Bild stammt nicht von Martin Kippenberger. Viel-mehr hat es der Plakatmaler Götz Valien gemalt – im Auftrag von Kip-penberger. Und der Auftrag wurde auch bezahlt. 1.000 Mark bekamValien dafür. Auf der Auktion hingegen reichte die Kippenberger-Zuord-nung, um einen neuen Kippenberger-Rekordpreis zu erzielen. Um nichtmissverstanden zu werden: Wer das Konzeptuelle in der Arbeit von Kip-penberger begreift, wer seine „Lieber Maler, male mir ein Bild“-Seriekennt, der versteht durchaus, wie konsequent im Kippenberger-Werkauch diese Arbeit ist. Nicht den künstlerischen Gehalt dieses Werkes hin-terfrage ich, sondern den erstaunlichen und schwer nachvollziehbarenPreis.

Um es konsequent weiterzudenken: Was wäre eigentlich – so darf manwohl fragen –, wenn Valien die Paris-Bar noch einmal malte und auf denMarkt brächte? Der Wert dieser neuen Arbeit läge dann wohl allenfallsim vierstelligen Bereich bei absolut gleicher Qualität. Warum? WeilQualität nicht der bestimmende Faktor beim Wert eines Kunstwerkes zusein scheint. Der Preis des Kippenberger-Bildes Paris-Bar erklärt sichnicht aus der Qualität (Peinture oder Originalität) des Bildes, sondernaus der Spielfreude eines Sammlers beim Roulette am Kunstmarkttisch.

Es ist einige Jahre her, da besuchte ich eine Galerie in New York, die fürden nächsten Abend eine Tuymans-Ausstellung plante; alle Bilder warennoch verpackt. Ich wünschte der Galeristin beim Abschied eine ver-kaufsreiche Vernissage, und sie lachte: „Alle Bilder sind längst verkauft!“– „Aber die Käufer haben die Bilder doch gar nicht gesehen“, entgegneteich. „Das ist bei Tuymans auch nicht nötig. Die Sammler lassen michwissen, welche Formate sie haben wollen. Und ich gehe streng, ganz

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streng in der jeweiligen Warteliste vor.“ Den Preis der Bilder bestimmennicht Motiv oder Qualität, für den Preis gibt es eine Formel: Höhe mal(manchmal: plus) Breite, multipliziert mit einem Faktor X. Kein „amourfou“ zwischen Bild und Sammler bestimmt den Kauf, sondern die Lustund Last, einen Tuymans besitzen zu dürfen oder zu müssen (um imKreise der millionenschweren Sammler satisfaktionsfähig zu bleiben).

Hat ein Künstler einmal Zugang zu einem der Weltspitze-Galeristengefunden, Höchstpreise erzielt, die Begehrlichkeit der großen Sammlergeweckt, so ist es – der Geldvermehrung wegen – nur noch erforderlich,die Warteliste der Kaufinteressenten so lange und so schnell zu bedie-nen, bis die Wartenden sich an einer anderen, neuen Schlange angestellthaben.

Dieser Hype der Kunsthandelshöchstpreise hat freilich einen bösartigenGesellen zur Seite, den der Käufer zunächst nicht sieht, dessen Nieder-tracht er aber irgendwann spürt: Die Anzahl der Künstler, die einsthohe Preise erzielt haben, aber bereits ein Jahrzehnt später in diesemPreissegment unverkäuflich sind, ist Legion. Pattern Art, Hyperrealis-mus, Op-Art, die Jungen Wilden vom Moritzplatz: Was waren sie pro-minent und höchstbezahlt vor 30 Jahren, und wie schwierig ist es, sieheute an den Mann zu bringen – insbesondere dann, wenn aus der Crewder jeweiligen Kunstrichtung nur einer als „Spitzenvertreter“ übrigge-blieben ist. Dieser Bedeutungsverlust verdankt sich ja nicht einem Qua-litätsabfall, sondern dem Zeitgeschmack, der wiederum bestimmt wirddurch den Einfluss der Großen unter den Sammlern. Wie ein solcherSturz aus dem Preishimmel manipuliert werden kann, belegt wiederumder Werbefachmann und Großsammler Charles Saatchi, der über 50 Bil-der des Künstlers Sandro Chia von heute auf morgen – warum auchimmer – auf den Markt wirft. Diese Fülle kann der Markt nicht aufneh-men, die Preise fallen, und – für die Käufer: glücklicherweise – führt diesdazu, dass Sandro Chia wieder bezahlbar ist.

Erstaunlich ist, dass trotz der immer deutlicher werdenden Markt-hörigkeit kaum eine Auseinandersetzung über den Kunstwert der sohoch gehandelten Künstler stattfindet. Wir erinnern uns doch an dieöffentlich und vehement geführte Diskussion um Wilhelm Nays angeb-lich „bunte Kleckse“, um die Kunst eines Pollock oder um die Fett- undFilzkunst des Joseph Beuys. Wo gibt es heute eine ähnliche Diskussionum Neo Rauch, Damien Hirst oder Jeff Koons?

Wer wird recht behalten vor der Geschichte? Die Kunst und die Künst-ler, die heute Millionenpreise erzielen, oder die auf den SeitenwegenArbeitenden, verkannt von der Mehrheit, gesammelt von wenigen?Diese Fragen wecken den unwiderstehlichen Wunsch, in 100 Jahrennoch einmal für einen Tag auf die Erde zu kommen und sehen zu dür-

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fen, was in den großen Museen hängt, wo die Kunstgeschichte dieHauptwege gebaut, die Nebenwege getrampelt hat – Überraschungennicht ausgeschlossen.

Der Geschmack der Privaten hält Einzug im Museum

Fast alle staatlichen Museen in Deutschland verfügen heute nicht mehrüber die erforderlichen Mittel, um Kunstwerke einzukaufen. Dennochkommen nach wie vor Bilder in die Museen, und zwar vermehrt überprivate Sammler. Die Museumsdirektoren und Kuratoren haben die Auf-gabe, Dauer und Tiefe zu etablieren, ja, einen Kanon der Kunst ihresjeweiligen Sammlungsgebietes festzulegen. Indem immer mehr privateSammler über jene Bilder entscheiden, die in Museen gezeigt werden,geht der Einfluss der Museumsdirektoren zurück. Dieser Aspekt ver-dient umso mehr Beachtung, als häufig Privatsammler den Museennicht ihre zehn besten Stücke geschenkweise anbieten, sondern aus-schließlich die gesamte Sammlung (in der Hoffnung, dass diese auch ambesten in einem eigenen „wing“ gehängt werden). Diese private Samm-lung vereint Arbeiten – wie jede Sammlung und erst recht wie jede pri-vate Sammlung –, die der Traum eines Museumsdirektors sind, undandere die – schlimmstenfalls – dessen Albtraum sind. Ein „CherryPicking“ des Museumsdirektors wird der Sammler in aller Regel nichtdulden – so wird sein Sammelgeschmack zum öffentlich-staatlichenKanon der präsentierten Kunst. Aber welcher Museumsdirektor wirdeine Sammlung zurückweisen, die großartige Exemplare enthält, nurweil ihm einige der Stücke missfallen?

In diesem Zusammenhang spielen die Fördervereine eine immer stärkerwachsende und gewichtige Rolle. Weil die Museen zu wenig Geld haben,sprießen die Fördervereine wie Pilze aus dem Boden. Das ist eine zwei-schneidige Sache. Natürlich sind wir alle froh über das unbezahlbareEngagement privater Förderer und Freunde. Ich darf das sagen, war ichdoch selbst drei Jahrzehnte als Vorsitzender des Vereins der Freunde derNationalgalerie Berlin tätig.

Um es an einem konkreten Beispiel zu beleuchten: Der mir nun beson-ders nahe stehende Verein der Freunde der Nationalgalerie hat in denvergangenen rund 25 Jahren über 40 Ausstellungen finanziert. Keinedieser Ausstellungen hätte von der Nationalgalerie ohne diese Unter-stützung realisiert werden können, weil der Staat – Bund und Länder –der Stiftung keine Gelder für diese museumswichtigen und -richtigenVeranstaltungen zur Verfügung stellt. Ich wage die These: Hätte es die-sen Verein und dessen Finanzkraft nicht gegeben, hätte der Staaterkannt, dass die Nationalgalerie katastrophal und skandalös unter-

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finanziert ist und Gelder fließen lassen, damit das Museum seinen Bil-dungsauftrag erfüllen kann.

Der Sponsor ist gefragt, gesucht und erhofft wie die berühmte Perle inder Auster. Er kann Segen und Basis für große und bedeutende Ausstel-lungsvorhaben sein – er bleibt aber immer Sponsor und mutiert nichtzum Mäzen. Einer Aktiengesellschaft, die den Aktionären zumutet,hohe Beträge in die Kultur zu investieren, muss der Vorstand verständ-lich machen, dass ein solcher Auftritt letztlich dem Unternehmenzugute kommt. Deshalb kann und muss der Sponsor, wenn er Geld ineine kulturelle Veranstaltung gibt, Gegenleistungen verlangen, vondenen er sich mit einigem Grund eine jedenfalls mittelbare Stärkungdes eigenen Unternehmens erwarten darf.

Hinweis des Sponsors auf den Plakaten, auf der ersten Seite des Katalo-ges, durch eine Rede bei der Eröffnung gehören zum selbstverständli-chen Forderkatalog derartiger Sponsoren. Selbstbewusst formulierteGeorge Weismann, CEO von Philip Morris, in einer Werbebroschürediese Auffassung in dem Statement: „The fundamental interest of busin-ess in art is self-interest.“ Das ist radikal formuliert, aber man darf sichhier auch nichts vormachen: Kultursponsoring ist immer eine Synthesevon Altruismus und Egoismus.

Ein einziges Bespiel: Für eine Andy-Warhol-Ausstellung in der unteranderem seine Serie „Cars“ gezeigt werden sollte, war der Herstellerder gemalten Automarke bereit, die Ausstellung mit dem Betrag von1 Million mitzufinanzieren unter der Voraussetzung, dass in der Aus-stellung neben den Siebdrucken Andy Warhols das von ihm bemalteAuto desselben Herstellers zu sehen sei. Der Kurator der Ausstellunghat diesem Angebot eine klare Absage erteilt, was zum Rückzug deserhofften Sponsors geführt hat. Der Kurator dieser Ausstellung war –nicht zuletzt gestützt durch den Freundesverein – in der glücklichenSituation, das tun zu können. Andere Museen, denen es nur mit jenerMillion möglich gewesen wäre, ihre Ausstellung zu realisieren, hät-ten wohl kaum darauf verzichten können, auf die Forderung desSponsors einzugehen und das ungeliebte Projekt der Schau einzu-verleiben.

Trotz der aufgezeigten Problemfelder kann ich aus eigener Erfahrungbetonen, dass es immer wieder Sponsoren gibt, die in nobler Zurück-haltung und mit großer Lust am Entstehen bedeutender Ausstellungeneher Mitdenker als Mitbestimmer sind. Dabei ist – die Zusammenarbeitetwa bei der MoMA-Ausstellung in Berlin mit der Deutschen Bank hatdies bewiesen – eine zurückhaltende Präsenz des Sponsors oft der bes-sere Werbefaktor als ein allzu deutlicher Auftritt.

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Ob Freundesverein oder Sponsor: Stets sind diese Unterstützer einesMuseums hilfreich und erfreulich, wenn sie den Respekt vor der Ent-scheidungshoheit des Museumsverantwortlichen – seines Direktors, sei-ner Kuratoren – zur Maxime ihrer Unterstützung machen.

Vertrauen in die Kunst – statt in den Kunstmarkt

Lassen Sie mich durchaus bekenntnishaft enden: Seit Jahrzehntensammle ich Kunst und kann von der Erregung des Kunstkaufes berich-ten, von der Vorfreude auf das Eintreffen der Kunst in den eigenen Räu-men, von dem Glück auch nach Jahrzehnten – gleichgültig, welchenWert der Kunstmarkt den Werken zugesteht –, die Freude über denBesitz solcher Werke. Und immer wieder bin ich überrascht davon, wasder Umgang mit Kunst und deren Präsenz bei den Menschen, die mit sol-chen Arbeiten leben, bewirken kann. Viele Kollegen und Mitarbeiter inmeinem Anwaltsbüro, die sich ursprünglich durchaus zu einer Kunst-ferne bekannten, entwickeln auf Dauer eine enge Beziehung zu den Bil-dern, die sie umgeben. Mitarbeiter, die das Büro verlassen, kommenimmer wieder und sagen: „Kann ich die Arbeit, die in meinem Zimmerhängt, mitnehmen? Leihen Sie sie mir, verkaufen Sie sie mir?“ Diesbelegt aufs Schönste, welche Freude und Empathie der Umgang mit derbildenden Kunst auslösen kann.

Auf die Frage, nach welchen Kriterien man Kunst kaufen soll, kann ichnur ganz subjektiv antworten: nach dem Lustprinzip. Liebe und Lei-denschaft für Kunst und Künstler sind die besten Berater beim Erwerbeines Kunstwerks. Sinnstiftend ist letztlich nicht der Preis, den eineArbeit auf dem Kunstmarkt erzielt, sondern die Beziehung, die der Käu-fer zum Kunstwerk und Künstler aufbaut. Manche meiner Bilder magich mittlerweile so sehr, dass ich sie um keinen Preis der Welt wiederhergeben will. Ein Gespür für Kunst entwickelt sich nur dort, wo manlernt, mit der Kunst zu leben.

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Abbildung 7: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Öffentlichkeit

Abbildung 8: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Zwischenzeiten

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Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen

Rupert Graf Strachwitz

Einleitung

„Vertrauen scheint sich am besten in kleinräumigen, überschaubarenOrdnungen zu entfalten, im Privaten, im Zwischenmenschlichen: alsoin einer Sphäre, wo es möglich ist, Personen kennenzulernen, ihr Ver-halten zu beobachten, Erfahrungen mit ihnen zu sammeln und stabileBeziehungen aufzubauen.“ So versuchte der Politikwissenschaftler undPolitiker Hans Maier (1988, 35), dem schwer zu definierenden Begriff desVertrauens eine politische Konnotation zu geben. „Eine Verfassung“, sofuhr er fort, „in deren Mitte das Wort Vertrauen stünde, käme unsgefährlich und leichtfertig vor.“ (Ebd.). Und weiter: „Auf der einen SeiteVertrauen als bereitwillig eingeräumter Kredit, sogar als Überzie-hungskredit im persönlichen, privaten Bereich – auf der anderen Seitedas Misstrauen als entschlossen installiertes Frühwarnsystem im öffent-lichen Leben.“ (Ebd., 36). Um die politische Konnotation soll es in diesemBeitrag gehen – gerade nicht allerdings in erster Linie um die im enge-ren Sinn politische Arena von Parlamenten, Regierungen, Verwaltung,Gerichtsbarkeit, also die durch die Verfassung bestimmte Arena gesell-schaftlichen Handelns, sondern um die politische Ordnung in einemumfassenderen Sinn, die, wie noch darzulegen sein wird, als ein Inein-andergreifen von drei Handlungsarenen begriffen werden kann. Mit die-ser Perspektive soll zugleich der Versuchung widerstanden werden,einen in der Soziologie zurzeit wieder heftig diskutierten Begriff(Endress 2002, 28) gewissermaßen in der Kurzfassung zu diskutieren,wofür der Politikwissenschaftler denn auch nicht qualifiziert wäre.

Die Implikationen von Vertrauen werden auch daraufhin zu untersu-chen sein, ob dieses in einer der Arenen einen besonders hohen Stel-lenwert besitzt und, weiterführend, dieser daraus eine Bringschuld oderandererseits eine spezifische Legitimität in Bezug auf die Gesellschaftinsgesamt erwächst. Dieser Ansatz gründet sich auf die Hypothese, dasseine Gesellschaft ohne Vertrauen schlechthin nicht funktionieren kann.„Vertrauen ist das Gleitmittel des gesellschaftlichen Lebens.“ (Putnamund Goss 2001, 21). Er muss allerdings auch der Analyse Rechnung tra-

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gen, dass das aus Vertrauen erwachsende Sozialkapital in einer Gesell-schaft höchst ungleich verteilt sein kann (Putnam 2001, 785). Dennoch:die Hypothese der Notwendigkeit von Vertrauen für das Funktionierengesellschaftlicher Arrangements wird von Jan Philipp Reemtsma ein-drucksvoll durch eine Schilderung der Zustände im 16. und 17. Jahr-hundert, und hier besonders im 30-jährigen Krieg, gestützt, in derunkontrollierbare Gewalt und die Notwendigkeit, jedem zu misstrauen,das Sozialgefüge gänzlich zum Erliegen gebracht haben (Reemtsma2009, 215 ff.). Insofern war das ganz und gar auf Misstrauen aufgebauteOrdnungskonzept von Hobbes (Endress 2002, 10) zwar aus der Analyseder zeitgenössischen Zustände plausibel, aber letztlich doch höchst defi-zitär, was schon von dem schottischen Aufklärer und Theoretiker derCivil Society Adam Ferguson in seiner Diskussion der Modelle vonHobbes und Rousseau heftig kritisiert wurde (Broadie 2007, 80). KeinWunder, so Reemtsmas implizierter Kommentar, hat doch das 18. Jahr-hundert der exzessiven Gewaltausübung, insbesondere auch der Folter,ein Ende gesetzt (Reemtsma 2009, 224). Jedenfalls scheint zwischenGewalt und Vertrauen eine Korrelation zu bestehen. Beschränkung derGewalt geht mit Strategien des Vertrauenserhalts einher (Ebd., 256),nachdem sich gezeigt hat, dass das berühmte Verdikt König FriedrichWilhelms I. von Preußen, der auf seine Untertanen einprügelte unddabei schrie „Ihr sollt mich lieben!“, keine Aussicht hatte, die Basis eineserfolgreichen gesellschaftlichen Arrangements zu sein.

Wie sieht dies nun im modernen Verfassungs- und Verwaltungsstaataus? Ist dieser, mit dem Gewaltmonopol ausgestattet und zugleich in sei-ner Gewaltausübung deutlich beschränkt, geeignet, das Vertrauen sei-ner Bürgerinnen und Bürger zu erwerben, oder hindert ihn ebendiesesMonopol letztlich daran? Der massive Vertrauensverlust, den beispiels-weise Einrichtungen der US-Regierung nicht zuletzt durch die über-mäßige Gewaltausübung gegenüber Gefangenen erlitten haben, scheintauf Letzteres hinzudeuten (Ebd., 527). Erweist sich diese Sicht als rich-tig, untermauert dies die These von der Notwendigkeit einer weiterenArena, in der sich Vertrauen und damit auch Sozialkapital bilden kön-nen. Mit vielen anderen Themen schienen in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts die Prämissen für ein gelingendes Sozialarrangement aufdie Kräfte des Marktes überzugehen. Die damit verbundenen Hoffnun-gen haben sich jedoch, wie spätestens die Ereignisse des Jahres 2008gezeigt haben, als trügerisch erwiesen.

Angesichts der Tatsache, dass sich dieser Beitrag in einen Zusammen-hang einzuordnen hat, der mit „Kredit und Vertrauen“ überschriebenist, soll der Darlegung des Szenarios aus zivilgesellschaftlicher Per-spektive wenigstens ein kurzer Versuch vorangestellt werden, denBegriff des Vertrauens begrifflich zu fassen. Auch ist ein zumindest

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kursorisches Eingehen auf alle drei gesellschaftlich relevantenArenen, das heißt in diesem Sinn den Staat, den Markt und die Zivil-gesellschaft, unerlässlich.

Zur Begrifflichkeit des Vertrauens

Niklas Luhmann hat das „Problem des Vertrauens“ als „Problem der ris-kanten Vorleistung“ beschrieben (2009, 27). „Die Welt“, fährt er fort, „istzu unkontrollierbarer Komplexität auseinander gezogen, so dass andereMenschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt sehr verschiedene Handlun-gen frei wählen können. Ich aber muss hier und jetzt handeln. DerAugenblick, in dem ich sehen kann, was andere tun und mich sehenddarauf einlassen kann, ist kurz. In ihm allein ist wenig Komplexität zuerfassen und abzuarbeiten, also wenig Rationalität zu gewinnen.“ (Ebd.,27 f.). Luhmann sieht Vertrauen wesentlich als eine risikobehaftete, abernotwendige Grundlage für eine Fülle von Entscheidungen. Die zeitlicheAsymmetrie, der notwendige „Vertrauensvorschuss“, ist prägnanter Aus-druck dieses Risikos (Endress 2002, 36). Ob das Risiko zu Recht einge-gangen wurde, wird für Luhmann erst in der Rückschau erkennbar. „Obvertrauensvolles Handeln in der rückblickenden Endbewertung richtigwar, hängt […] davon ab, ob das Vertrauen honoriert oder gebrochenwird.“ (Ebd., 29). Vertrauen ist demnach für ihn eine potentiell aus-schlaggebende Komponente von Entscheidungsprozessen, weil dieinhärente Komplexität der Zusammenhänge eine rein rational herbei-geführte Entscheidung prinzipiell ausschließt. „Trotz aller Bemühun-gen um Organisation und rationale Planung kann nicht alles Handelndurch sichere Voraussicht seiner Wirkungen geleitet sein. […] Erfolgaber stellt sich erst nach dem Handeln ein oder nicht ein. Man muss sichjedoch vorher engagieren. Dieses Zeitproblem überbrückt das Vertrauen[…].“ (Ebd., 30).

Luhmann scheint mir hier an Georg Simmels Erörterung des Vertrau-ensbegriffs (1989, 212 ff., 667 ff.) im Sinne einer entscheidungsbedin-genden Kategorie anzuknüpfen, ohne jedoch die Verknüpfung mit demKredit zu übernehmen. Jedenfalls fehlt bei Luhmann Simmels Argu-ment, dass „das Gefühl der persönlichen Sicherheit, das der Geldbesitzgewährt, […] vielleicht die konzentrierteste und zugespitzteste Formund Äußerung des Vertrauens auf die staatlich-gesellschaftliche Orga-nisation und Ordnung“ sei (Simmel 1989, 216; s. hierzu Endress 2002,13). Putnams erwähnter Einwand steht hierzu in einem unmittelbarenZusammenhang, während Luhmann die Kategorie des Vertrauens gene-ralisiert. Beide stellen jedoch auf unmittelbare soziale Beziehungen(Mikroebene) ebenso ab wie auf professionelle Interaktionen (Mesoebene)und gesellschaftliche Subsysteme (Makroebene) (Endress 2002, 14), wobei

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Luhmann diese deutlich voneinander abgrenzt (Ebd., 31). Talcott Par-sons erweitert dies, indem er von Vertrauen als primärer Bedingung derFunktionsfähigkeit von Interaktionsmedien spricht (Parsons 1980, 215;s. hierzu: Endress 2002, 21). Allerdings sieht Luhmann, und dies scheintmir für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung zu sein, eineEntwicklung vom interpersonalen Vertrauen in kleinen zum System-vertrauen in komplexen Gesellschaften, der durch einen Lernprozessbedingt ist (Luhmann 2009, 34 f.; s. hierzu: Endress 2002, 32).

Anthony Giddens hat versucht, das Vertrauensphänomen in den Kon-text seiner Untersuchungen der modernen Gesellschaft zu stellen. Erführt die Überlegungen von Simmel, Luhmann und Parsons fort, wenner herausstellt: „Das Wesen moderner Institutionen ist zutiefst mit denMechanismen des Vertrauens in abstrakte Systeme verbunden, vor allemin Vertrauen in Expertensysteme.“ (Giddens 1995, 83; s. hierzu: Endress2002, 40). Das interpersonale Vertrauen scheint hier von einem abstrak-teren, institutionengebundenen Vertrauen verdrängt zu werden. Und inder Tat: Dieses Vertrauen fordert die sich als demokratisch definierendeGesellschaftsordnung einerseits explizit ein, bietet dafür andererseitsdie Herrschaft des Rechts1 als rationale Basis an. „Dem ‚Gesetz‘, Inbegriffder generellen, abstrakten und permanenten Normen, zu deren bloßemVollzug Herrschaft herabgesetzt werden soll, wohnt eine Rationalitätinne, in der das Richtige mit dem Gerechten konvergiert.“ (Habermas1990, 118). „Damit ist die Umkehrung des in Hobbes’ Staatstheorie end-gültig formulierten Prinzips der absoluten Herrschaft vorbereitet.“(Ebd.). Auf dieses Vertrauen gründet, in radikaler Abkehr von der Unter-werfung unter die Gewalt und Willkür eines Herrschers, die modernepolitische Ordnung. Schon Simmel bezieht in dieses Konzept „ein Ver-trauen des Publikums zu der [das Geld] emittierenden Regierung“ und„zu dem Wirtschaftskreise“ ein, ohne dass es „zu einem Bargeldverkehrnicht kommen“ könne (Simmel 1989, 215; s. hierzu: Endress 13), eininstitutionengebundenes Vertrauen also, ohne das das Arrangementzum Scheitern verurteilt ist. Das Problem der zeitlichen Asymmetriestellt sich in hohem Maße auch hier; ohne permanenten Vertrauens-vorschuss des Bürgers und der Bürgerin kommt das Arrangement nichtin Gang.

Die Vertrauenskrise

Angesichts dieses Befundes ist die Frage zu stellen, was geschieht, wennder Vertrauensvorschuss nicht gewährt oder nicht repliziert wird, wenndas Risiko zu vertrauen von den Bürgern und Bürgerinnen als zu hocheingeschätzt wird, wenn also eine Vertrauenskrise eintritt. Ulrich Beckspricht davon, dass „von der Mehrheit der Menschen als verheerend

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erlebte Konsequenzen mit dem gesellschaftlichen Industrialisierungs-und Modernisierungsprozess verbunden“ sind (Beck 1986, 67), alsogerade mit dem Prozess, der doch durch zunehmende Rationalisierungvertrauens- und gesellschaftsbildend hätte wirken sollen. „Die Moder-nisierungsagenten – in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik – sehensich in den unbequemen Zustand eines leugnenden Angeklagten ver-setzt, den die Indizienkette ganz schön ins Schwitzen bringt.“ (Ebd., 68).

Diese Analyse wird durch eine Vielzahl von Beobachtungen gestützt, diewohl jeder Bürger selbst hat machen können. Welcher Empfängergesetzlich verbriefter Leistungen einer staatlichen Behörde wird derInstitution noch vertrauen, wenn er Erfahrungen der Willkür, derbewusst falschen Auslegung von Bestimmungen, oder auch nur derarroganten Behandlung im Zusammenhang mit dem Vortrag vonAnsprüchen gemacht hat? Dabei geht es hier nicht darum, ob dieseAnsprüche in einem größeren Zusammenhang als gerechtfertigt oderüberzogen erscheinen müssen, sondern darum, dass zumal ein sich ineiner Notlage befindender Bürger sich auf die Gültigkeit der Gesetze ver-lassen zu können glaubt und in diesem Glauben nicht unterstützt wird.Behörden, die für den Umgang mit einzelnen Bürgern zuständig sind,etwa Jugendämter, Ausländerämter und dergleichen, haben das Ver-trauen vielfach in einer für die Betroffenen existentiellen Weise nichteingelöst. Mangelhafte Pflichterfüllung, Kompetenzverfall, politischmotivierte Entscheidungen bis hin zur Rechtsbeugung haben das Ver-trauen nachhaltig zerstört. Für viele Bürgerinnen und Bürger hat dasGefühl des „Die da“, die unkontrollierbar Gewalt ausüben, nie durch einGefühl des Gemeinsinns, des „Wir“, in dem Vertrauen gedeihen kann,überwunden werden können.

Dieses Gefühl ist nicht auf unterprivilegierte Minderheiten, auf die„Loser“ in der Gesellschaft beschränkt. Jedem Bürger tritt die öffentli-che Verwaltung wesentlich als eine fremde Gewalt gegenüber, von derman sich in Acht zu nehmen und der man möglichst auszuweichen hat.Die Erfahrungen mit den Diktatoren des 20. Jahrhunderts, denentatsächlich weithin und mit schrecklichen Konsequenzen vertraut wor-den war, haben gewiss dazu beigetragen, mit politischen Vertrauens-vorschüssen vorsichtiger zu sein (Reemtsma 2009, 436). Doch habenauch krasse Pflichtversäumnisse und Korruption den Vertrauensvor-schuss weithin aufgezehrt. Selbst das angeblich – nach Meinungsum-fragen – große Vertrauen in die Polizei scheint eher durch einschlägigeFernsehsendungen, sehr viel weniger durch persönliche Erfahrungenbedingt zu sein. Politiker genießen das Vertrauen ihrer Bürger schonlange nicht mehr. Dies äußert sich beispielsweise in allen sogenanntenIndustrieländern in abnehmender Neigung, einer Partei anzugehören,abnehmender Beteiligung an Wahlen (vgl. Putnam 2001, 770, 772), aber

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auch rückläufiger Mitgliedschaft in Gewerkschaften (Ebd., 774). In die-sem Zusammenhang kommt es gar nicht darauf an, ob die von den Bür-gern angestellten Analysen zutreffend sind, wenn auch sehr viel dafürspricht; vielmehr ist die wie auch immer zustande gekommene Überle-gung, das Gefühl ausschlaggebend, dem Staat misstrauen zu sollen oderjedenfalls das Risiko des Vertrauensvorschusses bei Inkaufnahme zeitli-cher Asymmetrie kritisch zu überprüfen (Endress 2002, 36). Anders alsbei Hobbes, für den das Misstrauen von den Einrichtern einer politi-schen Ordnung ausgeht, geht es nach den Erfahrungen mit dem moder-nen Staat von dessen Bürgern aus. Ohne dass es dazu präzise Untersu-chungen gibt, scheint sich dies auch dadurch bemerkbar zu machen,dass in Volksabstimmungen zu einzelnen Themen ganz überwiegenddie Mehrheit gegen die Vorschläge oder Positionen der Regierungstimmt, besonders dann, wenn Regierung und Opposition die gleichePosition vertreten.

Besonders bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass das Miss-trauen gegen den Staat weit über den Eindruck des Versagens in einzel-nen Bereichen hinausreicht und sich gegen die hoheitliche Gewalt mitallen ihren Teilen richtet. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieseVertrauenskrise mit wenigen Ausnahmen, die sich beispiels- aber auchinteressanterweise vor allem in kleinen Gemeinden finden, alle Ebenenund Einrichtungen von Politik und Verwaltung erfasst hat. Nach einerinternational komparativen Studie haben in Deutschland nur 38 Pro-zent der Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen, dass die Regierung dasRichtige tut, verglichen mit 43 Prozent in den USA, aber mit 77 Prozentin China (Edelman 2010, 8). Die Krise wäre noch größer, wenn der Bür-ger nicht mit dem Dilemma konfrontiert wäre, keine systematischeAlternative zu dem modernen Verfassungsstaat erkennen zu können –und wohl auch, wenn nicht die Regierung und das sie insgesamt stüt-zende Staatssystem mit hohem Aufwand versuchen würden, den Ein-druck zu korrigieren. Es gibt beispielsweise – bislang unbewiesene – Ver-mutungen, dass die Vertrauen schaffenden Polizeiserien im Fernsehenüber die Mehrheit der öffentlichen Mandatsträger in den Aufsichtsgre-mien der Sender durchgesetzt oder sogar teilweise aus Budgets der Poli-zeibehörden mitfinanziert werden – eine dem Katalog der Möglichkei-ten eines im Wettbewerb stehenden Wirtschaftsunternehmens ent-nommene, hier wie dort tatsächliche Qualität nicht notwendigerweisewiderspiegelnde Marketingmaßnahme. Ob sie langfristig erfolgreichsein kann, mag bezweifelt werden.

Die Wirtschaft selbst kämpft aus einer sehr viel schlechteren Aus-gangsposition heraus um das Vertrauen ihrer Kunden. Jeder weiß schonvon jeher, dass Anpreisungen von Verkäufern, Klagen über Kosten undalle Werbung auf dem Markt Übertreibungen enthalten, die versuchs-

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weise durchschaut werden müssen. Jedes Tauschgeschäft, das Wesens-merkmal des Marktes, lebt ein Stück weit vom Misstrauen gegenüberdem Tauschpartner, das regelmäßig nur durch lange Kundenbeziehun-gen abgebaut wird. Dennoch ist unstreitig ein erheblicher Vertrauens-vorschuss notwendig, um eine Kaufentscheidung zu bewirken. Kaumein Käufer kann tatsächlich den Wahrheitsgehalt des Angebots nach-prüfen. Die vertrauensgestützte professionelle Interaktion (nach Luh-mann) gilt gerade auf dem Markt und gerade, weil ein Stück Misstrauenjedes Geschäft begleitet.

Bedenklich sind daher einige Entwicklungen der letzten Jahre. Zumeinen hat die zunehmende Kommerzialisierung ehedem nicht einmalals Teil des Marktes gesehener Branchen dazu geführt, dass die Ver-trauenskrise auch diese erfasst hat. Zu den betroffenen Branchengehören beispielsweise die sogenannten freien Berufe, neben Rechtsan-wälten vor allem die Ärzte. Ein Zahnarzt, der ein bestimmtes Pflege-mittel empfiehlt und, wie zunehmend üblich, hinzufügt, der Patientkönne es bei ihm erwerben, untergräbt damit das ihm entgegenge-brachte Vertrauen. Parsons Paradebeispiel des Arztes, dessen „nicht vor-rangige Gewinnorientierung sowie nicht zuletzt seine affektive Neu-tralität elementare Bedingungen des Aufbaus einer Vertrauensbezie-hung seitens des Patienten sind“, wird dadurch zum Beweis des Gegen-teils (Endress 2002, 21; vgl. Parsons 1965).

Zum zweiten bezieht sich der Vertrauensschwund offenbar zunehmendauf das System der sozialen Marktwirtschaft als solches. Weniger als 50Prozent der Bürger vertrauen, so eine vom Institut für DemoskopieAllensbach 2009 publizierte Zahl, diesem Wirtschaftssystem. Das Ver-trauen in die Wirtschaft, dass sie das Richtige tut, haben 2010 51 Pro-zent der Deutschen (Edelman 2010, 8). Nur 17 Prozent der Deutschenhaben 2010 Vertrauen in die Banken, ein Rückgang auf die Hälfte seit2007 (Ebd., 4). Zu Recht hat der Vorstandsvorsitzende eines großen Bera-tungsunternehmens2 diesen fortschreitenden Vertrauensverlust als„gesellschaftliches Desaster“ bezeichnet. Schließlich ist nicht zu über-sehen, dass viele Unternehmen diesen Verlust des Vertrauens in die her-gestellten Güter und Dienstleistungen durch Maßnahmen zu kompen-sieren suchen, die zur Verbesserung von deren Qualität und damit in-trinsisch zur Wiederherstellung des Vertrauens wenig oder nichts bei-tragen können. Dies wird von den Konsumenten tatsächlich honoriert.So stehen in den USA Ratgeber hoch im Kurs, die den Verbraucher dar-über aufklären, welches Unternehmen in Bezug auf Arbeitsbedingun-gen, ethnische Parität, Umweltmaßnahmen und so weiter welchenRangplatz einnehmen kann. Dass Unternehmen auch hinsichtlich ihrersozialen Verantwortung und Grundsätze beurteilt werden, ist gewissnicht zu kritisieren; doch kann vorbildliches prosoziales Verhalten über-

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höhte Preise, Qualitätsmängel der Produkte und dergleichen ebenso ver-schleiern wie aggressive Werbung. Das Vertrauen in den Partner amMarkt wird dadurch letztlich ebenso wenig wiederhergestellt wie das inden staatlichen Amtsträger durch Broschüren einer Zentrale für politi-sche Bildung oder eines Presseamtes. Ebenso wie dem Staat muss auchdem Markt schließlich ein offenkundiges Versagen bei der Erfüllung sei-ner originären Aufgaben, der Bewältigung benennbarer Herausforde-rungen, der Bereitstellung adäquater Leistungen und dergleichen attes-tiert werden. Nicht nur Verhaltensmuster, Unregelmäßigkeiten undsich häufendes Versagen von Protagonisten, sondern auch system-immanentes Versagen haben Staat und Markt in die gegenwärtige Ver-trauenskrise gestürzt. Wem, so fragt sich der Bürger, kann denn über-haupt noch vertraut werden?

Diese Ratlosigkeit wirkt sich verheerend auf die Kohäsion der Gesell-schaft aus. Nimmt man andere Faktoren, beispielsweise die transnatio-nalen Kommunikationsmöglichkeiten, hinzu, erscheinen die seit dem18. Jahrhundert entwickelten Modelle einer modernen Gesellschaft inhohem Maße bereits obsolet geworden zu sein. So taugt etwa der Begriffder Nation – zumindest in Europa – kaum noch als identitätsstiftendes,soziales Kapital generierendes Modell. „Die Marktwirtschaft und die ter-ritorialen Nationalstaaten waren nicht dafür gedacht, sich einer Kom-munikationsrevolution anzupassen, die den gesamten Globus umfasstund alles und jeden auf dem Planeten simultan verknüpft. Die Folge ist,dass wir Zeugen der Geburt eines neuen Wirtschaftssystems und neuerRegierungsinstitutionen werden, die sich vom Marktkapitalismus undvom modernen Territorialstaat so sehr unterscheiden werden wie dieFeudalwirtschaft und die Monarchien von ihren Vorgängern.“ (Rifkin2004, 201). Mit vielen anderen bietet Rifkin eine Option an: „In der glo-balisierten Wirtschaft mit ihren entpersonalisierten Marktkräften istdie Zivilgesellschaft zu einem wichtigen sozialen Rückzugsgebiet gewor-den. Hier können Menschen Intimität und Vertrauen herstellen,gemeinsame Ziele und eine kollektive Identität entwickeln.“ (Ebd., 257).

Die dritte Arena

Seit den 1980er Jahren setzt sich zunehmend ein politisches Ord-nungskonzept durch, welches die traditionelle Unterscheidung zwi-schen dem Öffentlichen und dem Privaten zugunsten von drei Arenengesellschaftlich wirksamen kollektiven Handelns überwindet.3 Schonim 18. Jahrhundert wurde durch Ferguson der Begriff der Civil Society(wieder) in die politische Theorie eingeführt (vgl. Broadie 2007, 86),wobei Ferguson zugleich für eine bis heute nachwirkende begrifflicheUnschärfe verantwortlich ist, indem „civil“ sowohl bewusst den Bezug

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zu „zivilisiert“, also eine Art des Umgangs, als auch den Gegensatz zu„militärisch“, also ein Ordnungsprinzip, bezeichnen und darüber hin-aus durch Hervorhebung des freiwilligen Charakters die Abgrenzungzum Herrschaftsanspruch des Staates unterstreichen sollte. Idealtypischwurde die Zivilgesellschaft als herrschafts- und hierarchiefreie Arenaaufgefasst, in der nicht nur die Handlungslogik, sondern auch die Kom-munikation unter den Beteiligten von der in anderen Arenen grundsätz-lich verschieden sei.

In dieser Idealtypisierung ist das Konzept an den Unzulänglichkeitenmenschlichen Handelns gescheitert und hat sich nicht durchgesetzt.Heute wird Zivilgesellschaft mehrheitlich als die Arena gesehen, in derzum einen diejenigen Organisationen aktiv sind, die im weitesten Sinnöffentliche und meritorische Güter für die Allgemeinheit herstellen(Dienstleister), zum zweiten Gruppierungen, die für ihre MitgliederChancen der Lebensgestaltung anbieten (Selbsthilfegruppen), zum drit-ten mehr oder weniger organisierte Gruppen, Initiativen und so weiter,die ein allgemeines, in der Regel thematisch sehr eingegrenztes politi-sches Mandat wahrnehmen (Themenanwälte), sowie schließlich unter-schiedliche intermediäre Vereinigungen und Institutionen. Allen Teilensind der selbstermächtigte Gründungsimpuls, ein gewisses Maß an Kol-lektivität und Öffentlichkeit, die freiwillige Zugehörigkeit, die Selbst-organisation und die subjektive Gemeinwohlorientierung sowie dasVerbot, eventuelle Überschüsse an Mitglieder oder Eigentümer auszu-schütten, gemeinsam. Ferner nehmen sie grundsätzlich nicht an derAusübung hoheitlicher Gewalt teil, sind jedoch sehr wohl prosozialeAkteure in der allgemeinen politischen Ordnung4 (s. hierzu u.v.a.Anheier und List 2005, 53 ff.; Strachwitz 2009, 10 ff.).

Für die Herausbildung der modernen Zivilgesellschaft war das Versagenvon Staat und Markt keine notwendige Voraussetzung. Sie ist auch dasErgebnis anderer Faktoren wie der von Rifkin konstatierten kommuni-kativen Revolution oder der politischen Überwindung des National-staates. „Im Nationalstaat kreist die Politik um zwei Pole, den Markt unddie Regierung. Im Unterschied dazu operiert die EU-Politik zwischendrei Knoten: Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft. Der Übergangvon zwei zu drei Sektoren stellt einen radikalen Entwicklungssprung inder Evolution des politischen Lebens dar und trägt entscheidend dazubei, wie wir unsere Zukunft organisieren.“ (Rifkin 2004, 253). Jedoch istnicht zu übersehen, dass aufgrund des Vertrauensverlustes in denArenen Staat und Markt die Suche nach Optionen der Vertrauensbil-dung den Blick auf die Zivilgesellschaft gelenkt hat. Die von Luhmannbeschriebene Entwicklung vom interpersonalen zum Systemvertrauenscheint eine Gegenbewegung ausgelöst zu haben, indem das Scheiterndes Systemvertrauens die Attraktivität einer Systematik des interperso-

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nalen Vertrauens neuerlich heraufbeschworen hat. Putnams Langzeit-untersuchungen in Italien (Putnam 1993) und seine daraus entwickelteTheorie des sozialen Kapitals haben in herausragender Weise diesesPhänomen untersucht und theoretisch untermauert5. Sozialkapitalerweist sich für Putnam als der für den Erfolg eines gesellschaftlichenArrangements entscheidende Faktor. Seine These, dass Sozialkapital vor-nehmlich in freiwillig zustande gekommenen Netzwerken und asso-ziativen Organisationen formeller wie informeller Art gebildet wirdund den anderen Arenen erfolgreich zur Verfügung gestellt werdenkann (Putnam und Goss 2001, 23 ff.), ist heute weithin akzeptiert. „Die-selben globalen Bedingungen, die neue kooperative, auf Netzwerk-Archi-tekturen basierende Wirtschaftsmodelle befördern, wirken sich auchauf die politische Arena aus.“ (Rifkin 2004, 215).

Doch warum ist dies so? Diese Frage kann hier nur gestreift werden.„Soziale Netzwerke und die damit zusammenhängenden Normen derGegenseitigkeit lassen sich als soziales ‚Kapital‘ bezeichnen, weil sie –wie physisches und Humankapital (Ausrüstung und Ausbildung) –sowohl individuellen als auch kollektiven Wert schöpfen und weil manin Netzwerke investieren kann. Tatsächlich legt die umfangreiche inter-nationale Literatur über die Korrelate von Glück […] die Vermutungnahe, Sozialkapital könne für das menschliche Wohlbefinden sogarnoch wichtiger sein als materielle Güter.“ (Putnam und Goss 2001, 22).Den schon vermuteten engen Zusammenhang zum Vertrauen einer-seits, zur Handlungslogik der Zivilgesellschaft andererseits stellen unteranderen Claus Offe und Susanne Fuchs her, wenn sie feststellen: „Wiekönnen wir das Niveau oder den Bestand an Sozialkapital messen?Benötigt dafür werden aussagefähige Indikatoren, zumindest jedoch‚feinkörnige‘ konzeptionelle Komponenten des Sozialkapitals […] Wirschlagen drei solche Komponenten vor: ‚Aufmerksamkeit‘, ‚Vertrauen‘und ‚Engagement in assoziativen Aktivitäten‘.“ (2001, 418). „Der Schlüs-sel zu einem erfolgreichen Netzwerk liegt in der Reziprozität und demVertrauen. […] Vertrauen ist der Kern der Netzbeziehungen.“ (Rifkin2004, 205 f.). Insofern, als die Arena der Zivilgesellschaft die Arena derassoziativen Aktivitäten und Netzwerke unter Hintanstellung wirt-schaftlichen Gewinnstrebens und der Ausübung von Gewalt darstellt, istsie denn auch diejenige, die sich als Produzentin von Sozialkapital vor-nehmlich eignet. Hier kann sich, nicht zuletzt auch bedingt durch dieextreme Ausdifferenzierung in kleine und kleinste Organisationen, dasinterpersonale Vertrauen bilden, das anscheinend das Systemvertrauenablöst. Hans Maiers eingangs zitierte Vermutung erweist sich als zutref-fend.

Freilich muss eindringlich davor gewarnt werden, die Zivilgesellschaftals Deus ex Machina in der Not der Vertrauenslosigkeit zu apostrophie-

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ren. Weder ist Zivilgesellschaft inhärent gut – Organisationen wie AlQaida oder Ku Klux Klan sind eklatante Beweise des Gegenteils –, nochhaben alle personalen oder kollektiven Akteure in dieser Arena geradedie Vertrauensbildung als Ziel. Auch sind diese Akteure prinzipiellzugleich auch in den anderen Arenen unterwegs, und es gibt zwischenden Arenen relativ große Überschneidungszonen, so dass sich eine syste-matische Abgrenzung verbietet. Schließlich sagen Untersuchungen,dass beispielsweise in Deutschland nur 55 Prozent der Bürger das Ver-trauen haben, dass Nichtregierungsorganisationen das Richtige tun.Andererseits ist nicht zu übersehen, dass dies deutlich mehr sind, alsStaat und Markt vertrauen (Edelman 2010, 3, 8). Auch sind hier eher diegroßen, für die Zivilgesellschaft untypischen Organisationen im Blick.Die Handlungslogik der Selbstermächtigung und Selbstorganisation,die Ausbildung immer wieder neuer kollektiver Akteure und die ver-gleichsweise hierarchiearme, netzwerkbezogene Arbeitsweise auf derMesoebene, wie sie für zivilgesellschaftliche Organisationen typisch ist,begünstigen die interpersonale Vertrauensbildung. Auch das vergleichs-weise geringe Risiko von Vertrauensvorschüssen arbeitet diesem Prozesszu. Insofern erscheint es gerechtfertigt, den gesellschaftlichen Mehr-wert, der der Existenz einer funktionsfähigen und lebendigen Zivil-gesellschaft zugemessen wird, neben anderen Beiträgen wie seinemIntegrations- und Inklusionspotential auch an der Chance zu messen,über Vertrauen soziales Kapital zu bilden (Strachwitz 2009, 18). Aus demzivilgesellschaftlichen Mehrwert bezieht diese Arena ihre wesentlicheLegitimation.

„Die ‚starke‘ Version von Vertrauen ist dann erfüllt“, so Offe und Fuchs,„wenn eine Person nicht nur die optimistische Auffassung vertritt, diemeisten Menschen seien umgänglich und ihr meist auch wohlgeson-nen. Diese Weltsicht muss komplettiert werden durch die Annahme, ausder Kooperation mit anderen Menschen gegenseitigen intrinsischen wieinstrumentellen Nutzen ziehen zu können.“ (2001, 419). In der histori-schen Situation, in denen die Herstellung von Systemvertrauen in denArenen Staat und Markt problematisch erscheint und das rein familiäreinterpersonale Vertrauen nicht hinreicht, ist es verständlich, wenn sichauf die Arena der Zivilgesellschaft das Vertrauen richtet, über interper-sonales Vertrauen auf der Mesoebene soziales Kapital aufzubauen. Diesfreilich ist keine Huldigung an die Zivilgesellschaft, sondern eine Her-ausforderung, der sie sich stellen muss.

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Fußnoten1 Engl. Rule of Law, auf Deutsch meist zu eng als „Rechtsstaat“ übersetzt.

2 Bernd Wieczorek, Chairman, Egon Zehnder International GmbH, auf einer Veranstal-tung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und des Beauftragtender Bundesregierung für Kultur und Medien zum Kultursponsoring am 24. August2010 in Berlin.

3 Der unmittelbare Privatbereich ist in diese Betrachtung nicht einbezogen, wird jedochkeineswegs marginalisiert. Im Konzept der drei Arenen gesellschaftlich relevantenHandelns bildet dieser Privatbereich, der Mensch, den Ausgangspunkt, von dem in dieArenen ausgestrahlt wird.

4 Der Begriff geht insoweit, aber auch in Bezug auf die Einbeziehung informeller Initia-tiven, erheblich über den in den 1990er Jahren verwendeten Ausdruck ‚Dritter Sektor‘hinaus.

5 Putnam selbst führt die Begrifflichkeit und die Grundlinien der Theorie des sozialenKapitals auf eine 1916 veröffentlichte Schrift des amerikanischen Pädagogen undGesellschaftsreformers Lyda Judson Hanifan zurück (s. Putnam und Goss 2001, 16).

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Abbildung 9: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Offene Fragen I

Abbildung 10: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Offene Fragen II

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„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Über das Vertrauen in Ratings, Rankings, Evaluationen undandere Objektivitätsgeneratoren im Wissenschaftsbetrieb

Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele

Eine Welt ohne Evaluationen, Ratings, Rankings, Kennzahlen und Indi-zes ist heute kaum mehr vorstellbar. Fast alles lässt sich auf einer Skalavon 1 bis 100 abbilden: der Wert einer Immobilie, die Qualität vonWaschmaschinen oder die Attraktivität eines Studienortes. Der Menschverlässt sich gern auf Zahlen. Er scheint lieber zu zählen als zu lesenoder sich selbst ein Bild zu verschaffen. Doch wie begründet ist das Ver-trauen in diese vermeintlich objektiv produzierten Tatsachen?

Diese Fragen wurden am Beispiel des Wissenschaftsbetriebes in einerPodiumsdiskussion am 22. März 2010 an der Universität Mannheim the-matisiert. Evaluationen im Bereich von Wissenschaft, Forschung undLehre sind im Grunde eine Form der Kreditvergabe: Ratings bestätigeneiner Universität Qualität, Werte, Exzellenz oder eben das Gegenteil. DieUniversität kann mit diesem Kapital arbeiten wie eine Bank mit ihrenEinlagen. Über die Frage, inwieweit den methodisch abgesicherten Ver-fahren zur „Produktion von Objektivität“ zu trauen ist, kann man strei-ten, auch darüber, in welchem Kontext welche Form der „Objektivität“sinnvoll zur Messung von Werten eingesetzt werden kann. Schließlich

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wäre die Frage nach den Alternativen ganz zentral: Wenn wir nicht eva-luieren und ranken etc., wie sollen wir dann Qualität messen?

Es diskutierten Prof. Dr. Frank Ziegele, Direktor des Zentrums für Hoch-schulentwicklung (CHE), Jürgen Kaube, F.A.Z.-Wissenschaftsredakteur,Prof. Dr. Stefan Hornbostel, Direktor des Instituts für Forschungsinfor-mation und Qualitätssicherung, Berlin, und Prof. Dr. Alfred Kieser, Wirt-schaftswissenschaftler und Organisationstheoretiker an der UniversitätMannheim. Die Diskussionsleitung hatte Prof. Dr. Dagmar Stahlberg,Soziologin an der Universität Mannheim.

Zunächst stellten die Diskussionsteilnehmer in einschlägigen Stellung-nahmen ihre Thesen zur Diskussion:

Stefan Hornbostel: Ich möchte mit der Frage einsteigen, wie Wissenschaft und Vertrauenzusammenhängen.

Das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft ist sehr groß. Ich glaube,in der gegenwärtigen Situation hätte die Wissenschaft sogar gute Chan-cen, der katholischen Kirche den Rang abzulaufen. Allerdings bricht die-ses Vertrauen, sobald man nach heiklen Themen fragt, wie zum BeispielStammzellenforschung. Dann schlägt Vertrauen sehr schnell um inMisstrauen und führt zu einer hohen Bereitschaft, der Wissenschaft Vor-schriften zu machen. Betrachtet man die Wissenschaft aber als Institu-tion von innen, dann macht man eine erstaunliche Entdeckung: Andersals im alltäglichen Leben lebt die Wissenschaft in der Aufforderung zupermanentem Misstrauen. Alles, was in der Tradition des britischenRationalismus steht, lebt eigentlich davon, dass man permanent miss-trauisch ist, geradezu destruktiv mit dem Wissen anderer umgeht. Mit

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diesem Misstrauen korrespondiert allerdings nicht unbedingt dastatsächliche Verhalten. Denn das Verhalten von Wissenschaftlern unter-einander ist dann doch eher durch Vertrauensbeziehungen geprägt.

Man könnte das Ganze als eine antagonistische Produktionsweisebetrachten. Auf der einen Seite haben wir sehr starke Wettbewerbs- undKonkurrenzbeziehungen in der Wissenschaft. Fälschungen sind bei-spielsweise ein schöner Indikator dafür, dass unter diesem hohen Kon-kurrenzdruck Fälschungen oft nur möglich sind, weil sie gerade das Ver-trauen und nicht das Misstrauen auslösen. Und das wäre die andereSeite: Kooperation. Diese ist genauso wichtig in der Wissenschaft. Ohnediese ist Wissensproduktion kaum möglich. Und Kooperationsbezie-hungen funktionieren nur mit einem erheblichen Einsatz von Ver-trauen.

Wenn man das Verhältnis Staat und Wissenschaft einmal anschaut,dann haben wir auch hier erst mal einen ganz erstaunlichen Vertrau-ensvorschuss. Die grundgesetzlich garantierte Autonomie ist ja so etwaswie ein Vertrauensbeweis. Was mich persönlich dabei erstaunt, ist dieunglaubliche Bereitschaft aus der Wissenschaft – und zwar wirklich ausder Wissenschaft und nicht so sehr aus den Medien –, Information überdie Leistungsfähigkeit von Wissenschaft so zu vereinfachen, dass mansie am besten mit einer Zahl abbilden kann.

Rankings wird man danach beurteilen können, wie gut es ihnen gelingt,geeignete Indikatoren zu finden, die tatsächlich etwas Relevantes mes-sen können. Die Frage ist, welche Indikatoren ausschlaggebend sein sol-len. Ich nenne ein Beispiel: In fast jedem Ranking finden Sie die Anzahlder Promotionen als einen Forschungsindikator. Das heißt, je mehrLeute promoviert werden, umso besser und forschungsintensiver seieine Einrichtung. Das ist Nonsens und es führt zu rapidem Qualitäts-verfall. Das ist die negative Seite der Rankings.

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Die positive Seite wäre die, dass Rankings in der Tat zu einer Stimulansgeworden sind. Ratings ermöglichen Einrichtungen gewissermaßen,sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Daraus resultiert eine Menge anBewegung, mit der wir versuchen, in manchen Bereichen besser zu wer-den, die eigenen Strategien zu überdenken und genauer zu überlegen,wie man sich eigentlich positionieren will und wo man Schwachstellenhat, die man ausbügeln sollte.

Jürgen Kaube: Ich fange mit einer kleinen Geschichte an. Sie spielt in einer Beru-fungskommission an einer Universität, an der ich einmal gearbeitethabe. Es wurden Punkte an die Kandidaten verteilt, und es ergab sich dasBild, dass einer der Bewerber sehr deutlich vor allen anderen lag. DerKommissionsvorsitzende sagte: „Bevor wir nun den Kollegen auf Platzeins setzen, sollten wir uns vorher noch kurz die Frage stellen, ob wirihn auch wollen.“ Innerhalb von etwa fünf Minuten war klar, dass dieseFrage von fast allen Mitgliedern der Berufungskommission mit „Nein“entschieden wurde. Sie wollten ihn also eigentlich nicht – meiner Mei-nung nach eine Rückkehr zur Vernunft. Denn man beruft ja einen Kol-legen nicht als eine in Einzelkomponenten zerlegbare Leistungsma-schine. Das, was in Rankings quantifiziert wird, ist etwas, was quantifi-ziert gar nicht existiert. Man nennt es auch Reputation – ähnlich wie dieKochmützen für Spitzenköche oder die Punktewertung bei der StiftungWarentest.

Was hat es mit dieser Reputation auf sich? Wissenschaftler orientierensich in vielen Handlungen nicht ausschließlich an Kritik, sie verlassensich auch auf Reputation. Das kann der Ruf einer Person sein, aber auchder einer Zeitschrift, einer Universität, eines Faches oder einer Tagung.Diese Reputation hat eine Tendenz ins Informelle. Sie beruht aufGerüchten, auf Klatsch, auf Fama. Man kann sie nicht in Form einer Zahlformulieren, so dass man sagen könnte: „Oh, diese Zahl hat einwandfreiergeben, der Kollege ist nun einmal der Beste und muss angenommenwerden.“

Das hat damit zu tun, dass die Reputation vor allem dort ins Spielkommt, wo Wissenschaftler Entscheidungen treffen müssen, die nichtwissenschaftlicher Art sind, zum Beispiel die Besetzung einer Stelle. Dasist keine wissenschaftliche Entscheidung. Es ist lediglich eine Entschei-dung, die von Wissenschaftlern getroffen wird. Das wird gerne ver-wechselt. Rankings suggerieren jedoch implizit, dass alles, was Wissen-schaftler tun, auch wissenschaftlich sei. Es ist ganz kurios, dass das Ver-trauen der Verwissenschaftlichung an einer Entscheidung, die selberkeine wissenschaftliche ist, dazu führt, dass man Wissenschaft drittenRanges akzeptiert.

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Wenn ich noch einmal auf das Beispiel mit der Berufungskommissioneingehe: Da machen sich einige einen riesigen Aufwand und rechnendiese Zahlen aus, aber in den Berufungskommissionen werden die Zah-len nur dann mobilisiert, wenn man etwas begründen will, was manaber auch ohne diese Zahlen belegen könnte. Das ist problematisch.

Die DFG hat ja gerade die Obergrenzen der anzugebenden Publikatio-nen bei Forschungsanträgen auf maximal fünf beschränkt. Damit wirdversucht, einem der Probleme zu begegnen – nämlich dem, dass die For-scher sich selbst strategisch nach diesen Daten ausrichten. Ganze Uni-versitäten sind besessen von der Idee, von Platz 21 auf Platz 19 vorzu-springen. Obwohl wiederum informell jeder sagt, dass das eigentlich Irr-sinn ist. Aber man kann nicht anders.

Und da ist meine Frage an die Wissenschaft: Könnte man sich nicht dar-auf verständigen, dass man doch anders kann?

Alfred Kieser:Wir – die Fakultät für BWL an der Uni Mannheim – sind Nummer einsund zwei im Handelsblattranking, und eigentlich haben wir jedenGrund, das gut zu finden, was da gemacht wird. Ich tue es nicht, weilich meine, dass durch Rankings die Sitten in der Wissenschaft zu einemgewissen Grade verkommen.

Meine erste These: Rankings schaffen die Wirklichkeit, die zu messen sievorgeben. Stellen wir uns vor, eine Fakultät wird aufgrund einer angreif-baren Evaluation schlecht beurteilt. Dann wird sie auch schlecht. Esgehen keine Studenten mehr hin, die Professoren wollen weg. Genausoist das auch, wenn sie zu gut beurteilt wird. Dann wird sie auch tatsäch-lich gut. Diese Rankings entwickeln eine Eigendynamik. Sie beeinflus-

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sen die Wirklichkeit. Es ist aber nicht im Sinne des Bildungsauftrags,dass es nur noch wenige Universitäten gibt, die gut sind, und viele, dieschlecht sind.

Die zweite These: Es sagt nicht viel über die Qualifikation eines Wis-senschaftlers aus, wenn er oder sie in einer Zeitschrift, die hoch ange-sehen ist, einen Aufsatz veröffentlicht. Auch hier in Mannheim gibt esviele Listen, die genau mit diesem sogenannten Impact Factor begrün-det werden, mit Rankings, die auf solchen Impact Factors aufbauen. DieWeltvereinigung der Mathematiker – die International MathematicalUnion – warnt aber ausdrücklich davor, die Ergebnisse von Rankings aufindividuelle Forscher anzuwenden. Im Internet ist diese Kritik unter„Citation Statistics“ zu finden.

Dritte These: Rankings machen aus Wissenschaftlern Punktejäger, sieverleiten Forscher zum Tricksen. Man macht aus einem Aufsatz drei. DasSchlimmste ist wohl, dass auf diese Art und Weise Innovation reduziertwird. Wissenschaftler verfolgen keine innovative Forschung mehr, son-dern variieren das Bewährte, denn das hat die größten Aussichten aufVeröffentlichung. So reduzieren Rankings Kreativität und Innovatio-nen in der Wissenschaft.

Vierte These: Immer mehr Hochschulangehörige sehen Rankings undEvaluationen skeptisch. Auch in der Presse wird dies eigentlich schonkritisch diskutiert. Jüngst hat sich der Historikerverband einer Evalua-tion verweigert. Er begründet dies mit der „Unmöglichkeit, ein dyna-misches Fach wie die Geschichtswissenschaft parametrisch gleichsamin einer Momentaufnahme abzubilden und wertend zu erfassen […].“

Also, ich bin auch mit Herrn Kaube der Ansicht, dass man auf Rankingsverzichten sollte.

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Frank Ziegele:

Rankings sind nützlich, denn Hochschulen können damit in den Auf-bau von Vertrauenskapital investieren.

Erstens: Falsch wäre, die Hochschulen würden sich auf die Positionzurückziehen, die der Historikerverband vertritt. Wissenschaft – so dieArgumentation – sei ein selbstreferentielles System und wisse daherselbst am besten, was gut und schlecht sei. Ich habe aber den Eindruck,eine solche Haltung ist für den Aufbau des Vertrauens nicht besondershilfreich.

Zweitens: Eine Möglichkeit ist Vertrauensaufbau durch Leistung. Ichwürde die These wagen, ein Vertrauensaufbau über Leistung ist besserals ein Vertrauensaufbau über Reputation. Ein einleuchtendes Bei-spiel bietet die Universität Bremen. Über Jahrzehnte hinweg galt dieseUniversität als eine rote Kaderschmiede, obwohl dort unglaublich gutewissenschaftliche Leistungen erzielt wurden. Eine Messung dertatsächlichen wissenschaftlichen Leistungen hätte die wissenschaftli-che Realität an der Uni Bremen sehr viel besser abgebildet als das sehrbeständige Konstrukt der schlechten Reputation. Das Vertrauen inReputation ist keine wirkliche Alternative zu regelmäßiger Qualitäts-kontrolle.

Daher mein dritter Punkt: Ein Schlüssel zum Vertrauensaufbau istTransparenz: Bereitstellung von Informationen über das, was an Hoch-schulen passiert. Daten, Evaluationsergebnisse, Zahlen zum Drittmit-telaufkommen, zu den Forschungsaktivitäten, zur Qualität der Lehreetc., die den Vergleich zwischen Hochschulen ermöglichen.

Damit komme ich bereits zum vierten Punkt: Der Wert eines Rankingshängt immer von den Zielen und der Zielgruppe ab. Problematisch wirdes immer dann, wenn dieser Zielbezug nicht klar ist und die Instru-mente für etwas eingesetzt werden, was sie gar nicht leisten können. Dasklassische Beispiel ist das hochgepriesene Shanghai Ranking, das durchdie ganze Welt geistert: Man kann nur den Kopf schütteln darüber, dasses noch immer Universitäten gibt, die verzweifelt versuchen, sich imShanghai Ranking von Platz 23 auf Platz 17 vorzuarbeiten. Dieses Ran-king ist ganz gezielt dafür entwickelt worden, Forschungsleistungen inden Natur- und Technikwissenschaften zu messen. Geisteswissen-schaftliche oder wirtschaftswissenschaftliche Forschungserfolge sinddarin gar nicht darstellbar.

In meinem fünften Punkt möchte ich die Gefahr der Pseudoobjektivitätansprechen. Wir stehen vor dem Problem, dass metrische Messsystemekeine Automatismen sind. Oben schmeißt man Daten und Fakten reinund unten fallen automatisch richtige Entscheidungen raus. Diese Logik

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funktioniert so nicht. Jede Qualitätsprüfung, jedes Messsystem brauchtinterpretierende Menschen.

Sechster und letzter Punkt. Es ist natürlich auch wichtig, dass die Ver-fahren der Qualitätskontrolle Vertrauen genießen. Wenn ich das CHE-Hochschulranking betrachte, dann stelle ich fest, dass wir unglaublichviel in Vertrauensaufbau investieren. Wir haben wissenschaftliche Fach-beiräte, die fachspezifische Optimierungen vorschlagen, und wirmachen jedes Detail, jede Methode transparent.

Dagmar Stahlberg:Vielen Dank! Lassen Sie mich ganz direkt fragen: Wer braucht eigentlichRankings?

Frank Ziegele: Hier kann ich nur für das CHE sprechen. Wir machen unser Ranking mitder klaren Zielsetzung, eine Entscheidungshilfe für Studierende zu bie-ten. Daher auch der Aufbau nach Studienfächern. Unsere Idee ist die,dem Studenten, der bereits eine ungefähre Idee davon hat, was er stu-dieren möchte, Entscheidungshilfe zu bieten. Er soll vergleichen kön-nen, was die verschiedenen Hochschulen in seinen Interessensgebietenvoneinander unterscheidet. Die Studenten finden hier bis zu 34 ver-schiedene Indikatoren. Das heißt, unser Ranking gibt Auskunft über dieHochschulen im Hinblick auf Bereiche, die für die Studenten besonderswichtig und relevant sind. Dazu befragen wir Studierende: Was war aus-schlaggebend für eure Entscheidung, welche Informationen warenbesonders wichtig? Worauf legt ihr Wert? Wie schon gesagt, es gibt keinRanking losgelöst von Zielen oder Zielgruppen. Unsere Zielgruppe sinddie Studierenden.

Dagmar Stahlberg: Sind Rankings eine Antwort auf Missstände?

Stefan Hornbostel:Nun, jedenfalls beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn ich höre,dass in der Vergangenheit doch alles so toll gewesen sei. Ob Reputationwirklich eine zuverlässige Währung ist, sei hier dahingestellt. Wennman genauer hinschaut, sieht die Welt doch etwas anders aus. DieseReputationszuweisung hatte und hat ja eine ausgesprochen unange-nehme Seite. Sie geht einher mit Vetternwirtschaft. Und die Geschichteder Universität ließe sich ohne Probleme als eine Geschichte der Uni-versitätskrisen schreiben. So rosig war das früher auch nicht.

Wenn es nun um die Frage nach Reputation oder meritokratischenZuweisungsprozessen geht, dann scheint es kein Zufall, dass der Robert

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Merton ausgerechnet Publikationen als wichtiges Medium im Kommu-nikationssystem der Wissenschaft entdeckte. Er selbst bezeichnete es alsWährung. Publikationen sind gewissermaßen Zahlungseinheiten, mitdenen sich Wissenschaftler gegenseitig symbolisch ihre Anerkennungzeigen. Ich würde daraus jedoch ganz andere Schlüsse ziehen: Evalua-tionen und Rankings sind Formen der Selbstbefragung dieses Systems,sie liefern einen Beitrag zur Rationalisierung inneruniversitärer Repu-tationszuweisungen. Sie sind ein Versuch, die informellen Zuschrei-bungsprozesse in der Wissenschaft zu steuern. Denn ganz offensichtlichist auch dort sehr viel schiefgelaufen und es wurden viele nach oben aufPositionen gespült – das kann man bei Bourdieu sehr schön nachlesen –,die dort eigentlich nicht hingehörten. Ratings und Rankings in der Wis-senschaft sind im Grunde Ausdruck des Bedürfnisses, diese Prozesse zurationalisieren, also stärker die meritokratische Seite zu betonen,danach zu fragen, was eigentlich an Leistungsprozessen dahintersteht.Und dafür ist in der Tat die Teilhabe an der wissenschaftlichen Kom-munikation ein ganz wesentliches Element.

Dass man nun verrückterweise – und da komme ich nun auf Ihr State-ment, Herr Kieser, zurück – Indikatoren wählt, die für völlig andereZwecke konstruiert worden sind, das ist in der Tat bedauerlich. Ichnenne hier als Beispiel den Impact Factor. Das ist ein Wert, der ursprüng-lich als Unterstützung für Bibliothekare gebastelt wurde, für Bibliothe-kare, die darüber entscheiden sollten, welche Zeitschriften eine Biblio-thek anschafft. Niemand – schon gar nicht die Bibliothekare oder dieBibliometriker – wären auf die Idee gekommen, mit dem Impact FactorPersonen oder Institutionen zu bewerten. Völliger Unsinn.

Dass man nun ausgerechnet diesen völlig skurrilen Einsatz einer biblio-metrischen Kennzahl nimmt, um die Bibliometrie zu kritisieren, halteich ehrlich gesagt für problematisch.

Nicht nur Rankings und Ratings produzieren die Realitäten, die sie zumessen vorgeben. Jede Berufungskommission, jedes Visitationskomi-tee, oder was immer sie nehmen wollen, konstruiert natürlich einesoziale Realität. Und die ist am Ende für das Handeln von Personen undInstitutionen genauso maßgeblich, wie das bei einem Ranking auchder Fall ist. Selbstverständlich, das ist grundsätzlich überhaupt keinanderer Modus. Und Tricksereien, Fälschungen und solche Dinge gibtes nicht erst, seit Rankings erfunden wurden. Die gibt es in jedem aufKonkurrenz ausgelegten System, nicht nur in der Wissenschaft. DasGleiche gilt für das Problem der Redundanz. Wissenschaft hat seitihrer Erfindung im Mittelalter immer auch hochredundante Diskurseproduziert – denken Sie nur an die Scholastik. Damit muss man sichabfinden.

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Statt also die Zustände in der Vergangenheit zu glorifizieren, schlage ichfolgendes Argument vor: Rankings, Evaluationen und eine Wissen-schaftssoziologie, die versucht, strukturelle Mechanismen offenzulegen,sind eine Antwort darauf, dass das System nicht so funktioniert, wie manes sich vorstellt. Hier geht es um einen Prozess, den man als eine Ratio-nalisierung der Selbstreflexion von Wissenschaft beschreiben kann.

Dagmar Stahlberg:Sie betonen also stark den aufklärerischen Aspekt von Rankings. DieFrage ist, warum andere Kollegen diesen aufklärerischen Beitrag nichtsehen?

Jürgen Kaube:Wenn ich mir das Soziologie-Rating des Wissenschaftsrates anschaue:Das war geradezu offensiv redundant, selbst für jemanden, der davonnicht viel versteht. Das hätte man blind vorhersagen können, was da her-auskam. Inklusive der hervorragenden Leistungen von Soziologen, dieseit zehn Jahren keine Soziologie mehr produziert haben, die Beckheißen und überragende Prominenz genießen und deshalb in einemsolchen Rating auch so beurteilt werden müssen. Daraus zu folgern, wirseien jetzt in einer rationalisierteren Welt angelangt, das ist kühn, dafürhätte ich gerne Belege. Man sollte nicht versuchen, Dinge zu optimieren– noch dazu mit zweitklassigen Techniken –, die gar nicht optimierbarsind.

Es wird immer so sein, dass jemand sagt: Dieser Lehrstuhl ging an denFalschen. Es wird immer so sein, dass jemand sagt: Dieses Journal, dashat einen tollen Ruf, aber eigentlich produzieren die doch seit Jahrendasselbe. Es wird immer Betrug geben. Die Frage ist nur: Führen wirTechniken ein, die uns erstens in der Illusion wiegen, jetzt seien wir dasProblem losgeworden, und die zweitens Seiteneffekte haben wie maß-loses Publizieren.

Ein Seiteneffekt von Rankings und Ratings ist zum Beispiel, dass dieLeute in diesen Kommissionen einfach nicht lesen. Stattdessen wird aufPlatznummern verwiesen. Das ist eine echte Auskunft, da stehen Dritt-mittel. Schauen Sie sich die Websiten von Wissenschaftlern an, das istIrrsinn. Die schreiben jede 25 US-Dollar, die sie eingenommen haben,auf ihre Website. Für wen ist das eine Information? Für niemanden. Die-ses System, das glaubt, dass beliebige Zahlen und irgendwelche Rech-nungen interpretierbar seien, halte ich für einen Scherz. Diese Zahlensind nicht interpretierbar. Welche dieser Zahlen bietet hier Entschei-dungshilfe?

Was die Studierenden angeht, ist das nochmal ein ganz anderes Thema.Ich habe gar nichts dagegen, wenn einzelne Hochschulbereiche oder

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Fachbereiche beschrieben werden. Mir ist nur nicht ganz klar, ob bei 34Indikatoren eine sinnvolle Entscheidungsbildung noch stattfindenkann. Und mir ist auch nicht ganz klar, ob damit wirklich Rationalisie-rungsschübe angestoßen werden. Wie passt das, was man hier anbietet,zu der Tatsache, dass 70 Prozent aller Studenten am Ort ihres Abitursstudieren?

Dagmar Stahlberg:Darf ich da vielleicht direkt nochmal nachfragen. Sie haben hier einSzenario aufgemacht, nach dem man früher Urteile aufgrund fundier-ter Lektüre gefällt habe. Heute dagegen vertraue man nur auf Zahlen.Darf ich hier ein ganz anderes Bild entgegenhalten: Früher haben Sie XYangerufen, nachgefragt, ob das ein toller Kerl sei, und dann den tollstengenommen. Ist hier das Vertrauen in die Zahl nicht doch ein Fortschritt?

Jürgen Kaube:Das hängt natürlich davon ab, wie der Typ war. Wir haben so eine ein-gebaute Präferenz für eine Zahl gegenüber persönlicher Autorität.

Alfred Kieser:Auch eine persönliche Geschichte: Als ich das Examen hatte und ans Pro-movieren dachte, kam nur ein Ort in Frage: die Carnegie Mellon Uni-versity (Pittsburgh, USA). Da war auch Herbert Simon, der hatte nochkeinen Nobelpreis, und Richard Cyert war auch nicht völlig unbekannt,von denen hatte ich etwas gelesen und dort wollte ich unbedingt hin.

Wenn es damals Rankings gegeben hätte, wäre ich vielleicht woandershingegangen, weil die da vielleicht gar nicht so gut abgeschnitten hät-ten und weil dieser Ansatz vielleicht gerade gar nicht so en vogue gewe-sen wäre. Die Identifizierungen mit einem Thema, dass man sich in eineMonografie verbeißt und das unbedingt weitermachen will, das wirdeigentlich unterbunden durch Rankings. Herr Ziegele sagt, Zahlen sindgut, wenn sie zu einer verantwortlichen Interpretation führen. Ichwürde sagen, Rankings vertreiben die verantwortliche Interpretation.Und da würde ich noch weitergehen – das CHE-Ranking für Studentenist ja recht anspruchsvoll –, einfache Rankings vertreiben die kompli-zierten, weil man sie einfach interpretieren kann und sich nicht so vieldamit beschäftigen muss.

Ich war in den achtziger Jahren in den Niederlanden und habe da an denbetriebswirtschaftlichen Fakultäten oder Teilbereichen evaluiert. Die hat-ten dort schon angefangen, Aufsätze mit Impact Factor aufzulisten, undbei dieser Gelegenheit habe ich erfahren, wie schwer es ist, dagegen zuargumentieren: Wenn man sagt, diese oder jene Zeitschrift hat zwareinen tollen Impact Factor, aber der Aufsatz, um den es geht, ist trotzdem

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nicht gut: Da haben Sie keine Chance. Das ist ganz schwierig gegen diesevermeintlichen Objektivitäten anzudiskutieren. Insofern meine ichschon, die Reputation kann sich auch ohne diese Hilfen herausbilden.Merton hätte das bestimmt nicht gut gefunden, was seine Schüler mitdem Impact Factor gemacht haben. Die Tricksereien, die waren schonimmer da. Aber diese Verschiebungen – Aufsätze werden variiert, Mono-grafien verschwinden, weil sie nicht belohnt werden – das ist kein Betrug,das sind Verwerfungen in der Forschungslandschaft, die gravierende Fol-gen haben.

Dagmar Stahlberg:Zurück zur Frage nach dem Vertrauen in die Objektivität. Herr Horn-bostel, an Sie eine provokative Frage: Könnte zum Beispiel das iFQ [Insti-tut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung, Anmerkung derRedaktion] bei seinen Evaluationen zu dem Ergebnis kommen, dass dieExzellenzinitiative Quatsch war?

Stefan Hornbostel:Warum nicht? Wir werden als „Hilfseinrichtung der Forschung“ von derDFG gefördert. Unsere Aufgabe ist die Bereitstellung von Informationenüber Ergebnisse und Erfolge deutscher Forschung, es geht um For-schungsmonitoring und Qualitätssicherung. Und darauf lege ich sehrviel Wert, dass wir in der Tat eine rechtliche Unabhängigkeit haben. Dasist so, wie wenn Sie von der DFG Drittmittel erhalten für ein For-schungsprojekt. Sie werden wahrscheinlich auch nicht bei der DFGnachfragen, soll ich das so oder so machen, oder welches Ergebnis wol-len sie haben.

Selbstverständlich ist das iFQ unabhängig. Sie sprechen aber durchauseinen wichtigen Punkt an. In dem ganzen Evaluationsbereich geht es jaauch um kommerzielle Faktoren. Und Evaluationen haben natürlichauch eine ausgesprochene legitimatorische Seite. Und da können sehrschnell Zwickmühlen entstehen. Darauf muss man also achten, dass datatsächlich die Unabhängigkeit gewahrt wird.

Um jetzt noch einmal zurück auf Ihre Frage nach der Objektivität zukommen: Es gibt hier keine Objektivität in so einem Sinne, dass sie eineirgendwie geartete Abbildung der Realität eins zu eins erreichen könn-ten. Das wäre naiv. Aber das erwarten wir ja auch in keinem anderenBereich. Wenn, dann geht es doch immer um methodisch kontrollierteAnnäherungen an einen Gegenstandsbereich. Es geht darum,bestimmte Daten eben nicht beliebig, sondern in methodisch abgesi-cherten Verfahren als Grundlage einer Bewertung zu sammeln. Dazugehören neben der Expertise von Gutachtern auch Strukturinformatio-nen, die man so ohne weiteres nicht generieren kann. Meines Erachtens

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sind Rankings, wenn es um Entscheidungen geht, nicht unbedingtwesentlich. Denn der Informationsgehalt von Rankings ist de facto fürProzesse innerhalb der Hochschulen und Einrichtungen oft nicht sehrhoch. Sie richten sich in der Tat eher an diejenigen, die im System Rich-tungsentscheidungen treffen müssen. Dazu muss immer schon die Rich-tung klar sein. Bestimmte Profile, die man sich gibt, bestimmte Publi-kationsstrategien, die man fahren will, oder sonst irgendwas. Was michwundert, ist die Naivität, mit der einem Ranking oder auch anderen qua-litativen Informationen sofort unterstellt wird, damit habe man nun dieRealität im Griff.

Ein Ranking darf in dem Sinne nicht als eine Abbildung der Realitätbetrachtet werden. Ein Ranking stellt Material zur Verfügung, das manin sinnvoller Weise nutzen sollte, um Einschätzungen und Urteile zukorrigieren. Nicht die Spitzenplätze interessieren, sondern es sind dievielen verschiedenen Puzzlestücke, die man heranziehen kann, um einUrteil zu fällen. Wichtig ist, dass diese Informationen auf methodischkontrollierte Art und Weise erhoben wurden, daher nachvollziehbarund natürlich auch kritisierbar sind.

Jürgen Kaube:Ich sehe eigentlich nur ein Problem: Die Verhältnisse an den Universitä-ten sind doch gar nicht so intransparent, wie Sie behaupten. Ein ganz nor-males Institut ist doch auch von seiner Größe her durchaus überschaubar.Die wissen doch, wo ihre Leute publizieren.

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Frank Ziegele:

Wir untersuchen derzeit, wie jene Universitäten, die in der Exzellenz-initiative besonders erfolgreich waren, von den Studenten in der Lehrebewertet werden. Nicht ganz uninteressant. Denn es gibt hier einigeKandidaten, die im Hinblick auf den Forschungsbezug der Lehre sehrviel schlechter wegkommen als viele Hochschulen, die nicht in derExzellenzinitiative sind.

Wenn mir ein Instrument ein solches Ergebnis liefert – wir sind zwar einetolle Hochschule und haben Millionen an Euro abgegriffen, aber die Stu-denten finden den Forschungsbezug der Lehre miserabel –, dann muss ichmir Gedanken machen, woran das liegen könnte. Wenn Studenten dieBibliothekssituation an einer Universität schlecht bewerten, dann kanneine Universität ein gutes Bibliotheksprogramm auflegen, verlängerteÖffnungszeiten, neue Anschaffungsprogramme etc. Das sind doch sehrevidente Möglichkeiten, um auf Rankingergebnisse zu reagieren.

Das liegt doch auf der Hand, dass es hier um den verantwortlichenUmgang mit jenen Informationen geht, die ein Ranking zur Verfügungstellt. Darauf hat Herr Hornbostel ja schon hingewiesen.

Und hier sagen die Kritiker – zum Teil sicher zu Recht –, in der Realitätgeschieht das aber nicht. Die Leute machen gar nichts mit der Informa-tion, sie halten das Ranking bereits für eine Entscheidung, ohne darausKonsequenzen zu ziehen. Natürlich kann man dann auf die Idee kom-men, das alles sein zu lassen und statt auf Zahlen lieber wieder auf Repu-tation zu setzen. Allerdings finde ich zuverlässig gemessene Werteimmer noch eine bessere Entscheidungsgrundlage als Reputation – vonder keiner wirklich weiß, wie sie eigentlich zustande kommt. Deswegenmachen wir weiter unsere sehr komplexen Rankings, in der Hoffnung,dass sie auf verantwortliche Art und Weise genutzt werden.

Alfred Kieser:Sie können das machen, aber das einfache Ranking setzt sich immergegen das komplexe durch.

Frank Ziegele:In Deutschland nicht.

Alfred Kieser:Doch, doch, doch. Ich bin auch in der Wissenschaft. Ich kann das schonbeurteilen. Es gibt Fakultäten, da muss der Dekan aufpassen, dass sichdie Position der Fakultät im Ranking nicht verschiebt, weil er einengenommen hat, der den Punktestand verschlechtert. Da muss er sichrechtfertigen. Auch die Universitätsleitung, für die ist das alles trans-

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parent, die versteht das alles. Sie kann sich in die Wissenschaft einmi-schen. Das macht diese Rankings so populär, aber auch so gefährlich.

Es ist auch kaum noch Gelegenheit – Herr Hornbostel, auch an Sie –, sichauf eine verantwortungsvolle Interpretation zu besinnen. Sie werdenhinweggefegt. Da gibt es Berichte von amerikanischen Deans, die sagen,ich habe gedacht, wir nehmen das nicht so ernst, das sind doch nurAnhaltspunkte. Und dann bin ich Dekan geworden, und plötzlich wardas eine ganz harte Realität für mich. Und ich habe gesehen, was füreinen Käfig so ein Zahlensystem errichten kann. Ich finde, man mussradikal damit aufhören.

Jürgen Kaube:Nun, die Informationzurverfügungsteller verantworten natürlich die-sen Käfig nicht. Und das Phänomen lässt sich ja nicht auf die Wissen-schaft beschränken. Man lebt überall in diesem Zahlenrausch. Wir wer-den ständig mit Mindestbedarf und anderen Sollwerten konfrontiert.Das versteht oft keiner (wissen Sie, was Ihnen fehlt, wenn Sie den Min-destbedarf an Vitamin C 12 verpassen?). Keiner weiß, was hinter den Zah-len steckt. Aber es prägt Kaufentscheidungen.

Und da könnte man auf die Idee kommen, von einem verantwortlichenUmgang mit Zahlen zu sprechen. Es geht also nicht nur um den ver-antwortungsbewussten Umgang mit Zahlen und den Ergebnissen vonRankings, es geht auch um ein verantwortungsbewusstes Zurverfü-gungstellen von Zahlen. Was ist die Aussagekraft eines Drittmittelför-derrankings? Mir erschließt sich das nicht. Außer, dass es schön ist,wenn jemand viel Geld hat – jedenfalls in manchen Disziplinen. Inanderen ist es total verheerend. Die geisteswissenschaftlichen Exzel-lenzcluster wissen ja gar nicht, wie sie das viele Geld ausgeben sollen.

Dagmar Stahlberg:Nutzen und Nachfrage nach der Information ist ein Feld. Ich möchtejetzt auf die Frage nach der Qualität der zur Verfügung gestellten Infor-mation zu sprechen kommen. Hier gibt es ja auch jede Menge Kritikdaran, was jeweils gemessen wird. Sie haben gerade das Drittmittelauf-kommen erwähnt, vorhin wurde die Zahl der Promotionen als For-schungsindikator angesprochen, die Seitenzahlen der Publikationenwerden gezählt und so weiter. All diese Dinge sind ja im Einzelfall kri-tisierbar. Wie würden Sie darauf reagieren, wenn solche Fragen imRaum stünden?

Stefan Hornbostel:Sie haben natürlich völlig recht, natürlich kann man Drittmittelran-kings nicht überall einsetzen. Es ist Unsinn, wenn man Juristen, die

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nicht empirisch arbeiten, über Drittmittelrankings bewertet. Trotzdemsteckt in diesen Drittmittelrankings im Kern natürlich eine ganz wesent-liche Information, die man durchaus nutzen kann, nämlich die Aner-kennung innerhalb des Faches. Daher werden ja DFG-Mittel auch in derRegel ganz besonders hoch bewertet, weil man davon ausgeht, dass hiervon der „scientific community“ kontrolliertes Geld verteilt wird. Dabeigeht es also nicht um die Euros, sondern es geht um die Tatsache, dassman erfolgreich seine Peers überzeugen konnte.

Jürgen Kaube:Aber selbst da, Herr Hornbostel, gilt doch der verantwortliche Umgangmit Information. Sie können auch diese Drittmittelinformation ganzverschieden interpretieren: Die einen sagen, ich bin akzeptiert, weil ichgut bin, meine Kollegen achten mich und bewilligen meine Drittmittel-anträge, weil sie meine Forschung schätzen. Und die anderen sehen dieSache genau andersrum. Ich werde nicht akzeptiert, weil ich gut bin.Meine Anträge werden deshalb nicht bewilligt, weil ich Forschungbetreibe, die eben nicht Mainstream ist und von der die Kollegen garkeine Ahnung haben.

Das heißt, Sie produzieren eine Information, die am Ende entweder garnicht oder beliebig interpretierbar ist. Ist das Drittmittelaufkommenhoch, weil ich Mainstream mache, wie Herr Kieser sagt?

Alfred Kieser: Und überhaupt: Der angenommene Zusammenhang zwischen Dritt-mitteleinwerbung und dem Output, der trifft nicht zu – es gibt keinenpositiven Zusammenhang.

Jürgen Kaube: Ja, das kommt noch dazu.

Stefan Hornbostel:Wenn das so wäre, dann würden sämtliche wissenschaftlichen Diszi-plinen sich in totaler Konfusion über jeden Standard befinden. Das istaber erkennbar nicht der Fall, und die Veränderung, etwa der Publika-tionsgepflogenheiten, finden doch nicht deshalb statt, weil es Rankingsgibt. Das liegt doch nicht an den Rankings.

Alfred Kieser:Doch, doch. Es gibt mittlerweile Wissenschaftler, die schreiben nichtmehr für die Community, sondern die schreiben für das Ranking.

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Stefan Hornbostel:

Aber Herr Kieser, die Einführung der wissenschaftlichen Zeitschriften, dieAbkehr von der Monografie in den Naturwissenschaften hat doch nichtstattgefunden, weil es Rankings gab. Rankings gab es damals noch nicht.

Alfred Kieser:Aber in der Soziologie schon oder in der BWL.

Stefan Hornbostel:Ja, das mag ja sein, da spielen sich andere Dinge ab, aber wir haben einehartnäckige Konsistenz der Monografie. Auch in den USA, wo der Druckviel schlimmer ist, haben Sie nach wie vor ein Drittel des Outputs in denGeisteswissenschaften und in den Sozialwissenschaften in Monogra-fien, und das ist akzeptiert.

Alfred Kieser:Und jetzt müssten Sie mal untersuchen, wie stark das zurückgegangenist.

Stefan Hornbostel:Es ist nicht so dramatisch. Natürlich gibt es eine Umorientierung, aberich wäre da vorsichtig. Disziplinen verändern sich nun einmal.

Jürgen Kaube:Selbst das ist doch keine Information. Das sehe ich vielleicht nochanders als Herr Kieser und würde sagen, selbst die Zahl der Monografienist doch keine Information. Schreiben die viele oder wenige Monogra-fien? Es kommt doch ganz darauf an, was die schreiben. Und wenn mansagt, es kommt darauf an, dann appelliert man ja an einen informier-ten Beobachter, der aber im Vorfeld der Versuchsanordnung gar nichtvorgesehen war. Denn dort stand von Anfang an jener Rezipient, der sichnicht gut auskennt, der die zur Verfügung gestellten Zahlen sieht undder die Entscheidung relativ schnell fällen muss. Denn sonst braucheich die Zahl ja gar nicht. Sonst würde er sagen, ich bin jetzt ein Spezia-list für die Ungleichheitsforschung in der Bildung. Das machen außermir in Deutschland noch 30 andere oder so. Die kenne ich alle und mitdenen telefoniere ich permanent oder rezipiere ihre Arbeiten. Wir lesenuns vielleicht sogar. Auch das gibt es, den Forscher der Forschung rezi-piert. Der braucht die Zahlen gar nicht. Der will auch gar nicht beein-drucken.

Beeindrucken müssen die nur dann, wenn es in Berufungskommissionenum Machtkämpfe geht. Und was dort am Ende übrig bleibt, sind Infor-mationen wie, „Das war doch Tabellenplatz 7, und der hatte doch dieseFantastillionen an Drittmitteln.“ Aber was sind das für bescheuerte Fra-

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gen? Die Höhe der Drittmittel? In 90 Prozent der Fächer gibt die doch kei-nerlei Auskunft über die Qualität der Forschung. Gut, wenn jemand Bat-terien oder so erforscht, ist das okay. Das ist ja teuer. Aber einen Soziolo-gen zu fragen, ob er Drittmittel beibringt, ist reine Rektoratslogik.

Dagmar Stahlberg:Man kann sich über jedes einzelne Kriterium, jeden einzelnen Indika-tor streiten.

Frank Ziegele:Darf ich gleich was dazu sagen? Mein erster Punkt an dieser Stelle: Wasich lustig finde, ist die Gespaltenheit Ihres Menschenbildes. Solange ichmich in dem strukturellen Kontext der Wissenschaft bewege, bin ichalso der, der den Idealen nachhängt. Sobald ich aber zum Rektorgewählt werde, hedoniere ich mich aufgrund der veränderten Struktu-ren zu einem mechanistischen Gebilde, das in mechanistischer Bezah-lung reagiert.

Jürgen Kaube:Das beruht auf empirischer Beobachtung. Das hat nichts mit dem Men-schen zu tun.

Frank Ziegele:Was aber aus meiner Sicht ein wichtiger Schlüssel ist, ist die Frage nachder Messbarkeit, um eine bessere Lösung zu finden. Ein ganz wichtigerAspekt ist die Fachbezogenheit des Ganzen. Schauen Sie sich Evaluatio-nen von Steuerungselementen an: Als positiver Aspekt wird meistens

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genannt, dass sie fachinterne Diskussionen über allgemeingültige Leis-tungskriterien in Gang setzten. Dann können sie sagen, in unsererFakultät, in unserem Fach, gemäß unserem Profil, wollen wir auf dieseGröße schauen. Die definiert kein Rektor von oben, sondern die defi-nieren wir selbst. Ich glaube, das ist etwas, was wir in diesem System zuwenig machen. Ein selbstkritischer Aspekt, den man hier heranziehensollte. Ich glaube, wir sollten mehr auf die Fachspezifika eingehen. Denndas hat einen positiven Effekt, das vermindert diesen Verdrängungsef-fekt von intrinsischer Motivation.

Hat die Leistungsmessung den Charakter der Kontrolle von außen, dannsinkt die Eigenmotivation. Wenn aber die Wissenschaftler das Gefühlhaben, sie sind selbst die Herren und Frauen des Verfahrens und kön-nen Leistungsgrößen nach ihrer Fachkultur definieren, können Eigen-motivation und externer Anreiz jedoch im Einklang stehen.

Alfred Kieser:Es ist so, dass das System ein Eigenleben entfaltet. Die Politiker setzendie Universitäten unter Druck, die Universitätsverwaltung setzt dieDekane unter Druck. Man kommt da ganz schlecht raus. Man sagt zuwei-len, ein System gegen Gauner produziert Gauner. So weit will ich in demZusammenhang nicht gehen. Aber ein System gegen faule Professorenproduziert zwar keine faulen Professoren, aber auch keine brillierendenProfessoren. Die schauen, wie sie in dem System abschneiden, nicht obsie irgendetwas Sinnvolles für die Wissenschaft produzieren. Ihr Bild ist,Entschuldigung, naiv, dass sich der Professor auf der universitärenEbene oder in einer Berufungskommission über diese Systeme hinweg-setzt. Das gibt es nicht.

Publikumsfrage:Sie haben jetzt vor allem über den Sinn von Rankings diskutiert. Michwürde interessieren, warum überhaupt Rankings gemacht werden. Esmuss ja irgendein Interesse geben. Ihr Interesse, Herr Kaube, kann es janicht sein. Vielleicht liegt es ja an Ihnen, dass die F.A.Z. kein Rankinghat. Aber wenn ich mir das Handelsblatt-Ranking anschaue, dann wirddoch klar, dass das nicht von der Forschung betrieben wird. Da mussman doch klar sagen, dass es um den Profit des Handelsblatts geht. Ran-kings dienen ja nicht nur dazu, irgendetwas zu objektivieren, sie sinddoch auch Mittel zum Zweck, zum Beispiel zum Zweck, die Verkaufs-zahlen einer Zeitung zu erhöhen.

Jürgen Kaube:Da muss man sicherlich unterscheiden. Natürlich haben Massenme-dien, zu denen ich auch uns, die F.A.Z. mit ihrer bescheidenen Abon-

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nentenzahl, rechnen würde, eine Präferenz für Tabellen. Sie findenTabellen für alle Lebenszusammenhänge. Und warum? Weil sich Tabel-len leicht ändern. Meine Formulierung ist immer: Die meisten Zahlensind ungleich. Ein Mathematiker würde mir zwar widersprechen, sozialstimmt das. Und das macht Tabellen für Zeitungen so interessant. Tabel-len simulieren Veränderung. Es tut sich ständig was. Das trifft ja auchim Fußball zu. Es lässt sich nicht wirklich erklären, was genau da dransein soll: Tabelle rauf, Tabelle runter. Was sind das eigentlich für Infor-mationen? Was bringt es mir zu wissen, dass Hoffenheim jetzt auf Platz9 und eben noch auf Platz 11 war? Aber für die meisten ist das interes-sant, die mögen Tabellen.

Dann nehmen sie die PISA-Studie, diese Faszination einer von 99,9 Pro-zent unverstandenen statistischen Untersuchung. Was ist wichtig? DerTabellenplatz! Daher bete ich immer, dass bei uns in der Geschäfts-führung sich niemand einfallen lässt, ein F.A.Z.-Hochschulranking zumachen. Denn dann weiß ich nicht mehr genau, wo ich meine Texte zudiesem Thema publizieren soll. Dann komme ich ja in ähnliche Kon-flikte wie Herr Hornbostel mit der DFG. Gelächter. Gut, ich sage, selbst-verständlich sind die Redaktionen autonom.

Die andere Frage: Wer macht diese Rankings. Warum kommen dieseZahlenberge auf? Die Standardantwort ist der Hinweis auf die Unüber-sichtlichkeit. Das ist ein Standardargument. Es heißt, wir leben in einerviel komplexeren Welt als noch grade eben. Wenn Sie sich unbeliebtmachen wollen, müssen Sie nur sagen, wir leben in einer genauso ein-fachen Welt wie früher.

Aber da ist man sich einig, dass alles so wahnsinnig komplex gewordenist. Ich sage, die Komplexität ist eine Begleiterscheinung des Wachstums.Da wird oft ein bisschen unterschlagen, dass das System schon vor demRanking auf das Wachstum reagiert hat, nämlich durch Spezialisie-rung. Niemand ist heutzutage noch Jurist oder Soziologe und behaup-tet, das ganze Gebiet beurteilen zu müssen. Eigentlich kennt man sichnur auf einem viel spezielleren Gebiet sehr gut aus. Als Spezialist für denspäten Hofmannsthal kann ich gar nicht mehr beurteilen, was die Leutemachen, die den frühen Hofmannsthal erforschen. Also brauche icheine Zahl.

Ich halte das für Schwindelei.

Dagmar Stahlberg:Aber die Frage war ja die nach der Instrumentalisierung dieser Ran-kings. Herr Kieser, Sie haben die These aufgestellt, dass Rankings jeneWirklichkeit erst schaffen, die sie zu messen vorgeben. Jetzt könnteman auch sagen, genau das ist auch so gewollt.

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Alfred Kieser:

Die Rankings, da sind wir uns ja alle einig, vereinfachen auf sträflicheWeise die Wissenschaftslandschaft.

Dagmar Stahlberg:Aber sie helfen bei Entscheidungen.

Alfred Kieser:Sie helfen Entscheidungen zu fällen, weil man gar nicht mehr lesenmuss, was die Forscher geschrieben haben. Man schaut das Ranking anund weiß sich auf der sicheren Seite, wenn man sagt, der Kandidat hatdie meisten Impact-Factor-Punkte. Den müssen wir nehmen. Da ist ganzschwer dagegen zu argumentieren. Also, diese Rankings befreien dieGutachter in Berufungskommissionen und in anderen Zusammenhän-gen von der Lektüre und der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen.Deswegen sind sie auch so beliebt, weil man das Denken ersetzen kanndurch das Zitieren von Rankings.

Publikumsfrage:Noch eine Nachfrage, jemand muss doch das Ranking machen. Und dermuss doch einen Grund dafür haben, dass er die macht.

Alfred Kieser:Ja, Rankings gibt es im Fußball und in der Popmusik und weiß der Teu-fel wo. Das ist natürlich ein Renner. Man muss schon Angst haben, dassdie F.A.Z. auch mit einem Ranking kommt. Hoffentlich nicht. Die Stu-denten kaufen das, die Professoren kaufen das.

Jürgen Kaube:Weil es unterhaltsam ist, würde ich sagen.

Alfred Kieser:Man kann sich, wie Herr Kaube richtig sagt, damit unterhalten, wie vielman sich verbessert hat, wie die eigene Universität abgesunken oder auf-gestiegen ist. Das ist eine spannende Lektüre. Wir haben alle unsere Zah-len im Kopf und die werden diskutiert. Die Pressestellen in den Univer-sitäten treten das noch breiter, als es schon ist. Das ist gefundenes Fres-sen. Keine Frage.

Publikumsfrage: Ich bin Student. Bevor ich studiert habe, was habe ich gemacht? Ich habemir natürlich die Rankings angeschaut. Habe alle Informationen ange-schaut, bin genommen worden und habe mich wahnsinnig gefreut, weilich gedacht habe, ich bin am richtigen Platz. Was ist passiert? Es ist

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natürlich nicht alles so rosig, wie es schien. Ich hätte manche Entschei-dung anders getroffen, hätte ich auch noch andere Informationengehabt. Daran schließt sich eben auch meine Frage an:

Woher wissen Sie, was Studenten wissen müssen?

Frank Ziegele:Das war an mich gerichtet! Ich gehe noch einmal einen Schritt zurück,bevor ich Ihre Frage beantworte, und komme noch mal auf die Fragenach der Motivation.

Ich kann Ihnen sagen, warum wir das machen. Das CHE ist eine ge-meinnützige Einrichtung und hat irgendwann einmal ein Leitbildgeschaffen, das die Idee hat, das Hochschulsystem in Deutschland zuverändern. Das kann man ja nachlesen. Ein wichtiger Teil dieses Leit-bildes ist die Idee des Wettbewerbs. Also für Studierende die Idee, dassman nicht automatisch dahin geht, wo Mutti wohnt und wo man zuHause bleiben kann, sondern dass man sich mal in der Republikumschaut und Informationen kriegt, wo auch etwas anderes passiert.Die Pension Mutti erhält Konkurrenz. Deswegen sind es heute nur noch70 Prozent, früher waren es 90 Prozent oder so, die sozusagen „von zuHause aus“ studieren.

Ein zweites wesentliches Ziel ist das der gesellschaftlichen Teilhabe.Viele Leute, die sich für das Studieren interessieren beziehungsweiseinteressieren sollten, haben eben keine Eltern, die danach fragen könn-ten, was eine Hochschule auszeichnet. Sie sind also nicht Teil diesesselbstreferentiellen Systems, in denen Akademiker sich selbst reprodu-zieren. Die Idee ist also, das Ganze zu öffnen. Das ist erst einmal die Ziel-setzung.

Sekundäre Zielsetzung ist natürlich auch, die Arbeitsplätze für meineMitarbeiter zu halten und das Ding nicht den Bach runtergehen zu las-sen, solange wir davon überzeugt sind, etwas Sinnvolles zu machen.

Alfred Kieser:Aber seine Frage war doch, woher Sie wissen, was einer, der studierenwill, wissen muss? Eigentlich hat er gesagt, hätte ich kein Rankinggehabt, hätte ich mich selber darum gekümmert und wäre damit viel-leicht besser rausgekommen.

Frank Ziegele:Wir versuchen auch, vielleicht sind wir da noch nicht perfekt, mit demganzen Ranking Handlungsanweisungen mitzugeben. Wenn Sie in dasHeft reingucken, finden Sie seitenweise Erläuterungen: Wie entscheideich mich für ein Studium? Und da steht auch drin: Guck nicht nur auf

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das Ranking! Sondern mach dies oder das. Vielleicht bin ich da auchnaiv, wie Herr Kieser schon meinte. Aber ich meine immer noch, manmuss es versuchen, den Informationsfluss in die richtige Richtung zulenken. Man kann nicht sagen, wir überlassen das alles sich selbst.

Stefan Hornbostel:Ich weiß ja nicht, wie Sie jetzt wissen, dass Sie sich falsch entschiedenhaben? Diese Information muss ja auch irgendwie generiert wordensein. Aber was die Interessen hinter den Machern von Ranking betrifft,kann man zweierlei Dinge sagen. Sie sind, das gilt seit dem ersten, 1989im Spiegel veröffentlichten Hochschulranking, stark verbunden mit US-amerikanischen Vorstellungen. Es geht darum, einer ganz bestimmtenGruppe im Marktgeschehen, den Studenten nämlich, eine Stimme zugeben.

Das war die erste Intention. Und das Medieninteresse ist relativ klar.Junge Akademiker sind nun mal eine wichtige Zielgruppe der Medien.Das hat etwas damit zu tun, dass man die Werbung loswerden muss. Esgeht nicht um das inhaltliche Interesse, das eine oder andere zu beein-flussen. Sie können bei allen Printmedien, und bei anderen auch, denVersuch erkennen, an die Zielgruppe Jungakademiker heranzukom-men. Die muss man irgendwie einfangen, und das Hochschulranking istein Weg, das zu tun. Der Spiegel hat das zweimal wiederholt, hat aberdann diese Art des Rankings wieder eingestellt. Vermutlich, weil sich dasdann schnell wieder abnutzt.

Dagmar Stahlberg:Ich würde die verbleibenden Wortmeldungen jetzt sammeln, die Zeitläuft uns davon. Und das Podium soll dann mit einem abschließendenStatement schließen.

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Publikumsfrage:

Die Welt braucht Orientierungswissen. Und die Frage ist, ob wir da wirk-lich ohne Zahlen auskommen können, oder sagen wir, ohne zumindestden Versuch, einigermaßen objektive Entscheidungsgrundlagen zu bie-ten. Kann sich die Wissenschaft die von Ihnen vorgeschlagene Alterna-tive der Reputation wirklich leisten? Ist es wirklich erstrebenswert, dieWissenschaft statt über Kennzahlen, über Päpste – egal ob die nun Luh-mann oder Beck heißen – steuern zu wollen?

Publikumsfrage:Die Ratingagenturen in der Finanzwelt sind ja ähnlich problematischwie die in der Wissenschaft, und auch da sieht man, dass es sehr schwerist, eine Entscheidung gegen einen Listenplatz durchzusetzen.

Publikumsfrage:Bietet nicht Google Scholar ohnehin jede Menge Informationen über dieLeistungen der Wissenschaftler? Man kann sich doch da ohnehin bedie-nen und da kann ja jeder seine eigenen Leistungen reinschreiben.

Abschlussstatements

Jürgen Kaube:Die Welt will uns suggerieren, dass wir das alles beurteilen können wieeine Maschine, wie – ich weiß nicht –, wie eine Pizza oder so, dass mansagt, okay, wie viele Kalorien ziehen wir uns jetzt rein. So ist das eben.Sie würden Ihre Freundin bestimmt nicht nach einem Ranking aussu-chen! Gelächter.

Stefan Hornbostel:Danke für den Hinweis auf die Ratingagenturen. Das passt in der Tat. Sowissenschaftlich, wie Sie es dargestellt haben, arbeiten die nicht. Undman weiß ja, dass fast alle großen Crashs und Finanzfälschungen vonden großen Agenturen übersehen wurden. Aber es brachte etwas ande-res, nämlich dass bei fast allen großen Akteuren, den Banken und Unter-nehmen etc., zunehmend eigene Kompetenzen aufgebaut worden sind.Das ist eine wichtige Folge.

Übertragen auf die Wissenschaftssituation bedeutet das, dass es nichtdarum geht, Ratings abzuschaffen, sondern darum, die Entwicklungvon Kompetenzen im Umgang mit komplexen Informationen zu för-dern.

Mein letzter Punkt bezieht sich auf den Hinweis auf Google Scholar. DieRankings sind überhaupt nicht das Problem! Auch nicht, was die Ver-

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haltenssteuerung betrifft. Die Internetseite Google Scholar liefert da einschönes Beispiel. Die Seite zeigt, dass sie Informationen von selbst ver-breitet und genutzt wird. Und was da verbreitet wird, wollen Sie garnicht wissen. Das ist ein Netz von handgestrickten Fakten und Informa-tionen, für deren Beurteilung es keinerlei Kriterien gibt. Da haben Siekeine Basis, das ist methodisch nicht mehr kontrollierbar. Da weiß kei-ner, wie die hier bereitgestellten Informationen zustande kommen, wasberechnet wird, wie es berechnet wird oder von wem. So entsteht einNutzerverhalten, das sich jeder Steuerung entzieht und über jedengeschulten Umgang erhaben ist.

Es gibt also offensichtlich einen Bedarf nach dieser Art Information undwir sollten nicht darauf verzichten, diesen Bedarf mit zuverlässigenDaten zu bedienen, durch Information, die auf nachvollziehbare,methodisch abgesicherte Art und Weise gewonnen wurde.

Frank Ziegele:Ich darf Ihnen zum Abschluss noch einen Einblick in den Alltag des „Ran-king-Produzenten“ geben. Wir haben ja verschiedene Formen der Auf-bereitung des Hochschul-Rankings. Wir haben die Listen mit den fünfPlätzen und wir haben die Liste mit den 34 Indikatoren. Was machen dieLeute im Internet? – Unterstützung der Kieser’schen These – die guckenalle nur die fünf Kriterien an und gehen nicht auf die 34. Wir verzeich-nen ganz wenige Zugriffszahlen in den differenzierenden Kategorien.

Was haben wir jetzt versucht? Wir haben lang überlegt, wie kriegen wirdie Leute dazu, differenziertere Daten abzufragen, weil wir glauben, dasist der richtige Punkt, wo man Rankings hintreiben muss: ein hohesAngebot an Information und komplexe Suchmechanismen für die Aus-wertung.

Seit dem letzten Ranking haben wir diese Grafik mit der Zielscheibe ein-gebaut – wo man die einzelnen 34 Kriterien anklicken kann. Je nach-dem, welche man anklickt, schießen die Hochschulen rein oder raus. Ichglaube, das ist didaktisch und methodisch ein wichtiges Instrument,weil wir die Leute darauf hinweisen, dass dieses Ranking ein relativesKonzept ist, je nachdem, was man auswählt. Das ist ein Anstoß, grafischillustriert, über die Kriterien nachzudenken, so wollen wir den Studen-ten auffordern, überleg dir mal, was du eigentlich wichtig findest. DieKunst ist die Aufbereitung der Geschichte, Entscheidungsprozessedurch handhabbare Werkzeuge zu unterstützten.

Ich bin mit Ihnen der Überzeugung, dass es einen großen Fehler in die-sem ganzen Geschäft gibt: das Reduzieren auf eine Kennzahl. SolcheRankings machen keinen Sinn. Ein Ranking kann nur mehrdimensio-nal arbeiten. Das ist eine Grundanforderung.

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Wo wir uns überraschenderweise mit Herrn Kaube einig wurden, dassman allein aufgrund einer Zahl gar nichts sagen kann. Zahlen sind inter-pretierbar, sie müssen interpretiert werden – da stimme ich zu. Ich ver-suche, in meinem naiven Glauben, dass man es hinkriegt, weiter an derOptimierung der Systeme zu arbeiten. Herr Kaube sagt, das gehe nicht.

Alfred Kieser:Ich glaube, es ist klargeworden, warum man Rankings so schätzt. Manschätzt sie, weil sie vereinfachen und legitimieren. Der Vorstand kannsagen, ich habe den Besten genommen, weil er von der Universität mitdem besten Ranking kommt, und so werden Entscheidungen schwerangreifbar. Das ist eine Funktion, die Rankings erfüllen. Aber sie erfül-len sie schlecht. Sie sind trügerisch. Sie geben eine Sicherheit, die eigent-lich keine ist.

Ich glaube auch nicht, dass man sagen kann, der intelligente Umgangmit Rankings wird besser und deswegen seien Rankings nicht mehrgefährlich.

Ich denke, man sollte aufhören, von unserer Seite aus die Hoffnung zuschüren, dass Rankings eine einfache, gleichwohl zutreffende Sicht,einen einfachen, gleichwohl zutreffenden Blick in die Universität undauf die Universitätspolitik gestatten.

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Abbildung 11: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Brodgelehrte

Abbildung 12: Kunstkreditkarte: Philosophische Köpfe

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„Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ Vertrauen in Leistungskennziffern und Ranglisten in derWissenschaft macht naiv1

Alfred Kieser

In seiner Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiertman Universalgeschichte?“, 1789 an der Universität Jena, unterschiedFriedrich Schiller zwei Typen von Gelehrten: den „Brodgelehrten“ undden „philosophischen Kopf“. Nur Letzterer forsche um der Erkenntniswillen. Richard Feynman, der amerikanische Physik-Nobelpreisträger,bringt die Motivation des Wissenschaftlers prosaischer auf den Punkt:„Science is like sex. Sure, it may give some practical results, but that’snot why we do it.“ Es ist vor allem die Tätigkeit und erst in zweiter Linieder Erfolg, die den Forscher motiviert. Denn Erfolg in der Forschung isthöchst unsicher. Die meisten Wissenschaftler machen nie sensationelleEntdeckungen, veröffentlichen nie Aufsätze in absoluten Spitzenzeit-schriften, schreiben nie Bücher, die Furore machen, und werden nichtzum Hauptvortrag bei internationalen Konferenzen geladen. Nurwenige heimsen Ruhm ein.

Wie aber wird Leistung in der Wissenschaft gemessen? Welche wissen-schaftliche Leistung ist höher einzustufen: die Entdeckung des Penicil-lins durch Alexander Fleming oder die These Max Webers vom Protes-tantismus als Beförderer des Kapitalismus? Diese Frage ist schlichtunsinnig. Ebenso unsinnig ist die, ob ein Aufsatz im „Journal of Marke-ting“ höher zu gewichten sei als ein Aufsatz im „Journal of Finance“.Selbst innerhalb eines Fachs erweisen sich Forschungsleistungen oft alsunvergleichbar. Diese Unmöglichkeit, sie in eine Rangfolge zu bringen,ist häufig die Ursache mühseligen Ringens in Berufungskommissionen.Subjektive Einschätzungen sind unvermeidlich.

Objektivierungsbemühungen

In solchen Situationen greift man gerne auf quantitative Kriterienzurück, indem man etwa darauf hinweist, dass der eine Kandidat eineumfangreichere Veröffentlichungsliste vorzuweisen hat als der andere.Häufig wird auch argumentiert, dass, wenn die Aufsätze der einen Kan-didatin mit dem wissenschaftlichen Rang der jeweiligen Zeitschriftengewichtet werden, sie klar höher einzustufen ist als die anderen Bewer-ber.

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Wenn der wissenschaftliche Rang einer Zeitschrift einfach behauptetwird, haftet einer solchen Argumentation jedoch immer noch eine sub-jektive Tönung an. Dieser Eindruck verschwindet jedoch aus der Dis-kussion, wenn alle Vertreter eines Fachs um eine Einschätzung derBedeutung der wissenschaftlichen Zeitschriften gebeten und diese Ein-schätzungen dann gemittelt werden. Das Kunststück einer noch weitergehenden „Objektivierung“ hat Eugene Garfield mit seinen Impact Fac-tor geschafft. Dieser Indikator zur Gewichtung des wissenschaftlichenEinflusses von Zeitschriften wird heute von Thomson Science, einerDivision der Agentur Reuters, für eine große Zahl ausgewählter Zeit-schriften verschiedener Disziplinen ermittelt und in einer Datenbankgegen Entgelt zur Verfügung gestellt: Wissenschaftsbewertung ist BigBusiness.

Unsinnige Vergleiche

Der Impact Factor beruht auf der Annahme, dass Wissenschaftler Werkeanderer Wissenschaftler vor allem deshalb zitieren, weil sie auf derenErgebnissen aufbauen. Eine Zeitschrift, deren Aufsätze häufiger zitiertwerden, würde dann einen höher zu bewertenden Beitrag zur Wissen-schaft leisten und könnte eine höhere Qualität beanspruchen als eineZeitschrift, auf deren Aufsätze Wissenschaftler weniger häufig zugrei-fen. Die Forschungsleistung eines Wissenschaftlers kann dann alsSumme seiner mit den jeweiligen Impact Factors gewichteten Veröf-fentlichungen erfasst werden. Auf dieser Basis kann man dann auch einRanking von Wissenschaftlern erstellen und die Position einer ganzenFakultät für ein Fakultäten-Ranking aus den Rangplätzen der in ihr täti-gen Wissenschaftler aggregieren. So geht das Handelsblatt bei derErmittlung des Rankings deutschsprachiger BWL-Professoren vor. Eswerden allerdings nicht nur die Impact Factors betriebswirtschaftlichrelevanter Zeitschriften des Social Science Citation Index (SSCI) und desScience Citation Index (SCI) berücksichtigt, sondern auch noch das Ran-king des Erasmus Research Institute of Management, Rotterdam, sowiedas über eine Befragung aller Mitglieder ermittelte Ranking des Ver-bands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, in dem deutschspra-chige Zeitschriften stärker berücksichtigt sind.

Die ersten beiden Plätze des Handelsblatt-Rankings für Betriebswirt-schaftslehre werden von zwei Professoren der Fakultät für Betriebs-wirtschaftslehre der Mannheimer Universität belegt. Das ist aus Sichteines Mannheimer Universitätsangehörigen sehr erfreulich, aber es istgleichwohl unsinnig. Dass beide in ihren Fächern international hoch-renommierte Wissenschaftler sind, kann einem jeder Insider versi-chern. Was die beiden jedoch forschen und was sie veröffentlichen, ist

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nicht vergleichbar und nicht in eine Rangfolge zu bringen. Der eineforscht zu Marketing, der andere zu Banken und Finanzierung. Die Fest-stellung, dass der eine Nummer eins und damit besser als die Nummerzwei ist, wäre so sinnvoll wie die, dass Tiger Woods im Vergleich mitRoger Federer der bessere Sportler ist.

Marktgerechte Forschung

Wenn aber Rankings von Wissenschaftlern unsinnig sind, dann auchauf ihnen aufbauende Rankings von Fakultäten und Universitäten. Trotzihrer Absurdität sind Rankings von Wissenschaftlern und Wissen-schaftsinstitutionen ungemein populär. Viele Berufungskommissionen,Dekane und Universitätspräsidenten richten ihre Entscheidungen nachihnen aus. Ihre Popularität gründet sich vor allem darauf, dass sie denProzess der Bewertung abkürzen. Man multipliziert einfach die Aufsätzeder Bewerber mit den zugehörigen Impact Factors und addiert die soermittelten Punkte. Dazu muss man nicht einmal ein Angehöriger desbetreffenden Fachs, ja nicht einmal Wissenschaftler sein. Wissen-schaftler sind darum gut beraten, eine Art von Forschung zu betreiben,die sich zu Aufsätzen verarbeiten lässt, die mit großer Wahrscheinlich-keit von hoch gerankten Zeitschriften zur Veröffentlichung angenom-men werden.

Wie das Top-Management eines diversifizierten Unternehmens weiß,welche Gewinnbeiträge die einzelnen Geschäftsbereiche bringen, wis-sen nun die Dekane und die Universitätsspitze, welche Fakultäten undInstitute „gut am Markt ankommende“ Forschung generieren, und rich-ten ihre Entscheidungen zur Mittelausstattung oder zu Stellenbeset-zungen danach aus. Die Strategie der ökonomisierten Universität zieltdarauf ab, in ein optimales „Portfolio der Forschungswertschöpfung“ zuinvestieren. Diese Strategie determiniert in einem hohen Maße dieArbeit der Wissenschaftler. Von ihnen wird erwartet zu forschen, wasihnen, ihrer Fakultät und ihrer Universität Ranking-Punkte bringt,nicht aber, was sie selbst als die Wissenschaft vorantreibende Projekteansehen.

Allerdings weisen Impact Factors einige empfindliche Begrenztheitenauf. 1. Es werden nur Veröffentlichungen in bestimmten Zeitschriftenberücksichtigt. Dies sind fast nur englischsprachige, vorwiegend ame-rikanische Zeitschriften. 2. Buchveröffentlichungen und Beiträge inSammelbänden werden nicht berücksichtigt. 3. Es werden auch nurZitierungen berücksichtigt, die innerhalb von zwei Jahren nach derPublikation erfolgen. Zeitschriften zu Spezialgebieten, die in der Regeleine geringere Zirkulation aufweisen, werden benachteiligt.

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Vor allem aber ist es mehr als fraglich, ob Zitierungen vorwiegend Aner-kennung für die Übernahme wichtiger Ergebnisse anderer Forscher indie Forschung der sie Zitierenden zum Ausdruck bringen. Ein Forscherzitiert einen anderen Forscher nicht nur, wenn er dessen Ergebnisseübernimmt, sondern auch, wenn er ihn kritisiert, sich seiner Schulezuordnet, sich von ihm abgrenzt, durch Belesenheit zu beeindruckenversucht. Gerne zitiert er diejenigen, die generell häufig zitiert werden,denn das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst zitiert wird.Erstaunlich ist nun, dass sich in Zeitschriften mit einem hohen ImpactFactor Aufsätze finden, die nicht oder kaum zitiert werden. Dies lässt fra-gen, ob das System der Begutachtung von Aufsätzen so funktioniert,dass tatsächlich die besten in die renommiertesten Journale kommen.

Fragwürdige Gutachterverfahren

Schon die für renommierte Zeitschriften typischen Ablehnungsquotenvon mehr als 90 Prozent der eingereichten Aufsätze lassen Zweifel auf-kommen. Ein Großteil der eingehenden Manuskripte wird nämlich vomHaupt- oder Mitherausgeber nach erster Durchsicht in einem „deskreject“-Verfahren“ abgelehnt. Man darf eine nicht geringe Irrtums-wahrscheinlichkeit dieser ersten, notgedrungen nicht ganz so gründli-chen Siebung annehmen. Zu einer ausführlichen Beurteilung der Auf-sätze, die diese Hürde nehmen, wählt der Herausgeber in der Regelzwei, mitunter auch drei oder vier Gutachter aus. Diese empfehlenAblehnung oder Annahme des Manuskripts. Die Übereinstimmung zwi-schen Gutachterurteilen zu eingereichten Zeitschriftenaufsätzen istextrem gering, was manche Autoren zu dem Schluss gelangen lässt, mankönne die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Manus-kripts auch dem Wurf eines Würfels anvertrauen.

Auch korrelieren, wie die Forschung belegt hat, Urteile von Gutachternüber die Qualität eines Manuskriptes nur schwach mit den späterenZitierungen. Folgerichtig stellte der amerikanische Supreme Courtunlängst fest, dass von dem Umstand, dass Peer Reviews durchgeführtwerden, nicht auf die Qualität der Inhalte wissenschaftlicher Zeit-schriften geschlossen werden könne. Besonders aufschlussreich ist eineStudie von Peters und Ceci. Sie wählten aus zwölf angesehenen psycho-logischen Zeitschriften je einen Artikel der letzten Jahre aus und änder-ten deren Autoren- und Institutionennamen vom Hochreputierten insNamenlose. Auch die Titel, Abstracts und Einleitungsabschnitte verän-derten sie. Dann reichten sie den sonst unveränderten Aufsatz bei dergleichen Zeitschrift ein, die ihn bereits publiziert hatte. Das Ergebnis:Nur drei der zwölf Manuskripte wurden als schon publiziert erkannt,und acht der neun übrigen wurden nun abgelehnt.

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In dem Experiment von Peters und Ceci hat sicher eine Rolle gespielt,dass die Autorenbezeichnungen ins „Namenlose“ geändert wurden.Die Autoren der echten Einreichungen waren ausnahmslos rechtbekannt. Bei in der Community bekannten Autoren aber geben sichdie Herausgeber Mühe, Gutachter zu finden, die die gleichen Ansätzeschätzen wie die Autoren, und sie entscheiden sich bei widersprüch-lichen Gutachten eher für eine Annahme. Neben einer Vorliebe fürbestimmte Theorien und Methoden haben Gutachter noch andere Vor-urteile. Sie sind vor allem konservativ, weil sie Karriere machen wol-len: vom Gutachter zum Mit- und Hauptherausgeber und zum Her-ausgeber noch bedeutenderer Zeitschriften, und deshalb meiden siedas Risiko, einen Aufsatz zur Annahme zu empfehlen, bei dem damitzu rechnen ist, dass er in der Scientific Community auf Ablehnungstößt. Man muss als Autor also nicht nur einen guten Aufsatz schrei-ben, man muss vor allem das Glück haben, dass der Herausgeber nichtnur einen, sondern zwei oder drei Gutachter auswählt, bei denen dereingereichte Aufsatz nicht Missgunst, Hochmut oder Dogmatismusweckt und die eine gewisse Sympathie für den gewählten theoreti-schen Ansatz haben. Nicht zuletzt wegen des äußerst schwachenZusammenhangs zwischen Gutachterurteilen und Zitierungen einesAufsatzes ist der Impact Factor ein schlechter Indikator der Qualität;um wie viel schlechter die Addition der mit ihm gewichteten Aufsätzeeines Autors.

Das Ranking als sich selbst erfüllende Prophezeiung

Das größte Problem von Rankingsystemen ist aber, dass sie das Ver-halten derjenigen, die von ihnen betroffen sind, beeinflussen. Im sehrpopulären Handelsblatt-Ranking für Betriebswirtschaftsprofessorensind die 200 erfolgreichsten Professoren aus deutschsprachigen Län-dern gelistet. Unter diesen finden sich keine Professoren, die ihre For-schungsergebnisse vorwiegend in Monografien veröffentlichen,mögen diese auch noch so einflussreich sein. Es werden nämlich auchim Handelsblatt-Ranking nur Zeitschriftenveröffentlichungen berück-sichtigt. Die Folge ist, dass Wissenschaftler weniger Monografienschreiben, was ich persönlich sehr bedauerlich finde, denn als Studenthabe ich vor allem aus Monografien gelernt. Für deutschsprachigeZeitschriften schreiben sie, weil das keine oder nur wenige Punktebringt, höchstens noch Zweitaufgüsse ihrer englischsprachigen Ver-öffentlichungen oder Zweitrangiges. Schlechter gerankte Wissen-schaftler oder Institutionen verlieren Ansehen bei Studierenden, Poli-tikern und Hochschuladministratoren. Sie erleiden Einbußen bei derRessourcenausstattung, ihre Rankingposition verschlechtert sich

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eventuell weiter. Rankings wirken dann wie sich selbst erfüllende Pro-phezeiungen.

Außerdem verleitet das System zu Tricksereien. Wissenschaftler zitierenetwa ihre eigenen Schriften noch häufiger als bisher. Auch zitieren siemit Vorliebe Aufsätze, die in Zeitschriften mit einem hohen Impact Fac-tor erschienen sind. Das verleiht ihren eigenen Aufsätzen Bedeutung.Zeitschriften mit einem hohen Impact Factor haben also nicht nur des-wegen ein hohes Prestige, weil sie häufig zitiert werden, sie werden auchhäufig zitiert, weil sie ein hohes Prestige aufweisen. Mit dem Verspre-chen, dass sie den Großteil der Arbeit übernehmen, veranlassen weni-ger berühmte Wissenschaftler berühmtere Kollegen zu gemeinsamenVeröffentlichungen. Das erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit derAnnahme des resultierenden Manuskripts zur Veröffentlichung – fürden Herausgeber sind die Autoren nicht anonym –, sondern auch spä-ter die des Zitiertwerdens. Wenn man früher einen Bewerber für eineProfessur fragte, was seine Forschungsinteressen seien, erhielt man Ant-worten der folgenden Art: „Mich interessiert, wie Arbeitsgruppen funk-tionieren“ oder „Ich erforsche, ob Anreize die Leistung erhöhen“. Heutesagt er: „Ich will in A-Journals veröffentlichen.“

Und er weiß auch, was er dazu tun muss: eine Thematik, eine Theorieund eine Methode wählen, die im Schwange sind. Mit anderen Wortenmacht er genau das, was sich in der jüngeren Vergangenheit bewährthat, halt ein bisschen anders. Am besten er wiederholt eine Untersu-chung mit einer etwas leistungsfähigeren Methode. Fortschritte in derMethodik sind leichter festzustellen als Fortschritte bei den Ergebnissen.Wenn nämlich Wissenschaftler wirklich neue Befunde mitteilen, ris-kieren sie, dass die Gutachter ihren Aufsatz nicht mit ihnen bekanntenErkenntnissen in Verbindung bringen können und ihn ablehnen. Wennes der Autor nicht schon von sich aus gründlich genug macht, dann sor-gen Gutachter und Herausgeber dafür, dass ein eingereichter Aufsatz zueinem Mainstream-Aufsatz wird. Um die Gutachter bloß nicht zu ver-graulen und keine negative Entscheidung zu provozieren, machen dieAutoren alles, was die Gutachter vorschlagen, auch wenn sie den Ein-druck haben, dass dadurch ihr Aufsatz eher schlechter als besser wird.Zu Recht spricht Bruno Frey daher von der „Prostitution der Veröffent-lichung“.

Wissenschaftler auf dem Trampelpfad

Und Wissenschaftler versuchen, aus ihren Forschungsprojekten so vieleAufsätze wie möglich zu pressen. Das geht so ähnlich wie bei den Kom-binationsbilderbüchern, bei denen man mit jeweils einigen Streifen

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verschiedener Hüte, Gesichter, Bäuche und Beine ganz viele lustige Figu-ren erzeugen kann. Mit dieser Methode bringt es ein BetriebswirtAnfang 30 auf 36 internationale Veröffentlichungen in drei Jahren. Her-ausgeber und Verlage tricksen ebenfalls: Sie drängen Autoren, mög-lichst viele Aufsätze zu zitieren, die in ihrer Zeitschrift erschienen sind:„We have noticed that you cite ,Leukemia‘ only once in 42 references.Consequently, we kindly ask you to add references of articles publishedin ,Leukemia‘ to your present article.“ Fakultäten und Universitätenbeteiligen sich an den Tricksereien. So drängen Dekane und Präsiden-ten Wissenschaftler ihrer Institutionen, in Zeitschriften zu veröffentli-chen, die populären Rankings wie dem der „Financial Times“ zugrundeliegen. Sie stellen gerne Bewerber ein – auch temporär als Gastwissen-schaftler –, die in „high impact“-Zeitschriften veröffentlichen und vieleZitierungen versprechen, um dadurch den Rangplatz ihrer Institutio-nen zu verbessern. So schaffen Rankings Wirklichkeit. Sie stellen nichtTransparenz auf einem bereits existierenden „Markt“ her, vielmehrgenerieren sie einen Pseudomarkt. Profilbildung nach Maßgabe derRankings heißt nicht, ein anderes Profil auszubilden als konkurrie-rende Fakultäten, sondern das gleiche Profil mit größerer Perfektionanzustreben: so zu werden wie erfolgreiche Konkurrenten, diese aber inihrem „Sosein“ noch zu übertreffen.

Akteure des Systems sind Herausgeber, Gutachter und Universitätslei-tungen, die alle danach streben, dass ihre Rankingpositionen sich ver-bessern. Und weil sie alle karriererelevante Entscheidungen fällen, wol-len die Wissenschaftler genau die Punkte erringen, die im System ange-rechnet werden. Sie gehen nicht mehr Forschungsfragen nach, die sieim Hinblick auf den Erkenntnisgewinn für wichtig erachten, sie sam-meln Punkte für Ranglisten. Sie begeben sich nicht mehr auf wissen-schaftliche Entdeckungsreisen, sondern folgen den in Rankings ausge-flaggten Trampelpfaden. „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodge-lehrten“.

Fußnoten1 Erstmals abgedruckt unter der Überschrift „Die Tonnenideologie der Forschung“, in

der F.A.Z. am 11.6.2010.

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Abbildung 13: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Monsterstuhl

Abbildung 14: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Schwanensee

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„Vertrauen Sie niemandem, der Ihnen erzählt,er wisse, wie sich die Kurse entwickeln“ Die Börse als Spiegel des wahren Lebens: Aktienkurse undAktienrenditen1

Markus Glaser und Martin Weber

In diesem Beitrag erwartet Sie eine Vielzahl von Beispielen und Erkenntnissen ausder Statistik, die belegen, dass die Kursverläufe und Renditen individueller Aktienebenso wie von Aktienindizes dem Zufall unterliegen. Außerdem werden psycholo-gische Konzepte vorgestellt, die erklären, warum wir Menschen die Zufälligkeit derBörse nur allzu ungern akzeptieren wollen.

Die Argumentation des Börsenjournalisten im Fernsehen ist einleuch-tend: Der Ölpreis hat im Laufe des Tages einen neuen, einmaligenHöhepunkt erreicht. Das scheint schlecht zu sein für deutsche Auto-aktien, die am gleichen Tag stark im Kurs gefallen sind. Die Erklärung:„Immer weniger Menschen leisten sich Autos, da Autofahren einfachzu teuer wird.“ Der Kursverlauf von Aktien scheint verblüffend einfachvorhersagbar. Oder etwa doch nicht? Was sagte nochmal ein andererWirtschaftsjournalist vor einigen Tagen, als der Ölpreis ebenfalls starkangestiegen war? „Davon profitieren insbesondere deutsche Auto-bauer, denn sie sind der Konkurrenz beim Bau des Drei-Liter-Autos weitvoraus. Dies erklärt die positive Kursentwicklung der deutschen Auto-aktien.“

Führt ein steigender Ölpreis nun zu steigenden oder fallenden Kursenbei den Aktien deutscher Automobilbauer? Vielleicht war eines derBeispiele nur ein Ausreißer! Vielleicht gilt ja der alte Spruch: „Aus-nahmen bestätigen die Regel“, werden Sie denken. Warten wir docheinfach den nächsten Tag ab. Wieder steigt der Ölpreis. Das nächsteabsolute Hoch. Wie verhalten sich die Kurse der Autoaktien? Ein Blickauf die Internetseite der Deutschen Börse AG zeigt es: Die Aktienkursevon BMW, DaimlerChrysler und VW sind am Morgen leicht gestiegenund haben dann über den Nachmittag fast exakt wieder ihr Aus-gangsniveau erreicht. Wie kann das sein? Der Ölpreis beeinflusst dochdie Autoaktien! Vertrauen wir doch einmal wieder auf die Erklärungdes Börsenexperten im Fernsehen. Der sagt: „Wieder ist der Ölpreisstark gestiegen, aber diesmal hat dies keinen Einfluss auf die Dax-Werte BMW, DaimlerChrysler und VW. Denn die hohen Ölpreise sindschon in den Kursen berücksichtigt. Sie wurden in den vergangenenWochen ‚eingepreist‘.“ Wie reagieren nun Autoaktien auf die Ölpreis-

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entwicklung? Steigen die Kurse oder fallen sie? Oder bleiben sie garrelativ unverändert?

Viele Anleger werden argumentieren, dass der Aktienkurs nicht in ersterLinie durch den Ölpreis bestimmt wird. Auch die Entwicklung derGesamtwirtschaft oder einzelner Industriezweige ist wichtig. Und auchdas Zinsniveau und die Kursentwicklung in den USA fallen ins Gewicht.Darüber hinaus muss man noch die Nachrichten über die Unternehmenberücksichtigen und technische Indikatoren wie den Trend der Aktieund die generelle Marktstimmung – dies jedenfalls suggerieren vieleAnlegermagazine. Aber wie sagt man die Zinsentwicklung vorher? Undwie kombiniert man diese verschiedenen Informationen, um die Aktien-kursentwicklung sicher vorausschätzen zu können?

Unser Beispiel zeigt, dass nicht nur der Zusammenhang zwischenÖlpreis und Aktienkursentwicklung unklar ist, sondern auch der Ein-fluss der verschiedensten anderen für die Kursentwicklung bedeuten-den Informationen. Es ist also sehr schwer, Aktienkurse sicher und prä-zise vorherzusagen. Versucht ein Börsenexperte im Abendprogramm,den Kurs eines Papieres im Tagesverlauf zu erklären, gelingt dies schoneher. Zumindest im Nachhinein lassen sich meist schlüssige Erklärun-gen konstruieren. Generell ist es daher wichtig, zwischen Prognose (Vor-hersage ex ante) und nachträglicher Erklärung (Erklärung ex post) zuunterscheiden. Eine plausible rückschauende Erklärung darf nicht zuder Meinung verleiten, dass auch eine Prognose der Zukunft möglich ist.Oft sind sogar noch nicht einmal die tatsächlichen, zeitlich zurücklie-genden Zusammenhänge eindeutig, wie das Zusammenspiel vonÖlpreis und Autoaktienkursen zeigt.

Da es nicht möglich ist, die Entwicklung einer Branche oder eines Indexan der Börse zu prognostizieren, stellt sich die Frage, ob man nichtzumindest den Kursverlauf einer Aktie vorhersagen kann? Es müsstedoch zumindest möglich sein, zum Beispiel die Aktie der Bayer AG sogenau zu analysieren, dass sich deren Perspektive sicher einschätzenlässt. Einzelne Geschäftsbereiche können detailliert untersucht, Ände-rungen in der Strategie verfolgt werden. Außerdem sind die Wettbe-werber sowie die Märkte der Bayer-Produkte sehr genau bekannt. Auchdie Qualität des Managements und insbesondere des Vorstandes kannbeurteilt werden. Viele Anleger glauben, dass eine solche Analyse einepräzise Vorhersage des Aktienkurses ermöglicht.

Doch all der Aufwand hätte im Falle der Bayer-Aktie im Jahr 2001 nichtsgenutzt. Für die Anleger völlig überraschend traten Probleme bei demCholesterinsenker Lipobay auf. Bayer musste dieses Medikament imHerbst 2001 vom Markt nehmen, nachdem es bei zahlreichen Patien-ten schwere Nebenwirkungen verursacht hatte. Die nachfolgende

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Klagewelle in den USA weckte zeitweilig die Befürchtung, Bayer könntevon existenzgefährdenden Schadenersatzforderungen bedroht werden.So berichtete die Börsen-Zeitung noch am 26. Februar 2003, über ein Jahr,nachdem das Mittel vom Markt genommen worden war, unter derÜberschrift „Bayer-Kursverfall ist nicht zu stoppen“: „Der Aktienkursdes Bayer-Konzerns hat gestern seine dramatische Talfahrt fortgesetzt.Die Notierung sackte im Tagesverlauf immer weiter ab und übertraf miteinem Minus von 14 Prozent auf 12,30 Euro bis zum Abend die Verlus-te vom Vortag noch deutlich. Das ist der tiefste Stand der Aktie seit überzehn Jahren. Grund sind weiterhin Befürchtungen der Anleger, Bayerkönne durch die Lipobay-Klagen in den USA massiv finanziell belastetwerden.“

Das ist bemerkenswert, da schon im Jahr 2002 gegen Bayer weltweitüber 1.000 Klagen wegen Lipobay anhängig waren. Ist das Bayer-Beispielnur ein Einzelfall? Sicherlich. Aber ähnliche Vorfälle sind bei jedemUnternehmen möglich. Der Phantasie sind dabei keine Grenzengesetzt. Nur eines ist sicher: Ereignisse, die den Kurs einer Aktie beein-flussen, können jederzeit und wie aus heiterem Himmel eintreten.(Solche Ereignisse, die zufällig sind und nicht präzise vorhergesagtwerden können, werden im Wissenschaftler-Deutsch als unsystema-tisch bezeichnet.) Damit kann sich jede einzelne Aktie anders ent-wickeln, als prognostiziert. Potentielle Schadenersatzklagen sollten dieAktienkurse laut Theorie und gesundem Menschenverstand negativbeeinflussen. Mit anderen Worten: Wenn wir solche Ereignisse vorher-sagen könnten – was uns aber nie gelingen wird, da wir keine Hellse-her sind –, wären wir auch in der Lage, die Aktienkurse zu einem gewis-sen Grad vorherzusagen.

Andererseits gibt es Beispiele dafür, dass sogar irrelevante Ereignissesowie nicht vorhersagbare Handelsentscheidungen anderer Akteure amAktienmarkt die Kurse beeinflussen. So zeigt eine Studie der US-Wis-senschaftler Gur Hubermann und Tomer Regev, die das Spekulations-verhalten von Investoren analysiert haben, wie eine „Nicht-Nachricht“einen Aktienkurs wesentlich beeinflussen kann: Am Sonntag, dem 3. Mai 1998, veröffentlichte die New York Times einen Artikel über einpotentielles neues Krebsmedikament der Firma EntreMed. Nachdemder Aktienkurs von EntreMed am Freitag zuvor mit 12 US-Dollargeschlossen hatte, schoss er am Montag bis auf 52 US-Dollar in die Höhe.Klar, werden Sie sagen, es sind ja wichtige und gute neue Nachrichtenaufgetaucht. Das Problem der Argumentation: Fünf Monate zuvor hattedie New York Times bereits von derselben Sache berichtet, allerdings ohnedass dies den Kurs wesentlich beeinflusst hätte. Die Meldung am 3. Mai1998 war somit keine Nachricht, sondern eine „Nicht-Nachricht“, dasheißt keine neue Information.

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Ein noch extremeres Beispiel liefert eine Studie des US-Finanzmarkt-forschers Michael Rashes über „verwirrte Investoren“ aus dem Jahr 2001.Von Ende 1996 bis Ende 1997 wurde über eine bevorstehende Über-nahme der MCI Communications, damals eines der größten Telekom-munikationsunternehmen weltweit, durch WorldCom spekuliert. DasTickersymbol für MCI Communications, also das Kürzel, mit dem dieFondsgesellschaften und andere institutionelle Investoren Aktien beimKauf und Verkauf bezeichnen, war zu diesem Zeitpunkt MCIC. Mit ähn-lichem Kürzel, nämlich MCI, wurde ein geschlossener Fonds namensMassmutual Corporate Investors ebenfalls an der Wall Street gehandelt.Der Fonds investierte in Unternehmensanleihen. Die beiden Wertpa-piere MCIC, die riskante Telekommunikationsaktie, und MCI, der Fonds,der in Unternehmensanleihen investiert, haben nichts miteinandergemeinsam – bis auf eine erstaunlich parallele Entwicklung der Wert-papierkurse. Bei wichtigen Nachrichten, welche die mögliche Über-nahme von MCIC durch WorldCom betrafen, wurde der Kurs des Anlei-hefonds MCI massiv beeinflusst. Offensichtlich führte eine zufälligeVerwechslung dazu, dass der Kurs des Anleihefonds wesentlich beein-flusst wurde! WorldCom kaufte MCI Communications erst 1998 und fir-mierte anschließend unter MCI WorldCom. Heute gehört MCI Commu-nications zu Verizon, einer der größten US-amerikanischen Telefonge-sellschaften.

Die präzise Prognose von Kursen einzelner Aktien ist ein sinnloses, nichtlohnenswertes Unterfangen, das zeigen die Beispiele. KursrelevanteEreignisse sind nicht vorherzusehen, denn wir wissen nicht, was mor-gen passiert. Selbst Ereignisse, die offensichtlich in keinerlei Verbin-dung mit einem Unternehmen stehen, können den Kurs der Aktie die-ses Unternehmens beeinflussen. Aber wie sollten Sie als Leser vorherse-hen können, wann und wie Anleger auf Nachrichten reagieren oderwann sie bestimmte Aktien miteinander verwechseln? Sie ahnen, dassauch dies unmöglich ist.

Noch abstruser erscheint die Idee, Kurse vorherzusagen, wenn oben-drein ins Kalkül gezogen wird, dass es plötzliche Ereignisse wie Terror-anschläge (wie am 11. September 2001 in den USA) oder Naturkatastro-phen gibt. Vom 11. September waren alle Aktien oder Aktienmärktenegativ betroffen. Ein solches Ereignis sowie der damit einhergehendeEinbruch der Kurse an Aktienmärkten sind nicht zu prognostizieren. (Inder Wissenschaft werden solche Risiken als systematisch klassifiziert.Gemeint ist damit, dass alle Aktien von diesen Risiken in mehr oderweniger gleichem Ausmaß betroffen sind.)

Die Beispiele geben Anlass zu der Vermutung, dass Aktienkurse nichtsicher vorhersagbar sind. Sie folgen vielmehr „einem individuellen

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Zufallspfad“, wie es die Finanzmarktforschung formuliert. Einen Beweisfür diese Behauptung erbringen die Beispiele allerdings nicht. Diesenliefert erst die Wissenschaft, die dazu statistische Eigenschaften vonFinanzmarktzeitreihen, also von Charts von Aktien oder Aktienindizes,untersucht.

Die Statistik zeigt:Aktienkurse und Aktienrenditen sind zufälligIm Folgenden werden wissenschaftliche Konzepte dargestellt, die hilf-reich sind, wenn Sie mit einschlägigen Medienberichten oder mit An-lageempfehlungen wie „Die Bayer Aktie steigt bis zum Jahresende auf 40Euro“ besser, das heißt informierter und kritischer, umgehen wollen. Zuden wissenschaftlichen Konzepten, die Anleger nutzen können, umobjektiver zu entscheiden, gehören

1. statistische Eigenschaften von Aktienzeitreihen,

2. die Markteffizienz und

3. die Rendite und Renditeverteilung.

Die Wissenschaftler entzaubern aber auch Praktikerkonzepte wie dieChartanalyse.

Die Analyse eines Kurscharts hilft nicht viel

Ob Kursentwicklungen nun zufällig sind oder nicht, lässt sich in einemersten Schritt durch einen Blick auf die drei Zeitreihen erahnen, die inAbbildung 1 dargestellt sind. Nur eine der drei Linien entspricht tatsäch-lich dem Dax von 1990 bis 1994, die beiden anderen sind schlechte Fak-similes, von Statistikern mittels Zufallsgeneratoren ausgewürfelt unddamit per Zufall bestimmt. Erkennen Sie mit bloßem Auge, welche Zeit-reihe „echt“ ist? (Die Auflösung finden Sie am Ende dieses Kapitels.) Ehr-licherweise werden Sie wohl mit „Nein“ antworten müssen, es sei denn,Sie haben ein phänomenales Gedächtnis und erinnern sich genau anden Kursverlauf des Dax von 1990 bis 1994. Oder Sie schummeln undlegen über unsere Grafik einen historischen Dax-Chart.

Da es offensichtlich schwer ist, mit bloßem Auge den „echten“ Kursver-lauf zu identifizieren, stellt sich nunmehr die Frage, ob nicht vielleichtdie Wissenschaft mit einem eindeutigen Ergebnis weiterhelfen könnte.Die Antwort lautet Nein. Auch komplizierte statistische Methodenführen zu keinem eindeutigen Resultat. Der Dax-Chart und das Ergeb-nis von Zufallsprozessen unterscheiden sich nicht, also müssen alle drei

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Charts auch auf ähnliche Weise erzeugt worden sein, so die Logik. Unddiese ähnliche Weise heißt: per Zufall. Der Grund dafür, dass auch eineindividuelle Aktienmarktzeitreihe auf diese Art und Weise zustandekommt, ist Ihnen bereits bekannt: Der Kursverlauf einer Aktie odereines Index folgt im Wesentlichen einem Zufallspfad, und diesemkommt auch die Wissenschaft nicht auf die Spur.

Informationen, die Kurse machen

Aktienkurse schwanken von Tag zu Tag, ja sogar von Minute zu Minute.Die Finanzmarkttheorie sagt, dass der Preis oder Kurs einer Aktie demheutigen Wert aller zukünftigen Erträge entsprechen sollte. Mit ande-ren Worten: Ein Aktionär sollte in der Zukunft genau den Wert derAktie, der dem Kaufpreis entspricht, in Form von Gewinnausschüttun-gen des Unternehmens sowie eventuell des Erlöses bei Liquidation derGesellschaft zurückerhalten. Da diese zukünftigen Erträge nicht sichervorhergesagt werden können, spiegeln sich im aktuellen Aktienkursimmer die zum aktuellen Zeitpunkt erwarteten Erträge wider.

Im optimalen Fall, den die Theorie „informationseffizienten Kapital-markt“ nennt, fließen in diese Erwartungen alle Informationen ein, diees aktuell zu einer Firma gibt. Dazu gehören, wie schon angedeutet, derÖlpreis, das Wirtschaftswachstum, Zinssätze, Wechselkurse, der Bran-chenausblick, aber auch die aktuelle politische Lage und geplante Geset-zesänderungen sowie Unternehmensnachrichten.

Die Finanzmarkttheorie systematisiert diese Informationsfülle in dreiKategorien. Die Informationsstufe eins ist simpel, sie umfasst die Kurs-verläufe in der Vergangenheit. Zu diesen hat jeder Zugang, sie sind füralle gleich und leicht nachzuvollziehen. Auf Stufe zwei wird es etwaskomplizierter: Die Anleger wissen deutlich besser Bescheid, bei ihrenEntscheidungen berücksichtigen sie nicht nur frühere Kursverläufe,sondern zusätzlich alle öffentlich zugänglichen Informationen wieUnternehmensbilanzen oder Zeitungsartikel. Informationsstufe dreisetzt in Gestalt von Insiderinformationen noch eins drauf. Zu den Insi-dern gehören vor allem die Vorstände von Unternehmen. Insider sind„Eingeweihte“. Beispielsweise sind die vom Vorstand geplanten Investi-tionsentscheidungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nur ihnen alsAngehörigen eines kleinen Kreises bekannt. Und in dem Moment, indem die Information an die Öffentlichkeit gelangt, verliert sie ihren Sta-tus als Insiderinformation.

Basierend auf diesen drei Definitionen, wurde der Begriff „Markteffi-zienz“ präziser definiert:

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Abbildung 1: Drei Zeitreihen

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1. Schwache Markteffizienz: Aus den Kursverläufen der Vergangenheit kannnicht auf Gegenwart und Zukunft geschlossen werden.

2. Mittelstarke Markteffizienz: Alle öffentlich zugänglichen Informationensind bereits im Kurs enthalten.

3. Starke Markteffizienz: Alle öffentlich zugänglichen Informationeninklusive Insiderinformationen sind bereits im Kurs enthalten.

Der Wirklichkeit am nächsten kommt die sogenannte mittelstarke Markt-effizienz, sie ist am plausibelsten. Denn es ist intuitiv einleuchtend, dassein Vorstand Entscheidungen treffen kann, die den Kurs in der Zukunftwesentlich beeinflussen werden, noch nicht aber zum Zeitpunkt der Ent-scheidung. Präziser muss es also heißen: In einem „effizienten Kapital-markt“ fließen in die Erwartungen über zukünftige Erträge alle öffentlichzugänglichen Informationen ein, die es aktuell zu einer Firma gibt, dieseInformationen sind mithin im aktuellen Kurs enthalten.

Aktienkurse ändern sich also nur, wenn neue, noch unbekannte Infor-mationen auftauchen und veröffentlicht werden, die Nachrichten vongestern hingegen sind in den Kursen schon enthalten. Darüber hinauskommt es vor, dass Kurse von irrelevanten Informationen beeinflusstwerden, wenn zum Beispiel, wie weiter oben beschrieben, eine Aktie miteiner anderen verwechselt wird. Solche Ereignisse oder „Nicht-Infor-mationen“ treten völlig unerwartet auf – und das heißt auch: völligzufällig. Die Folge ist, dass sich auch Aktienkurse völlig zufällig ent-wickeln. Zu betonen ist hierbei, dass nicht die Börse an sich für die Zufäl-ligkeit verantwortlich ist. Das Leben würfelt, nicht die Börse. Die Börseist nicht mehr als ein Spiegelbild des realen Lebens.

Die Zufälligkeit von Aktienrenditen

Bis jetzt haben wir lediglich die Kursverläufe von Aktien diskutiert. ImFolgenden schauen wir uns zur Bewertung des Anlageerfolges die Ent-wicklung der Gewinne mit Aktien an. Im Mittelpunkt stehen dabeiempirische Forschungsergebnisse zur Rendite, das ist die relative Kurs-veränderung eines Papiers.

Eine einfache Möglichkeit, über die Entwicklung einer Aktie nachzu-denken, besteht darin, sich die Renditeentwicklung wie folgt vorzustel-len: Die Rendite am morgigen Tag wird zufällig generiert, quasi „aus-gewürfelt“ oder wie ein Los gezogen, wobei extreme Renditeausschlägeeher selten vorkommen werden. Mit anderen Worten bedeutet dies,dass die Rendite einer Aktie an einem beliebigen Tag aus einer vorgege-benen „Verteilung“ stammt, aus der gezogen wird. Eine Verteilung gibtan, wie häufig bestimmte Ausprägungen einer Größe vorkommen. Bei-

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spielsweise entstammt auch die Körpergröße der deutschen Männereiner bestimmten Verteilung. Sammelt man die Körpergrößen allerdeutschen Männer, dann stellt sich wohl heraus, dass die meisten deut-schen Männer ungefähr 1,80 Meter groß sind. Männer, die kleiner als1,70 Meter oder größer als 1,90 Meter sind, sind seltener zu finden; Män-ner unter 1,50 Meter und über 2,10 Meter sind äußerst selten.

Mit der Verteilung der täglichen Dax-Renditen, die Abbildung 2 zeigt, istes ähnlich wie mit großen und kleinen Männern: Extremwerte sind sel-ten. Die empirische Verteilung der mehr als 4.500 täglichen Dax-Rendi-ten von Januar 1988 bis April 2006 hat die Eigenschaft, dass extremeRenditeausschläge, wie beispielsweise Renditen von +5 Prozent oder -5Prozent, seltener sind als tägliche Renditen von zum Beispiel +1 Prozent.Der Durchschnitt ist mit etwa 0,05 Prozent pro Tag leicht positiv. Auf-grund der langen Zeitreihe und der Konstanz dieser Daten in der Ver-gangenheit ist zu vermuten, dass die Renditeverteilung des Dax künftigähnlich aussehen wird. Abbildung 2 gibt nur einen Überblick über dieVerteilung der tatsächlichen vergangenen Eintagesrenditen des Daxund nicht über deren zeitliche Abfolge.

Es bleibt die Frage, ob eventuell die heutige Rendite eines Papiers etwasüber die Rendite von morgen aussagt. Steigt eine Aktie am nächsten Tageher, wenn sie auch heute steigt? Dieser Frage widmen wir uns im Fol-genden.

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Abbildung 2: Verteilung der täglichen Dax-Renditen, Januar 1988 bis April 2006

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Abbildung 3 zeigt die entsprechende Zeitreihe der täglichen Dax-Ren-diten von Januar 1988 bis April 2006. Aus ihr wird ersichtlich, ob aufpositive Renditen eher wieder positive Renditen folgen oder doch ehernegative. Die Zeitreihe ähnelt einer Kurszeitreihe, allerdings gibt sienicht das Kursniveau, sondern die Veränderungen (sprich Renditen) wie-der. Ein Blick auf die Zeitreihe vermittelt den Eindruck, dass die Abfolgeder Renditen völlig zufällig ist. Es sind keine Regelmäßigkeiten zu ent-decken. Eine Rendite heute lässt keine Schlüsse über die Rendite mor-gen zu. In den erfassten 18 Jahren sind etwa 2.450 Tagesrenditen positivund etwa 2.150 Tagesrenditen negativ. Dies bedeutet, dass der Dax ehergestiegen als gefallen ist. In etwa 1.300 Fällen folgt auf eine positive Ren-dite eine weitere positive Rendite. In 1.150 Fällen folgt dagegen einenegative Rendite. Der Umstand, dass es im Betrachtungszeitraum etwasmehr positive als negative Tagesrenditen gab, lässt den folgendenSchluss zu: Die nächste Rendite wird völlig zufällig, quasi per Münzwurfmit gleicher Wahrscheinlichkeit, aus dem Topf mit den 2.450 positivenTagesrenditen und dem Topf mit den 2.150 negativen Tagesrenditengezogen. Das Verhältnis von 2.450 zu 2.150 entspricht auch in etwa demvon 1.300 zu 1.150.

Wenn also Aktien hin und wieder einige positive Renditen in Folge auf-weisen und damit eine sogenannte Kursrallye hinlegen, so ist dies rei-ner Zufall. Die dargestellten empirischen Gesetzmäßigkeiten geltennicht nur für Aktien und andere Wertpapiere, sondern auch für die Ent-wicklung der Preise von Rohstoffen wie Gold oder Schweinebäuche.

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Abbildung 3: Zeitreihe der täglichen Dax-Renditen, Januar 1988 bis April 2006

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Wieso glauben wir trotzdem an Vorhersagbarkeit? Erkenntnisse aus der Psychologie

„Zu wissen, dass wir nur wissen, was wir wissen, und dass wir nicht wis-sen, was wir nicht wissen, das ist wahres Wissen“, bemerkte bereits Kon-fuzius. Weitverbreitet ist diese Erkenntnis allerdings nicht, wie zahl-reiche Untersuchungen von Psychologen nahelegen. Individuen schei-nen permanent zu überschätzen, was sie eigentlich wissen. Und auchim Vergleich mit anderen halten sie sich meistens für besser. „Wieschätzen Sie Ihr Fahrkönnen ein?“, fragte man Autofahrer. Rund 80 Pro-zent der Befragten wähnten sich unter den besten 30 Prozent. Im Rah-men von Entscheidungssituationen kann eine solche Überschätzungvon Kenntnissen oder Fähigkeiten dazu führen, dass wir Menschen voneiner zu hohen Erfolgswahrscheinlichkeit unserer Entscheidung aus-gehen.

Amerikanischen Unternehmensgründern wurde die Frage gestellt:„Wird Ihr Unternehmen in fünf Jahren noch existieren?“ 81 Prozent derBefragten glaubten, eine Überlebenschance von mindestens 70 Prozentzu haben. Tatsächlich aber liegt ihre Überlebenschance nur bei 25 Pro-zent, wie eine entsprechende empirische Studie belegt. Eine ähnlicheSelbstüberschätzung, was die Prognose ihrer Ergebnisse betrifft, findetsich bei Fondsmanagern und anderen Finanzmarktprofis. Dieses Phä-nomen der Selbstüberschätzung wird in der Psychologie als Overcon-fidence Bias bezeichnet.

Im Finanzmarktkontext führt der Overconfidence Bias dazu, dass vieleInvestoren bei ihren Aktienkursprognosen von einer zu engen Schwan-kungsbandbreite ausgehen. Wenn sie obendrein in maßloser Selbst-überschätzung auch noch glauben, die Zukunft ziemlich präzise vor-hersagen zu können, kommen objektiv falsche Anlageentscheidungenzustande. Wir haben gesehen, dass die Aktienkursverläufe von einerschier unbeherrschbaren Informationsfülle beeinflusst werden. Diemeisten Privatanleger glauben aber, dass sie in der Lage sind, diese Infor-mationen besser als andere Finanzmarktteilnehmer auszuwerten undfolglich diejenigen Aktien zu identifizieren, die sich in Zukunft ambesten entwickeln werden. Leider überschätzten sie sich an diesemPunkt. Profis haben bessere Karten. Wenn es darum geht, an gute Infor-mationen heranzukommen, sind sie Privatanlegern voraus. Obendreingibt es kursrelevante Ereignisse wie den 11. September, die von keinemMenschen prognostiziert werden können. Diese Ereignisse treffen Pro-fis und Private gleichermaßen.

Dass die Profis besser informiert sind, lässt sich nicht leugnen. So habendie Heerscharen von Aktienhändlern bei den Großbanken Zugang zu

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aktuellsten Datenbanken mit allen nur erdenklichen Informationen,dazu arbeiten sie mit Super-Computern, die diese Informationen aus-werten können. Obendrein werden sie von einer Armada von Aktien-analysten unterstützt, die auch kleine Nebenwerte intensiv analysieren,zum Teil mit Besuchen vor Ort, bei denen sie sich Fabrikhallen ansehenoder mit dem Management reden. Wenn Aktienkurse tatsächlich pro-gnostiziert werden könnten, dann wären dazu mit Sicherheit eher dieProfis in der Lage als die Kleinanleger, die mit Anlegermagazin undInternetanschluss laborieren. Ein Privatanleger ist der Finanzwelt, diemit einem Informationsvorsprung gesegnet ist, hoffnungslos unterle-gen. Glaubt er dies nicht, dann haben wir es mit einem weiteren Fall vonOverconfidence zu tun.

Aber wieso kommen Privatanleger auch dann nicht zu dieser Einsicht,wenn sie sich geraume Zeit mit Misserfolgen herumgeschlagen haben?Der Grund liegt in einem weiteren Phänomen, das die Psychologie denHindsight Bias nennt. Gemeint ist die Neigung vieler Menschen, das zuüberschätzen, was sie vor einem Ereignis darüber gewusst oder geahnthaben. „Das habe ich doch genau so kommen sehen!“, hört man allzuhäufig. Doch erinnert sich der Kandidat noch genau an das, was erdamals gedacht hat? Schauen Sie sich das folgende Beispiel an. Es zeigtden Kursverlauf der BASF-Aktie im Jahre 2001.

Deutlich zu sehen ist der Einbruch des Kurses nach den Terroranschlä-gen vom 11. September 2001. Etwa zehn Tage danach erreichten die deut-

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Abbildung 4: Chart der BASF-Aktie im Jahr 2001

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schen Aktien, auch die BASF-Aktie, ihren Jahrestiefststand. Bis zum Jah-resende jedoch erholten sich die Papiere wieder nahezu vollständig.

Haben Sie damals erwartet, dass deutsche Aktien so schnell wieder stei-gen? Haben Sie wirklich gedacht, dass die Terroranschläge nur einenderart kurzfristigen Effekt auf die Wirtschaftswelt haben werden? Oderandersherum gefragt: Haben Sie kurz nach dem 11. September 2001massiv Aktien gekauft? Oder fürchteten Sie nicht vielmehr – wie vieleandere Menschen auch – weitere Anschläge und Krieg? Das Beispielzeigt, dass wir im Nachhinein den Verlauf der Aktien nach dem 11. Sep-tember für gar nicht so unplausibel und überraschend halten. Aberkurz nach dem 11. September 2001 sah das noch anders aus – wir erin-nern uns nur nicht mehr richtig daran.

Der Hindsight Bias ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir aus derVergangenheit zu wenig lernen. Überspitzt formuliert könnte mansagen, dass wir noch nicht einmal die Notwendigkeit sehen, aus der Ver-gangenheit zu lernen, denn wir glauben ja, es ohnehin gewusst zuhaben. Dieses Phänomen paart sich mit der Tatsache, dass wir uns eheran vergangene Erfolge erinnern als an Misserfolge. Es ist intuitiv ein-leuchtend und durch zahlreiche Untersuchungen belegt, dass wirunsere Erfolge eher den eigenen Fähigkeiten als äußeren Einflüssenzuschreiben, während wir die Verantwortung für Misserfolge anderenFaktoren zuschieben. Dies dient der Aufrechterhaltung unseres Selbst-bewusstseins. Hinzu kommt, dass wir oft unsere Möglichkeiten über-schätzen, auf das Ergebnis einer Entscheidung Einfluss zu nehmen. DiePsychologen nennen diese Einstellung „Kontrollillusion“. Wie darausOverconfidence entstehen kann, zeigt das Beispiel eines Unternehmers,der ein neues Multimedia-Handy entwickelt hat und dieses nun amMarkt einführen will.

Ob aus der Produkteinführung ein Erfolg oder ein Flop wird, hängt zumeinen von den Fähigkeiten und dem Einsatz des Entrepreneurs ab, zumanderen aber von weiteren Faktoren, wie etwa dem Verhalten der Kon-kurrenz oder von Nachfrageschwankungen. Überschätzt nun der Unter-nehmer seinen Einfluss auf den Markterfolg, unterliegt er der Kontroll-illusion: Sein hoher Arbeitseinsatz bringt nicht so viel, wie er glaubt.Und gleichermaßen überschätzt er die Erfolgschancen der Produktein-führung.

Im Zeitablauf kann daraus zusätzlich Overconfidence entstehen. StellenSie sich vor, die Einführung des Handys würde zum Flop, der sich zumin-dest teilweise auf die mangelnden betriebswirtschaftlichen Kenntnissedes Unternehmers zurückführen lässt. Schreibt er diesen Misserfolg zu100 Prozent externen Faktoren zu, wird er zuversichtlich an sein nächs-tes Projekt gehen und dessen Erfolgschancen wieder überschätzen.

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Der gleiche Effekt wird sich einstellen, wenn der Unternehmer einenErfolg zu 100 Prozent seinen vermeintlich guten betriebswirtschaftli-chen Kenntnissen zuschreibt. Hat er ein paar Mal nacheinander Erfolggehabt, glaubt er, dass seine Kenntnisse viel weiter reichen, als diestatsächlich der Fall ist.

Wer die Ursachen für Erfolge oder Misserfolge nicht richtig erkennt,läuft Gefahr, dem Overconfidence Bias zu unterliegen. Besonders großdürfte diese Gefahr sein, wenn Menschen ein relativ ungenaues Feed-back dazu bekommen, ob der Erfolg einer Entscheidung nun eher aufihren eigenen Fähigkeiten oder aber eher auf externen Einflüssenberuht. Investitionen am Aktienmarkt spielen sich unter genau solchenBedingungen ab.

Betrachten wir wiederum ein Beispiel und nehmen wir einen Anleger,der weder Zeit noch Kosten gescheut und eine Unternehmensanalyseder Firma XY erstellt hat, weil er demnächst XY-Aktien kaufen will. Nunwird eine Nachricht veröffentlicht, die seine Recherchen bestätigt. Insolchen Situationen überschätzt der Mensch die Qualität seinerursprünglichen Einschätzung. Auch unser Investor fühlt sich sicherund kauft. Widersprechen dagegen die neuen Informationen seinerursprünglichen Einschätzung, so neigt der Mensch dazu, diese Mel-dungen zu ignorieren oder zumindest stark herunterzuspielen. Höchst-wahrscheinlich wird unser Anleger trotzdem kaufen.

Auch diese Verhaltensweise dient der Motivation sowie der Selbstbe-stätigung. Sie kann von einem Menschen aktiv verstärkt werden. Wiehäufig beobachtet wird, suchen Individuen nämlich eher nach Infor-mationen, die ihre ursprüngliche Meinung bestätigen, als nach solchen,die diese widerlegen. Die Überschätzung der eigenen Meinung ist dieFolge. Wer zum Beispiel einen Asien-Fonds hält, registriert jede schöneMeldung über Wachstumsmärkte. Die langweiligen Unternehmens-pleiten hingegen werden lieber ignoriert.

Eine weitere Ursache für Overconfidence ist die fehlerhafte Informati-onswahrnehmung und -verarbeitung. Beispielsweise neigen Menschendazu, eine erste Information oder Einschätzung als „Anker“ zu nehmen,dann aber die mögliche Variation dieses Ausgangswertes im Lichte wei-terer Informationen nicht genügend zu berücksichtigen.

Doch viel tiefer als der Overconfidence Bias und seine Ursachen liegtbeim Menschen die Abneigung gegen alles Zufällige verborgen; unddamit auch die Verdrängung der Tatsache, dass die Entwicklung vonAktien zufällig ist. Der banale Spruch „Die Zukunft ist unsicher“ bleibtzeitlos chic, aber niemand will ihn wahrhaben. Nehmen wir das Wettervon morgen. Wird es regnen oder nicht? Das können wir nicht wissen.

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Die Meteorologen behelfen sich mit Wahrscheinlichkeiten. Sie sagen:„Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es regnet, beträgt 10 Prozent.“ Wasnun? Wird es regnen oder nicht? Werden Sie einen Schirm mitnehmenoder nicht? Das hängt von Ihren Vorlieben ab.

Die Zukunft ist unsicher, das ist nicht zu ändern. Wir Menschen könnennur lernen, den Umgang mit der Unsicherheit zu beherrschen. Und diesgeht nur, wenn wir lernen, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Kom-men wir zu unserem Regenbeispiel zurück: Der Meteorologe macht esrichtig. Er wertet die aktuellen Wetterdaten anhand von Parametern wieLuftfeuchtigkeit, Luftdruck und Windrichtung aus. Aus der Analyse ver-gangener Daten weiß er, dass es bei der gegebenen Konstellation imDurchschnitt nur in einem von zehn Fällen am nächsten Tag zu Regen-fällen gekommen ist. Damit beträgt die aktuelle Regenwahrscheinlich-keit für den Folgetag 10 Prozent.

Empirische Untersuchungen belegen, dass Wetterexperten Regenwahr-scheinlichkeiten perfekt vorhersagen können – besser als Ärzte Hei-lungschancen von Patienten oder Aktienanalysten den Erfolg vonAktien. Bei einer Regenwahrscheinlichkeit von beispielsweise 70 Pro-zent regnet es tatsächlich in sieben von zehn Fällen.

Doch was heißt das für uns? Schirm, ja oder nein? Das hängt von unspersönlich ab. Selbst bei einer Regenwahrscheinlichkeit von nur 10 Pro-zent können wir nicht ausschließen, dass wir nass werden. Haben Siealso eine teure Frisur wie die amerikanische Politikerin und Ex-Präsi-dentengattin Hillary Clinton und darüber hinaus einen wichtigen Ter-min am Abend, dann sollten Sie den Schirm sicherheitshalber mitneh-men. Haben Sie eher eine Haarpracht wie der ehemalige Tennisspielerund Steffi-Graf-Gatte Andre Agassi und zudem keine Lust, einen Schirmmit sich herumzutragen, können Sie ihn zu Hause lassen. Und wenn esdoch regnen sollte, ist es auch kein Beinbruch.

Aktionäre gehen mit Ungewissheit und Wahrscheinlichkeiten nicht sounbefangen um. Am Aktienmarkt versuchen Menschen vielmehr, dieUnsicherheit zu verdrängen, oder glauben gar, sie zu beherrschen.Allein schon vor diesem Hintergrund haben Prognosen wie „Ich seheden Dax zum Jahresende bei 7.000 Punkten“ Konjunktur. Anleger ver-trauen solchen Prophezeiungen und treffen deshalb irrationale undsuboptimale Investmententscheidungen.

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FazitWir haben gesehen, dass die Kursverläufe von Aktien oder Aktienindi-zes einem Zufallspfad folgen. Aktienkurse werden durch Ereignissebeeinflusst, die nicht vorhersagbar sind. Teilweise werden sie sogardurch völlig irrelevante Begebenheiten bestimmt. Eine Folgerung ist,dass Kursverläufe kein Gedächtnis haben. Die früheren Renditen einerAktie sagen nichts darüber aus, ob das Papier morgen steigt oder fällt.Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Die Kursverläufe von Aktien und Ak-tienindizes sind nicht prognostizierbar.

Dies hat wesentliche Konsequenzen für den Erfolg der Chartanalyse, dieauf der Idee beruht, man könne den Kurs eines Wertpapiers durchgeschicktes grafisches Aufarbeiten vergangener Kursverläufe vorhersa-gen. Das aber ist logischerweise nicht möglich, denn wie soll ein Chart,der die Vergangenheit abbildet, zum Beispiel Informationen über Ter-roranschläge oder über Todesfälle im Zusammenhang mit Medikamen-ten antizipieren?

Es ist für Anleger wichtig zu wissen, dass dies vor allem für einzelneAktien gilt. Auf der Portfolioebene, also für eine Gruppe von hundertoder mehr Aktien, besteht doch eine minimale Möglichkeit der Vorher-sage. Dies liegt daran, dass sich die Wirkungen guter und schlechterNachrichten auf eine große Gruppe von Aktien untereinander aufhe-ben. Eine Aktie wird durch ein unvorhergesehenes Ereignis positivbeeinflusst, eine andere durch ein anderes negativ. Das aber gilt nur,solange wir systematische Risiken ausschließen. Oder umgekehrtgesprochen: Ein Terroranschlag oder eine Naturkatastrophe lassen oftden ganzen Markt abstürzen, da rettet auch die Diversifikation in meh-rere Papiere nicht.

Kaum minder verbreitet und genauso unsinnig wie die Chartanalysesind Punktprognosen oder Kursziele für Aktien. Solche Vorhersagenhaben sich allerdings – der Vernunft zum Trotz – bei vielen Bankern undAnalysten eingebürgert. Eine Prognose muss aber immer die Unsicher-heit über die zukünftige Kursentwicklung zum Ausdruck bringen. Bei-spielsweise kann dies geschehen durch die Angabe von Intervallen, indenen der Kurs mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem zukünftigenZeitpunkt landen wird. Ein mögliches Intervall ist die historischeSchwankungsbreite des Kurses. Beispielsweise lagen die täglichen Dax-Renditen in der Vergangenheit mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit,also in neun von zehn Fällen, ungefähr zwischen -2 Prozent und +2 Pro-zent. Liegt der Dax also heute bei 5.000 Punkten, so müssten wir ein ver-nünftiges Intervall, in dem der Dax morgen mit 90 Prozent Wahr-scheinlichkeit stehen wird, mit 4.900 bis 5.100 Punkten angeben. Wohl-gemerkt: Dies ist die Intervallprognose für den Dax mit einem Zeitho-

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rizont von nur einem Tag! Ein entsprechendes Intervall für den Dax ineiner Woche würde deutlich breiter ausfallen. Wer glaubt, den Dax prä-ziser vorhersagen zu können, überschätzt sich. Bedenken Sie stets, dassam Aktienmarkt nur ein Denken in Schwankungsbreiten sinnvoll ist.Führen Sie sich stets vor Augen, dass eine Aktie unerwartet fallen odersteigen kann, was sich durch ein ausreichend breites Intervall der Kur-sprognose ausdrücken lässt.

Auflösung zu Abbildung 1: Die letzte der drei Zeitreihen zeigt den Dax, die beidenanderen wurden per Zufall generiert.

Fußnoten1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um das zweite Kapitel in dem Buch von Martin

Weber, Genial einfach investieren. Mehr müssen Sie nicht wissen – das aber unbedingt!Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York, 2007, S. 26–44. Wiederabdruck mit freundli-cher Genehmigung des Autors und des Campus Verlags.

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Abbildung 15: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Trust I

Abbildung 16: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Trust II

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Trust: A Concept Too Many*

Timothy W. Guinnane

… I maintain that trust is irrelevant to commercial exchange and that reference totrust in this connection promotes confusion.

Oliver Williamson1

„Trust“ now forms a central part of the research program in many socialscience, history, and related disciplines. Foundations have programs ontrust, scholars meet for conferences on trust, and efforts to build trustnow feature as part of policy proposals in rich and poor countries alike.Analytically, trust is closely related to the concept of social capital, andthe two ideas play similar political roles. In some policy circles trust isviewed as a sort of magic bullet: governments can allegedly amelioratesocial problems with little or no money if they can foster the develop-ment of trust.

Some scholars have cast a more critical eye on this enterprise. SheilaghOgilvie (2004a) argues that early-modern guilds used social capital toenhance the well-being of their members at the expense of a vulnerable

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Abstract

Research on „trust“ now forms a prominent part of the researchagenda in history and the social sciences. Although this research hasgenerated useful insights, the idea of trust has been used so widely andloosely that it risks creating more confusion than clarity. This essayargues that to the extent that scholars have a clear idea of what trustactually means, the concept is, at least for economic questions,superfluous: the useful parts of the idea of trust are implicit in oldernotions of information and the ability to impose sanctions. I trust youin a transaction because of what I know about you, and because of whatI can have done to you should you cheat me. This observation does notobviate what many scholars intend, which is to embed economic actionwithin a framework that recognizes informal institutions and socialties. I illustrate the argument using three examples drawn from an areawhere trust has been seen as critical: credit for poor people.

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group of outsiders: women. Ogilvie (2004b) argues that the trustembodied in guilds impeded the development of institutions that mighthave benefited all. Others have pursued a line of critique that doubts theefficacy of concepts such as trust and social capital. In this essay I argueWilliamson’s point: whatever its usefulness in other contexts, „trust“adds nothing to the analysis of commercial or more broadly economicproblems. At best, talking about trust requires the introduction of newand redundant terminology; at worst it impedes understanding byreplacing a clearly worked-out body of theory with something else.Orthodox economics, according to Williamson, already contains thenotions implied by trust. This is not to say those notions are perfect oradequate, it is just to claim that the use of the term trust in commercialcontexts is a best unnecessary re-labeling and at worst the willfulintroduction of confusion.

Many approving discussions of trust use empirical materials, but thusfar most doubting discussions focus on conceptual issues, relying onempirical examples mostly to illustrate a point. Here I use a concrete setof empirical situations to argue my point that trust adds nothing thatis both useful and new. I use the example of credit for poor people in the19th and early 20th centuries in three circumstances: Germany, Ireland,and the United States. Credit institutions and credit problems havefigured heavily in many discussions of social capital and trust. This isonly natural. Most clear-headed discussions of trust stress that theconcept only makes sense when one party risks something (eg, Gam-betta pp.218-219). I lend you money today, and I hope that you will repayin the future. The very words used to describe lending imply trust. TheLatin root of „credit“, credere, means, among other things, to trust, whilethe German Gläubiger is literally one who trusts. Many transactions takeplace as X for Y, almost simultaneously. The seller receives payment inone hand while giving over the goods with the other. Credit, by itsnature, cannot take place this way. The creditor gives over funds today,and in so doing places himself at risk that the funds will not come back.

The first section below briefly reviews some conceptions of trust. Thisdiscussion cannot exhaust the voluminous literature. The aim is to focusthe discussion and provide some frames of reference for comparing„trust“ as it is used in the (primarily sociology) literature. We then turnto a discussion of credit for poor people in general, why it has beenviewed as an important social problem, and why this type of credit ismore problematic than credit for, say, publicly-traded firms. I thenconsider three examples of institutional approaches to the problem.One of them is Germany’s very successful credit cooperatives, first for-med in the mid 19th century. The second is the unsuccessful attempt totransplant those credit cooperatives to Ireland at the end of the 19th

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century. The third example is the United States in the same period,where similar institutions were weak, and leading reform organizationspromoted an entirely different approach to the problem.

Credit for poor people forms an especially useful example because of thetie to modern micro-lending institutions, enterprises that use novelapproaches to lend to poor people in developing countries (and lessoften, in wealthy countries). Scholars disagree over the extent to whichthese institutions work, and if so, why. The connections to the Germancredit cooperatives are indirect but clear, and the role of trust and socialcapital in small-scale credit permeates the scholarly literature.2

Conceptions of trust

Our aim here is to focus the notion of trust enough to show that it is, forour purposes, fully achieved with ideas already current in economicsand other social-science disciplines.3 We can usefully lean on Hardin’svery clear discussions. Hardin notes that „encapsulated interest“accounts of trust, which include Williamson’s, are fundamentallydifferent from discussions of trust in two other situations. First, trust isnot an interesting concept in situations where the person I trust viewsmy welfare as important to her own. (that is, where my utility is a highly-weighted argument in her utility function). In such situations treatingher well cannot be distinguished from treating myself well. Second,some individuals always do the right thing because in their mind notdoing so risks the wrath of God. Again, if this is the case then theindividual behaves honorably simply out of fear for his own future, bethat earthly or in the afterlife.

Trust implies a three-part relationship involving at least two actors andone act: I trust specific individuals or specific institutions to do specificthings. I might trust my friend with $100 but not $1.000; there are otherpeople I would trust with more, and some I would not trust withanything. A claim that I would trust any individual with everythingborders on absurd, as does the claim that I would trust everyone withany one thing. An assumption to this effect underlies much of theempirical work done in this area, however, and renders meaninglesssome of the claims about patterns of trust today. Mackey (2001), forexample, makes much of the responses to the following Eurobarometerquestion: „I would like to ask you a question about how much trust youhave in people from various countries. Please tell me whether you havea lot of trust, some trust, not very much trust, or no trust at all.“ Nostatistical analysis of this question can produce a useful result. Are theFrench being asked whether they trust the Germans not to invade, or to

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be polite on the Autobahn? Which German are the French being askedto trust – Joschka Fischer, or some composite football lout?4 Much of theliterature on trust that talks about declining trust in institutions missesthis simple point. Consider the idea of trust in government. I trust mygovernment with my tax money but not my son’s life, both because Icare less about my money than about my son, and because theinstitutions that prevent government corruption appear to function bet-ter than those that prevent my government from starting wars. Askingsomeone whether she „trusts the government“ can only elicit ameaningless answer.

Many discussions of trust confuse or conflate trust with trustworthiness.There is an important analytic difference. In our context what we reallywant to know is not whether the lender is a trusting person, but whetherthe borrower can be counted upon to repay. Most of what observers callproblems of trust are actually problems in the trustworthiness ofspecific actors. Not trusting someone who is untrustworthy is not patho-logical, it is simply rational. Hardin gives the illuminating example ofthe medical professional. Many discussions presume that decliningtrust in doctors reflects some general and pernicious process in thesociety at large. Perhaps this is so. But perhaps doctors have simplybecome less trustworthy, or, more likely, they were never so trustworthybut now we know more about them.

Trust as a moral or psychological problem

Most of the accounts of trust to which I object share the feature oftreating trust as a moral or psychological issue, and the lack of trust asa moral or psychological failing.5 This essay should not be read to denyany moral or psychological component to the issue, or to issues closely-related to the commercial sense of „trust.“ But we must avoid erring onthe side of locating what is essentially an institutional failure within theheads of actors whose own views may well be irrelevant. Muldrew(1988)’s discussion of commercial transactions in early-modern Englandmakes a powerful argument that the framing notions of commercialtrust grew out of a more strictly moral vocabulary. His closely-reasonedand deeply-research work has few counterparts, unfortunately. Most5

empirical studies fail to distinguish between the lack of trust as aproblem of what goes on inside people’s heads and a problem concernedwith the institutional context within which one acts. Modern creditinstitutions lend millions of dollars to entities whose moral qualities areto them opaque; the lenders count on an institutional structure ofinformation-gathering and legal enforcement to make even „immoral“borrowers repay.

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A simple example illustrates how empty the „trust as sentiment“approach can be. Consider a large financial institution in the UnitedStates that can lend domestically or to firms in several differentcountries. We might observe that it simultaneously lends in situationswhere one might think trust was very high (eg, Germany) and very low(eg, Russia). Presumably the Russian loans have higher interest rates andmight be structured differently. But the key issue is that the bank doesnot care about Russian personalities or whether Russia is a „high-trust“society. The bank cares only that the loans can be structured and securedin such a fashion that it is likely to get its money back. The bank, thatis, cares only about the specifics of institutions related to commercialloans. The sort of question Mackie (1991) analyzes might show thatAmerican banks are simultaneously lending in countries Americansfind trustworthy and in countries whose people Americans trust verylittle.

Trust as information and sanctions

Suppose you and I have entered into a joint venture. We each made non-reversible investments in the project, and before it can pay off, we eachhave to make more investments. Along the way each of us has chancesto act opportunistically („fink“) with respect to our venture.Opportunistic behavior here means that we take some action that is inour private interest but harms the eventual value of the venture. If oneor both of us takes too many opportunistic actions, the venture will fail,and be worth nothing. As I have described it, trust is clearly central tothe success of this venture.

Yet I entered into this arrangement, which suggests I thought you woulduphold your end. Why? Because I thought you would find it better,according to your own interest, to act honorably rather than oppor-tunistically. This is adherence to Williamson’s dictum: psychologicaland cultural claims may not be irrelevant to commercial transactions,but rarely are they specific enough to tell us the answer to question ofinterest in our context. Invoking them at the outset tends to crowd outmore useful lines of thought.

Two simple notions get us very far: information and sanctions. How hardis it to learn that my partner did in fact fink on me? That is, how can Ibe sure we experienced a bad outcome because of his conduct, and notbecause of the weather or some other force beyond his control?6

Information is also related to sanctions. How can I punish you if youfink, which is to say deter you from finking in the first place? Is there alegal system capable of detecting and punishing bad conduct? Can I go

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to some less formal authority – perhaps a village elder, or the leader ofa kin group – and threaten a larger group for the conduct of its singlemember? This is one way to understand Ben-Porath (1980)’s observationsabout the importance of family connections in commerce, even in quitedeveloped societies. Family members have multiple channels throughwhich to collect information about one another, and can sanction eachother effectively and cheaply in ways that might not affect the businessconnections directly, but which would be useful nonetheless. Perhapsmy business partner does not care if I think badly of him, but does careif others think badly. That is, the most useful sanction might not besomething I impose directly, or cause to be imposed directly (such as acourt order), but my ability to damage his ability to carry on othercommercial relationships that he values.

Now take a step back. Both my partner and I know the situation in whichwe operate. That is, we both know the conditions under which our venturewill succeed or fail, and we both know the institutional context in whichwe operate. We know what the court system is, whether there are non-legal forms of sanctions, the state of the information environment, etc. Iknow (and he knows that I know …) what I can do if he finks. The fact thatwe have entered into such an agreement shows that we both think it willwork. This understanding might just reflect the general environment. Butit might reflect specific features that we have written into our agreementto make finking unattractive. If I find the potential punishments insuffi-cient to deter my partner’s bad conduct, for example, I might demand inadvance, as a condition of setting up the deal, additional guarantees. Thatis, I might ask him, as a condition of our venture, to increase the penaltieshe has to pay to me if he finks. I might not really want the penalties. I justwant him to have the right incentives to act honorably. I might ask him,for example, to post a cash bond that he forfeits in case of bad behavior.This has the effect of raising the cost of bad behavior.

Note that this analytical approach can also account for the role ofreputation. Suppose I ask my partner to pledge a bond of $100.000 whenthe most he can gain from finking on me is $25.000. He has little reasonto fink; forfeiting the bond costs him more than he can gain, in myexample. Now forget the bond, but assume we live in a situation whereI can easily communicate his dishonesty to many or all potential futurebusiness partners, and where he cannot do business without a partner.If he finks on me then he loses his reputation for correct conduct andcannot work in this line of business again. Forfeiting his reputation islike forfeiting the bond.

This approach does not rule out all bad behavior, but does limit finkingto two very clear situations. One is where the institution itself is insuffi-

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cient, most likely because of new circumstances that make the oldarrangements powerless to deter finking. This situation is implicit inmany accounts where a traditional institution breaks down in the faceof social changes that promote mobility or a more anonymous form ofsociety. Another circumstance is simple bad luck. Suppose my partnerhas posted a $5.000 bond, and can only gain $1.000 through dishonestconduct. If he finks then I know it was beyond his control – given theparameters, it would never be in his interest to fink if he could avoid it.One uncomfortable implication of many game-theoretical models isthat the principal must punish the agent for not performing correctly,even though the principal knows the agent only fails when failure is beyond theagent’s control.7 If the principal refrains from such punishment, then allother agents may stop performing. Note the implication of this for the„trust“ analysis. If some of the economic world is beyond the control ofany actor, then we may observe „punishments“ even when theinstitutions deter bad conduct as much as they can. We should notequate the finding that there are some examples of finking with theclaim that the institutions fail to generate honest conduct.

Now consider these issues in the context of a credit transaction. SupposeSmith lends Jones $100 for a year at 5 percent interest. Smith risks theopportunity cost of his money. The question is not whether Smith trustsall potential borrowers or would trust Jones with his children, his house,or his life. Smith just needs to think that Jones will come up with $105in a year. Thus the interesting questions here are mostly about Jones andthe institutional environment in which the two work. What is thechance that Jones will have the money? What legal sanctions can beapplied, and at what cost, should Jones refuse to repay? What reasondoes Jones have to fear Smith’s bad opinion, should the debt go unpaid?What sanctions can Smith and Jones agree to, prior to the loan, that giveJones the right incentives to repay the debt?

All of this is implicit, and sometimes explicit, in the game theory andinformation economics that now dominates most related discussionsin economics. Given my argument it is curious that some of the mostfamous uses of such theory are often labeled parts of the „trust“literature when, as noted here, they have little in common with it. Thisis true, for example, of Avner Greif’s analysis of the „coalition“ formedby Maghribi traders in the Mediterranean region in the 10th–12thcenturies (Greif 1989, 1994). The point of the coalition is to makeinformation more available and sanctions more effective, thus encour-age honest behavior. Greif actually explicitly denies an interpretationthat would stress the moral qualities of those involved (1989, pp.862–863).

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Note what we have not assumed. Our hypothetical partners care aboutthe institutional context in which they live. They may be atoms, as in allorthodox economic theory, but the social context still matters. Andnothing in what we have said requires perfect information about eachother or anything else.8

The problem of credit for poor people

To see what „trust“ can or cannot tell us about credit for people, weexplore three different settings in the second half of the 19th centuryand early 20th centuries. The first, Germany, is justly famous for an insti-tutional solution to the problem of providing credit for the poor.Germany’s credit cooperatives thrived in that country and became themodel for similar institutions in many other places. In the second, ruralIreland, reformers tried to transplant German credit cooperativeswithout success. Although based on the German model and supportedby a variety of private and governmental organizations, Irish creditcooperatives stagnated after their inception in 1894. Third, we turn tothe United States, where institutional attempts to provide credit to poorpeople have been based on different models and have never worked aswell as advocates hoped. In each circumstance our purpose is to ask whattrust can teach us about the success or failure of an institution that theeconomics of sanctions and information cannot.

The idea that credit in particular, or financial services more generally,is a serious part of the problem of poverty goes back at least to the late18th and early 19th centuries. At that time social reformers in Europebegan to advocate specialized savings institutions for poor people. Thetwin motivations were to inculcate in the poor habits of thrift, whichwere thought to promote a more forward-looking, settled lifestyle, andto encourage poor people to build up savings as buffers against theirregular incomes and vicissitudes that were their lot. The largermotivation was to reduce the fiscal burden of poverty by helping thepoor to help themselves. One outgrowth of this thinking was thesavings-bank movement that started in many European countries in theearly 19th century.9

By the mid-19th century reformers in several European countries hadidentified credit as a more serious and vexing issue. Today economistsand others tend to stress poor people’s need for credit as a way to manageirregular incomes and shocks such as unemployment and illness. Most19th-century advocates stressed instead productive loans, implicitlyaccepting the view that loans for consumption purposes were to beavoided. Low-cost credit, it was thought, would reduce the operating

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costs of enterprises such as farm, small producers, and shops, and alsoallow working-class people to acquire their own independent means.

Credit for poor people was and remains problematic because the inform-ation and sanctioning mechanisms used to support other loans do notwork as well for loans to the poor. Most loans to poor people are relativelysmall, meaning that any fixed costs of investigation, monitoring, orenforcement are large relative to the loan. Poor people may also beproblematic borrowers for other reasons, such as an unsettled lifestyleand irregular incomes. But the basic reason is that most poor people lackassets that are useful collateral to a lender. Collateral serves as an inform-ation device. Individuals who risk their own assets will not apply for aloan if they do not expect to be able to repay it, and once they have aloan, will take care to make payments. Collateral also serves as a way toenforce loan terms. If the borrower does not repay, then the lender canseize the collateral. Most lending institutions require collateral that thepoor, by definition, lack. Pawnshops, which have long been reviled fortheir high interest rates, amount to an effort to lend on the basis of theonly collateral that most poor people own: clothing, simple householdarticles, etc.10

Germany’s credit cooperatives

The stress on credit issues was not confined to Germany, but Germanywitnessed the first large-scale, institutional flowering of this concern.11

The credit cooperatives that thrive in Germany today owe their originsprimarily to three groups in the 19th century. The mid-19th century wasa period of rapid economic change in Germany. Occupational freedomand increasing intra-German and international competition meant newchallenges for farmers, artisans and small trades people. Two of the firstbranches of German cooperatives owe their existence to efforts to dealwith these challenges. Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) foundedseveral primarily urban cooperative associations during the 1840s and1850s. Friedrich Raiffeisen (1818–1888) operated in rural areas, and wasat first an imitator of Schulze-Delitzsch. He later broke with Schulze-Delitzsch over ideological and organizational issues. The number ofRaiffeisen cooperatives at first grew rapidly, but was later eclipsed bycooperatives affiliated with a group formed by Wilhelm Haas in the1870s. Both the Raiffeisen and Haas cooperatives were primarily rural.

The several groups of credit cooperatives advocated differences in in-ternal organization and practice. But in many respects Germany’s creditcooperatives were all similar, in part because they were organized undercommon incorporation rules. After 1889 all new cooperatives were

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registered under a Reich law. Each had to have two management organs,an Aufsichtsrat and a Vorstand. Both organs were elected by themembership. The Vorstand made credit decisions and supervised thetreasurer. The treasurer (Rechner or Rendant) was formally a bookkeeperbut by virtue of his position often assumed a leading role in theorganization.

Most individual institutions held loans to members as their major asset.The nature of their liabilities constitutes one source of institutionalvariation. Rural cooperatives tended to have nominal member sharesand at least at first funded their loan portfolios almost entirely fromdeposits. Depositors could be members, but many were not. Urban creditcooperatives tended to have larger member shares and were thus lessreliant on external sources of finance.

Cooperatives had the right to accept or reject new members. Similarly,the Vorstand could and did reject loan applications, or require bettersecurity or other changes in terms. Loan terms were a matter of dis-cretion for each local institution. Rural cooperatives thought it wasimportant to provide long-term credit, and usually did so, offering loanswith durations of 10 years, 20 years, and even longer. Urban creditcooperatives were more concerned about liquidity and did not see theirmembers as needing this kind of finance. Most urban cooperativesoffered shorter loans, and in fact discounting bills of 30–60 days’maturity was a common means of providing credit. Nearly all loansrequired some form of security. The most common form of security forrural credit cooperatives was at first simply a co-signer, although forlarger loans it could be real property.12

The rural cooperatives especially amassed what seems like an astound-ing record of lending successfully to borrowers that other institutionshad spurned. Default on individual loans was rare, and the failure of anentire credit cooperative was extremely rare. The credit they providedwas as cheap as it was convenient: most credit cooperatives charged atmost 1 percent more than the Reichsbank’s Lombard rate. Some chargedfees in addition to interest, but these fees were always modest. For manyof their borrowers, alternative sources of credit were either non-existentor limited to moneylenders and others who would demand much higherinterest rates and shorter loan durations.

This record has, not surprisingly caused some to invoke trust as anexplanation. In fact, in a nice twist, Ute Frevert has interpreted my ownwritings on these cooperatives as a situation evincing trust.13 The factthat Germany’s credit cooperatives could make small loans that weresecured by co-signers (who in most cases would not have been acceptablesecurity to other lenders) invites this kind of interpretation. Rural credit

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cooperatives saw it as important to deal only with people the managersand other members could know well. Some groups had formal rules thatlimited a single cooperative’s operations to a small district (such as aparish). Depositors, too, came mostly from the same area as the othermembers. This meant the institution was less well-diversified than itmight want to be, but in return, it had another set of stakeholders whowere both well-informed and interested in the institution’s future. Evenin the absence of such a rule most members lived in or near a smallvillage or perhaps a group of nearby villages. This ensured that actualand potential members knew each other well, and that all were easilycognizant of each other’s social and economic activities. This seems likeprecisely the environment that would evince high degrees of socialcapital.14

But is „trust“ the right way to think of the cooperatives’ success? Manyof their practices suggest that the members did not trust each other.Consider the lending decision. The manuscript business records I haveconsulted suggest that the Vorstand considered all security with ajaundiced eye. Real property was sometimes judged to be too hard tosell to make useful security. More interestingly, proposed co-signerswere sometimes rejected or deemed inadequate. An applicant might beinstructed to keep one co-signer but get another one as well. Anotherexample concerns the cooperatives’ internal management and record-keeping. Far from a simple reliance on each other’s goodwill, the creditcooperatives demanded elaborate, formal internal controls. Just as inthe very largest corporations of the day, the functions of the Auf-sichtsrat and Vorstand were strictly separated, with the former actingas a sort of internal auditor for the latter, among other things. The mostserious controls surround the activities of the treasurer. Most had somesort of financial bond, posted either by themselves or another memberof the cooperative. They had to present summaries of their books at themonthly meetings of the Vorstand as well as to the Aufsichtsrat when itmet, which was less often.

None of this sounds like a situation in which everything worked finebecause the good folk all shared the same values. In fact, it sounds likethe sort of auditing and control systems that would make a large cor-poration proud – which was precisely what the cooperatives wanted. Theexternal institutional controls were even more elaborate. In addition tothe internal auditing and supervision, each credit cooperative had toundergo external audits. These had been a feature of some cooperativefederations since the 1860s, but became mandatory with the 1889 law.Most cooperatives joined a special cooperative auditing association thathired and trained specialist auditors to inspect the cooperatives. Theseinspections were thorough and the reports sometimes harsh.15

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Pointing out these formal controls is not meant to deny that theseinstitutions functioned differently from formal lenders, and were ableto lend successfully in situations where other lenders could not. But thefocus should be on the institutions, and how the institutions inducedthe behaviors that were needed for success. We could stand back and justsay „trust,“ but this would teach us little about the cooperatives, thecontext, or how credit really works.

Why did they work? My argument echoes a growing literature on thedevelopment of micro-lending in developing countries today. The creditcooperatives were not the same as most micro-lenders now. Today’smicro-lenders are usually not mutual organizations, as were thecooperatives, and modern micro-lenders usually offer different loanterms. The common theme, however, is that the cooperatives operatedin environments where people (1) knew a great deal about each otherand (2) could cheaply and easily impose sanctions on borrowers whomight default on a loan or otherwise endanger the institution’s health.The information made it simple to determine who was a good risk (thatis, who was a careful borrower) and to evaluate the quality of the co-signer(s), who were often the only security offered. The ability to rely onco-signers was especially important. Few loan applicants had assetssuitable for a loan from a more formal financial institution, so beingable to tell which borrower’s co-signer would ensure repayment wasimportant to the cooperative’s ability to reach its clientele. The sanctionscapability meant that borrowers thought carefully about taking a loanand were more cautious with its use. This saved the cooperative theexpense of legal proceedings to enforce repayment. The cooperativesused this information and this capability to make low-cost loans topeople who might otherwise be denied credit.

Here we see precisely Williamson’s point: the cooperative members didnot trust each other in the sense of feeling assured each would do theright thing just because they were good people. Far from it: theydemanded explicit, written guarantees, formal bonds, and multiple con-trols as a condition of operating. Credit decisions were based on mea-ningful security (although, perhaps, security different from that usuallyacceptable to banks). This apparent paradox raises two questions in thecontext of the trust literature. First, would we characterize these creditcooperatives as operating in „high trust“ or „low trust“ environments?Their success might justify the former claim. But why then did theyinsist on all the institutional checks? Those checks could just as easilysuggest a lack of „trust,“ if we followed much of the literature. But thenit would be awkward to explain their lending patterns and success atdifficult lending. We will return to this theme in the conclusion, but fornow it is worth registering the sense that this apparent paradox reflects

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a problem in the meaning of „trust“ as it is used – not in our under-standing of the cooperatives.

Second, do we learn anything by talking about „trust“ in the context ofthese loan contracts? Suppose Müller takes a loan from the cooperative,with Schmidt as his co-signer. The members of the cooperative Vorstandthat made the credit decision have probably known Müller all their lives,and know his farm equally well. They can form judgements about hisabilities as a farmer, and the likelihood of success for the project hewants to finance, based on that knowledge and their own knowledge oflocal conditions. They know just as much about Schmidt. Müller knowsthat if he defaults on his loan he will annoy Schmidt and likely beejected from the cooperative, which would annoy the rest of his neigh-bors and be a bad public signal. Knowing all this, the cooperative makesthe loans to people who it thinks will use the credit wisely and who willrepay it, if for no other reason than out of fear for ruining their relation-ships with their neighbors.

What more do we learn about the cooperative’s operations if we say thecooperative trusts Müller, or that Müller is „trustworthy“? Why not justsay that the cooperative leaders know a great deal about Müller, and hasstructured the loan contract such that it is in Müller’s interest to repay?

Raiffeisen’s cooperatives in Ireland

We now turn to an environment in which the credit cooperatives did notwork well, at least not at first.16 In 1894 Horace Plunkett’s Irish Agri-cultural Organization Society (IAOS) introduced German-style creditcooperatives into rural Ireland. They received a great deal of advice fromGerman and other cooperative leaders. Some aspects of German cooper-ative practice could not be transplanted for legal reasons, but it is fairto say that on the whole, the IAOS credit cooperatives were accurate,even slavish, imitations of Raiffeisen’s rural credit cooperatives inGermany. Plunkett and his circle had high hopes for the credit cooper-atives in Ireland, and their expectations did not seem unreasonable. Thecredit cooperatives in Germany thrived among an energetic and com-mercially-minded rural population who were not able to secure reason-able credit from banks and other financial institutions. Irish farmerscomplained bitterly about their treatment at the hands of Ireland’sbanks, and seemed prepared to put less expensive credit to good use.

Almost from the first there were signs of trouble. Most credit cooper-atives had little trouble attracting members and borrowers, and thenumber of institutions grew at a healthy clip. But by other measuresthey were doing badly. Many rural German credit cooperatives gathered

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significant excess deposits, and had to find some place to invest thosedeposits safely. The Irish cooperatives never did. The near absence ofdepositors harmed the Irish cooperatives in two ways. First, it meantthat the Irish cooperatives were essentially re-lending money they hadborrowed from a government agency, the Department of Agricultureand Technical Instruction (DATI). This degree of state involvement wasunknown in Germany, and obviated, in least in the eyes of their critics,the cooperatives’ entire claim to being „self-help“ institutions.17 Perhapsmore importantly, the inability to gather deposits showed that mostrural Irish people thought their money was safer in other depositoryinstitutions. The specifics of management also suffered badly in Ireland.German auditors complained about sloppy bookkeeping or poor attend-ance at the annual meeting of members, but these were complaintsabout departures from a very high standard. Irish inspectors found thatbooks were hardly kept at all in some cooperatives, and that annualmeetings did not even take place.

Why was the Irish experience so disappointing? My study of the Irishcooperatives was limited by lack of sources. Unlike the German case, Iwas unable to locate manuscript business records for individual cooper-atives or for the IAOS itself. To some extent I was forced to rely on theIAOS’s own criticisms, or on those of outsiders such as the officials ofDATI. But three problems are clear. First, rural Ireland had a number ofdepository institutions, including for-profit banks, savings banks, andthe ubiquitous Post Office Savings Bank. The latter especially was con-venient and perfectly safe. Every Post Office was in effect a bankingoffice, and the Post Office Savings Bank’s assets consisted nearly entirelyof British government debt. This was in contrast to much of ruralGermany, where the nearest depository institution could be quite somedistance. Raiffeisen and other cooperative leaders had to convincepeople that their deposits were safe in credit cooperatives, but thesepeople had few alternatives. His Irish counterparts had a much hardercase to make. As a result, the Irish institutions lacked a set of local stake-holders that were important in Germany. Second, the IAOS neverdeveloped the formal external auditing structures that the Germanshad. The reasons for this are many, but in the end it meant that Irish co-operative leaders could not count on the training, inspection, anddiscipline that came from well-informed, hard-nosed outsiders.

A third explanation for Irish credit cooperatives’ problems was favoredby many contemporaries, and while harder to evaluate, it was clearly anissue. German cooperative leaders were perfectly willing to enforce loanterms, even when they knew that their actions meant damage to a recal-citrant borrower. Problems in the German cooperatives were rare, buttheir records contain instances of members ejected from the cooperative

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for failure to repay, as well as threats of court action. Several sourcesclaimed that Irish cooperatives were not, on average, willing to forcerecalcitrant borrowers to repay; that rural Irish people were too easy-going and sympathetic to their neighbors. The IAOS itself complainedthat the „natural kindliness“ of Irish people led them to a „mistakenkindness to unthrifty borrowers“. One former cooperative treasureradvocated enlarging the area of a credit cooperative’s operations on thegrounds that a borrower’s immediate neighbors could never bringthemselves to forcing a debtor to repay.18 This amounts to saying that thecooperatives could not enforce loan terms unless they gave up on theinformation advantages that made the entire institution work in thefirst place. At one level this lack of toughness is connected to the depositsquestion. Borrowers were not risking their neighbor’s savings, as inGermany. A faulty borrower was only risking the cooperative’s ability torepay a loan to a government he and his neighbors did not much like.The only real consequence was the possible failure of the cooperative,which would be the end of cheap credit.19

All of these issues were problems, and my own view is that the first, thecompetition from alternative depository institutions, is, if not the mostimportant, then the easiest to overlook. None of them have anything todo with trust as the idea is used in the literature. The Post Office SavingsBank was simply another institution that got there first. The lack ofexternal auditing institutions has more to do with the IAOS’s ownfailings, and perhaps the small size of the movement overall.

The final observation, that Irish cooperatives could not work becauserural Irish people were too kind-hearted, is worth a close look becauseit illustrates the vagueness of the idea of trust. There are several ways tounderstand this claim, and all of them presume that Irish people valuedother aspects of their ties to one another more than the repayment ofany given loan. What can „trust“ tell us about this behavior? There issome sense in which rural Irish people had less information on one ano-ther than did their German counterparts. Rural houses in Irelandtended to be spread about the countryside instead of arranged innucleated settlements, which means people saw less of each other andhad a less clear sense of who their neighbors were. But the salient dif-ference seems to be the capacity to enforce loan terms. Suppose a cooper-ative lends to Murphy, with O’Brien as the co-signer. If Murphy thinksthe cooperative leaders would be unwilling to take steps to force him torepay, then he will see the loan as a form of grant, and O’Brien will viewhis co-signatory role as a formal matter rather than anything thatentails potential obligations on his part. The cooperative would prob-ably not, as already suggested, be making such loans at all were it notfor the DATI credit. But how do we interpret this situation in the light

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of trust? In Germany cooperative members trusted each other to repayloans. In Ireland they trusted each other not to be too adamant about repayingloans. Trust in one circumstance led to a financial institution that worked,while in the other it led to nearly the same financial institution’s virtualfailure. We learn nothing from labeling one or the other of thesesocieties „high trust“ or „low trust“. And if we did so we would miss anessential lesson: the wrong kind of trust, as in the Irish case, can dooma valuable institution. What matters are the incentives to act in par-ticular ways.20

Small-scale credit in the United States

Our third example comes from a context where cooperative creditinstitutions did not work very well either.21 The situation was not sodramatic as in Ireland, but the credit union movement in the US, whichwas modeled indirectly on the German credit cooperatives, never grewto have anything like the relative importance of cooperatives inGermany. There are, again, reasons that do not bear directly on our sub-ject. One is the long history of unit banking and general incorporationstatutes for US banks. The US had many, many small banks, some ofwhose customers would be among the more prosperous credit cooper-ative members in Germany. The other reason has to do with competitionbetween two foundations, the Twentieth Century Fund (which pushedcredit unions) and the Russell Sage Foundation (which advocated analternative approach detailed below).

The few successful credit unions that were formed in the US in the earlytwentieth century shared a number of features that imply a restrictedpotential. They tended to be associated with a firm or an industry,instead of serving all those who lived in a locale, as was the case inGermany. In some cases this limitation reflected the requirements ofenabling laws, but it also reflected deliberate choices within the move-ment. The credit unions were also over-represented among the employ-ees of governments – local, state and federal. The literature gives severalexplanations for this fact, but perhaps the most important reason wasthat these people had a steady paycheck.

The Russell Sage Foundation (RSF), which from its inception in 1907 wasvery interested in the issue of credit for poor people, at first pushed theidea of credit unions but then concluded they had only limited use-fulness. The RSF thought that credit unions would never work for theurban poor and working classes who were most in need of reasonableloan terms. The Foundation thought it better to alter the legal environ-ment to encourage the entry of for-profit lenders. To this end the RSF

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pushed its Uniform Small Loan Law (USLL), succeeding in getting the lawpassed in about 2/3 of the 48 states by 1940, when the Foundation lostinterest in the issue.

Uniform laws were and remain a vehicle in the United States for achiev-ing near-uniformity in legal codes across states. After some preliminaryresearch in the first decade of the 20th century, the Foundation cameto the view that credit conditions for poor people were unsatisfactorybecause the loans they sought were, by their very nature, expensive tomake. Most states had usury laws that capped legal interest rates at levelsmuch lower than those charged by lenders dealing with the poor,usually not more than 6 percent per annum. As a result, the only lendersoperating in this market used a variety of stratagems to conceal the totalcost of their credit from the law and sometimes from borrowers. Othersoperated outside the legal framework entirely. The USLL has severalfeatures, but all can be summarized in two phrases: transparency andthe uncapping of interest rates. The law established a new class of lender,a so-called small-loan broker, who had the right to lend small amounts(less than $300 in most versions of the law) at rates that far exceededmost state usury limits. The RSF recommended a rate of 3.5 per cent permonth. In return for this higher rate, the lender had to adhere to strictstandards governing the simplicity of charges (no fees, that is), dis-closure of terms, etc.

The law was successful in that in every state that passed it, brokersquickly set up new small-loan businesses and issued thousands of loans.The law even led to the creation of extensive chain operations, some ofwhich (like Household Finance) became large, publicly-traded com-panies. But the USLL embroiled the RSF in a range of disputes, most ofwhich centered on its somewhat startling notion that the way to helppoor people was to allow lenders to charge them more. Credit-unionleaders were scathing in their criticism of the RSF on this point, and awider public grew to know the Russell Sage Foundation as the „3 andone-half percent foundation“.

Whatever the merits of the Foundation’s arguments, underlying its pro-posals was an intellectually coherent analysis of the relevant credit mar-ket prior to the enactment of the USLL. According to the RSF’s leadingresearcher, Rolf Nugent, providing small loans was an inherently expen-sive business. The USLL was motivated by the view that the only sensibleway to proceed was to recognize the high costs inherent in the business,and relax the legal constraints that made it impossible to make smallloans honestly and profitably.

The RSF’s analysis bears careful consideration. Although it paid lip ser-vice to rural areas, most of its discussions pertain to urban areas of the

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United States. In Nugent’s view, the central problem was the fluid, ano-nymous social context of these cities. People moved to and from the city,and changed jobs frequently. Lenders knew little about borrowers (mostbusiness was generated by advertisements placed in newspapers), andthe sanctions a lender could apply to a borrower were weak or expen-sive. Some lenders restricted their business to „salary loans“, whichmeans loans to men earning salaries. Employment could be verified, butbeyond that lenders knew little about their customers. Most loans weresecured only by the borrower’s future income, or by household property.This security might be very effective – many employers would firesomeone for taking a loan from such lenders, so the mere threat toattach the borrower’s wages could be effective – but in any case it wastypically expensive to collect. The entire idea of the USLL was to allow„honest capital“ to earn a return sufficient to bring sound business prac-tices into the field.

Too little is known about credit conditions for poor people in this periodin US economic history to make firm statements about why the creditunions did so poorly, or whether the USLL was the right approach. Butlet us consider the Russell Sage Foundation’s analysis, which is clearenough from the various internal reports and memos we have been stu-dying. In their view, lending was expensive because the social environ-ment implied that lenders knew little about borrowers, and could notcheaply apply the sanctions that supported repayment in the rural Ger-man case. The Foundation’s pessimism about credit unions implied thatit was not convinced urban Americans could form themselves into finan-cial institutions that could have better information or better sanctio-ning mechanisms than for-profit lenders.

If we wanted, we could claim that US cities had little social capital, orthat lenders were operating in a „low-trust environment“. But thiswould (if we adopt the ways of the trust literature) be difficult to squarewith the overall success of the American economy in this period. Moredirectly, this is precisely the society and period that features as the cen-tral success case in the entire trust parable: before Americans started tobowl alone, they lived in dense networks of civic associations that gene-rated large amounts of social capital. There is an empirical literature ontrust that thinks it has devised ways of measuring trust and characteri-zing societies in this way. But would such claims enhance our under-standing of how credit markets worked, or why certain lending institu-tions were never very successful in the US?

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ConclusionsFor the past ten years or so, scholars have discussed and applied the con-cepts of social capital and trust. Much of this literature is theoretical,trying to define and refine these concepts and decide when they are rele-vant. But much is empirical: the authors of these studies hold that label-ing some societies or contexts „high trust“ or „low trust,“ or arguing thatthey had a great deal or very little social capital, is analytically useful.

Williamson argues that in commercial contexts, trust is at best a newlabel for something that has long been understood. This practice is notalways pernicious in itself. Many intellectual movements are, at least inpart, a re-discovery of something older, and sometimes giving some-thing a new name and trying to apply it to a broader range of socialphenomena stimulates scholars to see connections that might other-wise be lost. Something like this has probably happened in the recentliteratures on trust and social capital, and essays like Frevert (2003)make up in breadth much of what they might lack in analytical rigor.Before accepting this kind of logic, however, we must balance any gainsagainst the two costs implicit in literatures built around buzzwords.Over-use of terms can amount to unintentional obfuscation, as the ter-minology implies connections that have never been demonstrated. Andbuzzwords can crowd out more specific research aimed at understand-ing the particulars of institutions or a society. We would better under-stand some institutions and societies if scholars pushed harder toappreciate the concrete details of life in the past, and worried less aboutfitting their research into trendy paradigms.

This paper has argued that in the context of lending to poor people, andby extension in commercial matters more generally, the concept of trustis at best superfluous. There is no useful sense in which we can labelsomething a „high trust“ situation, or someone a „trustworthy“borrower. There are only social contexts in which lenders know and cancheaply acquire information on potential borrowers, and social contextsin which lenders have effective ways to enforce the repayment of loans.The mechanisms of information and enforcement may be as banal as cred-it registries and lawsuits, or as complex as kinship ties and the adjudi-cation of disputes by village elders. Borrowers may repay because theyfear the law or because they fear alienating the community in whichthey work, live, and worship. The trust literature would have it that cred-it registries and lawsuits are evidence of the lack of trust, while relianceon kinship ties or village elders is trust incarnate. But this illegitimatedistinction just illustrates my point: the very term „trust“ has beenhijacked to make warm noises about certain types of institutions andinteractions, and has been robbed of much of its analytical value.

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More worryingly, focus on „trust“ can obscure a crucial question raisedin the Irish case: trust to do what? An institution that worked in oneplace was done-in by the rural Irishman’s well-placed confidence thathis neighbors would not pressure him to repay loans. This attitudemight promote some types of collective action, but it undermined thevery basis of the credit cooperatives. Trying to figure out whetherIreland was a „high trust“ society would tell us nothing. Understandingthe incentives built into the German credit cooperatives as they ap-peared in Ireland tells us a great deal. The importance of informationand enforcement, which is the core of the useful notion of trust, hasbeen recognized in economics for decades. Giving it another name, asWilliamson argues, will not accomplish anything.

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Notes* Dieser Beitrag wurde zuerst im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2005/1, S. 77–92

veröffentlicht. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und desAkademieverlags.

1 Williamson (1993, p.469). For the title of my own paper I apologize to D.C. Coleman(1983).

2 For surveys on micro-lending, see Ghatak and Guinnane (1999) and Morduch (1999).

3 Although I do not follow him fully, I am much indebted to Hardin (2001, 2002) for mythinking on this issue. I am also very sympathetic to Coleman (1990)’s effort to con-struct a rational-choice interpretation of „trust“.

4 Mackie’s Table 8 also 1 relies on the illegitimate assignment of cardinal values to a que-stion that does not have a natural metric. Fukuyama (1995) illustrates a different pro-blem common in much of this literature: „trust“ in his view is inferred in any situa-tion he finds admirable.

5 Ogilvie (2004b) calls this definition „trust as sentiment“, which might be a better term.

6 As later discussion makes clear, there are two complicating issues. One is that there aregeneral forces, such as the weather, that are beyond either partner’s control. This fact doesnot pose a problem so long as the weather and its consequences for the venture are enti-rely observable. The second complication arises if the weather is not observable or if theweather’s impact on the venture cannot be determined. In this latter case, one party mightblame the other for problems that are really due to the weather, while a guilty party mightshirk his responsibility by blaming the weather. We return to this issue below.

7 This is a clear implication of my paper with Miller (Guinnane and Miller 1996), whichis actually contract theory rather than game theory. In that model, the only circum-stance in which a tenant would not pay his rent is where he has had bad luck and can-not pay. The landlord knows this is the only circumstance – that is, the landlord knowsthat all non-payment reflects bad luck rather than shirking – but the landlord still hasto eject non-paying tenants to keep the incentives right. Put differently, in these modelssometimes the principal has to punish people he knows are innocent to, as Voltaire saidof Viscount Torrington’s hanging, „encourage the others“.

8 Our account is implicit in DasGupta (1988), which is a clear-headed application of theideas of economics to the problem of trust.

9 Guinnane (2002a) discusses this issue in the German case.

10 There is little economic analysis of pawnshops in the 19th century, and not much morefor these institutions today. See Guinnane (2002b) for some thoughts on pawnshops inour period.

11 This section summarizes material found in Guinnane (2001).

12 These lending practices created liquidity problems. The cooperative „Central banks“were one institutional response to this problem (Guinnane 2004).

13 Frevert (2003) is a wide-ranging survey of the contexts in which trust might be relevant.She cites Guinnane (2001). Her paper is a stimulating and thought-provoking effort, butalso illustrates the qualms that lie at the heart of the present essay: any concept thatcan be relevant to as many issues as she mentions cannot be of much use to under-standing any of them.

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14 Put differently, German villages had all four of the features that are held to generatetrust among network members: shared norms, swift information transmission, effec-tive sanctioning, and efficient collective action in pursuit of the shared norms. See Ogil-vie (2004b).

15 Guinnane (2003) details the cooperative’s management and auditing systems. The coo-peratives never did find a perfect solution to one continuing problem, which was embe-zzlement by cooperative treasurers.

16 This section draws on Guinnane (1994).

17 State assistance to German credit cooperatives prior to World War I was not significant.The urban cooperatives complained that the Prussian Central Cooperative Bank, a stateinstitution, was a significant source of state aid to rural credit cooperatives. This claimhas also appeared in the scholarly literature. At best the claim is badly exaggerated(Guinnane 2004).

18 The IAOS’ remark is in their annual report for 1902, quoted in Guinnane (1994, p.56).The treasurer was testifying before a Parliamentary inquiry, quoted in Guinnane (1994,p.57).

19 Members in Irish credit cooperatives had unlimited liability, which was also the prac-tice in most rural cooperatives in Germany. I cannot say what happened when DATIdid not get its money back, but most cooperative members must have found it implau-sible that the government would seize their holdings to satisfying liabilities arisingfrom cooperative membership.

20As Ogilvie (2004b) argues, social capital can be put to bad uses as well as good. Onemight say, in this case, that the Irish used their social capital to agree – effectively –not to pressure each other to repay loans.

21 This section is based on a project with Bruce Carruthers. The project is still in its earlystages, and there is little extant work on this issue to date, so the discussion here ismore tentative. For more detail on the matters raised here, see Carruthers and Guin-nane (2003).

22 Or so Putnam (2000) says.

Trust: A Concept Too Many 127

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Abbildung 17: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Hochkonjunktur I

Abbildung 18: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Hochkonjunktur II

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Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?Josef Zimmermann

Deutschlands Bankensystem unterscheidet sich in wesentlichen Ele-menten nach wie vor deutlich von dem anderer Länder. Merkmale wieUniversalbanken und die Parallelität von privaten, öffentlich-rechtli-chen und genossenschaftlichen Banken sind historisch gewachseneEigenheiten der deutschen Kreditwirtschaft. Die Hausbank als ein spe-zielles Modell langfristig angelegter Geschäftsbeziehungen zwischenBanken und Unternehmen ist ein weiteres Merkmal.

Was macht eine Hausbank aus? Bietet eine Hausbankbeziehung Vorteilegegenüber der Abdeckung der Finanzbedarfe in Unternehmen mitjeweils neuer Lieferantenentscheidung im Bedarfsfall? Fallen die Ant-worten hierauf unterschiedlich aus, je nachdem, ob aus Sicht einerBank oder aus Sicht eines Unternehmens argumentiert wird? Hat eineHausbankbeziehung Auswirkungen auf den zentralen Bereich der Kre-dite?

Das sind die Fragen, deren Erörterung das Hausbank-Modell transparentmachen und in seiner komplexen Struktur verdeutlichen soll. WichtigeErkenntnis daraus sollte sein, ob und unter welchen Bedingungen die-ses Modell aktuell und künftig seine Existenzberechtigung hat, ja mög-licherweise aufgrund besonderer Leistungsfähigkeit zu einem Hoff-nungsträger in der Beziehung zwischen Banken und Unternehmen wer-den kann. In diesem Fall wäre die Hausbank dann durchaus beden-kenswert für Finanzmarktstrukturen anderer Länder.

Was macht eine Hausbank aus?

Als Hausbank wird ein Kreditinstitut dann angesehen, wenn ein Unter-nehmen mit diesem Institut in einer dauerhaften Geschäftsbeziehungseine Bankgeschäfte ausschließlich oder überwiegend abwickelt. Cha-rakterisierende Elemente sind also Langfristigkeit und die Exklusivitätim Leistungsaustausch. Damit werden zwei Dinge deutlich: Zum einenerfordert eine Hausbankbeziehung Zeit. Über die Wiederholung vonEinzelgeschäften aufgrund positiver Erfahrungen entsteht und wächst

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die Erwartung, auch künftig werde ein beide Seiten zufriedenstellenderLeistungsaustausch zwischen den Geschäftspartnern gewährleistet.

Andererseits muss das Kreditinstitut mit seinem Leistungsspektrum inder Lage sein, den jeweiligen finanzwirtschaftlichen Bedarf des Unter-nehmens vollständig oder weitgehend abzudecken. Damit erfordert dieFähigkeit zur Hausbank Universalbanken, wie sie sich gerade inDeutschland historisch entwickelt haben und anhaltend die Banken-szene prägen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Hausbank einvor allem deutsches Phänomen ist und in anderen Ländern – speziell indenen mit angloamerikanisch geprägten Finanzsystemen – in dieserForm kaum oder gar nicht angetroffen wird. Typisch in der Lieferbezie-hung ist das Angebot und die Abnahme des ganzen Universalbank-sortiments im Gegensatz zu transaktionsorientierten und produkt-bezogenen Geschäftsabschlüssen.

Der Zeit beanspruchende Aufbau einer solch exklusiven Geschäftsver-bindung führt nun zu einer Reihe von Wirkungen, die ihrerseits wie-derum als wichtige Charakteristika einer Hausbank gelten:

1. Zwischen Hausbank und Unternehmen besteht ein besonderes Ver-trauensverhältnis. Dieses gilt zunächst für die Beziehung der interagie-renden Personen, zuvorderst der Finanzverantwortlichen auf Seitender Unternehmen und der Firmenkundenbetreuer auf Seiten derBank. Je nach Größe der Partnerorganisationen agieren allerdings aufbeiden Seiten situationsbezogen oft eine Mehrzahl von Personenunterschiedlicher Hierarchieebenen und Fachkompetenzen. Auch fürdiese gilt es, die zum Aufbau von Vertrauensbeziehungen notwendi-gen Voraussetzungen zu erfüllen.

Vertrauen setzt zum einen bestimmte Verhaltensweisen der handelndenPersonen voraus. Als wechselseitig wichtig erwiesen sich hier

• der angemessene Einsatz für die Belange der jeweils anderen Seite,

• die wahrgenommene Fairness in der Nutzung besonderer Informa-tionen und Machtpositionen,

• die Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit im Hinblick auf die Einhaltungvon Absprachen und Zusagen,

• eine offene, zeitgerechte und Transparenz schaffende Kommunika-tion,

• die verlässliche Diskretion im Allgemeinen und in abgesprochenenThemen im Besonderen.

Darüber hinaus muss sich Vertrauen in die Sachkompetenz des Partnersaufbauen und immer wieder bestätigen. Neben den persönlichen Kennt-

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nissen und Erfahrungen der direkt kommunizierenden Personen kom-men hier zusätzlich die nachvollziehbare Leistungsfähigkeit von Bankund Kundenunternehmen als institutionelle Einheiten zur Geltung.Voraussetzung für einen gegenseitigen Vertrauensaufbau auf dieserEbene ist das Zusammenpassen der Bedarfs- und Anspruchsniveaus aufbeiden Seiten, geprägt vor allem durch Faktoren wie Unternehmens-größe, Organisationsstruktur und Marktradius (Internationalität, regio-nale Ausrichtung).

Hier wird deutlich, dass Vertrauen, obwohl als solches zunächst ein per-sonenbezogenes Konstrukt, auch auf die Wahrnehmung und Beziehungvon und zu Organisationen übertragen wird. In Hausbankbeziehungenkommt dieser Ausprägung eine besondere Bedeutung zu, da die Fakto-ren Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit über die interagierenden Per-sonen gerade in wichtigen Fragen repräsentativ beziehungsweise stell-vertretend für die jeweiligen Organisationen eingebracht werden.

In Geschäftsbeziehungen zwischen Banken und Unternehmen spielt dasKreditgeschäft regelmäßig eine herausragende Rolle. Die Klassifizie-rung als Hausbank postuliert zuvorderst eine stimmige Kreditbezie-hung. Während wir bisher einzelne Einflussfaktoren des Vertrauensbetrachtet haben, werden Kredit und Vertrauen oft als unmittelbarzusammenhängend, als quasi symbiotische Begriffe angesehen. So for-muliert zum Beispiel L. Rothschilds Taschenbuch für Kaufleute bereitsMitte des 19. Jahrhunderts: „Als Kredit im subjektiven Sinne bezeichnetman das einer Person entgegengebrachte Vertrauen, dass sie ihre Ver-pflichtungen erfüllen wird.“ Dies entspricht dem Sinngehalt von „Cre-dere“ als zugrunde liegendem Begriff im Sinne von „Glauben, Vertrauenschenken“. Im Kredit wird anderen Geld (oder eine Sache) überlassen,im Vertrauen, es wieder zurückzuerhalten.

Verlässlichkeit als Element der Hausbankbeziehung erfordert nungerade auch Verlässlichkeit im Kreditgeschäft, das heißt eine entspre-chende Kredit- und Risikobereitschaft beziehungsweise eine adäquateRisikoeinschätzung von Kreditgeber und Kreditnehmer. Dass die Haus-bank hier regelmäßig in einer im Vergleich zu anderen Banken speziel-len Ausgangslage ist und andererseits mit besonderen Anforderungenund Erwartungen konfrontiert wird, wird noch im Einzelnen zu zeigensein.

2. Zwischen Hausbank und Unternehmen besteht eine besondere Ver-trautheit. Diese Vertrautheit ist das Ergebnis eines regelmäßigen undsystematischen Informationsaustauschs mit der Folge, sowohl imZeitablauf wie auch in der breiteren Durchdringung den Kenntnis-stand über den Geschäftspartner auszuweiten, zu komplettieren undauf diese Weise ein hohes Maß an Transparenz für beide Seiten zu

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schaffen. Fokussiert ist die Vertrautheit in den Personen der direktenKommunikation, wo neben den institutionell erfassten Informatio-nen ein zunehmendes informelles Wissen das gegenseitige Bild prä-zisiert und erweitert.

3. Die Geschäftsbeziehung zwischen Hausbank und Unternehmenumfasst ein besonderes Leistungsspektrum. Wie bereits angesprochen,liegt dem Hausbank-Modell die Lieferfähigkeit in grundsätzlich allenfinanzwirtschaftlichen Leistungsbereichen zugrunde. Hausbankkann insofern nur eine Universalbank sein. Zugleich wird nur ein Kre-ditinstitut zur Hausbank werden, das in Größe und (oft damit ein-hergehender) Leistungsbreite den normalen Bedarf des Unterneh-mens abdecken kann. Dies muss nicht in allen Fällen aus eigenerKapazität möglich sein. Kooperationen zwischen Banken oder dieZusammenarbeit in Bankenverbünden ermöglichen die Deckungauch singulären und/oder außergewöhnlichen Bedarfs in professio-neller Weise. Durch die Koordination externer Expertise über dieHausbank kommen deren Wirkungselemente auch in diesen Fällenim Wesentlichen zum Tragen.

4. Der Aufbau einer Hausbankbeziehung erfordert regionale Nähe. Trotzaller Kommunikationsmedien ist die regelmäßige persönliche Begeg-nung anhaltend eine wesentliche Voraussetzung für Vertrauen undVertrautheit. Die zur Pflege der Verbindung erforderlichen Treffenkommen häufiger zustande, wenn der Wegeaufwand gering ist.Zugleich vergrößert eine gemeinsame gesellschaftliche Alltagsumge-bung die Kontaktflächen der Gesprächspartner und unterstützt dieinformelle Kommunikation.

Entwicklungsphasen des Hausbank-Modells

Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Aktienbanken sindeine Antwort auf den zunehmenden Kapitalbedarf der Industrialisie-rung, zu deren Deckung sie im Gegensatz zu den bis dahin vorherr-schenden Privatbankiers auch Kundeneinlagen aufnehmen konnten.Damit etablierten sich die Banken als Bindeglied zwischen Anlegernund Kapitalsuchenden. Das Leistungsspektrum dieser Aktienbankenumfasste in der Folge dann mit dem Einlagengeschäft und dem Kredit-geschäft sowie dem Emissionsgeschäft die Kernelemente einer Univer-salbank, die im Laufe der Zeit noch durch das Transaktionsgeschäft (imWesentlichen Zahlungsverkehr) und das Handelsgeschäft ergänzt wur-den.

Mit dieser Leistungspalette war eine Aktienbank in der Lage, allenFinanzbedarf eines Unternehmens zu decken. Es entstanden intensive,

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langfristig angelegte Hausbankbeziehungen (untermauert oft auchüber wechselseitige Aufsichtsratsmandate) mit dem Ergebnis einerengen und klar strukturierten Verflechtung von Großbanken, Industrieund Handel.

So erfolgreich diese Struktur für Großunternehmen bis zum ErstenWeltkrieg war, so vernachlässigte sie doch große Teile des in dieser Zeitebenfalls an Bedeutung gewinnenden gewerblichen Mittelstands. Regio-nal ausgerichtet boten sich hier für unterschiedliche Kundengruppendie ebenfalls im 19. Jahrhundert aufkommenden Sparkassen und Genos-senschaftsbanken an. Auch sie hatten (abgesehen vom Emissionsge-schäft) die Grundstruktur von Universalbanken. Damit war auch fürmittelständische Unternehmen der Weg zur Hausbankbeziehung offenund vorgezeichnet.

Ausgehend von diesen Wurzeln sollte das Hausbank-Prinzip als Aus-druck einer umfassenden und langfristigen Verbindung zwischen Ban-ken und Unternehmen bis heute ein charakteristisches Element desdeutschen Bankensystems bleiben. Allerdings zeigten sich im Zeitver-lauf deutliche „Wellenbewegungen“ in der gesamtwirtschaftlichenBedeutung dieses Modells. Herrschte anfangs das Bewusstsein vor, eineHausbank betreue ein Unternehmen von der Entstehung bis zur Auflö-sung als exklusiver Finanzpartner, so sorgten der aufkommende Wett-bewerb unter den Banken und das zunehmende Selbstbewusstsein undUnabhängigkeitsstreben vor allem der größeren Industrieunternehmenschon vor dem Ersten Weltkrieg für eine Aufweichung der ursprünglichfest geordneten Beziehungsstrukturen. Ab Mitte der zwanziger Jahre tra-ten zunehmend auch ausländische Banken im Wettbewerb um deutscheGroßunternehmen auf, mit der Konsequenz von Konditionen- und Mar-genverfall, leichterer Kreditvergabe und unzureichender oder wenigkonsequenter Kreditkontrolle. Während der Mittelstand nach wie vorauf feste Bankbeziehungen angewiesen war, nutzten Großfirmen dieseSituation über Parallelbeziehungen zu Banken mit Vorteilsentschei-dungen im einzelnen Geschäft und damit quasi der „Kündigung“ desHausbank-Modells.

Im Ergebnis lassen sich aus dieser Entwicklung die Wettbewerbsinten-sität zwischen Banken, das Ausmaß der im Finanzsektor insgesamt ver-fügbaren Liquidität und schließlich die (gerade auch finanzielle) Stärkeder Unternehmen als wesentliche Einflussfaktoren für die Art derKunde-Bank-Beziehung festhalten.

Dies bestätigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wo in einer erstenPhase von Kapitalknappheit, eher schwachen, weil im Aufbau befindli-chen Unternehmen und einem auch qua Regulierung geringen Ban-kenwettbewerb das Hausbank-Modell eine Renaissance erlebte. In der

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folgenden Entwicklung zeigte sich erneut, dass mit dem einsetzendenWettbewerb unter Banken, einer zunehmenden Liquidität im Marktund erfolgreichen Unternehmen als Kunden die zuvor engen Haus-bankbeziehungen zunehmend aufgeweicht wurden. Mit dem Fall desHabenzins-Abkommens 1967 entstand der Wettbewerb um Einlagen; dieKreditinstitute konkurrierten zunehmend um die reichliche Liquidität.Dadurch sinkende Margen machten die Kreditfinanzierung zusammenmit staatlichen Begünstigungen für Unternehmen immer attraktiver.Auch für weniger ertragreiche Investitionen fand sich bei Zögern derHausbank problemlos ein anderer Financier. Dies wurde begünstigtdurch die gegenseitige Durchdringung der ursprünglich relativ sepa-riert betreuten Firmensegmente und damit der „Auflösung der Arbeits-teilung“ zwischen den privaten Filialbanken, Sparkassen und Genos-senschaftsbanken. Im Verbund mit ihren jeweiligen Landes- bezie-hungsweise Spitzeninstituten konnten auch kleinere Sparkassen undGenossenschaftsbanken anhaltend die beispielsweise mit Auslands- oderKapitalmarktgeschäften erweiterte Leistungspalette einer Universalbankselbst größeren Unternehmen anbieten. Großbanken umwarben ande-rerseits zunehmend den Mittelstand in allen Abstufungen. Das forcierteAuftreten ausländischer Banken bei größeren Firmen verschärfte denWettbewerb, der aufgrund fehlender oder nur geringer Leistungs-unterschiede in der Regel über Konditionen ausgetragen wurde.

Mit dieser Entwicklung standen die überkommenen Hausbankbezie-hungen zunehmend unter Druck. Das in der Preispolitik auf kalkulato-rischen Ausgleich angelegte Geschäftsmodell der Hausbank sah sich mitEinzelangeboten konkurrierender Anbieter konfrontiert, die auf Dauerund in der Breite der Leistungspalette keine rentable Verbindung mehrerlaubten. Aufgrund geringer Eigenkapitalanforderungen konnten sichdie Banken dieses Marktverhalten lange Zeit erlauben; im Kreditge-schäft verdiente bei genauerem Hinsehen allerdings kaum ein Institutmehr Geld. Dieses Problem wurde besonders offenkundig, als mit Ein-führung des Basel-II-Abkommens differenzierte und in der Summestrengere Anforderungen an das Eigenkapital der Banken bei der Kre-ditvergabe gesetzt wurden.

Auf Unternehmensseite wurde die Zahl der Bankverbindungen mit demZiel ausgeweitet, für die verschiedenen Leistungen immer mehrereAnbieter ansprechen und dabei die Konditionen günstiger gestalten zukönnen. Die Banken definierten ihre Geschäftsbeziehungen zu Unter-nehmen über die Quoten am jeweiligen Leistungsbereich. GrößereUnternehmen ersetzten den bilateralen Dialog mit ihren zahlreichenBanken durch Meetings, in denen möglichst alle Institute vertreten undgemeinsam über die Lage und Entwicklung des Unternehmens infor-miert werden sollten. Die Charakteristika einer Hausbankbeziehung

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sind in diesem Modell nicht mehr erfüllt. Der Lieferbeitrag der Bankenfür ein Unternehmen wird ein rein rechnerischer und lässt sich allen-falls mit der Unterscheidung von Kernbanken und Nebenverbindungenklassifizieren.

Das Hausbank-Modell aus Sicht einer Bank

Universalbanken müssen ein nachhaltiges Interesse haben, Hausbankstabiler Unternehmen zu sein. Bei gut funktionierenden Beziehungensind es vor allem zwei positive Wirkungen, die eine solche Position mitsich bringt:

1. Deutliche Vorteile im Wettbewerb mit anderen Banken.

2. Imagegewinn im Wirtschaftsumfeld und bedingt auch in der allge-meinen Öffentlichkeit durch die wahrgenommene Verbindung zurenommierten Firmen.

Wettbewerbsvorteile beruhen zum einen auf einer besseren Informati-onsversorgung. Eine langfristige Geschäftsverbindung führt durch syste-matische Informationsaufnahme und Dokumentation im Laufe der Zeitzu einem quantitativ und qualitativ überlegenen Informationsstand. Beiden regelmäßig eingereichten Geschäftszahlen werden Vergleiche aus-sagefähiger und Beurteilungen fundierter. Entwicklungen im Zeitablaufermöglichen Trend- und Wirkungsanalysen; unternehmerische Ent-scheidungen lassen sich längerfristig verfolgen und beurteilen.

Die breite Leistungspalette als Hausbank mit ihren vielfältigen Anknüp-fungsstellen in die Unternehmen hinein führt zu einem erweitertenInformationsstand über die Produktions- und Leistungsstruktur derUnternehmen. Beispielhaft sei hier der Kenntnisstand über Umfangund Erfahrung im Auslandsgeschäft genannt, der gerade auch über dietägliche Abwicklung von Auslandstransaktionen genährt wird. Aberauch die gemeinsame Erarbeitung von Förderanträgen bringt detail-lierte Einblicke in die Forschungs- und Entwicklungsstrukturen unddamit die Innovationskraft eines Unternehmens.

Von wesentlicher Bedeutung ist das Zeit beanspruchende Kennenlernender handelnden und kommunizierenden Personen auf Seiten derGeschäftspartner. Hausbanken mit einer stabilen Betreuungsstrukturerreichen in der Regel einen hohen personenbezogenen Informations-stand mit der Konsequenz von persönlicher Vertrautheit und Vertrauen.Dies sorgt für eine permanent leichtere Informationsbeschaffung als Basisfür die Erhaltung des privilegierten Informationsniveaus. Der so eta-blierte Firmenkundenbetreuer einer Bank hat die Möglichkeit, seineGesprächspartner beim Kunden jederzeit zu erreichen und so Informa-

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tionen zeitnah und vertieft zu erhalten. Über regelmäßige Besuche derKunden eröffnet sich zugleich die Chance, tiefere Einblicke in die Unter-nehmensabläufe zu bekommen. Ein aufmerksamer Firmenkundenbe-treuer kann auf diesem Wege gerade auch im Zeitverlauf ein mitunterwichtiges Bild über Produktionsabläufe und Mitarbeiterstimmungenbekommen. Auch der Besuch des Kunden auf Fachmessen liegt bei einerHausbankverbindung nahe und vermittelt dann regelmäßig Eindrückeüber Branchenzusammenhänge und Firmenpositionierungen.

Neben diesen geschäftsbezogenen Kommunikationsanlässen sorgenaber gerade auch informelle Treffen und Austausche der Geschäfts-partner für einen Auf- und Ausbau von Vertrautheit und Vertrauen. Diegegenseitige Wahrnehmung und Begegnung in anderen gesellschaftli-chen (auch ehrenamtlichen) Funktionen und bei privaten Vorlieben, dieaufgrund der gegebenen regionalen beziehungsweise lokalen Nähemöglich ist, erweitert das Personenbild maßgeblich.

In der Folge dieser Kommunikationsstrukturen ist die Hausbankgrundsätzlich die Primäradresse für finanzwirtschaftlich relevanteInformationen eines Unternehmens. Der damit einhergehende Trans-parenz- und Zeitvorsprung bietet Handlungs- und speziell auch Bera-tungsmöglichkeiten vor allen anderen Konkurrenten.

Neben der Informationsversorgung ist ein weiterer Vorteil im Wettbe-werb die Chance der Hausbank auf eine breitere und differenziertere Leis-tungsstruktur in der Geschäftsverbindung mit einem Unternehmen. Einprofessioneller Firmenkundenbetreuer sorgt für bedarfsgerechte Leis-tungs-, Beratungs- und Informationsangebote. Sein Engagement öffnetdie Wege zu einem nachhaltigen Cross-Selling, das heißt der umfassen-den Wahrnehmung der Leistungspalette der Bank durch den Kunden.Sein Know-how und seine Kundenkenntnis kann eine weiterführendeBeratung an der jeweils richtigen Stelle ansetzen. Das Vertrauen in seinePerson ermöglicht den Austausch sensibler Informationen und dieSicherheit der Diskretion. Diese umfassende Leistungsbeziehungermöglicht es der Hausbank zugleich, in ihren Konditionen flexibler zuagieren und im Hinblick auf das Ziel einer dauerhaften Rentabilität derganzen Kundenverbindung intertemporale und zwischengeschäftlicheErtragsverschiebungen im Sinne eines kalkulatorischen Ausgleichs ein-zusetzen.

Ein entscheidender Wettbewerbsvorteil einer Hausbank ist aber vorallem auch ihre bessere Ausgangsbasis im Kreditgeschäft. Neben dem bereitsdargestellten Informationsvorsprung bei gerade auch für Kredite rele-vanten Informationen sorgen Kreditgeschäfte im Verlauf einer länger-fristigen Beziehung regelmäßig für einen bevorzugten Sicherheiten-bestand. In der Zeit frei gewordene Teile sowie eine weniger aufwendige

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aktuelle Bewertung schaffen regelmäßig Spielräume bei einer Neuver-gabe von Krediten. So hat eine Hausbank als wesentlichen Vorteil dieMöglichkeit, Kreditentscheidungen schneller, fundierter und mit ange-messenen Auflagen zu treffen und damit auch in Krisenzeiten einesUnternehmens sicherer zu agieren.

Letztlich sorgt auch ein Imagegewinn aus stabilen Hausbankbeziehungen mitimageträchtigen Unternehmensadressen für einen Wettbewerbsvorteil.Die (abgestimmte) Berufung auf derartige Referenzverbindungen istregelmäßig ein nützliches Argument der Banken in der Werbung umNichtkunden und im Ausbau von Nebenverbindungen.

Den dargestellten Vorteilen einer Hausbank im Geschäft mit Unterneh-men stehen allerdings auch einige besondere Risiken gegenüber. Eine imZeitverlauf wachsende persönliche Nähe und Vertrautheit birgt dieGefahr einer Übergewichtung der subjektiven Wahrnehmung und dersogenannten „weichen“ Faktoren (z.B. Fähigkeiten und Persönlichkeitdes Unternehmers) und einer Untergewichtung der objektiven, „harten“Faktoren (z.B. Finanz- und Effizienzkennziffern). Wenn dann noch dasVertrauen gezielt missbraucht wird (z.B. hinsichtlich Richtigkeit, Rele-vanz und Vollständigkeit der gegebenen Informationen), schlägt dieserursprüngliche Vorteil in ein gravierendes Problem um.

Ein zentraler Aspekt mit dem Potential für Enttäuschungen sind ande-rerseits die Erwartungen, die mit einer Hausbankbeziehung bei denUnternehmenskunden aufgebaut werden. Dies beginnt mit Erwartun-gen in den Leistungsumfang und in die Qualität der verschiedenen Leis-tungen eines als Hausbank in Frage kommenden Instituts. Hier habenspeziell kleinere und regional agierende Universalbanken strukturelleNachteile gegenüber internationalen Großbanken einerseits und Spe-zialbanken andererseits, die je nach Bedarfslage des Unternehmens auf-grund seiner eigenen Ausrichtung und Größe unterschiedlich bedeut-sam werden. Ausgleichschancen werden hier regelmäßig durch Koope-rationen, zum Beispiel innerhalb des Sparkassen- und Genossen-schaftssektors, wahrgenommen. Gerade im Kreditgeschäft zeigt sich oftdie Notwendigkeit, in einer syndizierenden Aufteilung des erforderli-chen Gesamtvolumens Leistungen über mehrere Banken darzustellen.Hier gilt es für eine Hausbank, sich im Kreis der Syndizierungspartnerführend zu positionieren.

Erwartungen werden vor allem aber auch in das Verhalten der Haus-bank aufgebaut. Während sich der Anspruch an die Verlässlichkeit vonAus- und Zusagen noch leichter überprüfen lässt, ist die Einschätzungvon Fairness immer wieder subjektiv geprägt und erfordert auch Vor-stellungen von den Handlungsspielräumen und -maßstäben des jewei-ligen Partners. So ist beispielsweise die Erwartung einer fairen Kondi-

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tionengestaltung von Seiten der Hausbank ein wesentlicher Anspruchdes Unternehmenskunden, wobei hier in der Regel kein „besser-als“, son-dern ein „nicht-schlechter-als“ gefordert wird. Dass eine Hausbank imEinzelgeschäft dabei durchaus besondere Spielräume hat, wurde bereitsdargestellt.

Schließlich richten sich Erwartungen von Unternehmen gerade auchauf das Kreditgeschäft mit ihrer Hausbank. Von ihr fordern sie in ersterLinie, Kredit im erforderlichen Umfang, in der notwendigen Zeitdauerund zu akzeptablen Bedingungen erhalten zu können. Darüber hinaussetzen die Kreditnehmer regelmäßig auf Dauerhaftigkeit der Kreditbe-reitstellung, selbst wenn ihnen die zumindest jährlichen Prolongations-entscheidungen auf Seiten der Banken bewusst sind. Immer wieder wirddie Diskussion über bestehende Kredite oder gar Kürzungsüberlegungenals Enttäuschung dieser Erwartungen und als Vertrauensbruch gewer-tet.

Besonders hoch ist die Sensibilität in Krisenzeiten, wo an erster Stellevon den Hausbanken gefordert wird, bei Krediten stillzuhalten oderzusätzliche Kredite zu vergeben. Das wird für diese Institute dort pro-blematisch, wo es nicht nur um eine Überbrückung von Liquiditäts-engpässen mit berechtigter Aussicht auf späteren Ausgleich geht, son-dern quasi eine „Nibelungentreue auf Gedeih und Verderb“ erwartetwird. Gerade hier wird deutlich, welche Risiken in der sich aufbauendenErwartungsstruktur gegenüber einer Hausbank für diese liegen könnenund wie weit der Anspruch auf Loyalität und Verlässlichkeit reichenkann.

Das Hausbank-Modell aus Sicht eines Unternehmens

Bei der Frage der Vorteilhaftigkeit einer Hausbankverbindung soll nundie Sicht eines Unternehmens eingenommen und dessen Kundensitua-tion im Einzelnen geprüft werden. Vor allem drei Argumente sprechenfür Hausbankverbindungen:

1. Die geringeren Kosten der finanzwirtschaftlichen Bedarfsdeckung.

2. Die größere Bedeutung und damit Machtposition eines Unterneh-mens als Kunde für die Bank.

3. Die Berechtigung besonderer Erwartungen an eine Hausbank.

Geringere Kosten entstehen zum einen bei der Informationsbereitstellung.Das bei der Hausbank vorhandene kulminierte Informationsniveaumacht in diesen Beziehungen bei aktuellen Anlässen die Vergabe ledig-lich von neuen Informationen notwendig. Auf die Aufbereitung einer

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Informationshistorie, wie sie regelmäßig für fallweise hinzutretendeBanken erforderlich wird, kann hier verzichtet werden.

Bereits die Aufnahme jeder neuen Kommunikationsrunde gestaltet sicheinfacher. Die Ansprechpartner sind bekannt und gezielt erreichbar. Diegegenseitige Vertrautheit sorgt für niedrige Schwellen einer Gesprächs-aufnahme. Die so in unkomplizierter Weise zunächst bilateral führ-baren Gespräche und Verhandlungen erbringen schnell einen Maßstabfür Machbarkeit, Bedingungen und Preise angefragter Leistungen, ein inder Diskussion mit anderen Anbietern nützlicher Bezugsrahmen. Dergegenseitige Kenntnisstand bei Hausbankverbindungen bietet darüberhinaus die Chance für passgenaue Problemlösungen in kürzest mög-licher Zeit. Wichtig ist dabei oft, dass bestehende Sicherheiten und dieNutzung hier freier Teile regelmäßig für Kostenvorteile speziell im Kre-ditgeschäft sorgen.

Das Gewicht als Kunde wirkt sich in einer Hausbankbeziehung auf die Ver-handlungsmacht in konkreten Geschäftsverhandlungen aus. Diesberuht zum einen auf der Bedeutung als Abnehmer eines großen Teilsder Leistungspalette der Hausbank. Die Bank will bei einem Neuab-schluss die laufenden Geschäfte in den anderen Leistungskanälen nichtgefährden. Zum anderen kann ein Unternehmen mit Hinweis auf dieBeziehungshistorie den in der Vergangenheit erbrachten Nutzen alsKunde ins Spiel bringen. Auch der höhere Kenntnisstand über die Ent-scheidungsstrukturen der Bank sowie die dort beteiligten Personen undderen Verhandlungsspielräume führen zu einer präziser einschätzba-ren und damit gezielter einsetzbaren Verhandlungsposition eines Unter-nehmens gegenüber seiner Hausbank.

Der Bezug auf die Kundenhistorie führt nach den dargestellten Vorteilenbei Kosten und Verhandlungsmacht zum dritten Argument für Haus-bankbeziehungen. Wie bereits aus Sicht einer Bank bauen sich auch aufSeiten eines Kundenunternehmens im Laufe der Geschäftsverbindungzunehmende Erwartungen in das Verhalten des Bankpartners auf, die einebesondere Berechtigung haben. Die Erfahrung der Vergangenheit bei Art,Umfang und Qualität der Leistungen bilden den Anspruchsrahmen beijedem neuen Geschäft. Die Fokussierung der Anforderungen an Schnel-ligkeit, Genauigkeit, geringe Fehlerquote, Beratungsumfang und -qua-lität sowie allgemeiner Informationsbereitstellung und Unterstützungauf die Hausbank spiegeln dabei regelmäßig auch die Erfahrung mitanderen Banken wider und ermöglichen so den Aufbau eines hohenErwartungsdrucks in der Kernpartnerschaft. Das bestehende Vertrauen indie persönlichen Gesprächs- und Verhandlungspartner kommt hier mitder Erwartung von Fairness und Verlässlichkeit, aber auch einer unein-geschränkten Diskretion in verstärkender Weise zur Geltung.

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Von herausragender Bedeutung sind zweifellos die Erwartungen im Kre-ditgeschäft. Gerade hier wird von Seiten der Kunden Verlässlichkeit erwar-tet im Sinne von dauerhafter und ausreichender Kreditbereitschaft. Wiebereits dargestellt, müssen Kredite im erforderlichen Umfang, in dernotwendigen Zeitdauer und zu akzeptablen Bedingungen erhältlichsein. Oft wird dann eine in diesem Sinne funktionierende Kreditver-bindung als Argument für die Wertschätzung des Unternehmens undseiner Aktivitäten auch in der Außenkommunikation genutzt. Dies gehtmitunter so weit, dass eine positive Kreditentscheidung von Unterneh-men oft als positive Wertung des zu finanzierenden Projekts und desUnternehmens insgesamt gesehen wird. Im Vertrauen in die Urteilskraftder Bank wird Krediterhältlichkeit damit zu einem Qualitätssiegel desUnternehmens.

Eine Hausbank sollte aus Sicht des Kundenunternehmens auch dannnoch mit Kredit bereitstehen, wenn andere Institute zögern. DieseErwartung gründet sich auf die Summe der dargestellten Faktoren derim Zeitverlauf gewachsenen Hausbankverbindung, wie Informations-und Kenntnisstand, Sicherheiten, Geschäftshistorie und persönlicheBeziehungen. Speziell in kritischeren Unternehmensphasen überlagertder hier bestehende existentiell begründete Erwartungsdruck alle ande-ren Geschäftsbereiche und dominiert entscheidend das Verhältnis zwi-schen Hausbank und Unternehmen.

So berechtigt diese Erwartungen des Unternehmenskunden in einerlangfristigen Hausbankbeziehung sind, so sehr werden an dieser Stelleauch die Risiken enttäuschter Erwartungen deutlich. Eine enge Bindung zurNutzung der dargestellten Vorteile führt zu Abhängigkeiten. Bei feh-lender paralleler Pflege von Alternativanbietern ist ein schneller Wech-sel des Lieferanten von Bankleistungen selbst bei grundsätzlich beste-henden Möglichkeiten kaum oder nur mit Nachteilen möglich. Zumeinen erfordert der Wechsel zu einer neuen Bank Zeit, die gerade beianstehendem Finanzbedarf oft zum Engpassfaktor wird. Zum anderenentstehen Kosten durch einen erhöhen Informationsaufwand und gege-benenfalls Sicherheitenübertragungen. Generell sorgt der Verzicht aufin einer Hausbankverbindung aufgebaute Verhandlungsmacht für eineungünstigere Ausgangsbasis bei der Suche nach Lieferalternativen.

Fast programmiert ist die Enttäuschung von Erwartungen in einerUnternehmenskrise. Wird mit der Sicherung der finanziellen Basis bisin die Phase der Liquiditätskrise gewartet, dann sorgt der existentielleund zeitliche Druck für oft nicht erfüllbare Erwartungen, die sich zen-tral auf die vorrangig geforderte Hausbank fokussieren.

Besonders schwierig wird es, wenn die Hausbank selbst in einer schwa-chen wirtschaftlichen Lage sein sollte. Dann sind deren Spielräume in

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allen Lieferentscheidungen, vorrangig in der Bereitstellung von Kredit,der Flexibilität bei Konditionen und auch dem Angebot von Informati-ons- und Beratungsleistungen, eingeengt. Die in einer solchen Hausbankablaufenden internen Maßnahmen und Veränderungen sorgen zudemregelmäßig für Beeinträchtigungen oder Unterbrechungen in der Kon-tinuität bei den Beratungsstrukturen und damit für eine Reduzierungder aufgebauten Hausbank-Vorteile.

Das Hausbank-Modell als Hoffnungsträger

Die dargestellten Vorteile und Risiken von Hausbankbeziehungensowohl aus Sicht einer Bank wie auch aus Sicht eines Unternehmens-kunden machen deutlich, dass auf beiden Seiten Abwägungen vorzu-nehmen sind. Für beide Partner bietet eine solche GeschäftsverbindungVorteile, die diese auf Bankenseite einer produktorientierten Absatz-strategie und auf Unternehmensseite einem fallweise festgelegtenSystem von Lieferantenbanken überlegen machen. Voraussetzung istallerdings, dass die bestehenden Risiken beherrschbar gemacht wer-den, das heißt, die Risiken müssen durch entsprechende Informationentransparent und kalkulierbar und durch angemessene Absprachen undVertragsbedingungen tragbar gemacht werden.

Die Ambivalenz von Vorteilen und Risiken ist Kern der Auseinanderset-zung um das Hausbank-Modell, das in Krisenzeiten ob seiner mangeln-den Tragfähigkeit im Kreditgeschäft oft heftig kritisiert wird, zugleichaber mit seinem regelmäßigen Wiedererstarken in Rekonvaleszenz- undAufbauphasen seine Robustheit zum Vorteil der Geschäftspartnerimmer wieder unter Beweis stellt.

Aus der vorliegenden Analyse lassen sich nun zwei Ansätze ableiten, diezur Beherrschbarkeit der Risiken und damit zur Nutzung der Vorteiledes Hausbank-Modells führen:

1. Der Aufbau und die regelmäßige Bestätigung realistischer Erwartun-gen auf beiden Seiten (Erwartungsmanagement).

2. Die Vermeidung von Abhängigkeiten und starken Ungleichgewichtenin der Partnerschaft (Machtmanagement).

Im Brennpunkt der Erwartungen eines Unternehmens an seine Hausbanksteht deren Kreditbereitschaft. Wie festgestellt sollte Kredit im erfor-derlichen Umfang, in der notwendigen Zeitdauer und zu akzeptablenBedingungen erhältlich sein. Realistisch werden diese Erwartungen,wenn der Kreditnehmer ein klares Bild von den Kriterien und Parame-tern der Kreditentscheidungen bei den Banken allgemein und bei seinerHausbank im Speziellen hat. An den so gesetzten Anforderungen ist die

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eigene Situation zu spiegeln und in den Bewertungen wechselseitigabzustimmen.

Diesem grundlegenden Anspruch lässt sich seit Einführung der bank-internen Ratingsysteme sehr viel präziser und umfassender Rechnungtragen als in der Vergangenheit. Hier werden die Informationen des Kre-ditnehmers durch die Bank systematisch zusammengestellt, bewertetund zu einem Krediturteil zusammengeführt.

An dieser Stelle soll nicht in einer Auflistung auf die differenziertenKataloge mit einer Vielzahl quantitativer und qualitativer Kriterieneingegangen werden. Auf einige Punkte mit besonderem Potential fürMissverständnisse und Einschätzungsdifferenzen soll gleichwohl hin-gewiesen werden. So ist es wichtig, sich neben der bilanziellen Kapi-talstruktur ergänzend Klarheit über bestehende Kapitalreserven zu ver-schaffen. Hierzu gehören mobilisierbare Reserven beim Eigenkapitalwie auch freie Kreditlinien. Der Kreditnehmer sollte sich bewusst sein,dass der Kontokorrentkredit aus Sicht der Bank der variablen Inan-spruchnahme dient. Feste Kreditsockel sollten laufzeitkongruent refi-nanziert werden.

Regelmäßig zu Meinungsverschiedenheiten führt die Bewertung vonVermögensgütern. Sorgen bei den Sachanlagen die steuerlichen AfA-Tabellen noch für eine auf beiden Seiten in der Regel akzeptierte Dis-kussionsbasis, so sind die Wertansätze bei den Warenbeständen und For-derungen oft von geringerer Konsequenz und vielfach von Hoffnungengeprägt. Banken machen entsprechende Erfahrungen dann im Verwer-tungsfall, wo meist nur geringe Quoten zu erzielen sind. Kreditnehmersollten wahrnehmen und akzeptieren, dass dieses Worst-Case-Szenarioregelmäßig den Hintergrund für die Bewertung von Sicherheiten auchbei gut laufenden Unternehmen im Normalgeschäft bilden muss.

Wichtige Informationen ergeben sich im Übrigen aus der Transparent-machung substantieller sonstiger Verpflichtungen des Unternehmens,die nicht in der Bilanz erscheinen. Sich über latente Risiken aus abge-gebenen Bürgschaften und Garantien sowie vertragliche Verpflichtun-gen aus Gewährleistungen, Produkthaftungen und Leistungsvereinba-rungen im Klaren zu sein und diese systematisch zu verfolgen und zubegrenzen, muss ureigenstes Interesse eines Unternehmens sein. Hier-bei sind gerade auch die organschaftlichen Verflechtungen innerhalbeiner Unternehmensgruppe umfassend zu berücksichtigen.

Hinzuweisen ist schließlich auf die Bedeutung einer Reihe von qualita-tiven Faktoren wie Branche und Positionierung des Unternehmensdarin, Mitarbeitersituation und -struktur, vor allem aber auch Beset-zung und Kontinuität in der Unternehmensführung. Hier ist eine Objek-

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tivierung – wenn auch in unterschiedlichem Maße – immer wiederschwierig. Verbindliche Bewertungen mit der Chance auf intersubjek-tive Belastbarkeit und auf Vergleichbarkeit mit anderen Unternehmenerfordern neben nachvollziehbaren Informationen ein hohes Maß angegenseitigem Verständnis und Fairness. Allerdings muss sich ein Kre-ditnehmer darüber im Klaren sein, dass auch dann, wenn diese Para-meter nicht detailliert besprochen und bewertet werden, die Bank dieseBeurteilungen intern nach eigenem bestehenden Wissen vornimmt unddabei naturgemäß eher vorsichtig vorgeht.

Realistische Erwartungen der Kunden an die Kreditbereitschaft einerBank setzen also die differenzierte Kenntnis deren Kreditentscheidungs-und Kreditnehmer-Beurteilungssysteme voraus. Im Sinne dieses Eigen-interesses sind die gestellten Anforderungen der Banken auf Seiten derUnternehmen ernst zu nehmen, Begründungen für die Einschätzungenabzufordern und nachzuvollziehen, wo nötig, ergänzende Informatio-nen bereitzustellen und schließlich eigene Einschätzungen einzubrin-gen, aber auch zu überprüfen. Über einen solchen Dialog ist es möglich,Fehler zu korrigieren und Urteile zu schärfen, gegebenenfalls aber auchVeränderungsspielräume zu identifizieren und entsprechende Maß-nahmen abzustimmen. Für die Verlässlichkeit empfiehlt sich eineschriftliche Protokollierung der Gespräche, für die Aktualität eine regel-mäßige Überprüfung der Einschätzungen.

Es ist offensichtlich, dass ein solcher Dialog aufwendig ist. Als Kosten derFinanzierung macht er sich aber bezahlt und ist dann am zweck-mäßigsten grundlegend zu starten, wenn kein aktueller Finanzie-rungsdruck vorliegt. Bei später auftretendem Bedarf ist eine Bestätigungoder Aktualisierung dann immer wieder schnell und kostengünstigmöglich.

Vor dem aufgezeigten Hintergrund führen Aversionen gerade auch mit-telständischer Unternehmer gegen einen solchen Aufwand regelmäßigzur Enttäuschung von Erwartungen. Allgemeine Aussagen wie „Wirbrauchen das Vertrauen der Banken, dass wir unser Geschäft beherr-schen“ oder „Wir würden gerne investieren, aber das notwendige Geldwird uns von der Bank nicht gegeben“ begründen keine Kreditbereit-schaft von Banken.

Ebenfalls offensichtlich ist, dass eine Hausbankbeziehung mit ihrencharakteristischen Elementen deutliche Vorteile für solche Dialoge unddamit für realistische Erwartungen an die Geschäftspartner bietet. Diesgilt gerade auch in einer Unternehmenskrise. In dieser Situation sindHausbanken regelmäßig in einer Schicksalsgemeinschaft mit ihrenKunden. Insolvenzen zerstören Werte auf beiden Seiten. Geht es um dieÜberbrückung von Liquiditätsengpässen, kann dies vor allen anderen

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von der Hausbank erwartet werden. Wird das Unternehmen anderer-seits als nicht überlebensfähig eingestuft und Kredit in dieser Situationabgelehnt, sollte eine Hausbank zumindest zweierlei leisten:

1. Eine klare Analyse und deren schnelle und offene Kommunikation.

2. Das Nachdenken über Bedingungen, wie es eventuell doch weiterge-hen könnte: „Wenn so nicht, wie dann?“ Dies kann gegebenenfallsauch harte Einschnitte wie Teilverkäufe und Diversifizierungen bein-halten.

Letztlich wird es aber je nach Stadium der Krise immer wieder die Ent-scheidung auch einer Hausbank geben, nicht mehr weiter mit Kredit zurVerfügung zu stehen. Hier greift die Verantwortung der Banken fürihnen anvertrautes, fremdes Geld, die Kredit nur erlaubt im Vertrauenund in der Überzeugung, diesen wieder zurückzuerhalten. Bei klarabsehbarer Wertevernichtung sind Erwartungen auf eine Krediterhält-lichkeit nicht realistisch.

Berechtigterweise erwarten dürfen Unternehmen von ihren Hausban-ken allerdings einen anhaltend fairen Umgang mit der notwendigenEmpathie. Zu Recht sind Stil, Offenheit und Klarheit der Kommunika-tion sowie Verlässlichkeit der Aussagen sensibel wahrgenommene Ele-mente einer derartigen Geschäftsverbindung.

Erwartungen von Banken richten sich demgegenüber in besondererWeise auf:

a. Informationen von Seiten des Kundenunternehmens,

b. dessen unternehmerische und finanzielle Führung sowie

c. Abschluss- und Erfüllungstreue bei den Finanzgeschäften.

Die Informationsvergabe des Kunden steht im Zentrum der Erwartun-gen einer Hausbank an eine derartige Geschäftsverbindung. Grundsätz-lich ist die Bank an allen Informationen über das Kundenunternehmeninteressiert. Wenn dann noch die üblichen Anforderungen wie zeitnah,vollständig, offen und zuverlässig und dabei für die Hausbank bevorzugtgenannt werden, wird deutlich, dass ein solcher diffuser Generalan-spruch eher „absicherungstechnisch“ motiviert ist, einem belastbarenInformationsmanagement und den darauf gerichteten Erwartungenaber nicht gerecht werden kann. Erfüllbarkeit erfordert Präzisierung.Ohne sich bis ins letzte Detail festlegen zu müssen, erscheinen hier zweiUnterscheidungen nützlich:

1. Regelmäßig anfallende und erwartbare Geschäftsinformationen ver-sus fallweise auftretende, nicht erwartbare Neuigkeiten.

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2. Im Unternehmen vorhandene, weil im Eigeninteresse erstellte Infor-mationen versus für Banken wünschbare, aber speziell zu erstellendeAuswertungen.

Bei 1. kann von den Banken erwartet werden, dass sie den ersten Teil sogenau wie möglich und in gegenseitiger Absprache definieren. Bei denzweitgenannten Informationen muss eine Hausbank dann wiederumverlässlich eine bevorzugte, zeitnahe und inhaltlich umfassende undkorrekte Kommunikation erwarten dürfen.

Bei 2. zeigt sich erneut, dass eine belastbare Bankbeziehung ein gewis-ses Maß an Know-how und Aufwand im Unternehmen mit sich bringt.Anspruch an die Hausbank ist allerdings, als zumutbar akzeptable An-forderungen zu stellen. Dabei spielt eine große Rolle, inwieweit spezi-elle Ausarbeitungen auch für das Unternehmen selbst in dessen Füh-rung genutzt werden können oder nützlich sind. Generell verschafft dieRückmeldung über Inhalt und Bewertung gegebener Informationeneine breitere Akzeptanz bestehender Erwartungen der Bank.

Ein sensibler Bereich im Dialog mit der Hausbank ist regelmäßig dieKommunikation über die unternehmerische und finanzielle Führung des Unter-nehmens. Gerade bei kleineren und inhabergeführten Betrieben ist die-ses Thema immer wieder emotional geprägt. So notwendig die Zurück-haltung bei schnellen Ratschlägen im Kern-Know-how der Unterneh-mensleitung ist, so berechtigt ist oft die Hilfestellung in finanziellen Fra-gen. Nicht umsonst wird dann von der Hausbank und gut ausgebildetenFirmenbetreuern als einer quasi externen finanzwirtschaftlichen Stabs-stelle des mittelständischen Unternehmers gesprochen. Dies übergehtaber mitunter dessen anhaltende Verantwortung, selbst für eine trag-fähige Liquiditätssteuerung und auch Finanzplanung mit rechtzeitigerDeckung von Bedarf beziehungsweise dem Aufbau finanzieller Reservenzu sorgen.

Hier nicht erst in der Liquiditätskrise zu reagieren, sondern vor der vor-angehenden Ertragskrise und davor den strategischen Marktproblemennicht die Augen zu verschließen und gegenzusteuern, ist wiederumureigenste Fähigkeit einer guten Unternehmensführung. Dass dann inder Krise Kreditgeber den Mut und die Konsequenz zu auch harten Ein-schnitten und Änderungen erwarten, ist nur folgerichtig.

Wenn schließlich Hausbanken eine bevorzugte Ansprache und Ange-botsprüfung bei interessanten Neugeschäften erwarten, dann steht demnaturgemäß die Erwartung des Unternehmens gegenüber, im Wettbe-werb der Banken hier bei Leistung und Preisen zumindest nicht schlech-ter gestellt zu werden. Leistungsabstriche oder höhere Preise verträgteine Hausbankverbindung nur in begründbaren Ausnahmen. Anderer-

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seits sollte eine etablierte Verbindung am ehesten auch die gegenseiti-gen Positionen glaubwürdig und nachvollziehbar machen und so zumBeispiel den Anspruch „Banken brauchen ein rentables Kreditgeschäft“nicht zum vordergründigen Verhandlungsargument um Zinsen degra-dieren.

Die breite Erörterung von Erwartungen auf beiden Seiten der Haus-bankverbindung und die Betonung der Wichtigkeit, mit diesen Erwar-tungen offen und aktiv umzugehen, begründet sich letztlich in einerfokussierenden Feststellung:

Vertrauen entsteht durch Glaubwürdigkeit, Glaubwürdigkeit durchNichtenttäuschung von Erwartungen. Über den realistischen Umgangmit den wechselseitigen Erwartungen wird die wesentliche Grundlagefür eine dauerhafte, positiv wirkende Hausbankverbindung gelegt undgepflegt: das gegenseitige Vertrauen.

Ein zweites Element einer partnerschaftlichen Geschäftsbeziehung sollabschließend noch in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wer-den: die Ausgewogenheit, die Balance in den gegenseitigen Abhängigkeiten.Abhängigkeiten beschneiden die unternehmerischen Handlungsspiel-räume; im Extrem dominieren sie wesentliche Entscheidungen.

Sorge von Unternehmen ist vor allem die Abhängigkeit von der Kredit-bereitschaft der Banken im Generellen und der Hausbank im Speziellen.Wirksames Vorgehen ist hier vor allem, die eigene Kreditfähigkeit undderen Spielräume und Einflussfaktoren zu kennen und im Sinne derBanken richtig einzuschätzen. Gerade in – branchenbedingt und nochmehr konjunkturbedingt – volatilen Märkten gibt eine (speziell im Bran-chenvergleich) hohe Eigenkapitalquote die Sicherheit der Unabhängig-keit. Bei den andererseits regelmäßig notwendigen und auch ökono-misch sinnvollen anteiligen Kreditfinanzierungen empfiehlt es sich fürUnternehmen, sich Alternativen bei Kern-Kreditgebern aufzubauen.Hierzu gehört auch, auf die Verfügbarkeit und Fungibilität von Sicher-heiten zu achten.

Dieser Ansatz gilt aber auch für die anderen Leistungselemente der Ban-ken wie das Transaktionsgeschäft, das Fremdwährungsgeschäft und dasEinlagengeschäft. Leistungsalternativen sorgen hier für den notwendi-gen Wettbewerb mit der Konsequenz adäquater Leistungen und Preise.

Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass die ausschließliche Aus-richtung auf eine einzige Bankverbindung auch bei einem guten Erwar-tungsmanagement für ein Unternehmen immer noch substantielle Risi-ken beinhaltet. Die Etablierung von Alternativen in Form von zwei gleichbe-rechtigten Verbindungen reduziert diese Probleme. Bei überschaubar erhöh-tem Aufwand lassen sich die charakteristischen Elemente einer

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Hausbankbeziehung in offener Kommunikation der Partner auch aufzwei Banken übertragen und deren Vorteile vom Unternehmenskundennutzen. Das so praktizierte Zwei-Banken-Modell erscheint im Sinneeines effizienten Machtmanagements das überlegene Hausbank-Modellaus Sicht eines Unternehmens. Es verträgt im Kreditgeschäft – wennnötig – auch durchaus die Einbeziehung weiterer Banken in die Auftei-lung und Deckung auftretenden Kreditbedarfs. Allerdings sollte in die-sen Fällen die besondere Verantwortung der zwei Hausbanken heraus-gestellt und im Finanziererkreis berücksichtigt werden.

Für eine Reduzierung von Abhängigkeit sorgt schließlich auch einegewisse Balance in der Bedeutung eines Unternehmens als Kunde einerBank. Ein zu geringes Gewicht sorgt für die Gefahr einer niedrigen Auf-merksamkeit im Eingehen auf Kundenwünsche und -bedarf. Ein zuhohes Gewicht führt zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Bankbei neuen Entscheidungen aufgrund deren starken Wirkung auf daseigene Geschäft. Die Verlagerung ertragreicher Geschäfte durch denKunden hinterlässt in diesem Fall besondere Spuren in der G+V derBank. Speziell im Kreditgeschäft bedeutet dies aber nicht nur das poten-tielle Wegfallen künftiger Erträge, sondern in Unternehmenskrisenauch die Gefahr von einschneidenden Vermögensverlusten. Je größerdie Bedeutung eines Kreditkunden für eine Bank ist, umso stärker stehtdiese dann unter einem Stillhalte- beziehungsweise Prolongationsdruckbis hin zur Abwägung, mit zusätzlichen Krediten ein bestehendes En-gagement zu sichern oder zu retten.

Die hier dargestellten Zusammenhänge spielen im Bewusstsein derGeschäftspartner in der Praxis eine große Rolle. Nicht umsonst wird vonUnternehmen im Rahmen ihrer Finanzierung auch bei gut funktionie-renden Beziehungen immer wieder die Unabhängigkeit von Banken alsZiel genannt. Bei Banken kommt in dem Begriff der Schicksalsgemein-schaft mit Kreditkunden das Eingeständnis der hier nur bedingt gege-benen Entscheidungsfreiheit zum Ausdruck. Mit dem Zwei-Banken-Modell verteilen sich die Lasten in einer am besten tragbaren Weise aufdie Partner. Es erscheint unter Würdigung von Vorteilen und Risiken amehesten belastbar und tragfähig und könnte somit durchaus die Qua-lität eines zukünftigen Hoffnungsträgers im Geschäft zwischen Bankenund Unternehmen bieten.

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LiteraturAshauer, Günter: Entwicklung der Sparkassenorganisation ab 1924, in: Deutsche Ban-kengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1983.

Born, Karl Erich: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende der Weimarer Repu-blik (1914–1933), in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt amMain 1983.

Eckert, Christian: L. Rothschilds Taschenbuch für Kaufleute, 55. Auflage, Leipzig 1912.

Elsas, Ralf: Die Bedeutung der Hausbank, Wiesbaden 2001.

Eschenbach, Sebastian: Wenn Kunden ihrer Bank vertrauen, Wien 1997.

Fischer, Klaus: Hausbank-Beziehungen als Instrument der Bindung zwischen Banken undUnternehmen, Bonn 1990.

Pohl, Manfred: Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, in:Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1982.

Pohl, Manfred: Festigung und Ausdehnung des deutschen Bankwesens zwischen 1870 und1914, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1982.

Pohl, Manfred: Die Entwicklung des privaten Bankwesens nach 1945. Die Kreditgenos-senschaften nach 1945, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frank-furt am Main 1983.

Segbers, Klaus: Die Geschäftsbeziehungen zwischen mittelständischen Unternehmen undihrer Hausbank, Frankfurt 2007.

Stegmann, Johannes: Funktionen der Hausbank bei der Unterstützung von Unterneh-mensgründungen, Lohmar/Köln 2006.

Weber, Martin: Bankbetriebslehre, Berlin 2004.

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Abbildung 19: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Banken I

Abbildung 20: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Banken II

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Vertrauen in der Krise?Das ewige Karussell des Wertezerfalls

Stefanie Unger

„Eher schätzt man das Gute nicht, als bis man es verlor“, soll der Dich-ter Johann Gottfried Herder gesagt haben. Und er sollte recht behalten.Zumindest im öffentlichen Raum erklingen Klagen über das Fort-schreiten des Werteverfalls, der, angeführt durch die „Abzockermenta-lität“ in den Chefetagen der Banken, die Gesellschaft beinahe in denAbgrund geführt hätte.

Vor wenigen Jahren ging die Wirtschaft nur bergauf, mehr Risikobrachte mehr Gewinn. Nichts schien unmöglich. Und nun soll man sichzurückbesinnen auf eine Zeit, in der noch alles anders war, die freieMarktwirtschaft noch den Geboten der Rücksichtnahme und Ange-messenheit folgte. Am besten sollte über staatliche Regularien gleich derZwang zur Huldigung dieser Gebote zementiert werden, um eine nach-haltige Marktwirtschaft auf immer zu sichern.

Kennen wir dieses Schauspiel nicht allzu gut, das Auf und Ab der Wirt-schaft, der antizyklische und gleichsam iterative Schrei nach mehr oderweniger Staat? War zur Zeit der New Economy nicht ein ähnlicher Ver-lauf zu beobachten? Mit dem Unterschied, dass die aktuelle Krise –zumindest in Deutschland – noch stärker eingeschlagen hat. Das wissendie Experten.

Doch wie konnte es nur so weit kommen? Diese Frage stellen sich nunalle. Wenn wir die Unternehmensleitbilder unterschiedlichster Unter-nehmen studieren, fällt eines auf: Alle behaupten, ähnliche Werte zuleben. Alle halten Werte hoch, die auf eine erfolgreiche Firma mitgepflegtem Umgang im Hinblick auf interne und externe Ansprech-gruppen schließen lässt. Alle wollen sie nachhaltig sein – sozial, ökolo-gisch und ökonomisch versteht sich. Doch nachhaltig ist vor allem eines– die Krise. Bereits die Ähnlichkeit der Unternehmensleitbilder – nebengewissen Branchenspezifika: Banken sind diskret, Technologiefirmensind innovativ – sollte einen nachdenklich stimmen. Kann es sein, dassalle Firmen derart ähnliche Werte leben? Und werden die großge-schriebenen Werte in den Hochglanzbroschüren überhaupt gelebt, odersind es doch nur Marketing-Slogans?

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Wir alle kennen die Antwort. Die kommunizierten und gelebten Werteklaffen oft weit auseinander. Auch wenn die gelebten Werte für denErfolg oder Misserfolg des Unternehmens ausschlaggebend sind, stehensie oft nicht im Fokus der Chefetagen. Gelebte Werte tragen jedoch zurSteigerung der Reputation eines Unternehmens bei den verschiedenenStakeholdern bei und treiben den Aktienwert in die Höhe.

Kulturelle Werte schaffen ökonomischen Wert und vice versa. Diesscheint jungen Führungskräften verstärkt bewusst zu werden, wie eineStudie der Wertekommission kürzlich gezeigt hat. Werte seien aus ihrerSicht kein „Soft Fact“ mehr, sondern ein hartes Kriterium zur Unter-nehmensbewertung. Dies lässt Hoffnung aufkommen. Hoffnung, dassUnternehmer und Manager wieder verstärkt die Unternehmenswerte inden Analysefokus nehmen und einen verstärkten Wertedialog über dieZukunft des Unternehmens führen. Denn dies ist gerade in Zeiten derKrise und des Umbruchs von zentraler Bedeutung. Wie Molière einstsagte: „Die Dinge haben nur den Wert, den man ihnen verleiht.“ Das giltauch für die Werte selbst.

Werte in der Krise oder Krise der Werte?

Vor sechs Jahren habe ich die erste Auflage des Buches „Vertrauen istgut“ veröffentlicht. Den Anstoß dafür hatte mein persönliches Erlebenum den Enron-Skandal gegeben, in den mein damaliger ArbeitgeberArthur Andersen hautnah involviert war. Die erste Auflage trug daherdie Frage als Untertitel: „Braucht die Wirtschaft mehr Kontrolle?“

Mit dieser Frage begab ich mich auf eine Reise, um mit DeutschlandsFührung über die Ursachen und potentielle Lösungsansätze zu spre-chen. Antworten fand ich im Dialog mit den Führungskräften der Unter-nehmen darüber, wie sie ihren Alltag, ihr Umfeld und ihre täglichenKonflikte erleben und bewältigen. Dabei habe ich festgestellt, dass auchin den Führungsetagen ein großes Interesse an werteorientiertem undnicht allein wertorientiertem Unternehmertum besteht. Unabhängigvon der Position in der Unternehmenshierarchie liegt es jedoch anjedem Einzelnen, einen Beitrag zu einer vertrauensvollen Unterneh-menskultur zu leisten. Gerade in einer Zeit des Vertrauensverlustesmuss man aber auch gemeinsam daran arbeiten, dieses wiederherzu-stellen. Dabei sind Führungskräfte besonders gefragt, da sie sowohl imPositiven als auch im Negativen eine Vorbildfunktion haben.

Mit dem Leitsatz „Menschen bewegen“ habe ich gemeinsam mit Per-sönlichkeiten aus der Wirtschaft die Initiative „Wertedialog“ ins Lebengerufen, in der es darum geht, Diskussionen über Werte anzustoßen,werteorientiertes Handeln zu fördern und in Unternehmen zu veran-

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kern. Wenn die Menschen an der Unternehmensspitze ihrer Vorbild-funktion gerecht werden und das vorleben, was sie von ihren Mitarbei-tern erwarten, dann – davon bin ich überzeugt – können werteorien-tierte Unternehmen entstehen, die langfristig auch eine höhere Wert-schöpfung erzielen.

In den vergangenen sechs Jahren hat sich in der Welt vieles verändert,nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern auch in der Gesellschaft undin der politischen Landschaft. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass kurzfris-tiges Streben nach Profit die globale Wirtschaft an den Rande einesAbgrunds führt und wir intelligentere und wirksamere Mechanismender Regulierung benötigen. Der Staat sollte die Unternehmen dabeiunterstützen, Anreize so zu setzen, dass Vergütung und Verantwortungin der Unternehmenswelt zusammengeführt werden. Leistung solltehonoriert werden, aber Honorar und Verantwortung für das unterneh-merische Risiko müssen zusammen auf der Unternehmerseite liegen.

In der gesellschaftlichen Entwicklung ist es vor allem das Internet undder Boom des Social Networking, das den Menschen neue Perspektivenin der Bildung und im Austausch bietet. Früher einem kleinen Kreis vor-behaltene Harvard-Vorlesungen sind schon heute für jedermann kosten-los zugänglich. Lernen bedeutet in Zukunft mehr Eigenverantwortung.Gleichzeitig kann man über den Großteil der arbeitenden Bevölkerung,insbesondere über selbständig Tätige, Informationen im Internet fin-den. In Zukunft werden diejenigen Menschen unternehmerisch erfolg-reich sein, die als Freunde und zuverlässige Partner gelten. Hier bietendie Möglichkeiten des Internet eine neue Form der gesellschaftlichenSelbstkontrolle.

Die weltweite Resonanz auf die Wahlen in den USA hat gezeigt, dassMenschen sich Veränderung wünschen und dass sie dabei Vorbilder undLeader brauchen. Menschen sind bereit, für eine gute Sache zu kämpfen.Letztlich sind es auch die vielen Veränderungen in Deutschlands Chef-etagen, die großen Einfluss auf die Entwicklung unseres Landes haben.

In der aktuellen Wirtschaftskrise sind verschiedene Unternehmensty-pen mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Börsenno-tierte Unternehmen sehen sich zum Teil einer Kehrtwende des bewähr-ten Modells der Privatisierung ausgesetzt. Angeschlagene Unternehmenwurden verstaatlicht oder können nur mit Staatsgarantien überleben.Die Privatunternehmen und insbesondere die traditionsreichen deut-schen Familienunternehmen gehorchen seit jeher eigenen Gesetzenund sind weniger stark an das Prinzip des Shareholder Value gebunden.Sie verfolgen eine langfristige, wachstumsorientierte Strategie, habensich im Einklang mit ihrem Umfeld über lange Zeit etwas erarbeitet undnehmen in der deutschen Wirtschaft eine Vorbildfunktion ein. Eine

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Sorge der Privatunternehmen ist die durch die Finanzkrise ausgelösteKreditklemme, die manche Privatunternehmen in die Insolvenz geführthat. Die Global Players müssen sich dem mit der Globalisierung ein-hergehenden Wettbewerbsdruck stellen.

Die Frage, die ich an den Anfang der ersten Auflage meines Buchesgestellt habe: „Braucht die Wirtschaft mehr Kontrolle?“, kann ich heutemit einem klaren „Ja“ beantworten. Die fehlende Kontrolle sehe ichjedoch nicht auf Seiten des Staates. Letztlich sind wir es selbst, die inunserem Umfeld Verantwortung übernehmen und auch mal ungefragtdie Initiative ergreifen können oder mal nicht weggucken, wenn etwasnicht mit rechten Dingen zugeht. Ich glaube, wir als Gesellschaft, jederEinzelne, kann unser Land und unsere Wirtschaft voranbringen, jederauf seine Art.

Erleben wir eine Krise der Werte oder erleben wir Werte in der Krise?Leben wir Werte in der Krise!

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Abbildung 21: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Marken I

Abbildung 22: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Marken II

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Markenbildung und die Gewinnung desöffentlichen VertrauensMarkenführung als ethisches Prinzip – oder: Warum Vertrauen verpflichtet

Frank Merkel

Das Mittelalter scheint bis zum heutigen Tag tief in uns nachzuwirken:Haben wir doch ein gehöriges Misstrauen allzu lauten Anpreisungengegenüber. Wir vermuten sehr schnell, dass uns clevere Verkäufer übersOhr hauen wollen, und sehnen uns nach dem ehrbaren Kaufmann, demwir fast blindlings vertrauen können.

Der Jahrmarktsverkäufer, der nicht nur lautstark ist, sondern auchPreise wie auf dem Basar gestaltet, wirkt bis zum heutigen Tag in unsnach – und hat über Generationen die Erde verbrannt. Der ehrbare – ambesten noch hanseatische – Kaufmann hingegen ist das Urbild fürUnaufdringlichkeit, Zuverlässigkeit und Qualität, für die der gute Namebürgt.

Jahrmärkte gibt es immer noch – und ihnen haftet weiterhin der Geruchdes Unseriösen an. Aber wie steht es mit den ehrbaren Kaufleuten? Sindsie industriell wegrationalisiert worden?

Folgt man den hartgesottenen Konsumkritikern, sollte man alle kom-merziellen Angebote möglichst misstrauisch betrachten und lieber dasGeld für „weiße Ware“ ausgeben, ohne optische Verführung und mitnichts anderem auf der Verpackung und dem Angebot als der reinenFunktionsbezeichnung.

Aber nehmen wir doch einfach mal an, dass menschliche Wesen nichtnur funktionieren, sondern Freude am Leben haben wollen. Akzeptie-ren wir, dass es nicht nur den Homo sapiens und den Homo oeconomi-cus, sondern auch den Homo ludens gibt. Dass wir also einen schwerberechenbaren Mix aus Verstand, Berechnung und Spielerischem dar-stellen, uns aber gleichzeitig die Transparenz fehlt, um bei einem un-überschaubaren Angebot mit sicherem Gefühl zu wissen, was eine guteEntscheidung ist. Was wir herbeisehnen, ist Orientierung.

Wie wäre es dann, wenn der sogenannte ehrbare Kaufmann sich in demganzheitlichen Konzept des Markenartikels wiederfindet?

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„Markierung“ – eine jahrtausendealte IdeeDie Idee des markierten Produktes, das für Qualität steht und dem Kun-den ein beruhigendes Gefühl vermittelt, gab es schon im alten Rom –bei Dachziegeln. Die Zunftzeichen des Mittelalters standen für hand-werkliche Exzellenz, und die gekreuzten Schwerter des Meißner Por-zellans bürgen seit 1731 für allerbeste Porzellanqualität.

Wir können also bis hierher einmal festhalten: Hinter Markierungendurch Signets steht weit mehr als eine optische Kennzeichnung. Esgeht um materielle und immaterielle Werte, um Versprechen, die ein-gelöst werden müssen. Geschieht dies nicht, folgt die Enttäuschungauf dem Fuße. Oder es entsteht Misstrauen, das nicht mehr schwin-det.

Wer bereit ist, ein Angebot – gleichgültig ob Ware oder Dienstleistung –kenntlich zu machen, gibt ein Bekenntnis ab. Er versteckt sich nicht inder Anonymität, sondern ist identifizierbar und damit kritisierbar. Oderignorierbar.

Homogene Massenprodukte waren die ersten der modernen Wirt-schaftswelt, die sich an die Öffentlichkeit als Marken wandten – Bei-spiele hierfür sind Persil, Erdal, Nivea. Ihr Versprechen war einegleichbleibende Qualität, Korrektheit im Angebot – und Preiswür-digkeit. Sie wurden bereits von unseren Urgroßeltern gekauft undwerden es wohl auch schaffen, die nächsten Generationen zu über-zeugen.

Im Jahr 1939 veröffentlichte Hans Domizlaff sein Buch „Die Gewinnungdes öffentlichen Vertrauens“. Es kann mit Fug und Recht als erstes Stan-dardwerk zur systematischen Entwicklung von Marken verstanden wer-den und gilt heute immer noch als höchst relevant. Domizlaff gibt keinepure Gebrauchsanweisung, sondern vermittelt die Philosophie, die hin-ter jeder echten Marke steht.

Natürlich kann man sich daran reiben, wenn Domizlaff von massen-psychologischen Grundsätzen schreibt. Und nicht jedem mag es beha-gen, wenn er martialisch von „Kampfmethoden“ spricht. Letztendlichkönnen seine Gedanken aber auch bei der Stiftung Warentest Gnade fin-den, plädiert er doch in seinen Grundsätzen für eine konsequente Qua-litätspolitik, ein faires Preis-Leistungsverhältnis, einen seriösen Umgangmit Versprechungen und eine hohe Stilsicherheit in jeder Form derKommunikation. Domizlaff selbst verurteilte in höchstem Maße hardselling – wie es vom marktschreierischen Jahrmarktsverkäufer prakti-ziert wird. Oder von allen, bei denen es „20 Prozent Rabatt auf alles,außer Tiernahrung“ gibt.

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Manches Unternehmen, das sich heute selbst hochtrabend als Markebezeichnet, verstößt gegen die Prinzipien der Markentechnik auf Schrittund Tritt.

Im Folgenden soll erläutert werden, warum der Gedanke der Marke einehöchst ethische Angelegenheit ist und warum wir uns als Kunden überjedes Unternehmen freuen sollten, das sich dem Gedanken der Mar-kenführung konsequent verschreibt.

Ohne bedingungsloses Qualitätsverständnis keine Marke

Der ehrbare hanseatische Kaufmann bürgte mit seinem Namen undstand persönlich für alles ein, was nicht korrekt war: Dies schuf Ver-trauen und Loyalität. Die weltweiten Produkt- und Dienstleistungsan-gebote lassen sich nur noch schwer mit einer einzelnen Kaufmanns-persönlichkeit in Verbindung bringen. Daher sind es inzwischen Unter-nehmen, die als Garanten für ihr Angebot stehen. Meistens mit Kunst-namen ausgestattet, die aber konsequent mit einer Qualitätsphilo-sophie aufgeladen wurden.

Beispiele hierfür sind Caterpillar, die dafür sorgen, dass bei einem tech-nischen Problem ihrer hochkomplexen Maschinen innerhalb von 24Stunden jedes Ersatzteil an jedem Ort der Erde ist. Oder IBM, die sichimmer noch ihrem Gründer Thomas Watson Jr. verpflichtet fühlen, derseine Qualitätsphilosophie in ein einziges Wort packte: „Think“. Nichtumsonst ist IBM, laut Interbrand, seit Jahren eine der wertvollsten Mar-ken der Welt und hat alle Stürme bestens überstanden. Der gerne kol-portierte Satz „You never get fired by choosing IBM“ drückt aus, was esbedeutet, in den Köpfen von Menschen – auch wenn es um Millionen-Investments geht – Vertrauen aufzubauen.

Aber es gibt sie auch noch, die Unternehmerpersönlichkeiten, die mitihrem guten Namen bürgen: Seien es die Herren Hipp, Stiehl, Miele;oder Traditionsunternehmen wie Bosch, die auf eine Gründerpersön-lichkeit zurückzuführen sind, deren Credo „das Billigste, was du verlie-ren kannst, ist Geld, das Teuerste ist dein Name“ heute noch in diesemglobal agierenden Unternehmen gelebt wird.

Qualität hat viele Facetten. Und sie muss immer aus dem Blickwinkeldes Kunden gesehen werden. Wenn Mon Chéri im Sommer seine Pro-dukte aus den Regalen räumt, dann ganz einfach deshalb, weil ab einerbestimmten Temperatur die Konsistenz des Produktes nicht mehr denhohen Erwartungen des Verbrauchers entspricht. Wenn Hilti eine Bohr-maschine auf den Markt bringt, erwartet der Handwerker, dass sie sichdurch alles wie durch Butter bohrt. Und wenn Nivea ein neues Produkt

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anbietet, erwartet der Konsument vor allem eins: dass es pflegt. Undzwar zu einem extrem fairen Preis.

Was allerdings Daimler dazu bewogen hat, den Satz „das Beste odernichts“ des alten Gründers auszugraben und in den Mittelpunkt seineraktuellen Kampagne zu stellen, bleibt ein Rätsel. Versprechen müsseneingelöst werden, und wie ein Massenhersteller diesen Satz konsequentmit Leben füllen will, darf abgewartet werden.

Damit kommen wir zu einer wichtigen Facette der echten, vertrauens-würdigen Marke – sie verspricht nie mehr, als sie halten kann. Ver-trauen entsteht nur, wenn Erwartung und Erlebtes übereinstimmen.Selbstbewusstsein ist sicher ein wichtiges Merkmal einer starken Marke,denn der Kunde möchte sich, wenn auch nur symbolisch, anlehnen kön-nen. Überheblichkeit ist etwas, was keine Marke auf Dauer unbeschadetüberstehen wird. Auch wenn sie eine lange Tradition wie das Haus Mer-cedes-Benz hat.

Marken sind Persönlichkeiten und haben Charakter

Im Konzept der modernen Markenführung hat sich der Gedanke durch-gesetzt, dass Marken wie Persönlichkeiten zu verstehen und zu behan-deln sind. Sie haben klar erkennbare äußere Merkmale, anhand dererman sie identifizieren kann. In der Übertragung auf Produkte könnendas Designmerkmale sein wie die BMW-Niere, die seit Jahrzehnten dasGesicht der gesamten Fahrzeugfamilie prägt.

Oder es ist das gesamte Design an sich. So wie Apple es geschafft hat, miteiner schnörkellosen, puristischen Produktgestaltung Kultstatus zuerreichen. Und zwar weltweit. Steve Jobs, der Gründer von Apple, hat esaber nicht bei Äußerlichkeiten bewenden lassen. Er hat Apple als wich-tigstes Charaktermerkmal „Einfachheit“ mitgegeben. Vom ersten AppleMacintosh bis zum aktuellsten i-Pad ist jedes Produkt ohne zentimeter-dicke Gebrauchsanleitungen benutzbar. Diese Philosophie der Einfach-heit wurde bei Apple konsequent auf Software und Dienstleistungenübertragen. Ob mit iTunes Musik, Spiele, Videos geladen werden odermit den Apps das Leben in tausendfacher Form einfacher wird: Applebleibt sich konsequent treu und ist damit ebenfalls eine der wertvollstenMarken der Welt geworden.

Kritiker bemängeln bereits die Dominanz von Apple und das monopol-hafte Gehabe. Unter gesellschaftspolitischen Aspekten mögen sie rechthaben. Aus dem Blickwinkel der Markenführung bestätigen sie dieerreichte Vision der Monopolstellung in der Psyche des Verbrauchers.Wie weit das führt, kann man im Berufsleben ausprobieren, wenn man

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einem Art-Direktor den Apple Computer wegnehmen und durch einenPC ersetzen möchte. Auch wenn in beiden Rechnern ein Intel-Chip stecktund die Software vergleichbar ist – das Gefühl ist ein anderes. ImExtremfall würde man die Kündigung eines hochgeschätzten Mitarbei-ters riskieren.

So wie beim Menschen seine Grundanlagen in den Genen stecken unddie Umwelt im Verlauf der Jahre die Gesamtpersönlichkeit formt undbeeinflusst, so haben auch starke Marken einen genetischen Code, dersie prägt. Er entstand nicht im luftleeren Raum, sondern durch Her-kunft, Wurzeln, Überzeugungen.

Miele wollte der Hausfrau das Leben leichter machen und durch Zuver-lässigkeit und robuste Qualität überzeugen. So entstanden die bestenWaschmaschinen, Trockner, Herde der Welt. Gleichzeitig verschlossman sich nicht technologischen Entwicklungen und integrierte sinn-voll und zuverlässig Elektronik in die Funktionen – wiederum mit demZiel, das Leben einfacher zu machen. Je komplexer aber die Technikwurde, desto größer wurde das Risiko von Störungen und Pannen.Ganz im Sinne des Basischarakters wurde ein zuverlässiger und schnel-ler Kundendienst aufgebaut, der Pannen umgehend behebt. Das Ergeb-nis dieser wertegeprägten Marke ist ein über Generationen treuer Kun-denstamm – weltweit. Vertrauen wurde geschaffen und nie ent-täuscht.

Das Negativbeispiel für eine Markenerosion durch Zerstörung von Ver-trauen ist die Armaturenmarke Grohe. Nachdem die Inhaber sie an eineVenture-Capital-Gesellschaft verkauft hatten und dieser Prozess mehr-mals wiederholt wurde, landete Grohe letztendlich bei einem chinesi-schen Eigentümer, den zwar das Logo interessierte, nicht aber die inhalt-liche Substanz. Qualitätsmängel, Lieferengpässe mit Frustrationen beiden Handwerkern waren die Folge. Ein beispielloser Niedergang undWertverlust der Marke waren das Ergebnis.

„Nobody is perfect“ – auch eine noch so starke Marke, die geprägt ist vonWerten und positiven Charaktereigenschaften. Pannen können immerpassieren. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht. Einestarke Marke hat einen emotionalen Kredit beim Kunden. Er lässt sichschlagartig abheben oder im vertretbaren Maße beanspruchen.

Als Mercedes-Benz bei der Einführung der A-Klasse mit dem Elchtest einmassives Sicherheitsproblem hatte, verstieß die Marke gegen einenWert, der im genetischen Code festgelegt ist. Die umgehende Reaktionmit einem Auslieferungsstopp und dem mehrkostenfreien Einbau einesStabilisierungssystems begrenzte den Imageschaden und brachte wie-der das Vertrauen in sie zurück.

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Anders ist das Verhalten von BP im Zusammenhang mit der Umweltka-tastrophe am Golf von Mexiko, verursacht durch das Sinken der Ölplatt-form Deepwater Horizon, zu sehen. Nachdem das Unternehmen sichjahrelang ein grünes Mäntelchen umgehängt, aber bei Sicherheitsstan-dards geschludert hat, darf man getrost von einem Totalschaden derMarke sprechen. Hier werden keine noch so aufwendigen Imagekam-pagnen helfen, um das zerstörte Vertrauen wieder herzustellen. Insbe-sondere in den USA dürfte die Marke BP als verbrannt gelten. Ausgelöstwurde das Desaster von einer Führung, die Marke als Imagefaktor ohneSubstanz betrachtete.

Starke Marken schreien nicht – und sind ihren Preis wert

Was macht den Unterschied zwischen Reklame und Markenkommuni-kation aus? Richtig: Erstere ist die Nachfolgerin des Marktschreiers –laut, aufdringlich, unsympathisch. Dass sie trotzdem Gehör findet, liegtan Menschen, denen das, was eine echte Marke ausmacht, nicht so wich-tig ist. Anders würden sich nicht die Erfolge mancher „Billigmarken“erklären lassen, deren Versprechen nicht Substanz, sondern schnelleBedürfnisbefriedigung ist.

Starke Marken sind eher leise, unterhaltsam, stellen einen konkretenNutzen in den Mittelpunkt, gewinnen durch Überzeugung, ein Lächeln,verführen auf sanfte Art.

Wirtschaftlich schwierige Zeiten scheinen eher die Marktschreier zubegünstigen, die ihren Kunden vor allem das Wort „billig“ ins Ohr brül-len. Sie finden sich zuhauf in Rundfunkwerbung oder grellbunten Pro-spekten der Handelsketten. Hierin werden auch häufig vermeintlicheMarkenartikel verramscht.

An dieser Stelle sei noch ein weiteres wichtiges Kennzeichen einer soli-den Marke aufgeführt: der verlässliche Preis. Legionen von Marken sinddurch falsche Preispolitik zerstört worden. Wer mit zweistelligen Rabat-ten für seine Produkte und Dienstleistungen wirbt, signalisiert Unse-riosität der Kalkulation. Und schafft damit sicher kein Vertrauen. Mar-ken, die sich durch Überkapazitäten selbst in Drucksituationen bege-ben, rauben sich die Grundlage für Nachhaltigkeit, ohne die keine echteMarke langfristig existieren kann.

Bewundernswert ist, was Aldi als Handelsmarke weltweit geschafft hat:Nahezu ausschließlich durch Eigenmarken wurde bei allen Bevölke-rungsschichten eine Akzeptanz sowohl für Massenprodukte wie Wasch-mittel und Grundnahrungsmittel als auch für Luxusprodukte wieChampagner oder High-Tech-Produkte wie PCs erzielt.

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Das Geheimnis? Eine durch und durch auf Qualität bedachte Einkaufs-politik, die strengste Maßstäbe an die Lieferanten anlegt. Harte, aberfaire Einkaufskonditionen, die eine Qualitätsproduktion zulassen, Ver-zicht auf Unübersichtlichkeit mit 100 Varianten und eine schlichte,aber effiziente Kommunikation. Der Aldi-Kunde betritt das Geschäftmit dem Vertrauen, dass alles, was ihm geboten wird, streng auf seineQualität getestet wird. So übernimmt die Dachmarke Aldi quasi die Ver-antwortung für das gesamte Sortiment und entlastet den Kunden in sei-ner Entscheidung. Rabattschlachten sucht man bei Aldi vergebens –man ist immer preiswert.

Ein weiteres Positivbeispiel für eine gelungene, vertrauenswürdige Han-delsmarke ist Manufactum. Gestartet als Versender mit überschauba-rem Angebot, hat sich das Sortiment inzwischen immer mehr erweitertund wird mittlerweile in großen Städten auch in eigenen Läden ange-boten. Manufactum setzt nicht auf High-Tech und Abgehobenheit, son-dern auf Bodenständigkeit und Solidität. Man sucht extrem qualitäts-orientierte Lieferanten im Premiumbereich aus und bietet die Produkteauf eine ästhetisch ansprechende, leise Art und Weise an. Dabei über-zeugt man mehr und mehr Kunden – die selbst als Botschafter fungie-ren und im Bekanntenkreis weiterempfehlen. Das untrügliche Kenn-zeichen einer starken Marke.

Härteste Wettbewerbe, verursacht durch Überkapazitäten, beschädigtenin den vergangenen Jahren massiv das Ansehen von Marken im Auto-mobilbereich. Wurde früher maximal noch die Fußmatte spendiert,werden heute selbst im gehobenen Bereich zweistellige Rabatte gewährt.Im Jahr 2009 – auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise – war die Auto-mobilwerbung die lauteste. Dem Urvertrauen in die Markenführung hatdas sicher nicht geholfen, selbst wenn BMW, Mercedes, Audi und Coimmer noch über beträchtliche Markenwerte verfügen. Es bleibt abzu-warten, wer bei der nächsten Krise als Gewinner hervorgeht.

Starke Marken achten auf Glaubwürdigkeit in jeder Form

Seit einigen Jahren wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben: kurz„CSR“, lang „Corporate Social Responsibility“. Es gibt kein Unterneh-men, das sich nicht in irgendeiner Form mit diesem Thema beschäftigt.Da werden Kinderspielplätze eingeweiht, in Afrika ein Brunnengebohrt, man trinkt Bier zum Schutz des Regenwaldes, die BerlinerSymphoniker werden gesponsert. Und alles wird medienwirksam ver-marktet. Als Grundhaltung ist häufig nichts davon im Unternehmenwirklich verankert. Sondern es geht um Kosmetik, damit man nachaußen gut aussieht.

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Anders, wenn gesellschaftliche Verantwortung, nachhaltige Produk-tion, soziales Engagement wirklich zum genetischen Code eines Unter-nehmens gehören. Wie bei der Firma Hipp, bei denen ökologischerAnbau für ihre Produkte ein Muss ist. Oder wie bei der weltweitenKette „Body-Shop“, die erstmals Kosmetikprodukte anbot, die gänzlichohne Tierversuche hergestellt sind und nur aus natürlichen Inhalts-stoffen bestehen. Die inzwischen verstorbene Gründerin Anita Rod-dick vertrat die Ansicht, „dass Firmen, die nicht moralisch, sondernnur aus Profitgier handeln, dem Geschäft schaden“. Anita Roddickpublizierte Kampagnen gegen Gewalt und Kinderarbeit, Unterdrü-ckung und Menschenrechtsverletzung. Beeindruckend, dass eine sol-che Haltung nicht bei einer kleinen, verträumten Boutique endete,sondern mittlerweile in einem höchst erfolgreichen Konzern mit2.000 Läden in 54 Ländern. Ihr Leitsatz sollte allen Pseudo-CSR’lern insStammbuch geschrieben werden: „Unternehmen haben die Kraft,Gutes zu tun“.

Wie Millionen in den Sand gesetzt werden, wenn Pseudo-CSR betriebenwird, hat eindrucksvoll der Energiekonzern RWE bewiesen. Mit einemsehr emotionalen TV-Spot zum Thema grüne Energie, ausgestrahltzur besten Sendezeit, wollte man Umweltverantwortung demonstrie-ren. Greenpeace griff diesen Spot auf und verbreitete ihn über You-Tube. Allerdings in einer modifizierten Desaster-Version. Die Glaub-würdigkeit von RWE wurde damit bei sehr relevanten Zielgruppendeutlich gestört. Ein Übriges zu dem nicht konsistenten Markenbildträgt der Verhandlungspoker um die Laufzeitverlängerung von Kern-kraftwerken bei.

Fazit: Marken sind die größte Verpflichtung,die Unternehmen eingehen könnenGelegentlich trifft man auf recht naive Vorstellungen zum Thema Mar-kenführung. Motto: Man nehme ein Logo, ein bisschen clevere Wer-bung, und dann wird das Ganze schon erfolgreich werden. Dem ist mit-nichten so. Kurzfristig mag das klappen – so wie der Marktschreier auchimmer wieder kurzfristigen Erfolg hatte.

Wer aber ein langfristiges Geschäft betreiben möchte und sich demMarkengedanken wirklich verschreibt, hat eine lebenslange Aufgabe vorsich. Täglich muss er sich fragen: Tue ich alles, damit meine Glaubwür-digkeit gewahrt wird? So wie der ehrbare hanseatische Kaufmann inallem darauf bedacht war, seinen Ruf nicht zu beschädigen.

Marken sind in einer unübersichtlich gewordenen Angebotsvielfalt aufallen Märkten eine Hilfe. Sie sind wertvoll für Konsumenten, genauso

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wie für industrielle Entscheider. Sie reduzieren das Risiko, begrenzenden Suchaufwand und verschaffen ein gutes Gefühl. Man schenkt ihnengerne Vertrauen und bleibt ihnen treu – wenn sie diese Treue rechtfer-tigen und alles tun, damit Erwartungen immer erfüllt werden.

Insofern sind echte Marken die kundenfreundlichste Erfindung, die esgibt.

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Abbildung 23: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Interventionen I

Abbildung 24: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Interventionen II

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Vertrauen als Intervention –funktioniert so Innovation?Konstantin Adamopoulos, Iria Budisantoso und Christoph Sextroh

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, oder direkter nach Lenin: „Ver-traue, aber prüfe nach“ – das fällt mir zunächst ein, wenn es um einenText gehen soll zum Thema „Kredit und Vertrauen“.

Mir persönlich sind meine privaten Kredite unangenehm – für anderekönnen Kredite ein lukratives Abwägen bedeuten, das ganz einfachzum geschäftlichen Alltag gehört. Vertrauen hingegen gehört zu einereigenen Kategorie. Vertrauen legt einen Teil der Kräfte in andereHände.

Wenn ich das Begriffspaar „Kredit und Vertrauen“ auf mich wirkenlasse, fasziniert mich nicht nur die Auflösung der Gegensätzlichkeit vonMessbarem und Unmessbarem. Vielmehr fordert mich die Frage nach„Kredit und Vertrauen“ heraus, über Glaubenssätze nachzudenken, wiezum Beispiel über: „Kredit geht nur mit Sicherheiten“, oder „Vertrauenin andere zu bemühen, zeigt doch nur, nicht vollständig vorbereitet zusein“. Ich möchte überprüfen, ob solche Gedanken mich in der Realitätüberhaupt noch weiterbringen.

In den folgenden Überlegungen geht es mir um die Arbeit zwischenKunst und Wirtschaft. Diese Bereiche werden meist als getrennt ver-standen. Meine These versucht, Kunst und Wirtschaft als Bilder einzu-führen, zur wechselseitigen Korrektur. Korrektur im Wahrnehmen desAndersartigen bedeutet für mich eine Chance auf Entwicklung. Diejeweiligen Eigenarten sind dabei zu respektieren, das Thema Vertrauenist hierfür essentiell. Wie kann ich mehr, eventuell auch widerstreitendeDimensionen meiner Persönlichkeit bergen, um auch die Komplexitä-ten der Welt um mich umfassender deuten zu können? Im Loslassen desvermeintlich Eigenen, im vorläufigen Verabschieden des immer schonGewussten – was könnte Vertrauen anderes sein – öffnen sich die Schleu-sen zur Selbstreflexion wie zur Innovation.

Seit 2005 lerne ich als Kurator des „Bronnbacher Stipendium(s)“ des Kul-turkreises der deutschen Wirtschaft im BDI Stipendiaten und Stipen-diatinnen kennen, denen es ähnlich geht. Zwei zitiere ich hier exem-plarisch, um dem Begriff des Vertrauens in der Bronnbacher Praxis

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näher zu kommen. Zwei weitere kommen im zweiten Teil des Beitragsausführlich zu Wort.

Gunnar Ullrich, Unternehmensberater, Uni-Mannheim-Alumnus des 4. Bronnbacher Jahrgangs:

„Durch das Stipendium hat sich meine Offenheit gegenüber neuen – undmanchmal auch sehr ungewöhnlichen – Dingen weiterentwickelt. Ich habegelernt, dass es unerlässlich ist, sich vollständig auf etwas einzulassen undNeues komplett an mich heranzulassen. Das Jahr hat mir geholfen, krea-tive Prozesse – auch innerhalb einer Gruppe – besser zu verstehen.“

Oliver G. Spalt, Assistant Professor of Finance, Uni-Mannheim-Alumnusdes 3. Bronnbacher Jahrgangs:

„Das Bronnbacher Stipendium bietet den Stipendiaten die Möglichkeit,sich in der Beschäftigung mit kreativen Prozessen ganzheitlich weiter-zuentwickeln, und fördert so die individuelle Positionierung und Ver-ortung. Eine eigene Position, das Sich-Einlassen auf Neues sowie dieFähigkeit, das Neue zu reflektieren und in den eigenen Wirkbereich pro-duktiv zu übersetzen, sind nicht zuletzt für kommende Führungskräfteund Unternehmer essentiell.“

Gunnar und Oliver verbinden kreative Prozesse mit spielerischer Selbst-bewusstheit und Unmittelbarkeit der Erlebnisse: Vertrauen und Selbst-vertrauen sind hier also wichtige Parameter.

Meine (persönliche) Haltung

Erlauben Sie mir, dies zunächst zu sagen, quasi als den Versuch einer ver-trauensbildenden Maßnahme: Ich möchte wachsen. Meine Umständenutze ich, um mehr Anknüpfungspunkte zu erreichen – für mich, fürmeine Gemeinschaft, für meine Umstände. Das bedeutet auch, mich ein-zulassen, mich auf unsicherem Terrain zu bewegen, in gewissem Sinnauch, mich zu verändern. Dazu möchte ich mich in Zusammenhängestellen, also meine Entwicklung nicht selbstgenügsam an mich binden,sondern meine Erfahrungen von mir lösen, durch andere und möglichstauch als „Leistung“ für andere.

Kredit fordert Intuition

Kredit zu gewähren ist ein besonderes Geschäft. Schon Heraklit sagte:„Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht ent-decken, da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt“ (Frag-ment B18 nach Clemens Alexandrinus).

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Vieles in unserer Alltagswelt erscheint geregelt über Ziele und Wege,diese zu erreichen. In diesen benennbaren Zielen und Wegen steckt, dasswir sie kennen und alternativlos wissen, dass wir das so wollen. Daswiegt uns sicher. Sicherheit erfordert erfahrungsbezogene Regeln, diefür Ungewöhnliches kaum gelten können. Da, wo Sicherheit feststellbarist, besteht die Gefahr, die Offenheit und Neugierde auf Neues zu ver-lieren. Das Alte darf ja nicht zur Vermeidungsstrategie für Neuerungenverkommen. Gelegentlich wird von Bauchgefühl gesprochen, wenn esum große Entscheidungen geht, die die Zukunft und das Überlebenbetreffen. Daher möchte ich ergänzend eine andere als die gängige Defi-nition versuchen: Zukunftsorientierter Kredit fordert Intuition. Wiereflektiert bin ich in meiner Intuition? Da, wo ich zunächst nur Unge-wissheit erkenne, kann Neues auf mich warten. Im Ungewissen steckenvielleicht Potentiale. Wie spüre ich die Signale? Und wenn: Will ich michwirksam für Neues engagieren? Dann würde ich ein Risiko eingehen. Sofunktionieren Alleinstellungsmerkmale. Habe ich den Mut dazu? Wietraue ich mich, diese ungewöhnliche Geschichte ernst zu nehmen, undwie erzähle ich anderen davon? Wie ich höre, kommt es immer mehrauf neue Erzählungen für kommende Hausausforderungen an. Die altenGeschichten, wie Ruhm und Ehre zu erreichen sind, ziehen kaum noch.

Mir erscheint ein Kredit wie ein Auftrag zum Wandel. In der Vereinba-rung eines Kredits treffen sich grundsätzlich unterschiedliche Bedürf-nisse. Die Kreditvergabe fordert daher meine Glaubenssätze als Kredit-geber heraus – nicht erst seit der Finanzkrise. Halte ich die vorgezeich-nete Entwicklung für plausibel? Will ich diese überhaupt fördern? Passtdieser Entwurf zu meinen Werten? Wie weit muss ich dafür von meinenbisherigen Gewissheiten lassen? Jede Kreditverhandlung kennt diesesDilemma. Bin ich hier der Richtige für dieses Vorhaben? Gleichzeitigliegt es in meiner Hand als Kreditgeber, Verantwortung zu übernehmen.Will ich dieses Unsichere und Verdeckte mit einem Kredit fördern? Wieinvestiere ich sinnvoll in dessen Zukunft? Und nun auch noch spiritu-ell: Kann ich mich und mein eigenes Tun mit meinem Investment neuüberprüfen? Würde ich also mit meinem Kredit tatsächlich auch inmeine eigene Zukunft investieren? Dann wäre ich schon mit dem Kre-dit selbst verändert. Die Idee, dass mit einem Kredit finanzieller Gewinnzu machen sei, wandelt sich, als ginge es um das „Andere“, um das„Fremde, nicht um das schon Bekannte an mir. Das wäre eine Perspek-tive auf Innovation, denn Innovation ist doch nicht das, was ich vorherschon weiß.

Für Vertrauen brauche ich ein Menschenbild, Imagination. Hier ist dieThese nun, dass Vertrauen im Zutrauen mich und mein Tun bilde. ImFolgenden möchte ich Vertrauen als künstlerische Intervention vorstel-len. Dazu eine persönliche Geschichte.

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Vertrauen als Intervention – Fallbeispiel „7000 Eichen“ von Joseph Beuys

Seit 1982 wächst ein Kunstwerk stetig weiter. Es ist ein Zeichen für Gene-rationen. Es ist auch eine Geschichte von harten Kreditverhandlungenzur Finanzierung und vor allem von Vertrauensvorschüssen auf Mach-barkeit.

1982 war ich mit meinen Motorradfreunden zum ersten Mal auf derdocumenta in Kassel. Wir interessierten uns für die neue Malerei, vonder es einiges zu sehen gab. Wir fühlten uns selbst wie die „JungenWilden“.

Doch vor der Kunsthalle Fridericianum, dem Hauptgebäude der docu-menta 7, lagen unendlich viele Basaltsteine, ein aufgetürmtes Feld vonnatürlichen Stelen. In meiner Erinnerung waren sie je circa 40 Zenti-meter im Durchmesser und wahrscheinlich mehr als 1,5 Meter lang.An der unteren Seite dieses Steinfeldes sah ich Beuys, den Künstler mitdem Hut, von dem ich schon gehört hatte. Ich traute mich nicht, zuihm zu hinzugehen. Er stand da bei einem lächerlich kleinen Baum-pflänzling, lächerlich klein, angesichts der schieren materiellen Stein-masse direkt daneben. Für mich war klar: Dieses kleine Bäumchenwürde nicht überleben können, angesichts dieser unendlich totenMasse.

Die erste Basaltstele hatten sie, aufrecht wie eine Grabsäule, neben die-sen relativen Winzling in die Erde eingegraben. Wie ich mich erin-nere, wirkte der Stein übergroß neben dem einzelnen Bäumchen. DasZiel sei, wie ich damals hörte, in einer Verdopplung des Kasseler Baum-bestandes auch die restlichen Basaltstelen in den fünf Jahren bis zurkommenden documenta 8, 1987, in ähnlichen Pflanzaktionen imStadtgebiet Kassel aufzustellen. Dieses Vorhaben erschien mir un-glaublich, erschütternd, naiv. Ohne die Teilnahme Hunderter Men-schen war so ein ungeheuerliches Ansinnen nicht zu schaffen. „Dasgeht doch nicht. Das klappt nie. Zu teuer. Da macht keiner mit.“ MeineArt von Realismus wurde spontan löchrig. Ich wollte keine Sekundedaran glauben, obwohl ich seither auch nicht mehr davon weggekom-men bin. Sicher kennen Sie selbst auch solche fast beklemmenden Phä-nomene. Ich ertappte mich in meinem eigenen Sicherheitsdenken, dasdiese Idee nur würde ausbremsen, unmöglich machen können.

1987 wurde dann der letzte der 7.000 Bäume neben den ersten Baumgepflanzt, mit seinem Stein. Der Kassler Friedrichsplatz war damit wie-der leer – nicht leerer denn je, einfach anders seither, für mich, als obes unter bestimmten Umständen ein Materie-Zeitloch geben könne.

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Klassisch-künstlerisch lässt sich zu dieser Kunstaktion sicher einigessagen. Allein die doppelte Proportionalverschiebung der Skulptur„7.000 Eichen“ als Ganzes betrachtet, ist beachtlich: Erst lagen die 7.000Steinstelen in Form eines übermächtigen Keils auf dem Platz. Diegestreckte Hackenform erkannte ich, wegen der Gesamtgröße derruhenden Skulptur, erst später in Gesprächen mit dem Künstler Johan-nes Stüttgen und dann auch auf Fotos. An der Spitze stand der erste auf-gerichtete Basaltpfahl mit seinem Baumfrischling. Über die fünf Jahrewandelte sich die erste Skulptur in eine zweite, die die erste vergessenmachte. In der Verdopplung des damaligen städtischen Baumbestandesentfaltet sich seit 1987 die zweite Skulptur im Stadtgebiet Kassel andezentralen Orten. Altenheime, die Hochschule, Privatleute, Stadtteil-initiativen, die Städtische Kommune Kassel nahmen teil und nahmenAnteil an dieser zweiten Skulptur. Genau diese Bäume, aus diesemZusammenhang sollten vor ihre Häuser, an ihre Straße, auf ihren Platz.Unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ erlebten dieKasseler zunehmend, um was es ging – es geht bei Kunst um mitgestal-tende Souveränität. Mittlerweile sacken die Steine immer tiefer in dieErde ein. Die anfängliche materielle Übermacht der Stelen gegenüberden Jungbäumen ist nicht mehr glaubhaft. Nun bringen in Kassel an7.000 Orten in der Stadt über zwanzigjährige Bäume zusätzlich ihrenNutzen. Am Fuß ihres Stammes scheinen sie eine Art kleiner werdendenRammstein als Zeichen mit sich zu führen. Das Kunstwerk hat sich inseiner Wirksamkeit eingelöst. „7.000 Eichen“ funktioniert damit heuteals zitierbare Referenz für kunst- und gesellschaftshistorische Initiative.

Eine weitere Proportionalverschiebung findet seither in mir statt. Dabeigeht es mir um Vertrauen in die Kraft der Kunst. Diese Kraft der Kunstbesteht meiner Erfahrung nach aus Vertrauen in Menschlichkeit undaus Skepsis in (wohlbegründete) Systeme.

Was mich daran anzieht, fand ich auch bei Robert Musil und seinem„Der Mann ohne Eigenschaften“:

„Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tat-sache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz,nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forde-rung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, undniemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dannmuss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“Musil spricht im Weiteren vom konditionalen Denken in öffnendenAlternativen und unterstreicht die schöpferische Anlage dieser Haltung.Er betont allerdings auch, wie Menschen, die so leben – „Möglichkeits-menschen“ nennt sie Musil – marginalisiert werden als „Phantasten,Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler ...“

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In der Annäherung an die Frage nach Kredit und Vertrauen helfen miralso Vorgängerkategorien. Was bieten mir das „Wissen“ und das „Ver-stehen“?

Wissen – Nichtwissen

Skepsis bedeutet Prüfung und kritische Untersuchung. Wir könnennicht wissen. So werden schon die Erkenntnisse der alten Griechenübermittelt. Die skeptische Distanz bewahrt uns zu begehren, was dochnur strebsame Unwissenheit in unsicherer Erkenntnis bleiben kann.Diese wirklichkeitskritischen Befragungen wurden in der neueren Zeitin der Zusammenführung von sinnlichen Wahrnehmungen und Be-wusstseinsinhalten immer wieder bestätigt. Aktuell kann das Aufgebendes Wissensdogmas auch wieder verbunden sein mit dem Attribut derschon von den „Alten“ gesuchten Seelenruhe (Andreas Urs Sommer).

Wird damit die Praxis der Kreditvergabe noch mehr zur Spekulationund der persönliche Akt des Vertrauens zum kläglichen Versuch der spi-rituellen Rückbesinnung (Religion) auf das „Eigentliche“ umdefiniert?Hilft hier meine kurze Besinnung auf den Begriff des Verstehens weiter?

Verstehen – Nichtverstehen – Übersetzen

Beim Verstehen wie auch bei seinem Gegenüber, dem Nichtverstehen,geht es um Gewissheiten wie Kontrolle und Sicherheit. Stecken wirdamit gleich wieder fest in der Kreditkrise der Wirtschaft und in der Ver-trauenskrise der Politik? Umgekehrt verlangt es uns geradezu über-menschliches Vertrauen ab, am Neuen gerade das Unerklärliche zuschätzen. Die Kunst fordert uns auf, mit etwas Vertrauen im Ungesi-cherten den schieren Reichtum zu erleben – im Rätsel, im Geheimnis,im Verborgenen, im Unbekannten. Stefan Weidner macht das Phäno-men des „sich assoziativ im Verborgenen bewegen zu können“ exem-plarisch fest an der Kunst des Übersetzens:

„Ich halte es für einen totalitären Charakterzug unserer Zeit, dass wirdas Nichtverstehen nicht ertragen, dass wir ihm gegenüber keine Tole-ranz aufbringen, dass wir es übertünchen, verschleiern, ja ausrotten, wowir nur können. Dass wir – und da sind die Übersetzer noch die harm-losesten – aus dem Verstanden-werden-Wollen, Verstanden-werden-Müs-sen die Ideologie unserer Zeit gemacht haben, deren krasseste Auswir-kung der Raubbau an allem ist, was im medialen Diskurs eventuellschwierig und nicht allgemeinverständlich daherkommt.“ Erklärungenüberfordern uns. Wir wollen alles einfach und verständlich, postuliertder Islamforscher und Übersetzer Stefan Weidner. „Und wenn wir das oft

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genug tun, wenn uns ständig alles als bereits Verstandenes vorgeführtwird, werden wir naturgemäß unleidlich gegenüber allem Unverstan-denen, sei es ein Wort in einem alten Text, sei es eine Frau, die eine Klei-dung trägt (zu wenig oder zu viel, es nimmt sich nichts!), die uns befrem-det.“

Weidner verführt mich in seinem Artikel, im Unerklärlichen nach demQuellartigen zu horchen. Ich fühle mich durch ihn aufgefordert, dasFremde nicht als entstellt darzustellen, sondern als wundersamenReichtum: „... Genau das ist es, was mich mit dem Verstehenwollen undÜbersetzen am Ende versöhnt: Es hat diese bohrende Eigenlogik, es istnie zufrieden, es findet selbst im verstanden Geglaubten immer nochUnverstandenes, im Übersetzten immer noch Unübersetztes. Die über-setzerische Kritik ist daher das Urbild aller Kritik. Sie verfällt nicht soleicht in den Glauben, etwas richtig verstanden zu haben, und sieht anTexten – und der Welt – vor allem das Unverstandene und Unsagbare,das Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, das die Übersetzer wahren, indemsie es immerfort aufs Neue enthüllen.“1

Die Intervention durch Vertrauen zielt darauf, in ihrem Dazwischenge-hen in die unüberbietbare Vielfältigkeit hineinzugreifen. Es geht alsoauch hier um Entscheidungen zu mehr Zutrauen in der Kommunika-tion. Wie selbstregulierend bin ich in zugegebenermaßen störungsan-fälligen Umständen? Kann ich mir da selbst vertrauen?

Ernüchterung

Die leidenschaftliche Erfahrung meiner vergangenen 30 Lebensjahrezeigt mir: Das Anliegen, Künstler mit anderen Menschen, beispielsweiseMenschen aus der Wirtschaft, zusammenzubringen, funktioniert eherselten. Selbst Kulturmenschen scheuen einen wirksamen und tatsäch-lichen Kontakt mit Künstlern. Beide Seiten spüren das schon im Vorfeld:Jede/r kann seine Angelegenheiten besser für sich plausibel tun und erle-ben. Zusammen passiert zunächst gar nicht so viel. Schnell langweilensich die „Partner“ miteinander. Inspiration oder Motivation, geistigeKraftquellen, scheinen sich bei dieser Art Treffen sogar zu verflüchtigen.Man kennt sich selbst schon zu gut. Man hat Vorstellungen und Erwar-tungen. Das soll reichen. Ein Austausch darüber kommt eher seltenzustande.

Das Neue als Korrektur

Es braucht eine Hebamme, ein drittes Element. Es braucht etwas, das diebeiden in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit liebt und zulassend abwar-

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ten kann. Es braucht etwas Staunen, sonst funkt es nicht. Das geht nichtohne Erschütterungen und nicht ohne Hinwendung.

Welche Haltung führt zu einem aufmerksamen Herzen, das den beideneiniges zumutet. Die mögliche Interaktion der beiden soll keine fadeAblenkung werden.

Ich möchte damit sagen, dass es etwas braucht, das sich anfühlt, als obes außenstehend wäre, und das gleichzeitig nicht locker lässt. Diese Hal-tung müsste sich das Zusammenkommen der zunächst durch Vorurteilezementierten Gegensätzlichkeit wirtschaftlicher Berechnung undkünstlerischer Intuition als Transit ehrlich wünschen. Es braucht etwas,das keine frontale Furcht vor der Begegnung der beiden menschlichenGewissheiten hat, sondern etwas, das dieses Erfahrungsfeld schon mitsich trägt, vielleicht zunächst nur für die Kraft von übergreifendenMomentaufnahmen. Denn es geht um die jeweiligen schöpferischenEigenarten.

Wie wird ein Zusammenkommen produktiv? Meiner Erfahrung nachentzünden sich die beiden Perspektiven der Kunst und der Wirtschaftan Fragen, die sie zulassen, explizit und auch implizit. Es geht darum,sich aneinander zu überprüfen, oder es geht um nichts. Damit beidePartner sie selbst sein können, braucht es diese Art von dritter Instanz.Das erst macht das Zusammenkommen effektiv wirksam.

Der Künstler Till Velten konkretisiert: „Es braucht vor allem unermess-liches menschliches Vertrauen.“

Kredit und Vertrauen im Bronnbacher Stipendium – eine Betrachtung von Iria Budisantoso und Christoph SextrohDas Wort „Kredit“ ist abgeleitet vom lateinischen credere, „glauben“, undcreditum, „das auf Treu und Glauben Anvertraute“. Damit ist zumeist dieGebrauchsüberlassung von Geld oder vertretbaren Sachen auf Zeitgemeint. Daneben gibt es aber auch Sprachwendungen wie beispiels-weise „bei jemandem Kredit haben“ oder auch „etwas gut haben“ imSinne von Vertrauen genießen, dass man zahlungsfähig und damit kre-ditwürdig sei, womit eine wirtschaftliche Wertschätzung und dieGeschäftsehre ausgedrückt werden. Bereits aus diesen Erläuterungenwird deutlich, welch wichtige Rolle Vertrauen bei Kreditnehmen undKreditgeben spielt.

Vertrauen begegnet uns auch im Bronnbacher Stipendium. Wir Stipen-diaten genießen einen Vertrauensvorschuss von Seiten des Kulturkrei-ses der deutschen Wirtschaft, unseres Kurators Konstantin Adamo-polous und auch immer von Seiten der Künstler, denen wir begegnen.

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Alle gerade genannten Personen sind auf gewisse Weise Kreditgeber inder Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass über die Erfahrungen undInhalte des Bronnbacher Stipendiums etwas gesät wird, das sich in derZukunft entfalten und über unser Engagement den Bereichen Kunst,Kultur und Gesellschaft zurückgegeben wird. An dieser Stelle möchtenwir Stipendiaten des 6. Jahrgangs gerne näher auf das Bronnbacher Sti-pendium eingehen und folgende Fragen beantworten: Was ist die Bronn-bacher Idee? Und welche Rolle spielt Vertrauen darin?

Verflechtungen der Sphären Kunst, Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

Auf den ersten Blick bietet das Bronnbacher Stipendium die Möglich-keit, Kunstschaffende kennenzulernen und darüber einen Zugang zuKunst und Kultur zu erhalten oder diesen zu erweitern. „KulturelleKompetenz für künftige Führungskräfte“ lautet so auch das Motto desStipendiums. Im Rahmen des Stipendiums nähern sich die Stipendiatendabei auch den komplexen Interdependenzen zwischen den SphärenKunst, Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ein gutes Beispiel istunser Besuch im Oktober 2009 beim Künstler Merlin Bauer in Köln unddie Auseinandersetzung mit seinem Kampf um die Erhaltung des Köl-ner Opern- und Schauspielhauses, wo sich uns diese existierenden Span-nungen und Wechselwirkungen innerhalb der gesellschaftlichen Wir-kungssphären von Kunst bis Gesellschaft sehr klar gezeigt haben.

Das „Mehr“ des Bronnbacher Stipendiums

Das Bronnbacher Stipendium ist jedoch viel mehr als „nur“ das Ken-nenlernen und Erfahren von Kunst. Der Zugang zu den genanntenSphären geht über das reine Faktenwissen weit hinaus. Doch was genauist dieses „Mehr“? Bereits am Beispiel unserer Begegnung mit MerlinBauer lassen sich zwei Schlagwörter zu diesem „Mehr“ beschreiben: Per-spektive und Engagement.

Wir haben nicht nur gelernt, uns mit Perspektiven auseinanderzuset-zen – was alleine schon ein immens wichtiger Effekt ist –, sondern wirhaben gelernt, Perspektiven und Standpunkte zu erkennen. Dies klingtzunächst so selbstverständlich. Wenn man sich jedoch einmal bewusstin seinem Umfeld und Zeitgeschehen umsieht, dann wird schnell klar,wie schwierig und gleichzeitig wichtig dieses Erkennen ist. Darüber hin-aus haben wir erlebt, mit welchem Feuer und mit welchem Aktionismusviele Künstler eine Idee formen und für diese eintreten. Dieses tiefe undoffene Engagement für eine bestimmte Sache ist nicht nur beein-druckend, sondern auch etwas, von dem wir für unseren Alltag nur ler-nen können.

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Risiko und Vertrauen

Tatsächlich bietet das Stipendium eine einzigartige Möglichkeit, sichfür Neues zu öffnen, sich darauf einzulassen, es zu erfahren – und diesalles in einem relativ geschützten Raum. Einem Raum, in dem jeder nurein sehr geringes persönliches Risiko eingeht. Wo in unserem Alltag, imStudium oder im Berufsleben können wir uns öffnen und Neues gesche-hen lassen, ohne dabei ein Risiko einzugehen – sei es ein Risiko, zu vielvon sich preiszugeben, oder ein geschäftliches Risiko. Dieser geschützteRaum kann nur durch Vertrauen entstehen. Vertrauen, das die Stipen-diaten bei jeder Bronnbacher Veranstaltung sich selbst, gegenseitig,aber auch ihrem „Kurator Konstantin“ und jedem einzelnen Künstlerentgegenbringen. Vertrauen, das uns im Verlauf des Stipendienjahresumgekehrt auch immer wieder von Seiten Konstantins und der Künst-ler begegnet. Vertrauen, das unbezahlbare Erfahrungen ermöglicht. DerVersuch, diese Erfahrungen weiter zu konkretisieren, führt im Speziel-len zu den Begriffen Wahrnehmung, Diskussionskultur, Verantwortung, Per-sönlichkeit und Bewusstsein. Im Folgenden möchten wir näher auf dieseInhalte eingehen, die wir im vertrauensvollen Rahmen des BronnbacherStipendiums erleben und weiterentwickeln durften.

Wahrnehmungsänderung

Der bereits genannte Begriff der Perspektive ist schon stark verknüpftmit dem Begriff der Wahrnehmung. Wir haben Kunst erleben dürfenan Orten, welche uns im Alltag nicht als Kunst aufgefallen wären.Dinge, die wir als selbstverständlich hingenommen haben, wurdenauf einmal aus einer ganz anderen Sicht beleuchtet. Alte Wahrneh-mungen wurden verschoben, hin- und hergerückt, und neue Wahr-nehmungen kamen hinzu. In diesen Prozessen spielte gerade unserKurator Konstantin eine bedeutende Rolle. Er half uns, aus unserenvertrauten Wahrnehmungsmustern auszubrechen, und sorgte dafür,dass wir uns immer wieder selbst hinterfragten. Mit jedem Wochen-ende wurde unsere Wahrnehmung so immer wieder auseinanderge-brochen, neu zusammengesetzt und hat sich auf diese Weise stetigweiterentwickelt. Begleitet wurde dieser individuelle Prozess einesjeden Stipendiaten von Verwirrung, Verwunderung, Unverständnisund ganz besonders von einer stetigen inneren Unruhe – jedoch impositiven Sinn. Diese Unruhe ist ein Kernelement des Stipendiums, völ-lig individuell und daher schlussendlich leider nicht vollkommen zuerfassen, zu begreifen oder eben auch zu erklären. Wenn man aber miteinem Bronnbacher spricht und einem dabei eine Neugier oder gar einBrodeln und Lodern auffällt, dann ist dies sicherlich diese positiveUnruhe, von der wir hier sprechen.

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Diskussionskultur

Diese innere Unruhe beziehungsweise der innere Konflikt führt so auchzu einem regen Austausch untereinander und zu vielfältigen Diskus-sionen in der Gruppe. Altes, Bekanntes, Vertrautes wird einem bei jederBegegnung in gewisser Weise weggenommen – entfremdet durch Per-spektivverschiebungen. Der Kontakt mit den Künstlern hilft zwar, sichdem „Entfremdeten“ immer wieder anzunähern, allerdings bleibt dasVerständnis zunächst in einer Form des Zwischenstadiums: Es gibt keinschnelles Zurück zur alten Perspektive, doch auch das Neue fühlt sichnoch nicht ganz erreicht an. Trotz oder eben gerade wegen dieser Span-nung zwischen vertraut und verändert ergeben sich aufreibende Fragen,denen man sich in der Gruppe versucht, immer weiter und mit den ver-schiedensten Ansätzen zu nähern.

Verantwortung

Über die Konfrontation mit dem „anderen“ und dem Rütteln an unse-ren bisherigen Weltbildern fordert das Stipendium von jedem sich selbstzu hinterfragen und dabei insbesondere auch Verantwortung für sichund sein Handeln zu übernehmen. Die Auseinandersetzung mit dereigenen Person und dem eigenen Handeln wurde vielen von uns viel-leicht am Malerei-Wochenende mit Carsten Fock am deutlichsten ver-gegenwärtigt. Jeder Pinselstrich hatte eine Auswirkung auf das End-ergebnis. Dies mag wieder zunächst so einfach klingen. Wenn manjedoch versucht, sich in die Situation der Schaffenden zu versetzen,dann wird schnell klar, warum jeder einzelne Pinselstrich eine poten-tielle Krise beinhaltet. Und es wird auch deutlich, warum es so viel Über-windung und Mut kostet, aktiv zu gestalten und dabei zu wissen, dassdas eigene Handeln in einer direkten Verbindung mit der möglichenKonsequenz des Scheiterns steht. Eine Folge, für die jeder Einzelne seineVerantwortung zu tragen hat. Verantwortung ist damit ein weitererKernbaustein des Bronnbacher Stipendiums. Ein Baustein, der uns beivielen Wochenenden begegnete, sei es die Persönlichkeit eines ThomasHirschhorn, der sich mit politischer Kunst engagiert, oder auch nur dieorganisatorischen Fragen des „Wohin“, „Wann“ und „Wem werden wirbegegnen“? an den einzelnen Wochenenden.

Bewusstsein

Das Bronnbacher Stipendium regt an, nicht alles als gegeben und selbst-verständlich hinzunehmen, sondern stattdessen die Dinge kritisch zuhinterfragen sowie Perspektiven zu wechseln, zu diskutieren und zureflektieren. In den Begegnungen des Stipendiums haben wir aber aucherfahren, wie wir die entstehenden Reibungen und die Unruhe in uns

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positiv in die Entwicklung neuer Visionen und Lösungsmöglichkeitenumsetzen und in unser Handeln einfließen lassen können. Es erweitertsomit in gewissem Maße unser Bewusstsein.

Das Bronnbacher Stipendium hat uns bewegt – nicht nur, dass wir phy-sisch an verschiedenen Orten waren, um Kunst zu sehen und uns damitzu beschäftigen –, sondern es hat auch etwas in uns bewegt. Es sind ein-zigartige und unnachahmliche Erfahrungen, die in einem Jahr Bronn-bacher Stipendium auf einen warten. All diese sind nun unsere persön-lichen Schätze, mit denen wir in die Berufswelt gehen, um dort Dingeaktiv und bewusst zu gestalten und uns zu engagieren, immer in demBewusstsein, dies für unsere Umwelt, für die nächste Generation, vorallem aber auch für uns und unsere Visionen zu tun.

Die Bedeutung des Bronnbacher Stipendiums

Was können wir also zusammenfassend über das Bronnbacher Sti-pendium nach einem Jahr Bronnbacher sagen? Es ist die wahrschein-lich wichtigste Initiative des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.Warum aber sollte nun dieses Stipendium so wichtig sein? Um mit denWorten der Wissenschaft zu sprechen: Studien haben gezeigt, dass diegrößten Lerneffekte für Führungskräfte nur zu einem geringen Teilaus formalem Unterricht bestehen. Stattdessen sind es vor allem Erfah-rungen, harte Anstrengungen verbunden mit der Erfahrung des Schei-terns und Mentoren, die Führungskräfte prägen. Genau diese Punktevereint das Bronnbacher Stipendium: Es bietet jedem einzelnen Sti-pendiaten ganz besondere und wertvolle Erfahrungen, in denen jedermit viel Mut und Anstrengungen immer wieder den eigenen Stand-punkt und die persönliche Haltung hinterfragt. So beinhaltet das Sti-pendium eben auch Erlebnisse des Scheiterns. Erlebnisse, die viel-leicht erst durch die geschützte Atmosphäre des Stipendiums möglichwerden und an denen jeder Einzelne wachsen kann. Diese Atmosphäreist es, die das Bronnbacher Stipendium so einzigartig und förderungs-würdig macht. Diese Atmosphäre, die durch ein hohes Maß an Ver-trauen geprägt ist, um sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, umNeuem zu begegnen, sich anderen Perspektiven zu öffnen und sichanderen Haltungen zu nähern.

Die Bronnbacher Idee und Vertrauen

Zum Abschluss möchten wir noch einmal unsere Anfangsfrage aufgrei-fen: Was ist die eigentliche Idee des Bronnbacher Stipendiums? In derKonfrontation mit dem Unbekannten hat sich jeder von uns selbst bes-ser kennengelernt, hat jeder von uns die Welt besser kennengelernt. Eshat in jedem von uns eine Unruhe geschaffen, die darauf wartet, in der

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Zukunft freigesetzt zu werden. Eine Energiequelle, welche die meistenStipendiaten vor dem Stipendium vielleicht gar nicht erahnen konnten.

Und so lässt die wahre Idee des Stipendiums – sofern sie sich überhauptin wenige Worte fassen lässt – annähernd zusammenfassen als die Sucheund die Konfrontation mit dem Neuen, mit dem vermeintlich Unbe-kannten, um dabei die eigene Denkstruktur aufzubrechen, sich selbstneu zu erfahren und das Unbekannte zu Bekanntem und die Konfron-tation zu neuen Perspektiven zu machen.

Den vertrauensvollen Rahmen, der diesen Prozess ermöglicht, verdan-ken wir unseren „Kreditgebern“. Allen Förderern möchten wir für ihrenVertrauensvorschuss danken. Auch danken wir Frau Prof. Dr. Kehnel fürIhre Einladung zur Zusammenarbeit im Rahmen der Veranstaltungs-reihe „Kredit und Vertrauen“, worüber wir uns sehr gefreut haben. Wirhoffen, dass das Projekt „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ als Forumfür grenzüberschreitende Gespräche aus den Bereichen Wirtschaft undKultur und das Bronnbacher Stipendium auch in Zukunft viele weitereGelegenheiten zur Kooperation finden werden.

Fußnoten1 Stefan Weidner, „ÜBERSETZUNG – Vom Lesen heiliger Bücher“, Rheinischer Merkur,

18.2.2010, http://www.rheinischer-merkur.de/index.php?id=40312.

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Harun Farocki während seines Filmworkshopsmit den BronnbacherInnen an der UniversitätMannheim

Filmausschnitt beim Farocki-Filmwochenende

Anmerkung des Künstlers Thomas Hirschhornauf einem Evaluierungsbogen nach seiner Beteiligung als Referent eines BronnbacherWorkshops

Mit Merlin Bauer („Liebe deine Stadt“) auf den Spuren urbaner Interventionen

Bronnbacher Stipendiatinnen bei einem Work-shop mit dem Maler Carsten Fock

Der Choreograf Georg Reischl mit Bronnbacher-Innen im Ludwigforum Aachen

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Abbildung 25: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Vertragliches I

Abbildung 26: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Vertragliches II

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Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser?Über Vertragstreue und Vertragsbindung*Marc-Philippe Weller

Einführung: Die drei Elemente der Vertragstreue

„Pacta sunt servanda: without this principle which grounds respect for the pledged word, the contract would never have become the abstract universal that isthe pride of modern jurists.“ (Alain Supiot, Homo Juridicus (2007), S. 86).

Das Prinzip der Vertragstreue – auch pacta sunt servanda genannt – giltheutzutage als so selbstverständlich, dass manche meinen, „seineBegründung ruhig der Rechtsphilosophie überlassen zu können“1. Inder Tat wurden in der deutschen Jurisprudenz monografisch bislangnur – wenn auch wesentliche – Teilaspekte der Vertragstreue beleuch-tet.2 Dagegen fehlt eine der Vertragstreue als solche gewidmete Unter-suchung. Dementsprechend findet sich in der Literatur die Einschät-zung, „dass trotz mehrerer Vorarbeiten die für die Privatrechtsordnungwohl wichtigste Fragestellung nach Grund und Reichweite der Ver-tragstreue eine weitere umfängliche Monographie verdient hat“3. Diesescheint umso mehr angezeigt, als die Schuldrechtsmodernisierung2001 den Grundsatz der Vertragstreue aufgewertet hat, wie insbeson-dere zwei der ihr zugrunde liegenden Leitprinzipien – der Primat derErfüllung und das Recht zur zweiten Andienung – erhellen.

Vor diesem Hintergrund geht das Hauptziel der Arbeit dahin, den dog-matischen Bedeutungsgehalt der Vertragstreue im heutigen Bürgerli-chen Recht zu ermitteln. Eine Ende des 19. Jahrhunderts anzutreffendeAuffassung, dass Verträge in allen Kulturen gehalten werden müssen,hilft hier nicht weiter:

„So alt als die Unterscheidung von Recht und Schlecht ist der Glaube, dass Verträgegehalten werden sollen. In allen Cultursprachen ward ‚solch teure Wahrheit ver-fochten‘ und in anderen nur darum nicht, weil auch nicht bestritten.“4

Dass die Vertragstreue gilt, sagt nämlich noch nichts darüber aus, wasmit ihr gemeint ist, wie sie ausgestaltet ist und welche konkreten Wir-kungen von ihr ausgehen. In der Rechtspraxis muss die Vertragstreuehäufig als ein Passepartout herhalten, das in den verschiedensten Argu-mentationszusammenhängen eingesetzt wird. Die Rechtswissenschaft

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hat insoweit noch keine ordnenden Leitlinien herausgearbeitet. Sie beg-nügt sich vielmehr mit dem Befund, der Grundsatz pacta sunt servandaerscheine in seiner „Herkunft und Standortbestimmung letztlich nichtganz fassbar“5.

Dabei sind Standortbestimmung, Konturierung und Konkretisierungder Vertragstreue und damit zugleich ihre Einbettung im Privatrechts-system immer dann von Relevanz, wenn der Vertragstreue-Begriff imwissenschaftlichen oder rechtspraktischen Diskurs ins Feld geführtwird – was häufig geschieht. Hinzu kommt die rechtspolitische Bedeu-tung des Vertragstreuegehaltes. Letzterer spielt beispielsweise bei derAusgestaltung des auf EU-Ebene in Vorbereitung befindlichen Gemein-samen Referenzrahmens für das Vertragsrecht (= Common Frame ofReference, CFR) oder für ein etwaiges zukünftiges EU-Zivilgesetzbucheine Rolle. (…)

Insgesamt lassen sich drei Elemente isolieren, die dem Begriff der Ver-tragstreue zugeschrieben werden: (1.) Die Vertragsbindung, (2.) derGrundsatz der Naturalerfüllung, (3.) die Leistungstreue. (…)

Die Vertragsbindung

Die erste Kernbedeutung der Vertragstreue liegt in der Vertragsbindung.Exemplarisch für dieses Verständnis sei Bydlinski angeführt, der die „Ver-tragstreue“ „im Sinne einer in der Wurzel ethischen Bindung an das gege-bene Wort“ beziehungsweise als „ethische Bindung an das Versprechen“6

begreift. Die Vertragsbindung hält beide Parteien am Vertrag fest, undzwar ungeachtet dessen, ob der Vertrag beiden Seiten eine Leistungs-pflicht auferlegt (gegenseitiger Vertrag) oder nur einer Partei eine Lei-stungspflicht aufbürdet (einseitiger Vertrag).7 Die Vertragsbindung istmithin die ohne rechtlichen Grund nicht unilateral lösbare Unterwer-fung einer Partei unter alle einem Vertrag entspringenden Rechtsgebote.

Rechtsvergleichend betrachtet ist sie – anders als das Prinzip der durch-setzbaren Naturalerfüllung – weitgehend unumstritten. In Art. II.-1:103Draft Common Frame of Reference ist sie ausdrücklich kodifiziert („Avalid contract is binding on the parties“), ebenso in Art. 1.3 Unidroit-Principles sowie in Art. 1434 Civil Code Québec, in Art. 1134 Abs. 1 desfranzösischen Code Civil („Les conventions légalement formées tiennentlieu de loi à ceux qui les ont faites“) und nicht zuletzt in Art. 8 ContractLaw of the People’s Republic of China. Im modernen islamischen Rechtgilt das Prinzip der Vertragsbindung ebenfalls, soweit dem Vertragsin-halt keine Regeln der sharia entgegenstehen.8 So lautet beispielsweiseArt. 147 des ägyptischen Zivilgesetzbuches in der französischen Über-setzung: „Le contrat fait la loi des parties.“

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Legitimation der VertragsbindungDie Vertragsbindung erweist sich für die Institution des obligatorischenVertrages als unabdingbar. Sie bezieht ihre Legitimation nicht nur ausrechtsethischen Erwägungen, sondern auch aus der den verpflichten-den Schuldvertrag kennzeichnenden Zukunftsdimension sowie denPrinzipien der Rechtssicherheit (Vertrauensschutz) und der Vertragsge-rechtigkeit. Im Einzelnen:

1. Zukunftsdimension des Vertrages

Charakteristikum des verpflichtenden Schuldvertrages ist dessenräumliche und zeitliche Unabhängigkeit von der späteren Vertragser-füllung. Lorenz bezeichnet den Schuldvertrag treffend als „Zukunfts-regelung“9. Dabei kommt in einem vom Trennungs- und Abstrak-tionsprinzip geprägten Rechtssystem selbst dem sofortigen Güteraus-tausch insofern ein Zukunftsbezug zu, als das Verpflichtungsgeschäftgedanklich noch einer hiervon zu unterscheidenden (mangelfreien)Erfüllung bedarf.

Die „geniale Leistung bei der Erfindung der Obligation“10 liegt darin,sich vom sofortigen Güteraustausch Zug um Zug und damit vom aktu-ellen Güterbestand, der denknotwendig endlich sein muss, zu lösen undGüterverteilungen aufzuschieben. Der Vertrag bietet damit die Mög-lichkeit, über Vermögenstransfers, die erst später stattfinden sollen,schon heute zu entscheiden. Indem über Güterbewegungen in derZukunft disponiert wird, wird selbst Individuen, deren aktueller Güter-bestand null beträgt, ermöglicht, mit dem Verteilungsmodell desSchuldrechts zu arbeiten, weil sie sich zu zukünftiger (zu beschaffender)Leistung verpflichten können. Hinzu kommt, dass Verträge als Willens-schöpfungen anders als die ihnen zugrunde liegenden realen Leistun-gen beliebig generierbar und reproduzierbar sind.

Die Zukunftsdimension des Vertrages macht eine Bindung der Par-teien an den Vertragsschluss erforderlich. Gäbe es diese nicht, wäre dieden Individuen eröffnete Kompetenz, qua Vertrag Vermögensdisposi-tionen für die Zukunft festzulegen, eine wirkungslose und damit sinn-entleerte Befugnis. Vermutlich wäre die Privatrechtsordnung ohnedie Vertragsbindung in einem System des sofortigen Leistungsaustau-sches durch Bar- beziehungsweise Handgeschäfte verhaftet geblieben.Eine Vertragserklärung könnte nämlich kein Funktionsäquivalent fürdie reale, sofortige Leistungserbringung bilden. In den Worten v. Jhe-rings:

„Das Versprechen ist die Entbindung des Vertrages von den Fesseln der Gegenwart.(…) Damit aber das Wort die Leistung vertrete, muss die Sicherheit bestehen, dass

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es seiner Zeit gegen die Leistung eingetauscht (…) werde. (…) Die Garantie dieserErfüllung beruht auf dem Zwange. (…) Der juristische Ausdruck für diese Wirk-samkeit des Versprechens ist die bindende Kraft der Verträge.“11

Nach alledem erweist sich die Bindungswirkung für die Zukunfts-dimension des Vertrages als unabdingbar.

2. Rechtssicherheit

Die Vertragsbindung verwirklicht ferner eine „idée directrice“ desRechts,12 die Rechtssicherheit. Im Einzelnen:

VertrauensschutzDie Vertragsbindung stellt sicher, dass jeder Vertragspartner für sein ver-tragliches Versprechen einsteht und bildet hierdurch den rechtlichenNährboden für das Vertrauen der Vertragspartner in das jeweils vomanderen gegebene Wort. Dieses Vertrauen – dies zeigen nicht zuletzt dieökonomischen Lehren vom Vertrauensspiel und der Rationalitätenfalle(„Gefangenendilemma“) – darf jedoch nicht auf einer bloßen vagenHoffnung beruhen, wenn es bei der statistischen Mehrheit von Rechts-geschäften, also gleichsam typisiert, vorliegen soll. Vielmehr muss dasVertrauen auf einem rechtlichen Tatbestand aufbauen können, der dasin ihn gesetzte Vertrauen schützt. Der Tatbestand, in den die ParteienVertrauen investieren, ist der Vertragsschluss. Die an diesen von derRechtsordnung geknüpfte Bindungswirkung sorgt dafür, dass das Ver-trauen der Vertragsparteien in die Beständigkeit der Einigunggrundsätzlich nicht enttäuscht wird.

Ohne den Vertragsbindungsbefehl der Rechtsordnung würde sich einVertrauen in den Vertragsschluss gar nicht erst bilden. Bei den Geschäf-ten, die mit einer Vorleistung oder Leistungsvorbereitung verbundensind, hätte das (mangels Schutzes) fehlende Vertrauen typischerweisezur Folge, dass der Sachleistungsschuldner auf einer Vorkasse oder ande-ren kostspieligen Sicherungsmaßnahmen bestünde. Eindrücklich for-muliert v. Jhering:

„Wäre das Versprechen nicht bindend, so würde das Darlehn im Geschäftsverkehrso gut wie beseitigt sein, nur dem Freund würde man dann noch Geld leihen;Dienstvertrag und Miethe wären von der Liste der Verträge gestrichen, denn werwürde thöricht genug sein, seine Dienste zu leisten oder dem Andern den Gebrauchseiner Sache einzuräumen, wenn er nicht sicher wäre, dass er den Lohn und Mieth-zins erhielte? Wer thöricht genug, letzteren im voraus zu entrichten, wenn ergewärtigen müsste, dass die versprochene Gegenleistung ausbliebe? Nur Kauf undTausch würden noch möglich sein in der äußerst beengenden Form der ErfüllungZug um Zug.“

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Basis für Freiheitsverwirklichung

Die Vertragsbindung bildet zum anderen die Basis für die Freiheitsver-wirklichung des Individuums, weil sie ihm die für seine Zukunftsplanungnotwendige Zuverlässigkeit vermittelt. Das Bundesverfassungsgerichtführt hierzu aus:

„Freiheit meint vor allem die Möglichkeit, das eigene Leben nach eigenen Entwür-fen zu gestalten. Eine wesentliche Bedingung hierfür ist, dass die Umstände undFaktoren, die die Gestaltungsmöglichkeiten solcher Entwürfe und ihren Vollzugnachhaltig beeinflussen können, (…) möglichst zuverlässig eingeschätzt werden kön-nen.“14

Erst die Vertragsbindung erlaubt einem Individuum die für seine Per-sönlichkeitsentfaltung unabdingbare Möglichkeit der eigenständigenPlanung im beruflichen und persönlichen Bereich, indem sie seinenErwartungen in Bezug auf das vom Vertragspartner versprochene Ver-halten eine unverrückbare Grundlage gibt. Mit der Vertragsbindung ent-spricht das Vertragsrecht somit der dem Recht generell zugewiesenenAufgabe, welche nach Schelsky primär darin besteht, „die Zukunft fest-zulegen. Es [= das Recht] ist die Planungsmacht schlechthin, die demMenschen zur Gestaltung seiner sozialen Beziehungen zur Verfügungsteht.“15 Vertragsbindung bedingt also Zuverlässigkeit der Planung unddamit Rechtssicherheit, und zwar zunächst für das kontrahierende Indi-viduum selbst.

VerkehrssicherheitDas Recht hat als Sozialtechnik die Funktion, eine verlässliche Basis fürdie Einrichtung des Menschen in der Gesellschaft zu bilden und Erwar-tungen der anderen Verkehrsteilnehmer zu sichern.16 Dies geschieht,indem für menschliches Verhalten Rechtsgesetzlichkeiten in Form vonWenn-Dann-Relationen festlegt werden, welche Orientierung schaffenund Konsequenzen aus einem bestimmten Verhalten „mit Sicherheit“erwartbar machen. Die Erwartbarkeit ist freilich nur gewährleistet,wenn die Rechtsgesetzlichkeiten beständig und verbindlich sind.

Im Hinblick auf rechtsgeschäftliche Beziehungen müssen insbesonderedie Bedürfnisse des Rechtsverkehrs nach Klarheit, Planungs- undTauschsicherheit bedient werden. Damit ist die Verkehrssicherheit ange-sprochen, die spezifisch zivilrechtliche Ausprägung der Rechtssicher-heit.

Den Anforderungen der Verkehrssicherheit wird das Vertragsrecht nurgerecht, wenn es eine Rechtsgesetzlichkeit dergestalt aufstellt, wonachjeder Vertragsschluss eine Bindungswirkung nach sich zieht. Erst hier-durch kann ein übersteigertes Misstrauen des Rechtsverkehrs, das des-sen Funktionsfähigkeit beeinträchtigen würde, vermieden und die

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Grundlage für das Vertrauen in das Wort der Vertragsparteien geschaf-fen werden.

3. Vertragsgerechtigkeit

Mit der Rechtssicherheit ist der Bogen zur Vertragsgerechtigkeit, einemzentralen Anliegen jeder Privatrechtsordnung, als einem weiterenGrund für die Vertragsbindung geschlagen. Der Gedanke der Vertrags-gerechtigkeit basiert auf dem die Privatautonomie kennzeichnendenUmstand, dass das Privatrecht – dem Prinzip formal-abstrakter Gleich-heit entsprechend – alle Rechtssubjekte grundsätzlich als frei undgleichwertig betrachtet. Freiheit und Gleichwertigkeit machen es mög-lich, dass sich die Selbstbestimmung im vertraglichen Einigungsprozessauf den gerechten Interessenausgleich hin entfalten kann.17 Jede Parteinimmt bei den Vertragsverhandlungen ihre Interessen wahr, oder stelltsie in freier Selbstbestimmung hintenan.

Dabei muss man zwar nicht so weit gehen und mit der „Richtigkeits-theorie“ Schmidt-Rimplers allein schon aufgrund des verfahrensmäßigenZusammenwirkens der Parteien beim Vertragsschluss18 eine Gewähr fürdie Richtigkeit des Vertrages im Sinne einer material gerechten Ordnungder Einzelinteressen sehen. Den auf Basis von Gleichwertigkeit undSelbstbestimmung ausgehandelten Verträgen wohnt mit Blick auf dendarin geregelten Interessenwiderstreit aber doch eine „ausgleichendeGerechtigkeit“19, eine „immanente Vertragsgerechtigkeit“20 oder zumin-dest eine „Richtigkeitschance“21 inne.

Von einer so verstandenen Vertragsgerechtigkeit kann man ausgehen,wenn beide Vertragsparteien entweder tatsächlich in freier Selbstbe-stimmung kontrahiert haben oder zumindest die reale Möglichkeit hat-ten, ihre berechtigten Interessen im Vertrag zur Geltung zu bringen.Letzteres setzt wiederum voraus, dass die Rechtsordnung ein gewisses„Gleichgewicht der Kräfte“ gewährleistet, da nur so ein fairer Macht-ausgleich möglich ist, ohne den ein „gerechter“ Interessenausgleichnicht gelingen kann.22 Anders gewendet: Vertragsgerechtigkeit ist nurdenkbar, wenn auf keiner der beiden Seiten ein „Raum verdünnter Frei-heit“23 vorliegt. Der Vertrag ist gerecht beziehungsweise „,richtig‘, weilund soweit er von der beiderseitigen Selbstbestimmung der Vertrag-schließenden getragen ist.“24

Sieht man im Vertragsschluss einen im Regelfall gerechten Interessen-ausgleich, müssen sich die Parteien dann aber auch darauf verlassenkönnen, dass Verhandlungsergebnisse – mithin die im Vertrag in einGegenseitigkeits- beziehungsweise funktionelles Äquivalenzverhältnisgesetzten Leistungen – nicht durch spätere Interessenänderungen ein-seitig in Frage gestellt werden können. Die ausgehandelte Risikovertei-

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lung muss fixiert, die verhandelte Vertragsgerechtigkeit über denMoment des Vertragsschlusses hinaus aufrechterhalten werden.

Gäbe man einem Vertragspartner demgegenüber die Möglichkeit, denVertrag nachträglich einseitig aufzuknüpfen, würde man die zumZeitpunkt des Vertragsschlusses gegebene Gleichwertigkeit und Ri-sikoverteilung zu Lasten einer Seite modifizieren und damit der Ver-tragsgerechtigkeit ihre Grundlage entziehen.25 Dem „Prinzip dezen-tralisierter Risikoverteilung“26, wonach die Risiken im Moment desVertragsschlusses unter dem Gesichtspunkt individueller Zurechen-barkeit und Beherrschbarkeit den Parteien zugeordnet werden, würdeder Boden entzogen. Die Rechtsordnung hat also, wenn sie dem Insti-tut des Vertrages gerecht werden will, die im Vertragsschlussmomentgegebene Vertragsgerechtigkeit für die Zukunft zu konservieren. DasMittel, um die Äquivalenz der vertraglichen Leistungen gegennachträglichen Sinnes- und Interessenwandel zu immunisieren, istdie Vertragsbindung. Prägnant beschrieben wird dieser Zusammen-hang von v. Jhering:

„Die Anerkennung der bindenden Kraft der Verträge (…) heißt nichts als Sicherungdes ursprünglichen Zweckes gegen den nachtheiligen Einfluss einer späteren Inter-essen-Verschiebung oder veränderter Interessen-Beurtheilung in der Person desanderen Theils oder: rechtliche Einflusslosigkeit der Interessenänderung.“

Diese Feststellungen haben bis heute Gültigkeit: Die Vertragsbindung,so der BGH, stelle „eine wesentliche Grundlage für ein funktionierendes,die Äquivalenz gegenseitiger Leistungen sicherndes Vertragsrechtssys-tem“ dar.

Inhalt der Vertragsbindung

Als Inhalt der Vertragsbindung lassen sich zwei Facetten unterscheiden:der Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit und die Rechtsgebots-unterwerfung der Parteien. Bei letzterer kann man weiter danach dif-ferenzieren, ob der Schuldner oder der Gläubiger den vertraglichenRechtsgeboten unterworfen wird.

1. Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit

Indem die Parteien ihr beiderseitiges Verhältnis durch den Vertrags-schluss und den daran anknüpfenden Vertragsbindungsbefehl derRechtsordnung (§§ 311 Abs. 1 i.V.m. 241 Abs. 1 BGB) auf ein verbindlichesFundament in Form der lex contractus stellen, kann sich keine Ver-tragspartei ohne rechtlich anerkannten Grund unilateral vom Vertraglösen, insbesondere nicht durch willkürliche einseitige Erklärung.

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Anders gewendet: Jede Lösung vom wirksam zustande gekommenen Ver-trag bedarf einer besonderen, vom Gesetzgeber anerkannten Rechtfer-tigung.

Störungen, die aus der eigenen Sphäre des Risikoträgers stammen, eröff-nen prinzipiell keine Möglichkeit des Abgehens von der Vertragsbin-dung. Denn „Bindung“ beinhaltet „Unverbrüchlichkeit, Unumstößlich-keit dessen, was gesagt wurde“29. Dies gilt auch und gerade für den Fall,dass eine Partei das Eingehen des Vertrages nachträglich bereut. In ihrerKonsequenz meint die Vertragsbindung demnach „die schärfste Ableh-nung promissorischer Lügen wie auch jedes egoistischen Nützlich-keitsstandpunktes“30.

2. Bindungswirkung durch Rechtsgebote

Von einer Bindungswirkung des Vertrages kann nur die Rede sein, wennder Vertrag für beide Parteien in irgendeiner Form mit einer Verpflich-tung einhergeht. Würde eine Partei nur begünstigt, könnte man im Hin-blick auf diese nicht von einer Bindung sprechen.

Selbst der „einseitige Vertrag“, welcher nur der einen Partei eine Leis-tungspflicht auferlegt, ist für die andere Partei bindend. Dies deshalb,weil sich die Bindungswirkung nicht nur in einer Leistungspflichtäußern kann. Vielmehr sind alle einem Vertrag entspringenden Rechts-gebote geeignet, die Bindungswirkung zu begründen. Zu diesen Rechts-geboten gehören primäre und sekundäre Leistungspflichten (und zwarsowohl Sachleistungs- als auch Geldleistungspflichten), Rücksichts-pflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) und Obliegenheiten. Zwei Aspekte sollendabei besonders gewürdigt werden:

Gläubigerbegünstigende Seite der VertragsbindungDas prominenteste Rechtsgebot, das einem Vertrag entspringt, ist dieNaturalerfüllungspflicht des Sachleistungschuldners, welcher der Natu-ralerfüllungsanspruch des Gläubigers gegenübersteht. Anknüpfend anden Vertragsschluss besteht bei verpflichtenden Schuldverträgen dievon der lex lata vorgesehene Regelfolge darin, dass der Sachleistungs-schuldner zur Naturalerfüllung und der Geldleistungsschuldner zurZahlung verpflichtet wird, §§ 311 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB.

Die Naturalerfüllungspflicht ist zwar keine conditio sine qua non fürdas Vorliegen der Vertragsbindung (vgl. § 311a Abs. 1 BGB), geht aber typi-scherweise mit dieser einher. Dementsprechend erblickt der Rechtsver-kehr auch einen gleichsam natürlichen Zusammenhang zwischen dervertraglichen Bindungswirkung und der Naturalerfüllungspflicht. Erstdurch den Zwang zur Erfüllung, so Repgen, verwirkliche sich die Ver-tragsbindung.

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Schuldnerbegünstigende Seite der Vertragsbindung

Die Vertragsbindung tritt unabhängig davon ein, ob der Vertrag einerPartei eine Leistungs- oder eine Gegenleistungspflicht auferlegt. Somitist auch der Sachleistungsgläubiger gerade in seiner Funktion als Gläu-biger der Leistung (und nicht nur als Schuldner der Gegenleistung) anden Vertrag gebunden. Hiervon profitiert der Schuldner, der den Vertragdurchführen möchte. Dem Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeitentsprechend kann der Gläubiger vom Vertrag erst abrücken, wenn zuseinen Gunsten der Tatbestand eines Vertragslösungsrechts gegeben ist.Mit Henssler: Allein der Hinweis des Gläubigers, „er habe es sich andersüberlegt, rechtfertigt keine Durchbrechung des auch insoweit [d.h. fürden Gläubiger] gültigen Gebotes der Vertragstreue“32.

Die Bindung des Sachleistungsgläubigers kann sich in erzwingbarenAbnahmepflichten (§§ 433 Abs. 2, 640 BGB) oder schadenersatzbewehr-ten Rücksichtspflichten, insbesondere Leistungstreuepflichten (§ 241Abs. 2 BGB), äußern. Im Hinblick auf die Leistungsannahme manifestiertsich für den Gläubiger die Last der Bindung nach herrschender Meinungferner in einer Leistungsannahmeobliegenheit, nach hier vertretenerAnsicht sogar in einer Leistungsannahmepflicht.

Ende der Vertragsbindung

In zeitlicher Hinsicht besteht die Vertragsbindung grundsätzlich solange, bis alle vertraglichen Haupt- und Nebenleistungspflichten erfüllt(§ 362 BGB) und darüber hinaus etwaige nachwirkende Rücksichts-pflichten erloschen sind. Von diesem Grundsatz gibt es drei Ausnah-men, welche zu einem früheren Ende der Bindungswirkung führen:

1. Zum einen können die Parteien die Bindungswirkung durch ent-sprechende Bestimmungen im Vertrag selbst einschränken, indem sieetwa Voraussetzungen für ein vertragliches Rücktrittsrecht (§ 346 Abs.1 1. Alt. BGB) vereinbaren.

2. Zum anderen können die Parteien den Vertrag nachträglich durcheinen neuen Vertrag aufheben oder ändern. Aufhebungs- bezie-hungsweise Modifikationsvoraussetzung ist das beiderseitige Einver-nehmen.

3. Schließlich normiert die Rechtsordnung in besonderen Tatbestän-den, wann ein Abgehen vom Vertrag gerechtfertigt ist. Beispielhaft zunennen sind die rechtsvernichtenden Einwendungen, insbesonderedie Rücktrittsgründe in §§ 323, 326 Abs. 5 BGB. Diesen Vertragslö-sungsgründen ist ihr Ausnahmecharakter gemeinsam. Jener kommtdarin zum Ausdruck, dass die Berechtigung zur Vertragslösung nicht

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jederzeit und nicht im freien Belieben einer Partei, sondern nur beiVorliegen fest umrissener Tatbestandsvoraussetzungen erwächst, indenen die Rechtsordnung die Interessen an der Vertragslösung höherbewertet als die Vertragstreue. Dabei gestatten die Vertragslösungs-gründe einer Partei regelmäßig dann kein Abgehen vom Vertrag,wenn ihr lediglich die eigene Leistungserbringung ohne Rücksicht aufeine Störung der Gegenleistung lästig wird.

Zusammenfassung

1. Die Vertragsbindung lässt sich definieren als die ohne rechtlichenGrund nicht einseitig lösbare Unterwerfung einer Partei unter alleeinem Vertrag entspringenden Rechtsgebote (primäre und sekundäreLeistungspflichten, Rücksichtspflichten, Obliegenheiten).

2. Die Vertragsbindung hält jede Partei nicht nur in ihrer Rolle alsSchuldnerin, sondern auch in ihrer Funktion als Gläubigerin amVertrag fest. Den Parteien ist damit eine einseitige Revidierung desVertragsschlusses grundsätzlich verwehrt; sie haben kein „Reue-recht“.

3. Die Vertragsbindung bezieht ihre Legitimation aus der dem ver-pflichtenden Schuldvertrag immanenten Zukunftsdimension, aus derRechtssicherheit sowie aus der Vertragsgerechtigkeit. Ohne die Bindungs-wirkung bildeten die Vertragserklärungen der Parteien kein Funk-tionsäquivalent für die reale, sofortige Leistungsbewirkung. Die Ver-tragsbindung macht es möglich, Vereinbarungen über einen zukünf-tigen Leistungsaustausch zu treffen, welcher die Grundlage modernerMarktwirtschaften bildet.

Fußnoten* Überarbeiteter Zweitabdruck aus Weller, Marc-Philippe, Die Vertragstreue – Vertrags-

bindung, Naturalerfüllungsgrundsatz, Leistungstreue, Verlag Mohr Siebeck, Tübin-gen 2009 (Schriftenreihe: Ius Privatum Nr. 142). Im Folgenden werden die Einführung(S. 1 f.) und das 7. Kapitel zur „Vertragsbindung“ (S. 274 ff.) auszugsweise wiedergege-ben. Fußnoten und Überschriften wurden gekürzt bzw. abgeändert.

1 So Steinwenter, Artur, Die Vertragstreue im bürgerlichen Recht, in: JurBl 72 (1950), S.173 ff.

2 Vgl. z.B. Teubner, Gunther, Gegenseitige Vertragsuntreue, Tübingen 1975.

3 Roth, Herbert, Rezension: Mankowski, Beseitigungsrechte, in: JZ 14 (2004), S. 725.

4 Hofmann, Franz, Die Entstehungsgründe der Obligationen, insbesondere der Vertrag,Wien 1874.

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5 So Stern, Klaus, Zur Grundlegung einer Lehre des öffentlich-rechtlichen Vertrages, in:VerwArch 49 (1958), S. 106–157.

6 Bydlinski, Franz, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtendenRechtsgeschäftes, Wien u.a. 1967.

7 Flume, Werner, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Band – Das Rechtsgeschäft,Berlin u.a. 1979.

8 Krüger, Hilmar, Law of Contract in Arab States, in: Studi Magrebini, Volume II, Napoli2004, S. 217 ff.

9 Lorenz, Stephan, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, München 1997.

10 Schmidt, Jürgen, Einleitung zu §§ 241 ff., Rn. 122, in: Julius v. Staudinger (Begr.), Kom-mentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Berlin 1995, S. 1–198.

11 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883.

12 Arnauld, Andreas v., Rechtssicherheit, Tübingen 2006.

13 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883.

14 BVerfG, Urt. v. 20.4.1982, 2 BvL 26/81, NJW 1982, 2425.

15 Schelsky, Helmut, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionalerAnsatz der Rechtssoziologie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie,Band 1, Bielefeld 1970, S. 37–89.

16 Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie, Reinbek 1972.

17 Canaris, Claus-Wilhelm, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner„Materialisierung“, in: AcP 200 (2000), S. 273–364; ders., Äquivalenzvermutung undÄquivalenzwahrung im Leistungsstörungsrecht des BGB, in: FS Wiedemann, München2002, S. 3–33: Vertragsgerechtigkeit mit „primär ‚prozeduralem‘ Charakter“, verwirk-licht durch ein „faires“ Vertragsschlussverfahren und „nur ergänzend durch die Fest-legung bestimmter inhaltlicher Wertungen.“

18 Schmidt-Rimpler, Walter, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, in: AcP147 (1941), S. 130–197: „Der Vertrag ist ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestal-tung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung auch gegen unrichtigen Willenherbeizuführen, weil immer der durch die Ungünstigkeit Betroffene zustimmenmuß.“

19 Larenz, Karl, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, München 1963.

20 Bydlinski, Franz, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtendenRechtsgeschäftes, Wien u.a. 1967.

21 Wolf, Manfred, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interes-senausgleich, Tübingen 1970: „Das Institut des Vertrages schafft wohl die besten Vor-aussetzungen dafür, dass die Parteien durch ihr Aushandeln in Ausübung in Selbstbe-stimmung den gerechten Interessenausgleich finden.“

22 Drexl, Josef, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, Tübingen 1998.

23 Raiser, Ludwig, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: Festschrift zum hundert-jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, Karlsruhe 1960, S. 101–134.

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24 Flume, Werner, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Festschrift zum hundert-jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, Karlsruhe 1960, S. 135–238.

25 Larenz, Karl, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, München 1963.

26 Siehe Dauner-Lieb, Barbara, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderpri-vatrechts für Verbraucher, Berlin 1983.

27 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883.

28 BGH, Urt. v. 21.12.1983, VIII ZR 195/82, BGHZ 89, 206, 211.

29 Larenz, Karl, Richtiges Recht – Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979.

30 Steinwenter, Artur, Die Vertragstreue im bürgerlichen Recht, in: JurBl 72 (1950), S. 173 ff.

31 Repgen, Tilman, Vertragstreue und Erfüllungszwang in der mittelalterlichen Rechts-wissenschaft, Paderborn 1994.

32 Henssler, Martin, Risiko als Vertragsgegenstand, Tübingen 1994.

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Abbildung 27: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Neugier I

Abbildung 28: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Neugier II

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Vertrauen statt WissenQualität im Wissenschaftsjournalismus1

Matthias Kohring

Der Begriff Qualität meint, dass bestimmte Erwartungen an den Wis-senschaftsjournalismus von diesem erfüllt werden. Die Frage ist bloß,welche das eigentlich sind. Wer formuliert diese Erwartungen, und wiewerden sie begründet? Viele sagen, das kläre sich dadurch, dass wir esdabei mit Wissenschaftsberichterstattung zu tun haben, und da sei jabekannt, worum es geht. Also könne man dann aus dieser Warte überdie Qualitätsfrage entscheiden. Das klingt plausibel – sofern wirklichgeklärt ist, wozu Wissenschaftsjournalismus eigentlich da ist. Geradeüber diese Frage der Funktion des Wissenschaftsjournalismus scheintaber noch einige Unklarheit zu herrschen, oder besser: eine nur ver-meintliche Klarheit, vor allem bei Wissenschaftlern, aber auch bei Jour-nalisten. Das hängt damit zusammen, dass in Deutschland die Vorstel-lung tief verwurzelt ist, Wissenschaftsjournalisten hätten damit zu tun,wissenschaftliche Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu „transportie-ren“ und solchermaßen in Zeiten knapper Finanzen für die notwendige– angeblich gefährdete – Akzeptanz „der“ Wissenschaft zu sorgen. Auchheute noch hört man aus dem Wissenschaftsbereich die larmoyanteKlage über eine sogenannte Laien-Bevölkerung, die einfach nicht ver-steht und einsieht. In solchen Reden findet sich der Wissenschaftsjour-nalist dann unversehens zusammen mit dem Wissenschaftler oder des-sen Öffentlichkeitsarbeiter „im gleichen Boot“ oder „am gleichen Tisch“wieder, um von hier den Nutzen „des“ wissenschaftlichen und techno-logischen „Fortschritts“ und den kulturellen Wert „der“ Wissenschaftzu propagieren.

Diese Vorstellung prägt die Diskussion über den Wissenschaftsjourna-lismus schon seit dessen Anfängen. Sie hat allerdings noch nie dazugetaugt, die real existierende Wissenschaftsberichterstattung adäquatzu beschreiben. Insofern ist diese normative Vorstellung vom Wissen-schaftsjournalismus, zuallererst als Vermittler wissenschaftlichen Wis-sens an die breite Öffentlichkeit zu fungieren, ein interessantes Beispielfür die kontrafaktische Kraft von Normen, die als Erklärungen dienensollen, und für die beharrliche Resistenz der Diskutanten, aus gesell-schaftlichen Veränderungen und empirischen Erkenntnissen etwas

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dazuzulernen. Dem entspricht das Konzept eines öffentlichen Wissen-schaftsverständnisses oder Public Understanding of Science, das die Akzep-tanz von Wissenschaft anscheinend immer noch durch die Vermittlungwissenschaftlichen Wissens an eine angeblich unzureichend aufge-klärte Bevölkerung sicherstellen will.

Dass diese Vorstellung viel zu schlicht ist, um der heutigen Komplexitätdes Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft gerecht zu werden,mag man noch dahingehen lassen. Kritisch wird es allerdings, wenndiese Diagnose mit der Aufgabenbestimmung des Wissenschaftsjour-nalismus gekoppelt wird, dergestalt, dass dieser es nun richten soll,sozusagen kraft seiner medialen Möglichkeiten. Das Akzeptanz- undKommunikationsproblem der Wissenschaft wird damit kurzerhandzum Kommunikationsproblem des Wissenschaftsjournalismus erklärt,der sich nun stellvertretend daran abarbeiten darf. Dieser Diskursnimmt – teilweise durchaus auch infolge der großen Förderprogrammezur Wissenschaftskommunikation – bis heute einen nicht unerhebli-chen Einfluss auf die Qualitätsvorstellungen zum Wissenschaftsjour-nalismus. Ich halte diese Vorstellung vom Wissenschaftsjournalismusals Wissensvermittler allerdings – um es gelinde auszudrücken – fürstark verkürzt. Ich bin nicht der Ansicht, dass sie als oberste Leitlinietaugt, um Qualitätsmaßstäbe für den Wissenschaftsjournalismus zu for-mulieren.

Warum ist Vertrauen ein besseres Konzept als Qualität?

Was heißt nun also „Qualität des Wissenschaftsjournalismus“? Es istscheinbar banal zu sagen, dass Qualität notwendig ist. Sofern man sichnicht damit begnügt zu sagen, dass es gut ist, dass etwas gut ist – wofürist dann Qualität im Wissenschaftsjournalismus eigentlich notwendig?Und reicht es aus zu sagen, dass journalistische Texte eine bestimmteQualität aufweisen? Ist es nicht viel wichtiger, dass sie als Qualität wahr-genommen wird? Die traditionelle Qualitätsforschung gewinnt ihre Kri-terien vor allem aus dem Medienrecht, das sich mit der Interpretationder öffentlichen Aufgabe der Medien beschäftigt. Diese Kriterien heißendann zum Beispiel Relevanz, Richtigkeit, Transparenz, Sachlichkeit,Ausgewogenheit, Vielfalt und Verständlichkeit. Diese Begriffe sindnatürlich nicht unsinnig, es ist bloß die Frage, worauf sie sich beziehen.Auch wissenschaftliche Publikationen sollten relevant, richtig, trans-parent, sachlich und verständlich sein, und in der Regel auch ausgewo-gen und vielfältig, was den Stand der Forschung angeht. Was unter-scheidet also die journalistische Qualität von der wissenschaftlichenQualität?

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Wenn Qualität attestiert wird, ist damit genau genommen gemeint, dassbestimmte Erwartungen erfüllt wurden. Aber welche Erwartungen?Und wessen Erwartungen? Der Begriff Erwartung verweist darauf, dasses hierbei um eine dynamische Beziehung geht zwischen einem Akteur,der etwas erwartet, und einem Akteur, der diese Erwartung erfüllt.Diese Akteursbeziehung kann nicht willkürlich konstruiert werden. Ichkann nicht von einem Schuhmacher Brötchen verlangen und darüberenttäuscht sein, dass er sie nicht im Regal liegen hat. Woher weiß ichdann also, was ich vom Wissenschaftsjournalismus verlangen kann? DerQualitätsbegriff scheint mir vor allem nicht in der Lage zu sein, diese,sagen wir „Beziehungsdynamik“ zu berücksichtigen. Daher möchte ichdiesen Begriff durch ein aussagekräftigeres Konzept ersetzen, und zwardurch das Konzept der Vertrauenswürdigkeit.

Auch Vertrauen misst sich an der Erfüllung bestimmter Erwartungen.Der Begriff des Vertrauens ist aber weitaus anschlussfähiger, wenn esum das Nachdenken über die Lebensbedingungen in unserer modernenGesellschaft geht. Während Qualität bloß meint, dass etwas gut gemachtwird, kann man mit der Theorie des Vertrauens darauf kommen, wasdenn überhaupt gut gemacht werden muss. Der Begriff des Vertrauenserlaubt es mir zudem – in Einheit mit einer Theorie des Journalismus –,das Problem des Vertrauens in den Wissenschaftsjournalismus mit derebenso vorhandenen Problematik des Vertrauens in die Wissenschaftselbst zu verknüpfen.

Vertrauen in andere wird da notwendig, wo das eigene Wissen unvoll-ständig ist und man auch nicht über die finanziellen und zeitlichen Res-sourcen verfügt, um andere gesellschaftliche Bereiche selbst zuüberblicken oder sogar zu kontrollieren. Das wird mich dann, um diesschon einmal anzudeuten, zu der etwas unvertrauten Schlussfolgerungführen, dass Wissenschaftsjournalismus primär kein Wissensvermitt-ler, sondern ein Vertrauensvermittler ist (was übrigens auch Misstraueneinschließt, das ja ebenfalls sinnvoll sein kann). Da aber Vertrauen dazudient, fehlendes Wissen über einen komplexen Handlungsbereich zukompensieren, hat ausgerechnet die Qualität desjenigen Journalismus,der sich mit dem vielleicht wichtigsten Wissensproduzenten in unsererGesellschaft beschäftigt, gar nicht allzu viel mit Wissensvermittlung imtraditionellen Sinn zu tun.

Was ist die Funktion von Vertrauen?

Der Begriff des Vertrauens ist seit den neunziger Jahren in aller Munde.Das hat etwas zu tun mit den großen gesellschaftlichen Umbrüchen wiezum Beispiel dem Wegfall des Ost-West-Konflikts, der ja auch eine

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bestimmte Weltsicht und damit Sicherheit garantierte. Wenn Stabilitätund Kontinuität verlorengehen, entsteht aber Unsicherheit, und mit die-ser die Frage, wie so etwas wie gesellschaftliche Ordnung hergestellt undabgesichert werden kann. In einer Gesellschaft wie der unsrigen gibt eshierfür keine herausragende Instanz mehr (wie es früher z. B. die Reli-gion war), die eine solche Einheit für alle stiften könnte. Eine solchemultiperspektivische oder pluralistische Gesellschaft ist stattdessengerade dadurch geprägt, dass verschiedene Realitäts- und Problemsich-ten und Werthaltungen existieren und miteinander konkurrieren.Diese sind für Außenstehende überwiegend undurchschaubar: Jeder istzwar Experte für einen bestimmten, kleinen Bereich, aber Laie für dengroßen Rest. Nach welchen allgemeinen Prinzipien und konkretenGründen und Interessen die Akteure außerhalb meines eigenenBereichs handeln, kann ich allenfalls vermuten – wissen tue ich es nicht.

Mein Handeln in einer solchen pluralistischen Gesellschaft wird fürmich so zu einem prinzipiellen Risiko, da sein Erfolg immer abhängigist vom „Mithandeln“ meiner sozialen Umwelt. Mit dem prinzipiellenRisiko meine ich vor allem die arbeitsteilige Übernahme von Handlun-gen, die für einen selbst wichtig sind, durch andere: So fahre ich mit demTaxi zum Bahnhof, um noch pünktlich zu einem Kongress anreisen zukönnen (aber woher weiß ich, dass der Fahrer den Weg rechtzeitig fin-det?). Ich überreiche mein Geld zwecks Vermehrung einer Bank (aberwoher weiß ich, dass deren Experten nicht selbst vom Markt überraschtwerden?). Ich lese einen Bericht zum radargestützten Sicherheitssystemder neuen S-Klasse (aber woher weiß ich, dass der Journalist sauber gear-beitet hat?).

Kein einziger sozialer Akteur wäre auf der Basis nur seines Wissens undnur seiner Fähigkeiten in der Lage, sich in auch nur einigermaßen kom-plexen Handlungszusammenhängen zu bewegen. Er muss sein Han-deln daher mit dem Handeln anderer sozialer Akteure verknüpfen undabstimmen. Auf der einen Seite wird so sein Handlungsradius enormerweitert. Auf der anderen Seite entsteht das Problem, wie er mit demRisiko umgeht, dass andere Akteure nicht seinen spezifischen Erwar-tungen gemäß handeln könnten, also als Taxi-Fahrer den rechten Wegfinden, als Banker die Marktentwicklung überschauen oder als Journa-list alle wichtigen Informationsquellen kennen und sie auch nutzen.

Es ist diese riskante Situation, in der Vertrauen in andere seine Bedeu-tung gewinnt. Vertrauen ist ein Mechanismus, um trotz ungewisserbeziehungsweise riskanter Zukunft handeln zu können. Man verlässtsich auf andere und gründet sein jetziges Handeln auf dieses Vertrauen,obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht gewiss ist, dass diese anderen tatsäch-lich gemäß meinen Erwartungen handeln. Diese Vertrauenserwartun-

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gen an andere sind in zumindest rudimentärer Weise untereinanderausgehandelt, das heißt, der Vertrauensadressat weiß zum Ersten, dassich ihm vertraue, und er akzeptiert zum Zweiten die Erwartung an ihn.Andernfalls (wie im Falle der Brötchen beim Schuhmacher) handelt essich um bloße Hoffnung, mit der man sich auch lächerlich machenkann. Eine Vertrauenshandlung ist weder kalkuliert, noch ist sie recht-lich sanktionierbar. Das macht sie riskanter als zum Beispiel ein Han-deln, das nur auf die eigenen Fähigkeiten baut, oder als ein Handeln mit-tels Verträgen. Nur Vertrauensbeziehungen ermöglichen aber die Viel-falt unserer Gesellschaft.

Wenn ich vertraue, überlasse ich mich also einem anderen, obwohl dasRisiko, dass er mich enttäuscht, weiterhin besteht. Ich tue dies, weil ichselbst nicht über genügend Wissen oder über die Fertigkeiten verfüge,um ein bestimmtes Problem allein anzugehen. Mit Vertrauen über-brücke ich mein Defizit. Dabei wird ein ganz besonderes Charakteristi-kum von Vertrauen sichtbar: Ich kann nicht beurteilen, ob der andereAkteur, dem ich vertraue, mein Problem lösen kann, da mein Problemja gerade darin besteht, nicht über dieses Beurteilungswissen zu verfü-gen.

Wann ist ein anderer Akteur für mich vertrauenswürdig? Er ist dann ver-trauenswürdig, wenn er – auch als Rollen-Inhaber wie zum Beispiel alsRedakteur – sich an die untereinander ausgehandelten Vertrauenser-wartungen hält. Wenn dieser andere Akteur sich dadurch als vertrau-enswürdig erweist, dass er bestimmte Erwartungen an seine Berufsrolleerfüllt, könnte man genauso auch sagen, dass seine Arbeit Qualität„hat“. Ob jemand vertrauenswürdig ist, erweist sich aber erst im Nach-hinein und nur durch Erfahrung. Vertrauen kompensiert die eigeneUnsicherheit, oder anders ausgedrückt: Vertrauen ersetzt fehlendes Wis-sen. Man kann Vertrauen folglich nicht durch Wissensvermittlungerzeugen, im Gegenteil: Je mehr Wissen jemand über ein gesellschaftli-ches Thema erhält, desto komplexer und damit unsicherer erscheinenihm seine Entscheidungsgrundlagen, und umso mehr Vertrauenbenötigt er. Es ist typisch für unsere moderne Gesellschaft, dass ihreKomplexität nicht nur mehr Handlungsmöglichkeiten bietet, sondernzugleich dem Individuum immer mehr den Überblick und den Einblickverwehrt.

Statt Wissen brauche ich daher andere Handlungsorientierungen,sofern es nicht um meinen eigenen Spezialbereich geht. Die Vertrau-enswürdigkeit des anderen ist eine solche Orientierung. Sie beruht abernicht auf dem Nachvollzug des Wissens, das von anderen Akteurenerzeugt wurde, sondern sie gründet auf dem mehr oder weniger sym-bolischen Wissen über diese Akteure. Symbolisch heißt, dass dieses Wis-

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sen über Akteure zum Stellvertreter für das tatsächliche Wissen dieserAkteure wird, auf das es mir ja eigentlich ankommt. Wer sich einemZahnarzt schon beim ersten Besuch für eine Wurzelbehandlung über-lässt, hat nicht das geringste sachspezifische Wissen, um diese Hand-lung zu legitimieren. Sein Vertrauen gründet sich auf saubere Kittel,Diplome an der Wand, ein freundliches Wort und auf die Beobachtung,dass da ja auch noch andere Patienten sind, die entspannt in der Zeit-schrift blättern – streng genommen eine jämmerliche Informationsba-sis. Die Alternative wäre allerdings zeitraubend: ein Studium der Zahn-medizin. Nach dem ersten Besuch kommt dann die eigene Erfahrung alsKriterium hinzu, nach dem Motto: Was einmal klappte, muss doch beimnächsten Mal auch gutgehen (das Ganze ist natürlich auch im Negati-ven denkbar). Ich glaube übrigens, dass sich das Verhältnis von Wissen-schaft und sogenannter Laien-Bevölkerung nicht groß von diesem Sze-nario unterscheidet.

Wovon die Vertrauenswürdigkeit abhängt, ist von Profession zu Profes-sion unterschiedlich. Man kann also nicht einfach nur nach „der“ Ver-trauenswürdigkeit fragen, ohne sich zu überlegen, worauf sich das Ver-trauen eigentlich bezieht. Vertrauen in den Schuhmacher, Vertrauen inden Bäcker, Vertrauen in den Zahnarzt oder aber Vertrauen in den Wis-senschaftsjournalisten – jedes Mal ist etwas völlig anderes gemeint. Ausdieser Argumentation ergibt sich, dass die Qualität des Wissenschafts-journalismus davon abhängt, ob er die spezifischen Vertrauenserwar-tungen erfüllen kann, die an ihn gerichtet werden. Welche spezifischenErwartungen dies sind und wessen Erwartungen dies sind, das kann manaus der Funktion ableiten, die Journalismus für die Gesellschaft erfüllt.

Worauf bezieht sich Vertrauen in Journalismus?

Vertrauen in Journalismus bezieht sich auf die angemessene Erfüllungder Funktion, die Journalismus für die gesamte Gesellschaft innehat.Was ist aber nun diese „eigentümliche“ Perspektive des Journalismus,die anscheinend so bedeutend für seine Publika ist? Um dies zu erläu-tern, muss man sich wie beim Vertrauen noch einmal die pluralistischeStruktur unserer modernen Gesellschaft vor Augen führen. Die arbeits-teilige Organisation der Gesellschaft hat dazu geführt, dass die einzel-nen Handlungsbereiche oder Systeme miteinander konkurrierendeSachlogiken und Fachsprachen ausgebildet haben: Was in der Wissen-schaft wahr ist, bringt in der Politik vielleicht zu wenig Stimmen, wasmoralisch verwerflich ist, bringt für sich genommen die Wirtschaftnicht dazu, davon abzulassen. Hinzu kommt, dass die einzelnenSysteme zwar in einer Hinsicht sehr spezialisiert sind (man denke nuran die Wissenschaft), aber gerade deshalb in allem anderen umso abhän-

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giger von ihrer Umwelt. Dies gilt sowohl für negative als auch für posi-tive „Störungen“ der eigenen Handlungen: Neue Erkenntnisse der Wis-senschaft können der Wirtschaft zur Entwicklung eines lukrativen Pro-dukts verhelfen (Beispiel Krebsforschung), genauso aber auch die Wirt-schaftlichkeit bestimmter Güter gefährden (Beispiel Kanzerogenität vonAsbest). Man kann mit vielen weiteren Beispielen belegen, dass unsereGesellschaft durch komplexe gegenseitige Abhängigkeits- und Beein-flussungsverhältnisse charakterisiert ist. Kein Akteur bleibt unberührtvon dem, was andere tun. Zumindest kann er nicht davon ausgehen –was für ihn eine prinzipielle Unsicherheit bedeutet.

In solch einer Situation ist jeder Akteur, ob Person oder Organisation,genötigt, Erwartungen über seine gesellschaftliche Umwelt auszubil-den, auf deren Grundlage er dann sein spezifisches Handeln planenkann. Ohne die Ausbildung dieser Erwartungen würde zum Beispieleine Organisation immer wieder überrascht werden von dem, was ausihrer Umwelt auf sie einströmt. Unter diesen Bedingungen muss jedergesellschaftliche Akteur also folgendes Problem lösen: Wie kann erErwartungen ausbilden, die ihm eine Orientierung in einer pluralistischenGesellschaft ermöglichen, das heißt in einer Gesellschaft, die von kon-kurrierenden und durchaus auch inkompatiblen Perspektiven undInteressen geprägt ist? Kurz gefasst: Wie kann er sich rechtzeitig daraufeinstellen, was andere tun?

Genau diese Orientierungsfunktion übernimmt der Journalismus. Jour-nalismus informiert stets über solche Ereignisse, die über den Bereich hin-aus, in dem sie passiert sind, Bedeutung erlangen könnten. Über ein Ereig-nis wird also nicht schon deshalb berichtet, weil es in einem bestimmtengesellschaftlichen System wie zum Beispiel der Wissenschaft oder derPolitik stattfindet, sondern weil es in mindestens einem zusätzlichenSystem, idealerweise (aus journalistischer Sicht zumindest) in möglichstvielen, Resonanz auslösen, also Erwartungshaltungen verändernkönnte. Wenn Journalismus also zum Beispiel ein Ereignis beobachtet,das er dem Rechtssystem zurechnet (z. B. das Kruzifix-Urteil des Bun-desverfassungsgerichts von 1995 zur Anbringung von Kreuzen in bayeri-schen Schulräumen), wird er es jeweils aus der Perspektive anderer ihmbekannter Akteure auf seine Neuigkeit und seine Relevanz hin prüfen.Er wird dann feststellen, dass dieses Urteil im System Religion sowohleinen hohen Neuigkeitswert besitzt, als auch relativ stabile Erwartun-gen über die gesellschaftliche Stellung der großen Kirchen in Fragestellt, also für diese Akteure hochrelevant ist. Journalismus wird zudemaus seiner Kenntnis politischer Kommunikation die Vermutung ablei-ten, dass zumindest Teilbereiche der Politik (die christlichen Parteien,vor allem die CSU) höchstwahrscheinlich auf diese höchstrichterlichenIrritationen reagieren werden. Er wird also dieses Ereignis als journa-

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listisches Thema kommunizieren. Nach den gleichen Kriterien wird erauf die Reaktionen achten, sowohl auf die im eigenen System (z. B. Leser-briefe, Anrufe) als auch auf die aus Politik und Religion sowie natürlichaus dem Rechtssystem, das durch die teilweise scharfen Angriffe aufseine Autonomie ebenfalls erheblich tangiert wurde.

Man kann diese Funktionsbeschreibung für Journalismus auch andersformulieren: Journalismus liefert seinen Lesern, Hörern und Zuschau-ern Informationen, damit diese über ihre Vertrauensverhältnisse zuanderen Akteuren in der Gesellschaft entscheiden können. Ein Berichtüber verdeckte Geldzuwendungen an einen Politiker? – Das Vertrauenin die betreffende Partei, schlimmstenfalls sogar in die Politik, sinkt. EinArtikel über ein neues wirksames Medikament gegen AIDS? – Das Ver-trauen in die Leistungsfähigkeit der medizinischen Wissenschaft steigt.Mit Informationen dieser Art, die natürlich in der Regel viel wenigerspektakulär sind, trägt Journalismus dazu bei, dass sich seine Publikaeinen Eindruck von der Vertrauenswürdigkeit gesellschaftlicherAkteure machen können, auf die sie sich tagaus tagein verlassen. Daskann auch – Stichwort „Gammelfleisch“ – bedeuten, dass Journalismusden Anstoß zum Vertrauensentzug gibt.

Entscheidend ist hierbei, dass der Journalismus diese Selektionsent-scheidungen autonom durchführt, das heißt nicht nach der Maßgabeanderer gesellschaftlicher Perspektiven. Journalismus hat seine eigenePerspektive. Die Funktion des Journalismus erlaubt damit nicht, dieBerichterstattung auf die Erwartungen nur eines Systems auszurichten,weil dies den Erwartungen anderer Gesellschaftsbereiche zuwiderlau-fen könnte. Würde Journalismus seine eigene Perspektive zugunsteneiner anderen aufgeben, müsste man von Korruption sprechen. DieRelevanz journalistischer Themen bemisst sich allein nach journalisti-schen Relevanzkriterien, und das heißt mit Bezug auf die Erwartungendes orientierungsbedürftigen Publikums. Anders ausgedrückt: DieFunktion des Journalismus ergibt sich allein aus seiner Beziehung zuseinem Publikum. Das macht es wiederum – warum sollte es hier anderssein? – prinzipiell riskant, sich auf Journalismus zu verlassen. Abergerade deshalb reden wir ja über seine Vertrauenswürdigkeit respektiveQualität – weil sie potentiell immer auch gefährdet ist. Von hier aus istes nun nur noch ein kleiner Schritt zur Vertrauenswürdigkeit bezie-hungsweise zur Qualität des Wissenschaftsjournalismus.

Was bedeutet Vertrauen in Wissenschaftsjournalismus?

Wissenschaftsjournalismus ist „auch nur“ Journalismus. Das heißt, erunterscheidet sich in seiner grundsätzlichen Funktion nicht von ande-

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ren Bereichen des Journalismus. Dies wurde ja lange anders gesehen.Für die Funktion des Wissenschaftsjournalismus heißt das zum einen:Wissenschaftsjournalismus informiert über solche Ereignisse in derWissenschaft, die über diesen Bereich hinaus Bedeutung erlangen könnten.Beispiel: eine neue Krebstherapie. Das heißt zum anderen aber auch:Wissenschaftsjournalismus informiert über solche Ereignisse in derGesellschaft, die für die Wissenschaft Bedeutung erlangen könnten. Bei-spiele: ein Gesetz zu Studiengebühren; eine neue Esoterikwelle. Tatsäch-lich liegt der Schwerpunkt wohl auf dem ersten Aspekt, dass nämlichdie Folgen der Wissenschaft für die Gesellschaft thematisiert werden. Eswäre zu diskutieren, ob das für das Publikum nicht von Nachteil ist, daes so vielleicht zu wenig über den Einfluss der Gesellschaft auf die Wis-senschaft erfährt. Das Risiko besteht hier im Bild einer quasi-autarkenWissenschaft, so als habe man sich diese isoliert von mannigfaltigengesellschaftlichen Einflüssen vorzustellen. Ich beschränke mich im Fol-genden auf den ersten Aspekt, die Beobachtung der Wissenschaft für dieGesellschaft.

Diese Beobachtung führt Wissenschaftsjournalismus nach seinen Kri-terien durch, und das heißt vor allem: eng an den Erwartungen seinerPublika orientiert. Entscheidend ist: Er führt sie nicht nach den Rele-vanzkriterien der Wissenschaft durch. Gerade dies wurde aber oft alsQualitätsnachweis erachtet. Wissenschaftsjournalismus nach journalis-tischen Kriterien erzeugt gewiss auch ein „public understanding ofscience“, aber eben auf seine Weise. Nur so kann die Öffentlichkeit sichein Bild über ihr Vertrauensverhältnis zur Wissenschaft machen. Diesekann natürlich selbst per Öffentlichkeitsarbeit dazu beitragen. Sie solltesich dabei aber nicht zu sehr an den ihr fremden Erfolgskriterien öffent-licher Aufmerksamkeit ausrichten.

Ich hatte beim Beispiel vom Vertrauen in den Zahnarzt gesagt, dass dieAlternative zum Vertrauen ein Studium der Zahnmedizin wäre. Dasstimmt natürlich nicht ganz, denn es gibt noch eine weitere Option:Man kann auch andere fragen, die schon Erfahrungen mit diesem Zahn-arzt gesammelt haben. Nun hat man nicht für jedes Thema, erst rechtnicht für die größeren gesellschaftlichen Probleme, eigene Kontakt-leute und auch gar nicht die Zeit, ständig nach solchen Ausschau zu hal-ten. In diesem Fall wird man sich an solchen Informanten orientieren,die sich das Über-die-Bedeutung-von-Ereignissen-für-andere-Reden zurProfession gemacht haben – also Journalisten. Von diesen kann mandann Vertrauensinformationen erhalten, das heißt solche Informatio-nen, mit deren Hilfe man beurteilen kann, ob man sich bestimmtengesellschaftlichen Akteuren anvertrauen kann, und wie weit man hier-bei gehen sollte.

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Meine These ist, dass auch der Wissenschaftsjournalismus in erster Linieein solcher Vertrauensinformant oder Vertrauensvermittler ist. Er liefertseinen Lesern Informationen, die diese benötigen, um über ihr Ver-trauensverhältnis zur Wissenschaft entscheiden zu können. Das hatnichts mit Akzeptanz zu tun, wie man im ersten Moment denkenkönnte. Es geht in einem viel umfassenderen Sinne darum, wie ichmich als Bürger zu den Professionen verhalte, die zwar Einfluss aufmein Leben ausüben, dabei aber so spezialisiert sind, dass ich nicht inder Lage bin, das alles selbst nachzuhalten. Die Wissenschaft ist einerdieser spezialisierten Bereiche, dessen Produkte sowohl positive als auchnegative Folgen für mich haben können.

Hierbei muss man natürlich berücksichtigen, dass es ja eher selten umWissenschaft „an sich“ geht, sondern immer um Wissenschaft im Kon-text: Wissenschaft im Kontext von Technologie, Wissenschaft im Kon-text von Ökonomie, Wissenschaft im Kontext von Politik und so weiter.Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist daher besser zukonzipieren als eine Vielzahl sozialer Beziehungen zwischen den wis-senschaftlichen Akteuren und der Öffentlichkeit. Vor diesem Hinter-grund rückt die Qualität dieser Beziehungen in Form gegenseitiger Ver-trauensverhältnisse in den Mittelpunkt. Die Vertrauenswürdigkeit derWissenschaft erweist sich natürlich auch in der Nützlichkeit ihres Wis-sens. Aber auch diese Wissensvermittlung findet nach den Bedürfnissenpotentieller Publika statt: Die Komplexität wissenschaftlicher Argu-mentationen wird hierbei in einfache Ist-Aussagen transformiert undgleichzeitig mit dem Relevanzkontext des Laien-Anwenders verknüpft:Eine neue Technologie hilft Heizenergie sparen, ein bestimmtes Medi-kament ist riskant für eine bestimmte Patientengruppe und so weiterund so fort. Darüber hinaus kann Wissenschaftsjournalismus natürlichzusätzlich auch komplexes Wissen an seine Publika vermitteln. DerUmfang dieser Publika ist aber eher beschränkt, weil die Anforderungenan Auffassungsaufgabe und Engagement doch recht voraussetzungs-reich sind. Dies ist wohl auch mit ein Grund, warum es der Wissen-schaftsjournalismus immer so schwer hatte, als eigenes Ressort zu reüs-sieren: Für eine vornehmlich an der Wissenschaft orientierte Wissens-vermittlung ist das potentielle Publikum einfach zu klein. Leisten konn-ten sich dies zum Beispiel nur Zeitungen, die eine Leserschaft mit sehrhoher Bildung hatten.

Es gibt daneben auch Formen der Wissenschaftskommunikation, indenen es tatsächlich um die Wissenschaftsvermittlung an sich zu gehenscheint oder wo die Vermittlung von Wissen doch stark im Vordergrundsteht. Hier scheinen mir die Grenzen zu Wissenschaftskommunikationals Bildung (im Sinne von Schule und Hochschule) und zu Wissen-schaftskommunikation als Unterhaltung fließend zu sein. Ich bin mir

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zum Beispiel nicht schlüssig, wo ich die sogenannten Wissensmagazineverorten soll. Zu diskutieren wäre, ob wir es in den Medien nicht gene-rell mit Tendenzen einer Re-Mythifizierung von Wissenschaft zu tunhaben, bei der – übrigens ähnlich wie bei den beliebten Quiz-Sendun-gen – Wissenschaft als Garant von Sicherheit im Vordergrund steht.

Zumindest im aktuellen Journalismus geht es aber vor allem um Infor-mationen, mit deren Hilfe über die Vertrauenswürdigkeit der Wissen-schaft entschieden werden kann und mit deren Hilfe man das eigeneHandeln auf die Konsequenzen wissenschaftlicher Handlungen ein-stellen kann. Das wissenschaftliche Wissen selbst ist hierfür viel zukomplex und kann nur in seiner Nützlichkeit für außerwissenschaft-liche Zusammenhänge beurteilt werden, wiewohl man sich ja gern dieIllusion erhalten würde zu wissen, worum es geht. Statt um den Nach-vollzug des Wissens von Wissenschaftlern geht es für den Leser, Hörerund Zuschauer aber erst einmal darum, Wissen über diese Akteure zurVerfügung gestellt zu bekommen. Dieses dient ihm dazu, über denGrad ihrer Vertrauenswürdigkeit zu entscheiden. Dieses Vertrauenhilft ihm wiederum, das eigene nicht vorhandene Wissen über einenüberaus komplexen gesellschaftlichen Handlungsbereich wie die Wis-senschaft zu kompensieren. Erst dann ist man so weit, deren Wissenauch für sich zu nutzen.

So hat ausgerechnet die Qualität desjenigen Journalismus, der sich mitdem vielleicht wichtigsten Wissensproduzenten in unserer Gesellschaftbeschäftigt, gar nicht allzu viel mit Wissensvermittlung im traditionel-len Sinn zu tun. Qualität im Wissenschaftsjournalismus bedeutet viel-mehr, den gesellschaftlichen Akteuren ein unabhängiges Bild der Wis-senschaft zu vermitteln, um ihnen so eine informierte Vertrauensbe-ziehung zu ermöglichen. Qualität im Wissenschaftsjournalismusbedeutet zugleich, der Wissenschaft ein unabhängiges Bild der Gesell-schaft „da draußen“ zu vermitteln, damit sich auch Wissenschaftlerüber die gegenseitigen Vertrauensbeziehungen informieren können.Qualität im Wissenschaftsjournalismus meint also eine doppelte Ver-trauensvermittlung – zwischen Wissenschaft und Gesellschaft undzwischen Gesellschaft und Wissenschaft. Dem liegt die Erkenntnis zu-grunde, dass diese Beziehung stets riskant ist. Vertrauensvermittlungschließt damit immer auch ein, die Berechtigung des Vertrauens kri-tisch zu hinterfragen und bestimmten Entwicklungen auch mit Miss-trauen begegnen zu können. Es dürfte klar sein, dass dies nur ein Wis-senschaftsjournalismus leisten kann, der von allen normativen Bin-dungen an Konzepte der Wissenschaftsvermittlung befreit ist. Qualitätim Wissenschaftsjournalismus bedeutet daher zuallererst auch Auto-nomie des Wissenschaftsjournalismus von wissenschaftlichen Rele-vanzkriterien.

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Die Bedeutung des Wissenschaftsjournalismus liegt so betrachtet vielweniger in der Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen als in derVermittlung von Vertrauensinformationen über die Wissensproduzen-ten. Wenn Wissenschaftsjournalismus also vor allem damit beschäftigtist, sein Publikum über die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft zuorientieren, dann erweist sich seine Vertrauenswürdigkeit respektiveQualität eben darin, dass er diese Orientierung seinen Rezipienten auchtatsächlich ermöglicht, oder genauer: dass sie glauben, dass er sie ihnenermöglicht. Zum Richter über die Qualität des Wissenschaftsjournalis-mus wird damit die Meinung des Laien-Publikums. Ein Wissenschaftlermag damit seine Probleme haben, für einen Journalisten ist dies die all-tägliche Sorge um sein Publikum.

Ich hatte zu Anfang von der notwendigen Zielvorgabe für die Diskus-sion um die Qualität des Wissenschaftsjournalismus gesprochen.Meine These ist, dass die Qualität des Wissenschaftsjournalismusnicht primär an der Zielvorgabe der Wissensvermittlung von der Wis-senschaft in die Gesellschaft zu messen ist, sondern an der Zielvorgabeder Vertrauensvermittlung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft.Dies schließt natürlich die Vermittlung wissenschaftlicher Erkennt-nisse mit ein, da es ja gerade Ziel der Wissenschaft ist, der Gesellschaftein geprüftes Orientierungs- und Prognosewissen und ein Deutungs-wissen für gesellschaftliche Ereignisse und Vorgänge anzubieten.Diese Vermittlung von Erkenntnissen findet aber mit Bezug auf dieBedürfnisse des Publikums statt, und das unterscheidet sie deutlich vonden alten Konzepten einer hierarchischen Wissenschaftskommunika-tion. Es geht nicht um das wissenschaftliche Wissen an sich, sondernes geht um das wissenschaftliche Wissen im jeweiligen Lebenszusam-menhang seiner nicht wissenschaftlichen Nutzer. Hierüber weiß manfür den Fall des Wissenschaftsjournalismus so gut wie gar nichts.Wenn man sich entsprechende Umfragen ansieht, zum Beispiel dieEurobarometer der EU-Kommission, wird dort Schulbuchwissen abge-fragt, nach dem Motto: „Haben Tomaten Gene?“ oder „Dreht sich dieErde um die Sonne oder die Sonne um die Erde?“. Im Vordergrundsteht die Frage nach der Akzeptanz der Wissenschaft. Diese kann aberbei aller Hochachtung für die Wissenschaft nicht als Gradmesser fürdie Qualität des Wissenschaftsjournalismus fungieren. Die Qualitätdes Wissenschaftsjournalismus bemisst sich vielmehr daran, inwie-fern er seinem Publikum eine von der Perspektive der Wissenschaftunabhängige Orientierung über das Verhältnis von Gesellschaft undWissenschaft ermöglicht.

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Fußnoten1 Wiederabdruck von Matthias Kohring, Vertrauen statt Wissen – Qualität im Wissen-

schaftsjournalismus. In: Kienzlen, Grit/Lublinski, Jan/Stollorz, Volker (Hg.) (2007): Fakt,Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz: UVK, S. 25–38.

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Abbildung 29: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Sicherheiten I

Abbildung 30: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Sicherheiten II

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Unsicherheit und Vertrauen:Eine sozialpsychologische PerspektiveJana Janssen, Christine Schoel und Dagmar Stahlberg

Der Wunsch nach Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. InZeiten von Terrorismus, Umweltkatastrophen und Weltwirtschaftskri-sen ist unsere Welt häufig geprägt von Unsicherheit, Verwirrung undAngst. Aber auch schon der verwehrte Gruß eines Kollegen kann ver-unsichern, weil man nicht weiß, ob man bewusst ignoriert wurde, oderob der Kollege einfach in Gedanken war. Unsicherheit kann in diesemSinne verstanden werden als Zweifel darüber, wie man sich selbst oderdie Welt, in der man lebt, einschätzen und bewerten soll.1 Wird man mitUnsicherheit konfrontiert, entsteht ein starker Wunsch danach, Dingewieder als kontrollierbar zu erleben und die unangenehmen Gefühlevon Unsicherheit zu reduzieren.2

Unsere eigenen Arbeiten im Bereich der Sozialpsychologie beschäftigensich mit zwei Kernstrategien, um Gefühle von Unsicherheit zu reduzie-ren: sich einer vertrauenswürdigen Gruppe anzuschließen oder sich indie Obhut einer starken (autoritären) Führungsperson zu begeben. Indiesem Beitrag stellen wir einige unserer Forschungsbefunde zu beidenStrategien vor.3

Sich einer vertrauenswürdigen Gruppe anschließen

1. Vertrauen in andere Menschen reduziert Unsicherheit

Wenn Menschen unsicher sind, wenden sie sich häufig Gruppen zu.4

Sich mit einer Gruppe zu identifizieren schafft soziale Identität, diehelfen kann, die eigene Unsicherheit zu reduzieren. Man fühlt sicheiner sozialen Gruppe zugehörig und misst dieser Mitgliedschafteinen bestimmten emotionalen, meist positiven Wert bei. Deutlichwird die Relevanz der sozialen Identität, wenn man Personen bittet,sich selbst zu beschreiben. Neben Persönlichkeitseigenschaften wer-den dann häufig Gruppenzugehörigkeiten genannt, wie zum Beispiel„ich bin weiblich“, „ich spiele im Fußballverein“, oder „ich lebe ineiner Partnerschaft“. Soziale Identität vermittelt uns ein Gefühldavon, wer wir sind, welche Werte wir vertreten, wie wir fühlen und

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wie wir denken sollten.5 Dieses Wissen kann unsere Unsicherheit überuns selbst verringern.

Sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren hat aber nicht nur posi-tive Konsequenzen. So birgt die Interaktion und Kooperation mit ande-ren Personen oder Gruppen auch das Risiko, ausgenutzt zu werden. Manläuft Gefahr, dass man selbst mehr investiert als der Interaktionspart-ner beziehungsweise dass der Interaktionspartner mehr nimmt, als ergibt. Im Extremfall kann solch eine Ungleichverteilung von Investitio-nen bedeuten, ausgebeutet zu werden. Auch steigt, wenn man sich miteiner Gruppe identifiziert und sich ihr anzuschließen versucht, dasRisiko, zurückgewiesen oder ausgeschlossen zu werden. Das Bedürfnisnach sozialer Identität wird dadurch möglicherweise verletzt und dieeigene Unsicherheit kann sogar steigen anstatt zu sinken.

Menschen sind also mit einem „fundamentalen sozialen Dilemma“6

konfrontiert: Sie müssen entscheiden, ob sie mit einer Gruppe inter-agieren, sich ihr anschließen oder nicht. Auf der einen Seite lockt diesoziale Identität durch die Gruppenzugehörigkeit, die Unsicherheitreduzieren kann. Andererseits erhöhen sich die oben beschriebenenRisiken der Ausbeutung und erlebten Ausgrenzung.

Eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu lösen, ist Informationen über dieGruppe einzuholen. Zentral ist dabei die Frage, ob eine Gruppe (odereine Person dieser Gruppe) vertrauenswürdig ist.7 VertrauensrelevanteInformationen dienen als Signal dafür, ob man mit der Gruppe inter-agieren sollte oder nicht. Die Risiken von Ausbeutung und Ausgrenzungsind bei vertrauenswürdigen Gruppen sehr viel geringer als bei Grup-pen, denen man nicht vertrauen kann. Ist eine Gruppe vertrauenswür-dig, kann man sich darauf verlassen, von der Gruppe gerecht und wohl-wollend behandelt zu werden. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dassman ausgebeutet oder ausgeschlossen wird. Gleichzeitig steigt die Wahr-scheinlichkeit, dass die Gruppenzugehörigkeit die Entwicklung einerpositiven sozialen Identität ermöglicht und dadurch Unsicherheit redu-ziert. Umgekehrt bleiben Personen auf der sicheren Seite, wenn sie einerGruppe, die nicht vertrauenswürdig erscheint, fernbleiben. In diesemSinne sollte selbst die Information, dass einer Gruppe zu misstrauen ist,Sicherheit erhöhen, zumindest dann, wenn eine Person frei entscheidenkann, ob sie Mitglied dieser Gruppe werden oder mit ihr interagierenmöchte.

Ob die Identifikation mit einer Gruppe tatsächlich Sicherheit vermit-telt, hängt also entscheidend davon ab, ob man der Gruppe vertrauenkann oder nicht. Informationen über die Vertrauenswürdigkeit einerGruppe (oder Personen dieser Gruppe) sind daher entscheidend, undzwar besonders für Personen, die ihrer selbst unsicher sind bezie-

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hungsweise sich in Situationen befinden, die von Unsicherheit geprägtsind. Insbesondere für diese Personengruppe können vertrauensrele-vante Informationen bewirken, dass Kontrolle und Sicherheit zurücker-langt werden.

Diese Annahmen haben wir in einer Reihe von Studien untersucht. DieStudien in diesem und dem nächsten Abschnitt wurden überwiegendim organisationalen Kontext durchgeführt, da Unsicherheit hier oftvon hoher Relevanz ist. Unternehmen können hierbei als soziale Grup-pen angesehen werden, und Bewerberbende als Individuen, die sich derGruppe der Organisation anschließen wollen.

Betrachten wir zunächst die naheliegende Annahme, dass die Informa-tion, eine Gruppe sei vertrauenswürdig, beim Kontakt mit ihr tatsäch-lich zu höherer Sicherheit führt. In einer ersten Studie mit Bewerbernbei einem großen deutschen Unternehmen konnten wir zeigen, dassBewerber, die das Unternehmen als vertrauenswürdig einschätzten,während des Auswahlprozesses von weniger Unsicherheit berichtetenals Bewerber, die dem Unternehmen nicht gleichermaßen vertrauten.Zum Bespiel waren sich Personen, die das Unternehmen als vertrau-enswürdiger einschätzten, sicherer darüber, wie sie das Unternehmenbei einer Einstellung in Zukunft behandeln würde. Dieser Zusammen-hang zeigte sich insbesondere dann, wenn die Personen zuerst nach Ver-trauenswürdigkeit und anschließend nach ihrer Sicherheit/Unsicher-heit befragt wurden, also wenn Überlegungen zur Vertrauenswürdig-keit besonders verfügbar waren. Diese Ergebnisse bestätigten sich ferneran einer Gruppe von Studierenden, die an einem simulierten Auswahl-verfahren teilnahmen. Sie erhielten zufällig entweder die Information,dass andere Bewerber dieses Unternehmen als vertrauenswürdig einge-schätzt hätten, oder aber keine entsprechenden Informationen. Dieerste Gruppe erwartete, sich in dem anstehenden Auswahlverfahren vielsicherer zu fühlen als die Gruppe ohne Vertrauensinformation. Wieerwartet, zeigte sich also in beiden Studien, dass Bewerber die Interak-tion mit einer Organisation, die grundsätzlich als vertrauenswürdig ein-geschätzt oder beschrieben wurde, als weniger Unsicherheit erzeugendbeurteilten.

Kann aber allein das Wissen um die Vertrauenswürdigkeit einerGruppe/Organisation, unabhängig davon, ob dieses Urteil positiv odernegativ ausfällt, Unsicherheit reduzieren? Wie schon ausgeführt, sollteMisstrauen signalisieren, dass man mit der Gruppe besser nicht inter-agieren sollte, da man mit solch einer Interaktion riskieren würde, aus-gebeutet oder ausgeschlossen zu werden. Dieses Wissen schützt vormöglichen negativen Konsequenzen, die potentiell die eigene Identitätbedrohen und Unsicherheit erhöhen können. Um diese Annahme zu

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prüfen, nahmen Studierende an einem sogenannten Trustgame8 teil. ImTrustgame spielen zwei Personen (A und B) miteinander. Im erstenSchritt bekommt Person A einen bestimmten Geldbetrag (z.B. 10 Euro)und darf frei wählen, wie viel sie davon an Person B schicken will. Imzweiten Schritt entscheidet dann B, wie viel von dem erhaltenen Geldsie an A zurückschicken möchte. Um das Interesse an einer solchenfinanziellen Transaktion zwischen A und B für beide interessant zumachen, wird dabei der Betrag, den A im ersten Schritt überweist, miteinem bestimmten Faktor multipliziert (z.B. mit vier; B würde in diesemFall also 40 Euro bekommen, was für sie den Anreiz erhöhen sollte,tatsächlich etwas von dem Geld an A zurückzuschicken). Der Betrag, denA im ersten Schritt an B schickt, zeigt nun an, wie sehr Person A PersonB vertraut (also erwartet, fair behandelt, d.h. am Gewinn von B gerechtbeteiligt zu werden).

Das Trustgame in dieser Studie war ein fiktives Spiel, bei dem sich dieTeilnehmenden vorstellen sollten, sie seien in der Position von A. Nach-dem die Regeln des Spiels erklärt wurden, sollten die Teilnehmendenje nach Untersuchungsbedingung entweder aufschreiben, warumman dem Empfänger in dem Spiel vertrauen sollte (Vertrauensbedin-gung), warum man dem Empfänger misstrauen sollte (Misstrauensbe-dingung) oder was einem allgemein zu dem Spiel einfalle (neutraleBedingung). Anschließend gaben alle Teilnehmenden an, wie unsi-cher sie sich während des Spiels fühlen würden und wie unsicher siein Bezug auf den Empfänger wären. Es zeigte sich, dass Personen in derVertrauensbedingung weniger unsicher waren als Personen in derneutralen Bedingung. Interessanterweise gaben aber auch Personen inder Misstrauensbedingung an, weniger unsicher zu sein als Personenin der neutralen Bedingung. Das bedeutet also, dass Unsicherheitnicht nur durch Informationen über die Vertrauenswürdigkeit redu-ziert wird, sondern dass auch Misstrauen eine wichtige Informationin sozialen Beziehungen darstellt, durch die Unsicherheit verringertwerden kann – zumindest dann, wenn die handelnde Person sich freientscheiden kann, etwas in eine soziale Beziehung zu investieren odernicht.

2. Unsicherheit erhöht die Sensibilität für vertrauensrelevante Informationen

Basierend auf dem Befund, dass vertrauensrelevante InformationenUnsicherheit verringern, kann man annehmen, dass solche Informa-tionen für unsichere Personen (bzw. in unsicheren Situationen) wichti-ger sind als für sichere Personen (bzw. als in sicheren Situationen). WennPersonen sich unsicher fühlen, sollten sie besonders motiviert sein, ihreUnsicherheit zu reduzieren. Da Informationen über die Vertrauens-

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würdigkeit von anderen – wie oben gezeigt – eine Möglichkeit zur Unsi-cherheitsreduktion darstellen, sollten Personen unter Unsicherheit ver-stärkt auf vertrauensrelevante Informationen achten und auf dieseInformationen stärker reagieren. Mit anderen Worten nehmen wir an,dass Unsicherheit Personen für vertrauensrelevante Informationen sen-sibilisiert. Im Gegensatz dazu sollten Personen, die sich sicher fühlen,weniger motiviert sein, Unsicherheit zu reduzieren, da dies für sie weni-ger wichtig oder nicht notwendig ist. Unter Bedingungen von Sicherheitsollten Personen daher weniger auf vertrauensrelevante Informationenreagieren. Auch diese Annahmen wurden in mehreren Feldstudien mitBewerbern, die sich in einem realen Bewerbungsverfahren für eine Posi-tion in einem großen deutschen Unternehmen befanden, sowie einemkontrollierten Laborexperiment getestet.

In den Online-Studien im Feld wurden Bewerber dazu befragt, wie sehrsie dem Unternehmen, für das sie sich beworben hatten, vertrautenund wie attraktiv sie das Unternehmen als potentiellen zukünftigenArbeitgeber bewerteten. Außerdem gaben sie je nach Studie an, wieunsicher sie sich während des Auswahlverfahrens des Unternehmensgefühlt hatten, wie sehr sie sich im Allgemeinen mit anderen Personenvergleichen (ein Indikator für persönliche Unsicherheit) und wie unsi-cher sie sich generell fühlen (emotionale Unsicherheit). In allen Stu-dien zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen dem Vertrauen,das die Bewerber dem Unternehmen entgegenbrachten, und der Attrak-tivität des Unternehmens als möglichem Arbeitgeber: Je vertrauens-würdiger das Unternehmen eingeschätzt wurde, desto eher wollten diePersonen dort auch arbeiten. Die Unsicherheit der Teilnehmendenspielte bei diesem Zusammenhang allerdings eine entscheidende Rolle.Fühlten sich die Bewerbenden unsicher, so war der positive Zusam-menhang zwischen Vertrauen und der eingeschätzten Attraktivität desUnternehmens sehr viel stärker ausgeprägt, als wenn sie sich sicherfühlten. Mit anderen Worten reagierten unsichere im Vergleich zusicheren Personen positiver auf hohe und negativer auf geringe Ver-trauenswürdigkeit. Unsicherheit sensibilisiert Personen also für ver-trauensrelevante Informationen.

In einem Laborexperiment wurde anschließend überprüft, ob sich diegefundenen Effekte auch unter kontrollierten experimentellen Bedin-gungen zeigen lassen. Studierende wurden zufällig in verschiedene Ver-suchsbedingungen aufgeteilt. Je nach Gruppe sollten sie aufschreiben,welche Gefühle und welche körperlichen Reaktionen Sicherheit bezie-hungsweise Unsicherheit bei ihnen hervorrufen. Damit wurde variiert,ob sich die Teilnehmenden während der Studie sicher oder unsicherfühlten. Anschließend sollten sie sich in die Situation eines Bewerbersversetzen. Sie lasen einen Text, in dem das Unternehmen, bei dem sie

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sich bewarben, entweder als vertrauenswürdig oder nicht vertrauens-würdig dargestellt wurde. Am Ende gaben die Teilnehmenden dann an,wie gern sie bei dem Unternehmen arbeiten wollten. Wie in den obenbeschriebenen Studien zeigte sich auch hier, dass der positive Zusam-menhang zwischen der Vertrauenswürdigkeit und der Attraktivität desUnternehmens stärker war für Personen, die sich unsicher fühlten, alsfür diejenigen, die sich sicher fühlten. Unsichere Personen zogen alsodie vertrauensrelevante Information stärker für die Beurteilung desUnternehmens als möglichen Arbeitgeber heran als sichere Personen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Unsicherheit die Sensitivität fürvertrauensrelevante Informationen erhöht. Nun könnte man anneh-men, dass dies nicht spezifisch für vertrauensrelevante Informationenist, sondern dass Personen unter Unsicherheit auf jegliche Art ent-scheidungsrelevanter Informationen stärker reagieren. Allerdingszeigte sich in weiteren Studien, dass unsichere Personen auf andereentscheidungsrelevante Informationen nicht sensibler reagierten alssichere Personen (z.B. auf Angaben zur Entfernung zwischen Wohnortund Arbeitsplatz). Unsicherheit scheint also die Sensibilität ganz spe-zifisch für solche Informationen zu erhöhen, die über die Qualitätsozialer (Austausch-)Beziehungen Auskunft geben. Damit kommtInformationen über die Vertrauenswürdigkeit einer Person oder Grup-pe eine besondere Rolle zu. Man könnte sagen, dass Unsicherheit alseine Art Katalysator agiert, der die positiven Reaktionen auf Vertrauenund die negativen Reaktionen auf Misstrauen verstärkt. Unter Unsi-cherheit ist es also besonders wichtig, Vertrauen zu etablieren bezie-hungsweise zu stärken, da mögliche negative Konsequenzen von man-gelndem Vertrauen unter solchen Umständen besonders gravierendsind.

Die vorherigen Abschnitte haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Ver-trauen in eine Gruppe oder vertrauensrelevante Informationen übereine Gruppe (hier: ein Unternehmen) die Unsicherheit von Individuen(hier: z.B. Bewerbende) reduzieren kann. Es ging also um die Beziehungzwischen einer Person und einer sozialen Gruppe. Aber auch innerhalbeiner bestehenden Gruppe spielen Unsicherheit und Vertrauen einezentrale Rolle. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit Strukturenund Beziehungen innerhalb von Gruppen und mit der Frage, welche Artvon Führung Personen unter Unsicherheit bevorzugen oder für erfolg-reich halten.9

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Sich einer autoritären Führungsperson unterordnen 1. Unsicherheit und die Bewertung demokratischer und autoritärer

Führung

Gruppen sind geprägt durch eine innere Struktur, die mehr oder weni-ger hierarchisch ist. In den meisten Gruppen gibt es jedoch eine odermehrere Personen, die die Führung in Bezug auf die Gruppenziele über-nehmen. Wie geführt wird und wer in welchem Ausmaß zu Entschei-dungen beiträgt, hängt jedoch vom jeweiligen Führungsstil ab. In derFührungsforschung werden häufig zwei verschiedene Arten derFührung unterschieden: demokratische und autoritäre Führung.10

Demokratische Führungspersonen ermutigen ihre Gruppenmitglieder,eigene Ideen einzubringen, und lassen dadurch einen hohen Grad anInitiative zu. Sie berücksichtigen die Meinungen der Gruppenmitglie-der bei wichtigen Entscheidungen, setzen Vorschläge der Gruppe umund geben den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit, Probleme nacheigenem Ermessen zu lösen. Autoritäre Führungspersonen hingegengeben genau vor, was getan und wie es getan werden soll. Sie weisen denGruppenmitgliedern ihre Aufgaben zu und bestehen auf die Einhaltungvon Regeln und Vorschriften. Ihre Entscheidungen treffen sie, ohne dieGruppe zu konsultieren.

Eine Analyse von 30 experimentellen Studien zu demokratischer undautoritärer Führung ergab fünf Dimensionen, die zwischen den beidenFührungsstilen differenzieren: Partizipation, Motivation, Struktur, Kon-trolle und Entscheidungsgewalt.11 Während demokratische Führungdurch hohe Partizipation und Motivation auf Seiten der Gruppenmit-glieder und niedrige Struktur, Kontrolle und Entscheidungsgewalt aufSeiten der Führungsperson gekennzeichnet ist, zeichnet sich autoritäreFührung durch ein genau gegenteiliges Muster aus. Struktur, Kontrolleund Entscheidungsgewalt liegen bei der Führungsperson, und Partizi-pation und Motivation der Gruppenmitglieder fallen gering aus.

Heutzutage scheinen die Vorteile demokratischer Führung in vielenGesellschaften außer Frage zu stehen, denn die Wahrscheinlichkeit,dass einzelne Führungspersonen bei komplexen Fragestellungen überdie notwendigen motivationalen, informativen und kognitiven Voraus-setzungen verfügen, um allein die richtigen Entscheidungen zu treffen,ist gering. Der Vorteil, Informationen von anderen einzuholen und dieseauch in die Entscheidung mit einzubeziehen, ist deshalb naheliegend.Dennoch kann das Phänomen autoritärer Führung weiterhin in vielenpolitischen und ökonomischen Kontexten beobachtet werden. Währendin sicheren Zeiten demokratische Führung in den meisten Fällen klarbefürwortet wird, scheinen Menschen gerade in bedrohlichen und unsi-cheren Zeiten (wie zum Beispiel nach den Terroranschlägen des 11. Sep-

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tembers 2001) bereit zu sein, Einschränkungen ihrer Mitsprache wider-spruchslos hinzunehmen.12

In unserer eigenen Forschung beschäftigen wir uns mit der Frage,warum Menschen, die eigentlich demokratische Grundüberzeugungenund Werte haben, unter Unsicherheit dazu neigen, autoritäre Führungfür erfolgreich zu halten. Dabei stützen wir uns auf bisherige For-schungsergebnisse, die auf einen Zusammenhang zwischen äußerenBedrohungen und autoritären Einstellungen und Verhaltensweisen hin-weisen. So waren die amerikanischen Präsidentschaftswahlen in Jahrenvon Krisen und ökonomischen Bedrohungen mehr durch die wahrge-nommene Stärke und Macht der Kandidaten beeinflusst als in wenigerbedrohlichen Zeiten.13 Und auch heute, in Zeiten der aktuellen Finanz-krise, wird der Ruf nach einer starken Führung wieder laut. Währendäußere Bedrohungen jedoch ganz unterschiedlicher Natur sein könnenund beim Einzelnen ganz verschiedene Reaktionen hervorrufen, fokus-sieren wir in unseren Arbeiten auf die subjektiv empfundene Unsicher-heit und ihre Auswirkung auf die Bewertung von demokratischer undautoritärer Führung.

Bereits Kant hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum sich Men-schen freiwillig einer illegitimen Kontrolle unterwerfen und einenZustand der Abhängigkeit gegenüber einem Zustand individueller Auto-nomie bevorzugen.14 Doch obwohl es sich dabei um eine alte Frage han-delt, sind die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse dieses Phä-nomens noch nicht zufriedenstellend geklärt. Oesterreich15 postuliertin seinen Arbeiten, dass eine mögliche Reaktion auf bedrohliche Situa-tionen die Suche nach und Hinwendung zu Sicherheit und Schutz bie-tenden Autoritäten ist. Er nimmt an, dass diese Flucht in die Sicherheiteine basale menschliche Reaktion ist, die früh im Kindesalter erworbenwird. So bieten Eltern und andere Verantwortliche in bedrohlichenSituationen Sicherheit, und die Flucht in ihren Schutz ist eine unaus-weichliche und notwendige Reaktion. Während ihrer Sozialisationerlernen Individuen dann Bewältigungsstrategien, um diese „autoritäreReaktion“ zu überwinden und selbst ihre Unsicherheit zu reduzieren.In Situationen, in denen Bedrohungen jedoch emotional überfordernund eigene Bewältigungsbemühungen scheitern, kann es auch beiErwachsenen vorkommen, dass sie sich in den Schutz von Personenbegeben, von denen sie annehmen, dass sie die Macht und Stärke haben,mit der Bedrohung umzugehen und dadurch Gefühle von Unsicherheitund Angst reduzieren können.

Wir gehen davon aus, dass es bestimmte Persönlichkeitseigenschaftengibt, die das Risiko erhöhen, sich von bedrohenden Situationen über-fordert zu fühlen und eine autoritäre Reaktion bei empfundener Unsi-

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cherheit zu zeigen. Menschen mit einem niedrigen und täglich schwan-kenden Selbstwert haben ein negatives Selbstbild, zweifeln an ihrenFähigkeiten und trauen sich selbst wenig zu. Ihnen fehlt es an Selbst-vertrauen und deshalb suchen sie in unsicheren Situationen nach ande-ren, auf die sie vertrauen können. Bei Entscheidungen versuchen sieihren eigenen Anteil zu minimieren und die Verantwortung an andereabzugeben. Dabei ist vor allem die Überzeugung wichtig, dass dieseanderen die empfundene Unsicherheit erfolgreich reduzieren können.Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwert hingegen haben einpositives Selbstbild und glauben an ihre eigenen Fähigkeiten. In unsi-cheren Situationen vertrauen sie deshalb mehr auf sich selbst als aufandere. Ihr Ziel ist es, ihren eigenen Anteil bei Entscheidungen zu maxi-mieren und diese dadurch aktiv beeinflussen zu können. Während dieEntscheidungsgewalt bei autoritärer Führung hauptsächlich bei derFührungsperson liegt, lässt ein demokratischer Führungsstil den Ein-fluss der Gruppenmitglieder zu.10

In unseren Forschungsarbeiten9 haben wir deshalb die folgende Theseuntersucht: Wenn Menschen sich sicher fühlen, bevorzugen sie unab-hängig von ihrem Selbstwert demokratische gegenüber autoritärerFührung. Unter Unsicherheit trauen sich Personen mit einem niedrigenund schwankenden Selbstwert jedoch selbst nicht zu, die Unsicherheitaufzulösen, und wollen deshalb die Verantwortung an andere abgeben,die für sie die Entscheidungen treffen. Entsprechend nimmt ihre Präfe-renz für demokratische Führung zugunsten autoritärer Führung unterUnsicherheit ab. Im Folgenden bezeichnen wir dies als autoritäre Reak-tion. Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwert hingegen ver-trauen in unsicheren Situationen auf sich selbst und wollen deshalbihren Beitrag zur Unsicherheitsreduktion maximieren. Entsprechendsteigt ihre Präferenz für demokratische Führung in unsicheren gegen-über sicheren Situationen. Im Folgenden bezeichnen wir dies als demo-kratische Reaktion.

Bezüglich dieser Hypothesen machen wir zwei Zusatzannahmen. Zumeinen halten wir es für wichtig, zwischen Werturteilen (angenehm –unangenehm) und Erfolgsurteilen (erfolgreich – erfolglos) zu unter-scheiden. Wir gehen nicht davon aus, dass autoritäre Führung von Per-sonen mit einem niedrigen und instabilen Selbstwert unter Unsicher-heit als angenehmer beurteilt wird. Wer mag schon eine autoritäreFührungsperson? Wir nehmen aber an, dass sich der zugeschriebeneErfolg autoritärer Führung erhöhen sollte. Entsprechend haben wir inunseren Studien sowohl Wert- als auch Erfolgsbeurteilungen erfasst.Zum anderen gehen wir davon aus, dass offen ausgesprochene Urteileüber autoritäre Führung durch soziale Erwünschtheit beeinflusst wer-den. Wer gibt schon offen zu, dass er/sie autoritäre Führung für erfolg-

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reich hält? In unseren Studien haben wir deshalb neben direkten, expli-ziten Fragebogenmaßen auch indirekte, implizite Maße erfasst. Impli-zite Maße sind Verfahren, mit denen Einstellungen gemessen werdenkönnen, über die sich die Versuchsteilnehmenden entweder selbst nichtbewusst sind oder über die sie keine offene Auskunft geben wollen. Imkonkreten Fall haben wir einen „Impliziten Assoziationstest“ verwen-det.16 Dabei handelt es sich um ein Verfahren am Computer, das dieReaktionszeiten der Versuchsteilnehmenden bei einer Zuordnungsauf-gabe erfasst. Verschiedene Wörter wie zum Beispiel teamfähig oderdominant oder Gelingen oder Versagen müssen so schnell und akkuratwie möglich den Kategorien demokratisch oder autoritär beziehungs-weise Erfolg oder Misserfolg per Tastendruck zugeordnet werden. DieReaktionszeiten bei dieser Aufgabe geben Auskunft darüber, wie starkfür eine Person demokratische oder autoritäre Führung mit Erfolg bezie-hungsweise Misserfolg verbunden ist.

Um unsere Hypothesen zu testen, haben wir eine Reihe von Studiendurchgeführt, bei denen Unsicherheit experimentell induziert wurde.Die Probanden und Probandinnen wurden aufgefordert, sich möglichstintensiv in eine Situation zu versetzen, in der sie sich ihrer selbst sicheroder unsicher waren. Im Anschluss wurden sie aufgefordert, ihreGefühle und körperlichen Reaktionen in dieser Situation zu beschrei-ben. Wie oben bereits beschrieben, sollte dies Gefühle der Sicherheitbeziehungsweise Unsicherheit hervorrufen. Danach erfassten wir dieexpliziten und impliziten Einstellungen gegenüber demokratischer undautoritärer Führung und den Selbstwert der Teilnehmenden. Die Ergeb-nisse stützen unsere Hypothesen: Während Personen mit einem hohenund stabilen Selbstwert demokratische Führung unter Unsicherheitnoch stärker befürworteten als unter Sicherheit, nahm bei Personen mitniedrigem und instabilem Selbstwert die Präferenz für demokratischeFührung zugunsten autoritärer Führung ab. Diese demokratischen undautoritären Reaktionen waren spezifisch für den zugeschriebenenErfolg und zeigten sich wie erwartet nur auf den impliziten Maßen.Unsere Forschungsergebnisse deuten daraufhin, dass in unsicheren undbedrohlichen Zeiten vor allem Personen mit einem niedrigen und insta-bilen Selbstwert dazu neigen anstatt auf sich selbst eher auf andere zuvertrauen und die Verantwortung abzugeben.

2. Vermeidung der autoritären Reaktion durch Vertrauen in die eigenen Führungskompetenzen

Im vorherigen Abschnitt ging es um die Frage, unter welchen Bedin-gungen Personen autoritäre Führung für erfolgreich halten. Dabei standdie Sicht der Geführten im Vordergrund. Führung ist jedoch immer einzweiseitiger Prozess: Auf der einen Seite stehen die Personen, die geführt

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werden, auf der anderen Seite die Person, die führt. Wir haben uns des-halb gefragt, wie Personen in einer Führungsposition auf Unsicherheitreagieren.9 Um dieser Frage nachzugehen, haben wir wie in den vor-hergehenden Studien Personen zunächst gebeten, sich in eine sicherebeziehungsweise unsichere Situation hineinzuversetzen. Im Anschlusshaben wir wieder die impliziten und expliziten Einstellungen zu demo-kratischer und autoritärer Führung gemessen. Neu war dieses Maljedoch die Perspektive, die die Probanden bei der Bewertung einnehmensollten. So forderten wir eine Hälfte der Teilnehmenden auf, sich bei derBewertung der Führungsstile vorzustellen, einer anderen Persongegenüber in einer Führungsposition zu sein. Die andere Hälfte derBefragten stellte sich eine andere Person vor, die ihnen gegenüber ineiner Führungsposition war. So war es möglich zu untersuchen, ob sichdie Reaktionen auf Unsicherheit in Abhängigkeit davon unterschieden,ob man selbst in der Führungs- oder der geführten Position war. DieErgebnisse zeigten, dass allein diese verschiedenen Perspektiven deutli-che Unterschiede hervorriefen. Personen in der geführten Position zeig-ten wie in den oben beschriebenen Studien eine demokratische oderautoritäre Reaktion auf Unsicherheit, je nachdem, ob sie einen hohenund stabilen oder einen niedrigen und instabilen Selbstwert hatten. Per-sonen, die sich in die Führungsposition hineinversetzten, wiesen hin-gegen keine veränderten Einstellungen unter Unsicherheit auf. Siebefürworteten demokratische Führung in gleichem Ausmaß unterSicherheit wie unter Unsicherheit.

In einer Führungsposition zu sein, bedeutet Macht und Einfluss zuhaben. Deshalb lässt sich dieser Befund mit Ergebnissen aus der Macht-forschung erklären. Diese zeigt, dass allein das Empfinden von MachtSelbstvertrauen und ein Gefühl von Unabhängigkeit vermitteln kann.Personen, die Macht haben, verlassen sich deshalb eher auf ihre Grund-einstellungen und werden dabei weniger von der jeweiligen Situationbeeinflusst. Übertragen auf unser Experiment heißt das: Personen, diesich vorstellten, in einer Führungsposition zu sein, hatten dadurch dasGefühl, mehr Macht zu haben, und ließen sich in der Folge nicht vonempfundener Unsicherheit bei der Bewertung der Führungsstile beein-flussen. Sie hielten stattdessen an ihren standarddemokratischen Über-zeugungen fest. Führungspersonen scheinen sich also weniger von unsi-cheren Situationen in ihren Führungsstilpräferenzen beeinflussen zulassen als geführte Personen.

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FazitIn diesem Beitrag ging es darum, die Reaktionen auf Unsicherheit unddie Rolle von Vertrauen in diesem Zusammenhang aus sozialpsycholo-gischer Perspektive zu beleuchten. Wir haben zwei mögliche Strategienim Umgang mit Unsicherheit vorgestellt: sich einer Gruppe anzuschlie-ßen oder auf eine starke (autoritäre) Führungsperson zu vertrauen.Beide Strategien haben ihre Vorteile, bergen aber auch Gefahren.

Sich einer Gruppe anzuschließen kann sich positiv auf die eigene Iden-tität auswirken und einem dadurch die Sicherheit zurückgeben, dieunter Unsicherheit bedroht wird. Gleichzeitig besteht aber auch dieGefahr, dass man von der Gruppe zurückgewiesen oder ausgenutzt wird.Es ist deshalb wichtig und sinnvoll, zunächst Informationen darübereinzuholen, wie vertrauenswürdig eine Gruppe ist. Tatsächlich zeigenunsere Studien, dass Informationen über die Vertrauenswürdigkeiteiner Gruppe Unsicherheit reduzieren können. Ein interessanter Aspektin diesem Zusammenhang ist, dass auch Informationen darüber, dassandere nicht vertrauenswürdig sind, Unsicherheit verringern kann. Esist scheinbar nicht nur wichtig zu wissen, dass man jemandem ver-trauen kann, sondern auch, ob man jemandem vertrauen kann. Da ver-trauensrelevante Informationen Unsicherheit reduzieren können undsie daher unter Unsicherheit besonders wichtig sind, ist anzunehmen,dass unsichere Personen sensibler für solche Informationen sind undbesonders stark darauf reagieren. Diese Überlegungen werden in unse-ren Studien bestätigt: In unsicheren Situationen haben Menschen einehöhere Sensibilität für vertrauensrelevante Informationen als in siche-ren Situationen.

Die zweite diskutierte Strategie, mit Unsicherheit umzugehen, bestehtdarin, auf eine starke (autoritäre) Führungsperson zu vertrauen und dieVerantwortung für Entscheidungen abzugeben. Sie erscheint vor allemdann erfolgversprechend, wenn man wenig Selbstvertrauen hat und nichtdaran glaubt, die empfundene Unsicherheit selbst auflösen zu können.Man möchte dann den eigenen Einfluss minimieren und flüchtet sich indie Sicherheit der Autorität. Ob dies zielführend ist, hängt allerdingsdavon ab, ob die Führungsperson die notwendigen Voraussetzungen hat,um die richtigen Entscheidungen zu treffen. In komplexen Situationenverfügen Einzelne jedoch oft nicht über alle relevanten Informationenund die Fähigkeiten, fundierte Entscheidungen zu treffen. Daher würdees in der Regel einer optimalen Entscheidungsfindung dienen, wenn sichPersonen in der Rolle der Führungsposition – wie in unseren Studiengezeigt – weniger von der Situation beeinflussen lassen und auch unterUnsicherheit einen demokratischen Führungsstil befürworten.

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Fußnoten1 Van den Bos, Kees/Lind, Allan, The social psychology of fairness and the regulation of

personal uncertainty, in: Handbook of the uncertain self, hg. v. Robert M. Arkin/Kathryn C.Oleson/Patrick J. Carrol, New York 2010, S. 122–141.

2 Hogg, Michael A., Uncertainty-identity theory, in: Advances in Experimental Social Psycho-logy 39 (2007) S. 69–126.

3 Janssen, Jana/Müller, Patrick/Van den Bos, Kees/Stahlberg, Dagmar, Uncertainty increa-ses sensitivity to trust, Manuscript under review, 2010.

4 Hogg, Michael A., Uncertainty-identity theory, in: Advances in Experimental Social Psycho-logy 39 (2007) S. 69–126.

5 Tajfel, Henri, Cognitive aspects of prejudice, in: Journal of Social Issues 25 (1969) S. 79–97.

6 Lind, Alan, Fairness heuristic theory: Justice judgments as pivotal cognitions in orga-nizational relations, in: Advances in Organizational Justice, hg. v. Jerald Greenberg und Rus-sell Cropanzano, Stanford 2001, S. 56–88.

7 Lind, Alan, Fairness heuristic theory: Justice judgments as pivotal cognitions in orga-nizational relations, in: Advances in Organizational Justice, hg. v. Jerald Greenberg und Rus-sell Cropanzano, Stanford 2001, S. 56–88.

8 Berg, Joyce/Dickhaut, John/McCabe, Kevin, Trust, reciprocity, and social history, in: Eco-nomic Behavior 10 (1995), S. 122–142.

9 Schoel, Christiane/Bluemke, Matthias/Mueller, Patrick/Stahlberg, Dagmar, Leadershipsuccess in the eye of an uncertain self, Manuscript under review, 2010.

10 Bass, Bernard M., Bass & Stogdill’s handbook of leadership: Theory, research, and man-agerial applications. (3rd ed.), New York 1990.

11 Neuberger, Oswald, Experimentelle Untersuchung von Führungsstilen, in: Gruppendy-namik 3 (1972) S. 192–219.

12 Sullivan, John L./Hendriks, Henriët, Public support for civil liberties pre- and post-9/11,in: Annual Review of Law and Social Science 5 (2009), S. 375–391.

13 McCann, Stewart J. H., Threatening times, „strong“ presidential popular vote winners,and the victory margin, 1824–1964, in: Journal of Personality and Social Psychology 73(1997) S. 160–170.

14 Kant, Imanuel, What is enlightenment?, in: Introduction to contemporary civilization in thewest (2nd ed.), hg. v. Peter Gay, New York 1954/1784, S. 1071–1076.

15 Oesterreich, Detlef, Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus and der AutoritärenReaktion. Opladen 1996.

16 Greenwald, Anthony G./McGhee, Debbie E./Schwartz, Jordan L. K., Measuring indivi-dual differences in implicit cognition: The implicit association test, in: Journal of Perso-nality and Social Psychology 74 (1998) S. 1464–1480.

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Abbildung 31: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Präferenzen I

Abbildung 32: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Präferenzen II

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Vertrauen und soziale Präferenzen:Die Sicht der experimentellen WirtschaftsforschungKlaus M. Schmidt

Der historisch einmalige Wohlstand, den viele Industriegesellschaftenheute erreicht haben, beruht auf einem sehr komplexen System derArbeitsteilung, in dem die Aktivitäten der Beteiligten durch zahlreicheexplizite Verträge und durch mindestens ebenso viele vertrauensba-sierte Absprachen und Versprechungen koordiniert werden. DiesesSystem kann nur funktionieren, wenn die Beteiligten damit rechnenkönnen, nicht ständig betrogen und ausgebeutet zu werden. Als dieMenschen noch als Jäger und Sammler lebten, wurden Vertrauen undKooperation durch wiederholte Interaktion und soziale Kontrolle inkleinen Gruppen gewährleistet. Heute stehen wir in vielfältigen Tausch-beziehungen und Interaktionen mit zahlreichen anderen Menschen, diewir häufig nie zuvor gesehen haben und nie wieder sehen werden. Einwichtiger Schutz gegen Betrug und Ausbeutung sind Verträge, die vonden Gerichten durchgesetzt werden. Wenn ein vollständiger Vertragohne große Kosten geschrieben werden kann, ist der Vertrag tatsächlichbesser als Vertrauen. Aber viele Beziehungen lassen sich nur teilweiseoder gar nicht vertraglich regeln. Wie kann unter diesen BedingungenKooperation und Vertrauen funktionieren?

Die traditionelle ökonomische Theorie kann diese Frage nicht beant-worten. Sie beruht auf dem Menschenbild des Homo oeconomicus,eines vollständig rationalen Wesens, das ständig bestrebt ist, seineneigenen, materiellen Nutzen durch optimale Wahl seiner Entschei-dungsvariablen zu maximieren. Der Homo oeconomicus würde Ver-trauen nicht honorieren, sondern immer nur auf den eigenen Vorteilbedacht sein. In den letzten beiden Jahrzehnten ist das Vertrauen indie Nützlichkeit dieses Paradigmas jedoch stark erschüttert worden,und seit einigen Jahren gibt es erste Versuche, neue Modelle zu ent-wickeln, die von einem realistischeren Menschenbild ausgehen. Dazugehören die Modelle der „intentionsbasierten Reziprozität“ (Rabin,1993; Dufwenberg und Kirchsteiger, 2004) und der „Ungleichheitsa-version“ (Fehr und Schmidt, 1993; Bolton und Ockenfels, 2000), dieannehmen, dass viele Menschen nicht nur eigennützige, sondern auchsoziale Präferenzen haben.1

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Es scheint offensichtlich zu sein, dass der Homo oeconomicus eine Kari-katur wirklicher Menschen ist. Wir alle wissen, dass viele unserer Ent-scheidungen nur beschränkt rational sind, dass wir uns oft von Emotio-nen leiten lassen und dass nicht alle Menschen nur eigennützig handeln.Dennoch hat sich dieses Konstrukt für lange Zeit als außerordentlichnützlich erwiesen. Das gilt insbesondere für die Analyse von Wettbe-werbsmärkten, die bis in die siebziger Jahre im Mittelpunkt des For-schungsinteresses der Wirtschaftswissenschaften standen. Zahlreicheempirische und experimentelle Studien belegen, dass die „neoklassi-schen“ Marktmodelle, die alle auf dem Homo oeconomicus aufbauen, dastatsächliche Marktgeschehen recht gut beschreiben und verlässliche Vor-hersagen für das Marktergebnis liefern (siehe z.B. Vernon Smith, 1962).

Darum fiel es den Ökonomen leicht, Zweifel am Homo oeconomicus mitdem Argument beiseitezuschieben, dass einzelne Menschen sich zwarmanchmal anders verhalten, als es die Theorie vorhersagt, dass diese„Fehler“ aber unsystematisch sind und sich im Aggregat wechselseitigausgleichen, so dass die Modelle das Verhalten im Durchschnitt sehr gutvorhersagen. Wenn Wirtschaftssubjekte systematisch vom optimalenVerhalten des Homo oeconomicus abweichen würden, dann könnten sielangfristig auf dem Markt nicht bestehen, weil sie von anderen, effizien-teren und erfolgreicheren Wirtschaftssubjekten verdrängt würden.

Zwei Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre haben das Vertrauen indas Modell des Homo oeconomicus jedoch erschüttert. Da ist zum einender Siegeszug der Spieltheorie, die es erlaubt, ökonomische Situationen,in denen wenige Wirtschaftssubjekte strategisch miteinander inter-agieren, zu analysieren. Dadurch wurde es den Ökonomen möglich,nicht nur Wettbewerbsmärkte, sondern auch alle anderen Formen öko-nomischen Verhaltens zu analysieren, sei es in Oligopolmärkten, inbilateralen Verhandlungssituationen, in innerbetrieblichen Entschei-dungssituationen, in Situationen mit asymmetrischer Information etc.Allerdings wurde bald deutlich, dass die Spieltheorie, die auch auf demMenschenbild des Homo oeconomicus basiert, in bestimmten Situatio-nen systematische Fehlprognosen liefert. Diese Erkenntnis geht vorallem auf die zweite Entwicklung zurück, die experimentelle Wirt-schaftsforschung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Vorhersagen derWirtschaftstheorie unter kontrollierten und reproduzierbaren Bedin-gungen empirisch zu überprüfen.

Eine wichtige Erkenntnis der experimentellen Wirtschaftsforschungist, dass das Verhalten vieler Menschen bei der Interaktion in kleinenGruppen durch soziale Präferenzen geprägt ist. Sie interessieren sichnicht nur für das eigene materielle Einkommen, sondern auch dafür,was die anderen Mitglieder ihrer Referenzgruppe bekommen. Ihr Ver-

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halten ist durch „Fairness“ und „Reziprozität“ geprägt, und sie sindbereit, freundliches, vertrauensvolles oder kooperatives Verhalten ihrerGegenspieler zu belohnen und unfreundliches, misstrauisches oderunkooperatives Verhalten zu bestrafen, auch wenn das für sie selbst mitKosten verbunden ist. Die experimentelle Wirtschaftsforschung zeigtaber auch, dass dieses Verhalten unterschiedlich stark ausgeprägt ist.Für manche Menschen spielen soziale Präferenzen eine sehr wichtigeRolle, während es für andere eher unwichtig zu sein scheint.

Dieser Aufsatz gibt einen kurzen Überblick über einige der wichtigstenExperimente zu sozialen Präferenzen, die zeigen, wie vertrauensbasierteKooperation funktionieren kann.

Das Ultimatum-Spiel

Das wohl bekannteste Experiment zu fairem Verhalten ist das soge-nannte „Ultimatum-Spiel“, das von Güth et.al. (1982) in die Literatur ein-geführt wurde und seitdem in unzähligen Varianten getestet wurde. DasUltimatum-Spiel ist eine stilisierte Verhandlungssituation, in der zweiSpieler einen festen Geldbetrag von zum Beispiel 10 Euro untereinanderaufteilen müssen. In der ersten Stufe des Spiels darf Spieler A einen Auf-teilungsvorschlag machen. In der zweiten Stufe muss Spieler B ent-scheiden, ob er diesen Vorschlag annimmt oder ablehnt. Wenn Bannimmt, wird die vorgeschlagene Aufteilung verwirklicht, wenn erablehnt, bekommen beide Spieler nichts.

Dieses Spiel lässt sich leicht experimentell implementieren. Im Experi-ment werden die Versuchspersonen zufällig auf die Rollen von SpielerA und Spieler B verteilt und müssen ihre Entscheidungen anonym fäl-len, ohne ihren Gegenspieler jemals zu Gesicht zu bekommen. Die Spiel-theorie liefert eine eindeutige Vorhersage, was in diesem Spiel passierenwird: Spieler B wird jede Aufteilung, die ihm mehr als null Cent anbie-tet, annehmen, denn selbst ein sehr kleiner Betrag ist besser als garnichts. Spieler A wird dieses Verhalten voraussehen und darum einenAufteilungsvorschlag machen, der ihm selbst fast alles (9,99 Euro) undSpieler B fast nichts (0,01 Euro) anbietet.

Die Ergebnisse der Experimente sehen jedoch völlig anders aus. Fast 40Prozent aller Versuchspersonen in der Rolle von Spieler A bieten ihremGegenspieler die 50:50-Aufteilung an. Nur ein Drittel überlässt derGegenseite weniger als vier Euro und nur etwa 10 Prozent der Ver-suchspersonen bieten ihrem Gegenüber weniger als zwei Euro. Wenndennoch niedrige Angebote gemacht werden, so werden sie von SpielerB häufig abgelehnt, wobei die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung steigt,je niedriger das Angebot ist.

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Überraschend ist vor allem, dass so viele positive Angebote abgelehntwerden, obwohl Spieler B dadurch ja eigenes Geld wegwirft. Das wider-spricht eindeutig dem Homo oeconomicus. Weniger eindeutig zu inter-pretieren sind die großzügigen Angebote der Spieler A. Nicht nur ein„fairer“ Spieler A wird der Gegenseite die Hälfte des Kuchens anbieten,auch ein eigennütziger Spieler A könnte das tun, wenn er befürchtet,dass ein niedrigeres Angebot von Spieler B abgelehnt wird. Wenn manwissen will, welche Spieler A „fair“ und welche „eigennützig“ sind, mussman Spieler B die Möglichkeit nehmen, das Angebot abzulehnen. In die-sem sogenannten „Diktator-Spiel“ kann Spieler A allein entscheiden, wieder Betrag aufgeteilt werden soll. Tatsächlich gibt es jetzt signifikantweniger großzügige Angebote, aber noch immer schlägt fast ein Viertelder Versuchspersonen die 50:50-Aufteilung vor.

Die Ergebnisse des Ultimatum-Spiels sind bemerkenswert robust. Es gibtnur geringfügige Verhaltensunterschiede zwischen männlichen undweiblichen Versuchspersonen, zwischen Studenten und Nicht-Studen-ten, zwischen Amerikanern, Japanern und Israelis. Auch die Größe desaufzuteilenden Kuchens scheint kaum eine Rolle zu spielen. In Indone-sien wurde das Ultimatum-Spiel mit Beträgen gespielt, die etwa dreiMonatseinkommen der Versuchspersonen entsprachen, ohne dass sichan den Ergebnissen viel geändert hätte. Sie verändern sich auch nicht,wenn die Versuchspersonen das Spiel mehrfach (aber gegen jedes Malwechselnde Gegenspieler) spielen oder wenn man Spieler B explizit dar-auf hinweist, dass er Geld verschenkt, wenn er ein positives Angebotablehnt (siehe Camerer, 2003, für einen Überblick über diese Literatur).All das deutet darauf hin, dass die Versuchspersonen keinen Fehlermachen, sondern sehr genau wissen, was sie tun. Offenbar wollen vieleVersuchspersonen in der Rolle von Spieler B „unfaire“ Aufteilungsange-bote der Spieler in Rolle A dadurch bestrafen, dass sie den Anteil vonSpieler A vernichten, selbst wenn ihr eigener Anteil dadurch ebenfallsvernichtet wird. Einige Versuchspersonen in der Rolle von Spieler Asind offenbar freiwillig bereit, den Geldbetrag mit einem Fremden zuteilen. Völlig eigennützige Individuen würden das nie tun.

In jüngster Zeit haben Anthropologen in Zusammenarbeit mit Psycho-logen und Ökonomen das Ultimatum-Spiel-Experiment bei 15 verschie-denen Naturvölkern durchgeführt (Henrich et. al., 2001). Während dasVerhalten in fast allen entwickelten Industriestaaten nahezu identischist, zeigen sich hier deutliche Unterschiede, wenn auch bei keinem derNaturvölker der Homo oeconomicus gefunden wurde. Versuchsperso-nen aus dem Machiguenga-Stamm im Amazonasbecken machen deut-lich niedrigere Angebote (im Durchschnitt nur 26 Prozent des aufzu-teilenden Geldbetrages im Vergleich zu 45 Prozent in Industriestaaten),und niedrige Angebote werden nur selten abgelehnt. Dagegen schlagen

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fast alle Mitglieder des Lamelara-Volkes in Indonesien die Gleichauftei-lung vor. Die Lebensumstände dieser Naturvölker deuten an, dass dieBedeutung von Fairness kulturell bedingt ist. Die Machiguenga leben alsSammler und Fischer fast völlig autark in kleinen Familienverbänden.Auf der Ebene des Stammes gibt es praktisch keinen Handel und keinegemeinsame Produktion. Die Lamelara sind dagegen Walfänger, die mitmehreren großen Kanus mit jeweils bis zu zwölf Mann Besatzunggemeinsam auf die Jagd gehen. Für sie ist enge Kooperation und abso-lute Verlässlichkeit aller Stammesmitglieder überlebenswichtig. Daskönnte erklären, warum sich bei den Lamelara „kooperatives“ und „fai-res“ Verhalten durchgesetzt hat, während dieses Verhalten bei denMachiguenga kaum Vorteile bietet und sehr viel weniger verbreitet ist.

Fairness-Normen scheinen selbst im Tierreich eine gewisse Rolle zu spie-len. Brosnan und de Waal (2003) haben in Experimenten mit Kapuziner-Affen gezeigt, dass Vertreter dieser Spezies „unfaire“ Futterangeboteablehnen. Allerdings ist dieser Effekt nur für weibliche Kapuziner-Affensignifikant.

„ … Alle …?!“

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Soziale Dilemma-SpieleFairness und Reziprozität können eine wichtige Rolle spielen, wenn esdarum geht, soziale Dilemma-Situationen zu überwinden. Solche Situa-tionen liegen vor, wenn es für eine Gruppe von Individuen optimal ist,dass jeder einen Beitrag zu einem gemeinsamen Gruppenprojekt leistet,wenn aber jeder Einzelne einen Anreiz hat, selbst nichts beizutragenund sich als Trittbrettfahrer zu verhalten. Ein einfaches Beispiel ist dassogenannte „Öffentliches-Gut-Spiel“. Vier Spieler müssen gleichzeitigentscheiden, wie viel sie zu einem öffentlichen Gut beitragen. Wenn einSpieler einen Euro beiträgt, steigt der Nutzen jedes Spielers um 50 Cent.Diese Investition bringt der Gruppe als Ganzes also einen Ertrag von 4 x 0,5 Euro = 2 Euro. Der einzelne Investor macht jedoch ein Verlust-geschäft, weil er selbst nur 50 Cent bekommt, aber einen Euro zahlenmuss. Also würde der Homo oeconomicus nichts zu dem öffentlichenGut beitragen, auch wenn es für die Gruppe als Ganzes effizient wäre,wenn alle möglichst viel beitragen würden.

Wenn die Spieler nicht nur eigennützig sind, sondern auch durch Fair-ness und Reziprozität motiviert werden, ist das Ergebnis nicht eindeutig.Wenn alle anderen zu dem öffentlichen Gut beitragen, ist es für einen fai-ren Spieler optimal, ebenfalls beizutragen, weil er darunter leiden würde,wenn er als Trittbrettfahrer auf Kosten der anderen einen Vorteil für sichselbst herausschlagen würde. Wenn also alle Individuen fair sind, ist es einGleichgewicht, das alle zu dem öffentlichen Gut beitragen. Es ist aberauch ein Gleichgewicht, wenn niemand zu dem öffentlichen Gut beiträgt,denn wenn alle anderen nichts tun, will auch ein fairer Spieler nicht der„Dumme“ sein, der als Einziger seinen Beitrag leistet.

Etwas komplizierter wird es, wenn nicht alle Versuchspersonen fairsind, sondern einige sich eigennützig verhalten. Dann ist zu erwarten,dass das kooperative Gleichgewicht auf Dauer nicht aufrechterhaltenwerden kann. Auch wenn die fairen Spieler in den ersten Perioden zudem öffentlichen Gut beitragen, werden sie ihre Beiträge zurückfahren,wenn sie sehen, dass sich andere auf ihre Kosten als Trittbrettfahrer ver-halten. Langfristig wird sich also das ineffiziente Gleichgewicht, in demniemand zum öffentlichen Gut beiträgt, durchsetzen.

In der Tat wird diese Prognose von zahlreichen Experimenten, in denenVersuchspersonen wiederholt zu einem öffentlichen Gut beitragen müs-sen, bestätigt. In den ersten Runden des Experiments wird im Durch-schnitt etwa die Hälfte des maximal möglichen Betrages in das öffent-liche Gut investiert. Hinter diesem Durchschnitt verbergen sich abereinige Spieler, die sehr viel, und andere, die gar nichts beitragen. Im Zeit-lauf reduzieren die kooperativen Spieler ihren Beitrag und nach zehnRunden ist der durchschnittliche Beitrag minimal.

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Dieses Verhalten ändert sich dramatisch, wenn man den Versuchsper-sonen die Möglichkeit gibt, nach jeder Runde ihre Mitspieler zu bestra-fen. Die Bestrafung ist jedoch kostspielig und verringert nicht nur dieAuszahlung des Spielers, der bestraft wird, sondern auch die des Bestra-fenden. Also würde eine rationale und eigennützige Versuchsperson nie-mals bestrafen, weil für sie nur Kosten entstehen, die mit keinem unmit-telbaren Gewinn verbunden sind.

Viele Versuchspersonen sind dennoch bereit, das Trittbrettfahren ihrerMitspieler zu bestrafen (siehe Fehr und Gächter, 2000). Die potentiellenTrittbrettfahrer antizipieren das und tragen darum ihren fairen Anteilzum öffentlichen Gut bei. Wenn es Bestrafungsmöglichkeiten gibt,genügen einige wenige reziproke Spieler, um die eigennützigen Spielerzu disziplinieren und kooperatives Verhalten durchzusetzen (siehe Fehrund Schmidt, 1999).

Vertrauensspiele

Die Bereitschaft zu vertrauen und Vertrauen zu honorieren wird ineinem klassischen Experiment von Berg, Dickhaut und McCabe (1995)untersucht. Sie betrachten die folgende experimentelle Situation mitzwei Versuchspersonen, die jeweils eine Anfangsausstattung von zehnEuro bekommen. Person 1 kann entscheiden, welchen Betrag X sie anPerson 2 abgeben will. Der abgegebene Betrag wird vom Versuchsleiterverdreifacht, so dass bei der zweiten Person 3X Euro ankommen. Nunmuss Person 2 entscheiden, welchen Betrag sie an Person 1 zurückgibt.Dieses „Trust Game“ beschreibt eine Situation, in der es effizient ist,wenn Person 1 Person 2 vertraut und ihr möglichst viel Geld abgibt, inder sich dieses Vertrauen aber nur dann lohnt, wenn sich Person 2 alsvertrauenswürdig erweist und wieder etwas zurückgibt.

Im Experiment ist das Verhalten breit gestreut. Einige Versuchspersonenin der Rolle von Person 2 behalten alles Geld für sich, andere teilen denEffizienzgewinn fair auf und geben doppelt so viel zurück, wie siebekommen haben. Im Durchschnitt wird ungefähr so viel zurückgege-ben, wie von Person 1 geschickt wurde. Im Erwartungswert sollte Per-son 1 also fast indifferent sein, ob sie vertraut oder nicht. Bohnet et al.(2009) haben aber gezeigt, dass einige Versuchspersonen in der Rolle vonPerson 1 nicht allein auf den Wert ihrer erwarteten Auszahlungschauen, sondern selbst dann nicht vertrauen, wenn sich Vertrauen imErwartungswert lohnen würde. Diese Versuchspersonen scheinenzusätzlich darunter zu leiden, dass sie mit einer bestimmten Wahr-scheinlichkeit von anderen ausgebeutet werden. Um diese Ausbeutungauszuschließen, sind sie nicht bereit zu vertrauen. Diese Versuchsper-

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sonen schneiden in Experimenten schlechter ab als Versuchspersonen,die bereit sind, das Vertrauensrisiko einzugehen. Die Bereitschaft zu ver-trauen steigt mit dem Einkommen, mit dem Bildungsgrad und ganz all-gemein mit dem „Lebenserfolg“ eines Menschen. Es ist also nicht nur so,dass Vertrauen die Voraussetzung zur Schaffung von Wohlstand ist.Wohlstand ist auch eine Voraussetzung für Vertrauen.

„ … oder keiner !?

Arbeitsverträge

Arbeitsverträge sind typischerweise hochgradig unvollständig. Sieregeln den zu zahlenden Lohn, die Arbeitszeit und die Art der Tätigkeitdes Arbeitnehmers, aber sie können unmöglich festlegen, was genau derArbeitnehmer in welcher Situation zu tun hat. Darum kann ein Arbeits-verhältnis nur dann funktionieren, wenn der Arbeitnehmer bereit ist,sich auch über die im Vertrag festgelegten Pflichten hinaus für seinUnternehmen zu engagieren und nicht bloßen „Dienst nach Vorschrift“zu leisten. Eine gängige Praxis, mit der Unternehmen versuchen, dieses

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Engagement zu motivieren, ist, dass sie übertarifliche, das heißt frei-willige Leistungen zahlen. Damit appellieren sie an die Reziprozitätihrer Arbeitnehmer und hoffen, dass diese sich durch einen besserenArbeitseinsatz revanchieren. Nur so ist zu erklären, warum viele Unter-nehmen auf der einen Seite über zu hohe Löhne klagen, auf der ande-ren Seite aber freiwillig übertarifliche Leistungen zahlen. Die Unter-nehmen würden zwar gerne alle gemeinsam die Löhne senken (durcheinen moderaten Tarifabschluss), jedes einzelne Unternehmen befürch-tet aber, dass eine Lohnsenkung in der eigenen Firma die Mitarbeiterdemotivieren und ihre Produktivität so stark reduzieren würde, dasssich die Lohnsenkung letztlich nicht auszahlt.

Diese Situation ist von Fehr, Kirchsteiger und Riedl (1993) experimentelluntersucht worden. In ihrem „Gift Exchange Experiment“ kann einArbeitgeber einem Arbeitnehmer nur einen fixen Lohn anbieten.Danach muss der Arbeitnehmer entscheiden, welche Arbeitsleistung erwählt. Eine höhere Arbeitsleistung verursacht Kosten für den Arbeit-nehmer, erhöht aber den Gewinn des Arbeitgebers. Ein eigennützigerArbeitnehmer sollte immer die niedrigste Arbeitsleistung wählen.Darum sollte der Arbeitgeber auch nie einen höheren Lohn zahlen alsunbedingt nötig. Im Experiment zeigt sich aber, dass viele Arbeitneh-mer bereit sind, sich für einen höheren Lohn mit einer freiwillig höhe-ren Arbeitsleistung zu bedanken. Die Arbeitgeber sehen dieses Verhal-ten voraus und zahlen zum Teil sehr großzügige Löhne.

Fehr, Klein und Schmidt (2007) zeigen, dass die Effizienz der Beziehungerheblich verbessert werden kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeit-nehmer für einen hohen Arbeitseinsatz mit einer freiwilligen Bonus-zahlung honoriert. Auch diese Bonuszahlung basiert auf dem Vertrauender Arbeitnehmer, dass die Arbeitgeber den Bonus tatsächlich zahlenwerden. Obwohl viele Arbeitgeber den Bonus nicht zahlen, gibt es ins-gesamt doch genug vertrauenswürdige Arbeitgeber, so dass die meistenArbeitnehmer bereit sind, eine hohe Arbeitsleistung zu erbringen.

Vertrauensbeziehungen funktionieren sehr viel besser, wenn die Ver-suchspersonen eine „Reputation“ aufbauen können. Das gilt insbeson-dere, wenn die Parteien über viele Perioden hinweg interagieren. Brown,Falk und Fehr (2004, 2008) haben gezeigt, dass hier fast vollständigeKooperation erreicht werden kann. Aber selbst wenn die Parteien nureinmal miteinander interagieren, reicht schon ein imperfektes Signalüber vergangenes Verhalten, das von zukünftigen Partnern beobachtetwerden kann, um Vertrauen zu stützen und Kooperation zu ermögli-chen. Ein gutes Beispiel ist der Kauf eines gebrauchten Artikels bei Ebay.In der Regel kommen hier Käufer und Verkäufer nur einmal zusammen.Der Käufer muss darauf vertrauen, dass die vom Verkäufer beschriebene

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Qualität des Artikels den Tatsachen entspricht und dass der Artikelnach Bezahlen der Ware auch tatsächlich geliefert wird. Wenn der Käu-fer nichts über den Verkäufer wüsste, würde er sich wohl kaum auf die-ses Risiko einlassen. Wenn der Verkäufer von anderen Käufern aber posi-tiv bewertet wurde und sich eine gute Reputation aufgebaut hat, sindviele Käufer bereit, sich auf diese Vertrauensbeziehung einzulassen.

Einen ähnlichen Effekt gibt es auf dem Arbeitsmarkt. Bartling, Fehr undSchmidt (2010) betrachten ein Experiment, in dem der Arbeitgebererfährt, welche Arbeitsleistung der Arbeitnehmer in seinen letzten dreiBeschäftigungsverhältnissen erbracht hat. Viele Arbeitgeber konditio-nieren ihre Lohnangebote auf die Reputation des Arbeitnehmers undzahlen Arbeitnehmern, die in der Vergangenheit hohe Arbeitsleistun-gen erbracht haben, deutlich höhere Löhne, als Arbeitnehmern, die inder Vergangenheit wenig gearbeitet haben. Viele Arbeitnehmer antizi-pieren das und wählen eine hohe Arbeitsleistung – aber nur, wennihnen auch ein hoher Lohn geboten wird.

Allerdings beobachten Bartling et al., dass sich nicht alle Versuchsper-sonen so verhalten. Etwa 20 Prozent der Arbeitgeber sind nicht bereitzu vertrauen und zahlen immer nur niedrige Löhne, egal wie gut dieReputation ihres Arbeitnehmers ist. Ebenso gibt es etwa 20 Prozent derArbeitnehmer, die immer die niedrigste Arbeitsleistung wählen undnicht begreifen, dass es sich langfristig lohnt, in eine gute Reputationzu investieren und eine hohe Arbeitsleistung zu honorieren. Mit diesemengstirnig eigennützigen Verhalten schaden sich die Versuchspersonenselbst.

Bartling et al. zeigen, dass die Einführung von Wettbewerb auf diesemexperimentellen Arbeitsmarkt zwischen den Arbeitgebern um diebesten Arbeitnehmer und zwischen den Arbeitnehmern um die bestbe-zahlten Jobs das suboptimale Verhalten verschwinden lässt. Jetzt lernendie Arbeitnehmer schnell, dass sie immer nur die am schlechtestenbezahlten Jobs bekommen, wenn sie keine gute Reputation haben, unddie Arbeitgeber lernen, dass sie hohe Löhne zahlen müssen, wenn siegute Arbeitnehmer bekommen wollen. Hier führt also der Wettbewerbnicht dazu, dass Vertrauen verdrängt wird. Im Gegenteil, Wettbewerbwirkt wie ein Katalysator, der Vertrauensbeziehungen stärkt.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?

In der öffentlichen Diskussion ist die Forderung nach mehr Kontrolleund expliziten Leistungsanreizen für Top-Manager und Banker, aberauch für Lehrer und Professoren sehr populär. Es ist unstrittig, dass Men-schen auf explizite Anreize reagieren. Eine wichtige Frage ist jedoch, wie

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diese expliziten Anreize mit den indirekten Leistungsanreizen durchVertrauen und Reziprozität interagieren. Zahlreiche Studien weisen dar-auf hin, dass es hier zu einem Crowding-out kommen kann. Kontrollekann dazu führen, intrinsische Motivation zu verdrängen. Falk und Kos-feld (2006), die das experimentell gezeigt haben, bezeichnen diesenEffekt als die „versteckten Kosten“ der Kontrolle. Auch eine direkte Ent-lohnung nach bestimmten Erfolgskennziffern (seien es Aktienkurse,Lehrevaluationen oder Forschungsrankings) führt dazu, dass sich dieMitarbeiter ganz auf die Erreichung dieser Erfolgskennziffern konzen-trieren und alles, was durch diese Kennziffern nicht gemessen wird, ausdem Blickfeld verlieren. Wenn die Entlohnung dagegen indirekte Leis-tungsanreize bietet (z.B. durch Beförderung, Berufungszulagen oderfreiwillige Bonuszahlungen) haben die Mitarbeiter stärker das Wohl derOrganisation oder des Unternehmens insgesamt im Auge (siehe Fehrund Schmidt, 2004). Darum ist es nicht offensichtlich, dass Kontrolleund explizite Leistungsanreize immer besser sind. Beziehungen, die aufVertrauen und Reziprozität basieren, können sehr effizient sein, insbe-sondere dann, wenn eine Reputation für vertrauenswürdiges Verhaltenüber den Markt oder in langfristigen Beziehungen honoriert wird.

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Camerer, Colin (2003): Behavioral Game Theory. Experiments in Strategic Interaction.Princeton, N.J.: Princeton University Press.

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Fußnoten1 Einen Überblick über diese Literatur bieten Fehr und Schmidt (2006).

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Abbildung 33: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Invisible hand I

Abbildung 34: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Invisible hand II

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„Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinenKredit, wenn ich noch einen habe“Jochen Hörisch

„Der Weise“ – dieses Wort klingt heute fast so unzeitgemäß wie das Wort„Muße“. Umso auffallender ist es, wenn es denn doch noch einmalöffentlich verwendet wird. Und das ist einmal jährlich der Fall. DasRitual ist bekannt und TV-tauglich: fünf offenbar unironisch soge-nannte „Wirtschaftsweise“, die den Sachverständigenrat zur Begutach-tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden, legen der Bun-desregierung jährlich ihren Bericht vor, der stets eine Analyse der öko-nomischen Lage mit einer Prognose der volkswirtschaftlichen Entwick-lung verbindet. Mit Ruhm bekleckert haben sich die Wirtschaftsweisennicht. Denn in ihren Gutachten kam das Szenario der internationalenBanken- und Finanzkrise schlicht nicht vor, die in den vergangenen Jah-ren ihre destruktive Dynamik entfaltete. Dabei hätte hier ein weises Gut-achten, das etwa eine rigidere Bankenaufsicht, ein Verbot von Leerver-käufen, ein weitsichtiges Bonussystem für Manager oder eine stärkereRegulierung des Derivatehandels empfohlen hätte, Wirtschaftswunderwirken und Finanzbeben-Unheil abwenden können. Wirtschaftsweise,die darauf bestehen, dass Mindestlöhne von sieben Euro pro Stunde kon-traproduktiv und Hartz-IV-Sätze zu hoch sind, müssen sich die Fragegefallen lassen, ob ihr Gutachten das Geld der Steuerzahler wert ist.

Diese Frage ist auch deshalb geboten, weil es gleich mehrere bemer-kenswert präzise Einschätzungen der Verwerfungen auf den interna-tionalen Finanzmärkten gegeben hat. Sie stammen nicht etwa von ideo-logisch verbohrten Kapitalismus-Hassern, sondern aus der Feder poli-tisch unverdächtiger Köpfe. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hatregelmäßig auf das Krisenpotential hingewiesen, das ein im neolibera-len Geist entfesselter Finanzmarkt in sich birgt. Ein linker Anwandlun-gen unverdächtiger Wirtschaftsprofessor namens Max Otte publizierte2006 sein Buch Der Crash kommt – Die neue Weltwirtschaftskrise und wie Siesich darauf vorbereiten. Der Mann macht keine Ansprüche auf die Anrede„Weiser“ geltend, obwohl er mit seiner Einschätzung um Klassen besserwar als die fünf Weisen zusammen. Er lehrt an einer Fachhochschule inWorms, die in den Ranking-Listen der besten Wirtschaftshochschulennicht einmal auf den letzten Plätzen vorkam (Nebenfrage: Könnte es

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sein, dass die Universitätsrankings nicht verlässlicher sind als dieRatingagenturen in der Finanzbranche, die vielen Pleitebanken dieBonitäts-Bestnote AAA verliehen haben und für ihre inkompetentenFehleinschätzungen bestens honoriert wurden?).

George Soros, der weiß, wovon er spricht und schreibt, weil er über Jahr-zehnte mit Hedgefonds-Spekulationen auf den internationalen Finanz-märkten ein Milliardenvermögen gemacht hat und weil er sich ange-sichts der Irrationalität dieser Märkte seit Jahren weise aus dieser Bran-che verabschiedet hat, veröffentlichte sein brillantes, wenn auch druck-technisch billig gemachtes Buch The new paradigm for financial markets (DasEnde der Finanzmärkte – und deren Zukunft. Die heutige Finanzkrise und was siebedeutet. München 2008) just in time. Vorausgegangen war ein Buch, dasman prophetisch nennen könnte, wenn es nicht im Ton heiliger Nüch-ternheit verfasst wäre: The bubble of American supremacy (Die Vorherrschaftder USA – eine Seifenblase. München 2004). In diesen Büchern erfährt man,was eine verplauderte, geradezu provokant oberflächliche bis läppischeFilmhäppchen-DVD mit Markus Koch nur verspricht: Einblicke in dieLogik von Backstage Wall Street (München 2008).

Leute wie Helmut Schmidt und George Soros sind nicht ganz unbe-kannt. Dass ihre nüchternen Warnrufe dennoch bei sogenannten Wirt-schaftsweisen kein Gehör fanden und finden, ist erklärungsbedürftig.Eine Erklärung ist trivial, aber gewiss nicht falsch: Blamagen tun weh.Wenn sich gar Köpfe systematisch blamieren, die als Weise gelten, sofällt ihnen das Eingeständnis, peinliche Fehleinschätzungen geliefert zuhaben, umso schwerer. Zumal dann, wenn (und dieser Erklärungsansatzist jenseits aller Trivialitäten) kaum mehr übersehbar ist, dass weite Teilegerade der marktliberalen Wirtschaftswissenschaften weniger mit Wis-senschaft als, wie Soros darlegt, mit fundamentalistischer Glaubensbe-reitschaft zu tun haben. Soros argumentiert komplex und handfestzugleich. Wirtschaftswissenschaftler, die seine Thesen ernst nehmen,„müssen einen Statusverlust akzeptieren“. Denn sie können ihre dochso rechenintensive Wissenschaft nicht mehr am Paradigma der Natur-wissenschaften orientieren. Warum? Weil sich Finanzmärkte, dieenorme Auswirkungen auf die Realökonomie haben, „reflexiv“ verhal-ten – soll heißen: die Beobachtungen, die Banken, Ratingagenturen,Finanzinvestoren, Fonds-Manager etc. machen, um dann über Käufeund Verkäufe zu entscheiden, sind eben nicht nur Beobachtungen, son-dern zugleich Aktionen, die das Beobachtete (etwa Preise, Trends undRisiken) verändern, und die ihrerseits beobachtet werden können. Sokommt es zu nicht taxierbaren Rückkoppelungseffekten und Erwar-tungserwartungen, die extrem risikolastig sind. Mit marktfundamen-talistischem Glauben an Gleichgewichtszustände ist diese Einsicht inchaosanfällige Reflexivität nicht zu vereinbaren.

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Wer in den Kreisen „marktfundamentalistischer“ Neoliberaler den Ver-dacht äußert, die invisible hand des Marktes könne unsichtbar sein undso heißen, weil es sie (anders als etwa Preisabsprachen in der Zement-industrie und Millionenabfindungen für gescheiterte Manager) nichtgibt, wird so sehr als Ketzer gelten wie vor Jahrhunderten ein Theologe,der an der Existenz des unsichtbaren Gottes zweifelte. Viele Wirt-schaftswissenschaftler stehen so fassungslos vor dem Beben der Finanz-und Bankenkrise wie Theologen im Jahr 1755 vor dem Erdbeben vonLissabon: Wie kann ein gütiger und allmächtiger Gott dies Unheil zulas-sen, lautete damals die berühmte Theodizee-Frage. Wie kann der allesso herrlich regelnde freie Markt (und kein zweiter Markt war so dere-guliert wie der internationale Finanzmarkt) dieses Beben, diesen Tsuna-mi, diesen Abgrund (seltsam regelmäßig werden naturalistische Meta-phern für das Chaos auf den Finanzmärkten bemüht) zulassen, lautetheute die Frage der Neoliberalen, die alle, nur nie und nimmer sichselbst mit dem Ideologieverdacht konfrontieren.

Kurzum: Nicht „nur“ die Wirtschafts- und Finanzsphäre selbst, auch dieWirtschafts- und Finanzwissenschaften beben und kollabieren. Zur Dis-kussion und eben auch zur Disposition stehen ihre allerheiligsten Kon-zepte – die invisible hand des freien Marktes, der Homo oeconomicusund das Rational-choice-Modell. Dieses dreieinige Konzept läuft auf dieimmer gleiche Annahme hinaus: dass sich die Güter- und Finanzmärkteebenso wie die auf ihre eigenen Vorteile bedachten Marktteilnehmerrational verhalten und deshalb Gleichgewichtszustände zwischen Ange-bot und Nachfrage herstellen. Dass dies nicht der Fall ist, dass es viel-mehr im heißen Kern des Kapitalismus faszinierend irrational zugehe,ist die Leitthese der im Merve-Verlag erschienenen und verlagstypischmunter und anregend, aber auch erratisch argumentierenden Studievon Ralph und Stephan Heidenreich, die den pointierten Titel Mehr Geldträgt. Der Kapitalismus, so lautet ihre plausible Vermutung, konnte nurin christlichen Kulturkontexten entstehen, weil das Christentum „eineextrem zukunftsgetriebene Religion“ ist. Kapitalismus und Christen-tum verbindet ihre Fokussierung auf Schuld(en) und Erlös(ung), wieschon Walter Benjamins großartige, aber von den Merve-Autoren igno-rierte Skizze Kapitalismus als Religion darlegte. Am Anfang war die (Erb-)Schuld, am Anfang sind die Schulden, die mit Zins und Zinseszinszurückgezahlt werden müssen, wenn denn Prosperität herrschen soll.Geld heckendes Geld, sich über Zinszahlungen vermehrendes Schuld-geld, also der Imperativ „Mehr Geld!“ regiert die kapitalistische Welt, dieKapital als eine unbegreifbare, unendliche, göttliche Größe anbetet.Wer das glaubt, muss ab und an dran glauben; wer so auf Mehr-Geld-Erlöse aus ist, wird in tiefe Glaubens- und Kreditkrisen geraten müssenund seine Erlösungsbedürftigkeit erfahren. Lieber Gott, wenn es dich

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gibt, rette meine arme Seele, wenn ich eine habe, betete ein aufgeklär-ter Spötter im 18. Jahrhundert. Ähnlich dürften heute die Stoßgebetevon Bankern klingen: Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinenKredit, wenn ich noch einen habe.

Nicht erratisch, sondern ebenso gelehrt wie elegant kommt eine faszi-nierende Studie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers FritzBreithaupt daher. Sie trägt den erst einmal rätselhaften Titel Der Ich-Effektdes Geldes – Zur Geschichte einer Legitimationsfigur (Frankfurt 2000) und ana-lysiert, warum und wie das Medium Geld von so vielen neuzeitlichenPhilosophen wie Locke und Rousseau, Weber und Benjamin, Schumpe-ter und Simmel, Chamisso und Gutzkow, Heine und Freytag, Keller undMusil (um nur sie zu nennen) bedacht und bedichtet wurde – was übri-gens die heutige geldvergessene Philosophie und Literaturwissenschaftimmer noch weitgehend ignorieren.

Die Studie bietet für wenig Geld viele überraschende Einsichten in dieWirkungsweise des Geldes. Ihre Leitthese ist im Titel angedeutet: Dieneuzeitliche Konjunktur des Ich- (des Subjekt-, des Selbstbewusstseins-und des Genie-) Begriffs ist an die Superkonjunktur des LeitmediumsGeld gekoppelt. Beide, das Ich wie das Geld, stehen in einer erst latent,dann offen nachmetaphysischen Epoche vor dem Problem, ihr Verspre-chen, ihr Kapital, ihre Möglichkeiten zu entdecken und zugleich deckenzu müssen. Dies aber können sie nur im Verbund – in Breithaupts Wor-ten: „Die Schwäche des zu beglaubigenden Geldes soll im Ich gestärktwerden, und die Fragwürdigkeit des Ich soll durch die Realexistenz desGeldes ausgeglichen werden.“

Rhetorische Pointen wie die von Heinrich Heine über die Weisheit einerMünze: „So ein alter Louisdor hat mehr Verstand als ein Mensch, undweiß am besten, ob es Krieg oder Frieden gibt“ oder apodiktische Sätzewie der von Robert Musil: „Geld ist geordnete Ichsucht“ werden vor demHintergrund von Breithaupts Überlegungen neu lesbar. Seine Untersu-chung vergisst dabei nie, dass auch die neuzeitliche Liebesaffäre zwi-schen Geld und Ich ihre Krisengeschichte hat. So gibt es etwa um 1900eine Konjunktur der Trennung und Scheidung zwischen beiden; Liebe,Ehre, hohe Werte, Sinn, all das also, worauf Subjekte besonders stolzsind, kann man nicht kaufen, lautet eine Standardeinsicht, die sich vielein den prosperierenden Zeiten um die vorletzte Jahrhundertwende leis-ten können. Sie verkennen damit, dass sich Ich und Geld in der kapita-listischen Neuzeit wechselseitig kreditieren. Beide sind dynamisch-liquide, aber eben auch von Liquidierung, nämlich von Achtungs-,Beglaubigungs- und Kreditverlust bedrohte Institutionen. Was nichtaus-, sondern häufig einschließt, dass sich Ich und Geld häufig wech-selseitig verachten. Wer Breithaupts Studie liest, wird zum Beispiel mit

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Chamissos Schlemihl-Novelle oder Goethes Faust II nicht nur begreifen, dass,sondern auch, wie Geld die Welt und ihre systematisch desorientiertenBewohner regiert: indem es Subjekte formiert.

Zu den größten Problemen einer über sich selbst aufgeklärten neuenWirtschafts- und Finanztheorie dürfte es gehören, Geld als ein Mediumzu verstehen, das sehr viel mehr ist als „nur“ ein Steuerungsmedium derRealwirtschaft. Den wirklichen Problemen der zahllosen überschulde-ten Hausbesitzer, die nun in den USA bebenden Banken ihre Haus-schlüssel übergeben, wendet sich George Soros zu. In Zeiten, da Spottüber Gutmenschen im Feuilleton wie in der Finanzsphäre branchenüb-lich ist, hilft die Stiftung des denkenden Philanthropen erst einmal denLeuten, die sonst ein Dach über dem Kopf verlieren würden – und damitauch dem Finanzmarkt, der nach Exzessen der Glaubensbereitschafttranszendental obdachlos geworden ist.

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Abbildung 35: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Kunst

Abbildung 36: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Kredit

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Die Kunstkreditkarte

Iris Stephan, Angela Rohde, Ulrich Dohmen und Peer Boehm

die kunstkreditkarte

ist ein kunstwerk im bekannten standardformat von 8,5 mal 5,5 zenti-metern mit abgerundeten ecken. vertreten sind collagen und malereiund ätzungen und zeichnungen und …. alle sind ausschließlich einzig-artige originale, keine kopien, keine computerausdrucke. jedes dieseraufwendig gearbeiteten unikate ist handsigniert, nummeriert und wirdmit einem persönlichen zertifikat in einer schmuckdose angeboten.der preis einer kunstkreditkarte beträgt 78 euro und macht die kunstfür jeden interessierten erschwinglich. das kunstwerk kann gerahmt, ansicherem ort in der dose verwahrt, in der tasche getragen, gesammelt,den geliebten, kindern, eltern oder auch geschäftskunden geschenkt,mit anderen getauscht, weiterverschenkt oder verkauft werden.

die kunstkreditkarte

berechtigt den kaufenden, ein jahr lang zu einem garantierten rabattvon zehn prozent in den ateliers der beteiligten künstler einzukaufen.bei erwerb der karte erhält der kaufende ein zertifikat, dass ihm die gül-tigkeit seiner karte bescheinigt. dieses muss bei einem besuch undeinem eventuellen kauf im atelier vorgelegt werden. somit ist die kunst-kreditkarte keine kreditkarte im eigentlichen sinne und auch keinepaybackkarte, erst recht keine telefonkarte, und schon gar nicht einekrankenkassenkarte, natürlich auch keine ec-karte, auch keine mit-gliedskarte, ebenfalls keine treuekarte, streng genommen auch keinerabattmarkenkarte – wenngleich die funktion hier in die irre führenkann – ist keine codekarte, auch keine art neuer führerschein für kunst,auch keine blutgruppenkarte, natürlich auch keine künstlerausweis-karte, auch berechtigt diese karte nicht zur teilnahme an irgendeinemmiles-and-more-programm irgendeiner fluggesellschaft, mit dieserkarte kann man keine videos billiger ausleihen, keinen saunaplatz imthermalbad reservieren und eine kurkarte will und kann sie auch nichtsein. sie ist schlicht und ergreifend eine kunstkreditkarte, die den kau-fenden beim kauf einer arbeit im atelier berechtigt, schamlos garan-tierte zehn prozent rabatt herauszuhandeln.

die kunstkreditkarte

weitere informationen zu den künstlern und ihren arbeiten finden sieunter www.kunstkreditkarte.de.

Die Kunstkreditkarte 245

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Abbildung 37: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Autor I

Abbildung 38: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Autor II

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Die Autoren

Konstantin Adamopoulos, studierter Philosoph, Kunsthistoriker und zerti-fizierter Coach, verantwortet seit Mai 2005 als Kurator das BronnbacherStipendium des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI an derUniversität Mannheim. Regelmäßig übernimmt er Lehraufträge. AlsKunstjournalist, Ausstellungsmacher und Projektleiter entwickelt erSymposien.

Peer Boehm studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik inKöln. Seit 1994 arbeitet er als freischaffender Künstler in Köln. PeerBoehms Arbeiten waren seitdem in zahlreichen Einzel- und Gruppen-ausstellungen im In- und Ausland zu sehen.

Iria Budisantoso studierte Diplom-Anglistik mit wirtschaftswissenschaft-licher Qualifikation an der Universität Mannheim sowie an der Uni-versity of Massachusetts at Boston und Harvard University in Cambridge/USA. Von August 2009 bis Juli 2010 war sie Stipendiatin des 6. Jahrgangsdes Bronnbacher Stipendiums an der Universität Mannheim.

Ulrich Dohmen studierte Malerei und Graphik in Köln und Berlin. Er istseit 1990 freischaffender Künstler. Seine Werke befinden sich in priva-ten und öffentlichen Sammlungen.

Markus Glaser, Prof. Dr., studierte Betriebswirtschaftslehre und Volks-wirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. NachPromotion und Habilitation in Betriebswirtschaftslehre an der Univer-sität Mannheim wechselte er an die Universität Konstanz. Dort hat erden Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere CorporateFinance, inne.

Timothy Guinnane, Prof. Dr., studierte Wirtschaftswissenschaften inHaverford, USA. Nach der Promotion 1988 an der Stanford Universitylehrte er an der University of Pennsylvania, in Princeton und in Yale. Seit1999 hat er den Lehrstuhl für Wirtschaft und Wirtschaftsgeschichte ander Yale University inne, seit 2006 ist Timothy Guinnane „Philip GoldenBartlett Professor of Economic History“ in Yale.

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Jochen Hörisch, Prof. Dr., studierte Germanistik, Philosophie undGeschichte in Düsseldorf, Paris und Heidelberg. Nach der Promotionlehrte er von 1976 bis 1988 an der Universität Düsseldorf. Seit 1988 ister Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Uni-versität Mannheim und hielt Gastprofessuren unter anderem in denUSA, Argentinien, Frankreich und Österreich. Jochen Hörisch hat eineVielzahl von Büchern zu kultur- und medienanalytischen Themen ver-öffentlicht.

Stefan Hornbostel, Dr. Prof., studierte Soziologie an der Georg-August-Uni-versität Göttingen und war dann wissenschaftlicher Mitarbeiter an derUniversität Kassel und Köln und Jena. Er promovierte an der Freien Uni-versität Berlin (1995), arbeitete als Referent am CHE und als Professor amInstitut für Soziologie der Universität Dortmund. Seit 2005 ist er Pro-fessor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zuBerlin, und zugleich Direktor des Instituts für Forschungsinformationund Qualitätssicherung (iFQ) Bonn.

Otmar Issing, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., lehrte das Fach Volkswirtschaft inErlangen-Nürnberg und Bamberg. 2008 wurde er von BundeskanzlerinMerkel zum Vorsitzenden der Expertengruppe für eine neue Finanz-architektur bestellt. Als Mitglied des Direktoriums der EuropäischenZentralbank war er von 1998 bis 2006 für die Generaldirektionen Volks-wirtschaft und Volkswirtschaftliche Forschung zuständig. Zuvor war erMitglied des Direktoriums und des Zentralbankrates der DeutschenBundesbank und Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtungder gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Neben Beiträgen für wissen-schaftliche Zeitschriften und Sammelbände veröffentlichte er unteranderem die zwei Lehrbücher „Einführung in die Geldtheorie“ und„Einführung in die Geldpolitik“ sowie das Buch „Der Euro – Geburt,Erfolg, Zukunft“, engl. Ausgabe „The Birth of the Euro“.

Jana Janssen, Dipl.-Psych., studierte Psychologie an der Universität Mann-heim und der Portland State University. Seit 2007 promoviert sie imBereich Sozialpsychologie an der Universität Mannheim. Zu ihren For-schungsinteressen zählen der Umgang mit Unsicherheit, organisatio-nales Vertrauen sowie soziale Gerechtigkeit.

Jürgen Kaube studierte Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte undWirtschaftswissenschaften an der FU Berlin. Er war Assistent am Lehr-stuhl für Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie der Univer-sität Bielefeld, bevor er 1999 in die Redaktion der „Frankfurter Allge-meinen Zeitung“ eintrat, deren Ressort „Geisteswissenschaften“ erheute leitet. Er ist Mitglied des Hochschulrats der Westfälischen Wil-helms-Universität Münster und Lehrbeauftragter für Soziologie an derUniversität Luzern.

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Annette Kehnel, Prof. Dr., studierte Biologie und Geschichte in Freiburg,Oxford und München. Sie promovierte mit einer Studie zur Geschichtedes Klosters Clonmacnoise in Irland am Trinity College Dublin undarbeitete dann in verschiedenen Funktionen an der TU Dresden im Son-derforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. Seit2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte ander Universität Mannheim mit einem Interessensschwerpunkt in derKultur- und Wirtschaftsgeschichte. Das nachhaltig erfolgreiche Zusam-menspiel von Kultur und Wirtschaft hat sie am Beispiel der Organisa-tions- und Wirtschaftsprinzipien mittelalterlicher Klöster und Ordenerforscht.

Alfred Kieser, Prof. Dr. Dr. h.c., hatte bis zu seiner Emeritierung 2010 überdreißig Jahre den Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehreund Organisation der Universität Mannheim inne. Er studierte Betriebs-wirtschaftslehre und Soziologie an den Universitäten Würzburg, Köln,Pittsburgh/USA. Er ist ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademieder Wissenschaften und Ehrendoktor der Fakultät für Betriebswirt-schaft der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Er hat Bücherund zahlreiche Aufsätze zu Organisationstheorie, Organisationsgestal-tung, Lernen der Organisation und Geschichte der Organisation veröf-fentlicht.

Matthias Kohring, Prof. Dr., studierte Publizistik- und Kommunikations-wissenschaft, Germanistik und Politikwissenschaft in Münster. Auf diePromotion 1997 in Münster folgte die Habilitation 2004 in Jena. Von2006 bis 2010 hatte Matthias Kohring eine Professur für Kommunikati-onswissenschaft an der Universität Münster, seit 2010 den Lehrstuhl fürMedien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mann-heim inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Öffentliche Kom-munikation, das Vertrauen in Medien und die Wissenschaftskommuni-kation.

Frank Merkel studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mann-heim und schloss als Dipl.-Kaufmann ab. Parallel zum Studium grün-dete er 1973 die Werbeagentur WOB. Seit der Umwandlung in eine AGist er Vorstand der wob AG. Zwischen 1990 und 2000 war er im Vorstanddes Gesamtverbands Kommunikationsagenturen (GWA) zuständig fürdas Ressort „Führungsnachwuchs und Qualifizierung“. 2000 wurde ervon der Universität Mannheim zum Ehrensenator ernannt. Seit 2006 ister Vorstandsmitglied des Absolventennetzwerks (AbsolventUM) der Uni-versität Mannheim und seit 2008 auch deren Präsident. Seit 2008 ist erSprecher des Forums der BtoB-Agenturen innerhalb des Gesamtverban-des Kommunikationsagenturen (GWA) und auch Mitglied im Vorstanddes GWA (Vizepräsident).

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Peter Raue, Prof. Dr., studierte an der Freien Universität Berlin Rechts-wissenschaften, Theaterwissenschaften und Philosophie. Im Jahre 1970promovierte er mit dem Thema „Literarischer Jugendschutz“ an derFreien Universität Berlin. Seit 1971 ist Peter Raue in Berlin als Rechts-anwalt, seit 1975 als Notar tätig. Bis zum 30.4.2010 war er Seniorpart-ner der internationalen Sozietät Hogan & Hartson Raue mit demStammsitz in Washington D.C.. 2010 gründete er mit seinen langjähri-gen Partnern die Sozietät RAUE LLP. Peter Raue ist Honorarprofessor ander Freien Universität Berlin für Urheber-, Persönlichkeits- und Presse-recht.

Angela Rohde arbeitet seit 1994 als freischaffende Künstlerin. Sie ist Auto-didakatin, Mitglied des Bundesverbandes Bildender Künstlerinnen undKünstler (BBK) und stellt ihre Werke in zahlreichen Ausstellungen im In-und Ausland aus. 1998 gründete sie gemeinsam mit Lie Sarvan „IKARUS –Lyrik und Malerei" und veröffentlichte den Gedichtband „Sommerblut“.Neben weiteren Mitgliedschaften und Kunstprojekten gründete sie 2006zusammen mit Peer Böhm, Iris Stephan und Ulrich Dohmen „die kunst-kreditkarte - was schönes für unterwegs“.

Klaus M. Schmidt, Prof. Dr., studierte Politikwissenschaft und Volkswirt-schaftslehre in Marbung und Hamburg. Nach der Promotion 1987 bis1991 an der Universität Bonn und der London School of Economics ginger für ein Jahr als Visiting Professor ans Massachusetts Institute for Tech-nology. Seit 1995 ist er Ordinarius für Wirtschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Univerisität in München. Weitere Gastprofessuren führtenihn nach Stanford, Yale und Berkeley. Klaus Schmidt hat eine Vielzahlvon Aufsätzen in international führenden Fachzeitschriften zur Spiel-und Vertragstheorie, zur Verhaltensökonomie und zur ExperimentellenWirtschaftsforschung veröffentlicht. Er ist Mitglied der Berlin-Bran-denburgischen Akademie der Wissenschaften und der Economic Ad-visory Group on Competition Policy der Europäischen Kommission.

Christiane Schoel, Dr., studierte Psychologie in Freiburg und Mannheim.2009 promovierte sie an der Universität Mannheim, wo sie derzeit alswissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Ihre Forschungsschwerpunkteumfassen unter anderem Führung, Spracheinstellungen und Risikover-halten.

Christoph Sextroh studierte Betriebswirtschaftslehre an der UniversitätDuisburg-Essen und an der Norwegian School of Economics and Busi-ness Administration in Bergen/Norwegen. Seit 2008 ist er Doktorand amCenter for Doctoral Studies in Business (CDSB) der Graduate School ofEconomic and Social Sciences (GESS) an der Universität Mannheim undzudem seit Frühjahr 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhlfür ABWL, insb. Accounting & Capital Markets von Prof. Dr. Holger

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Daske. Von August 2009 bis Juli 2010 war er Stipendiat des 6. Jahrgangsdes Bronnbacher Stipendiums an der Universität Mannheim.

Dagmar Stahlberg, Prof. Dr., studierte Psychologie, Anthropologie undGeologie an der Universität Kiel. Nach der Promotion 1988 lehrte sie ander Universität Kiel und der New School of Social Research in New York.Gleich nach ihrer Habilitation in Kiel folgte sie 1995 einem Ruf auf eineC3-Professur an der Justus-Liebig Universität in Gießen. Seit 1996 ist sieInhaberin des Lehrstuhls Sozialpsychologie an der Universität Mann-heim. Dagmar Stahlberg hat eine Vielzahl von nationalen und interna-tionalen Veröffentlichungen zu den Themen Selbstkonzept, Urteilsver-zerrungen und -Biases, Effekte von Stereotypen sowie Sprache und Per-sonenwahrnehmung vorgelegt.

Iris Stephan studierte Bildhauerei und Malerei an der Alanus Hochschuleder bildenden Künste, Bonn. 2005 gründete sie den Kunstraum K5 inKöln und wurde 2007 in der GEDOK/Köln aufgenommen. Sie lebt undarbeitet als freischaffende Künstlerin in Köln.

Rupert Graf Strachwitz, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft, Geschichteund Kunstgeschichte an der Colgate University (USA), in München undMünster. Nach langjähriger ehren- und hauptamtlicher praktischersowie beratender Tätigkeit im und für den gemeinnützigen Bereich lei-tet er seit 1998 das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilge-sellschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Er war u. a. von 1999bis 2002 Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestagszur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements. Er hat vielfach zuThemen der Zivilgesellschaft, des Stiftungswesens u. Ä. publiziert.

Stefanie D. Unger, B.Sc., studierte Marketing Management an der Cali-fornia Polytechnic University Pomona. Nach Stationen als Senior Con-sultant bei Arthur Andersen und später bei Ernst & Young machte siesich als Unternehmensberaterin selbständig und begleitet seitdem Vor-stände und Aufsichtsräte in Führungsfragen, im Bereich Change Man-agement, Strategie und Corporate Governance. Stefanie Unger ist Her-ausgeberin des Buches „Vertrauen ist gut. Werte in der Krise oder Kriseder Werte?“. Als Referentin hält Stefanie Unger auf internationalenBusiness-Konferenzen Vorträge über wirtschaftliche und politische Ent-wicklungen von Europa bis Latein- und Nordamerika.

Martin Weber, Prof. Dr. Dr. h.c., studierte Mathematik, Informatik undBetriebswirtschaftslehre an der Universität Mainz und an der RWTHAachen. Nach der Habilitation in Betriebswirtschaftslehre war er Pro-fessor in Köln, Kiel und bis heute an der Universität Mannheim. Dort hater den Lehrstuhl für Finanzwirtschaft, insb. Bankbetriebslehre, inne.

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Marc-Philippe Weller, Prof. Dr., studierte Rechtswissenschaft in Heidelbergund Montpellier. Nach der Promotion 2004 an der Universität Heidel-berg folgte 2008 die Habilitation an der Universität zu Köln mit einerSchrift zum Thema „Die Vertragstreue“. Seit 2008 ist Marc-PhilippeWeller Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, InternationalesUnternehmensrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Univer-sität Mannheim. Er hat eine Vielzahl von Veröffentlichungen verfasst,insbesondere zum Vertragsrecht und Gesellschaftsrecht, jeweils mitinternationalen Bezügen.

Frank Ziegele, Prof. Dr., studierte Wirtschaftswissenschaften an der Uni-versität Hohenheim und promovierte 1996 an der Ruhr-UniversitätBochum mit einer Dissertation zum Thema „Hochschule und Finanz-autonomie“. Nach Lehraufträgen in Osnabrück, Bremen, Oldenburg,Krems und Speyer wurde er 2004 Professor für Hochschul- und Wissen-schaftsmanagement an der Fachhochschule Osnabrück. Schon seit 1996engagierte sich Frank Ziegele beim CHE (Centrum für Hochschulent-wicklung) und bei CHE Consult als Referent und seit 2007 als Geschäfts-führer. Er ist zudem Mitherausgeber der Zeitschrift „Wissenschaftsma-nagement“ und hat zahlreiche Beiträge und Bücher zur Entwicklungund Finanzierung von Hochschulen publiziert.

Josef Zimmermann, Dr., absolvierte eine Banklehre und studierte danachBetriebswirtschaftslehre in Mannheim mit anschließender Promotionüber das Kreditgeschäft mit mittelständischen Unternehmen. Ab 1980war Josef Zimmermann bei der Deutschen Bank angestellt, zuletzt zehnJahre Mitglied der Geschäftsleitung Deutschland für das Firmenkun-dengeschäft mit Sitz in Mannheim. Seit 2007 ist er Vorsitzender derFreunde der Universität Mannheim.

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