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ANTHROPOSOPHIE UND AKADEMISCHE ESOTERIK FORSCHUNG Probleme – Paradigmen – Perspektiven Robin Schmidt . Neue Entwicklungen und alte Erfahrungen In den letzten Jahren sind – fast unbemerkt und unabhängig vom Diskurs in der Anthroposophischen Bewegung – Anthro- posophie und Rudolf Steiner in stark wachsendem Maße zum Gegenstand universitärer Forschung geworden. Neben histo- rischen Studien etwa über die Entstehung der Anthroposophie in Russland oder Dissertationen zu den Mysteriendramen Ru- dolf Steiners sind an Universitäten beispielsweise auch kunst- geschichtliche Untersuchungen über Anthroposophie entstan- den, die weitgehend nicht von Anthroposophen verfasst sind. Als ein Beispiel seien hier die Mysteriendramen Rudolf Stein- ers genannt. Hier sind jüngst erschienen: Jose Sanchez, Unité, séparation et réintégration: la quête de la liberté dans les drames – mystères de Rudolf Steiner, Diss., Paris ; Adrian Anderson, Dramatic Anthroposophy, Diss., Otago ; Alexander Höhne, Spiegelmetaphorik in Rudolf Steiners «Vier Mysteriendramen»: textsemantische Untersuchungen, Diss., Tübingen ; Aurelié Keineswegs handelt es sich dabei – wie schon fast zur Gewohn- heit geworden – um polemische «Entlarvungen», sondern um empathische, kulturgeschichtliche Untersuchungen. Das ist eine Trendwende, und die Suche nach neuen emen ei- nerseits, aber auch die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Esoterik und Anthroposophie für die Kultur und Geschich- te andererseits werden wohl bewirken, dass hier von einem Anfang gesprochen werden kann. Neben detaillierten histo- rischen Monographien sind vermutlich profunde Werkanaly- sen Rudolf Steiners ebenso zu erwarten, wie Studien über die esoterische Praxis in der Gegenwart. Die despektierliche Dis- tanz zur Esoterik scheint überholt, seitdem methodisch auch in den Kulturwissenschaen die Ansicht überwunden ist, dass die empathische Untersuchung eines Gegenstandes mit innerer Identikation gleichzusetzen sei. Und vor allem: neuere Ansät- ze in der Erforschung von Esoterik an Universitäten haben ihre Methoden am Gegenstand selbst entwickelt und so ist zu hof- fen, dass das Forschungsklima nicht länger durch so genannte Anhänger oder Gegner geprägt wird. Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit Untersuchungen der Anthroposophie aus akademischer Perspektive mögen das wachsende Interesse und die Zunahme der Publikationen den- noch wenig erfreulich sein. Bislang war o nicht die interessier- te Untersuchung Zweck solcher Abhandlungen, sondern man zielte darauf ab, Anthroposophie mit akademischer Deutungs- macht als «unwissenschalich» abzuhaken, sie gegen die Auf- klärung auszuspielen, als nicht vereinbar mit Glaubenssystemen Choné, «Les Drames-Mystères de Rudolf Steiner», in: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism , Vol. , Nr.

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ANTHROPOSOPHIE UND AKADEMISCHE ESOTERIK!FORSCHUNG Probleme – Paradigmen – Perspektiven Robin Schmidt

". Neue Entwicklungen und alte Erfahrungen

In den letzten $% Jahren sind – fast unbemerkt und unabhängig vom Diskurs in der Anthroposophischen Bewegung – Anthro-posophie und Rudolf Steiner in stark wachsendem Maße zum Gegenstand universitärer Forschung geworden. Neben histo-rischen Studien etwa über die Entstehung der Anthroposophie in Russland oder Dissertationen zu den Mysteriendramen Ru-dolf Steiners sind an Universitäten beispielsweise auch kunst-geschichtliche Untersuchungen über Anthroposophie entstan-den, die weitgehend nicht von Anthroposophen verfasst sind.$

$ Als ein Beispiel seien hier die Mysteriendramen Rudolf Stein-ers genannt. Hier sind jüngst erschienen: Jose Sanchez, Unité, séparation et réintégration: la quête de la liberté dans les drames – mystères de Rudolf Steiner, Diss., Paris &''&; Adrian Anderson, Dramatic Anthroposophy, Diss., Otago &''%; Alexander Höhne, Spiegelmetaphorik in Rudolf Steiners «Vier Mysteriendramen»: textsemantische Untersuchungen, Diss., Tübingen &''(; Aurelié

Keineswegs handelt es sich dabei – wie schon fast zur Gewohn-heit geworden – um polemische «Entlarvungen», sondern um empathische, kulturgeschichtliche Untersuchungen. Das ist eine Trendwende, und die Suche nach neuen )emen ei-nerseits, aber auch die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Esoterik und Anthroposophie für die Kultur und Geschich-te andererseits werden wohl bewirken, dass hier von einem Anfang gesprochen werden kann. Neben detaillierten histo-rischen Monographien sind vermutlich profunde Werkanaly-sen Rudolf Steiners ebenso zu erwarten, wie Studien über die esoterische Praxis in der Gegenwart. Die despektierliche Dis-tanz zur Esoterik scheint überholt, seitdem methodisch auch in den Kulturwissenscha*en die Ansicht überwunden ist, dass die empathische Untersuchung eines Gegenstandes mit innerer Identi+kation gleichzusetzen sei. Und vor allem: neuere Ansät-ze in der Erforschung von Esoterik an Universitäten haben ihre Methoden am Gegenstand selbst entwickelt und so ist zu hof-fen, dass das Forschungsklima nicht länger durch so genannte Anhänger oder Gegner geprägt wird.

Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit Untersuchungen der Anthroposophie aus akademischer Perspektive mögen das wachsende Interesse und die Zunahme der Publikationen den-noch wenig erfreulich sein. Bislang war o* nicht die interessier-te Untersuchung Zweck solcher Abhandlungen, sondern man zielte darauf ab, Anthroposophie mit akademischer Deutungs-macht als «unwissenscha*lich» abzuhaken, sie gegen die Auf-klärung auszuspielen, als nicht vereinbar mit Glaubenssystemen

Choné, «Les Drames-Mystères de Rudolf Steiner», in: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism &''(, Vol. (, Nr. $

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durchzudeklinieren – oder gesteigert: als Ketzerei zu brand-marken, bis dahin, dass solche «Wissenscha*» dazu diente, juristische Argumente zu liefern, um Anthroposophie gesell-scha*lich zu verunmöglichen. Hier wurde und wird Wissen-scha* im Missbrauch ihrer Autorität zur Dislegitimierung einer kulturellen Minderheit erfahren. Und die jüngste Rezeption des Werkes von Helmut Zander über Anthroposophie scheint die-se Wahrnehmung zu bestätigen. (Im Folgenden klammere ich dieses Werk ganz aus, da es nicht für den hier zu skizzierenden Forschungszusammenhang steht.)

Aber: jede Beobachtung eines Gegenstandes verändert auch den Gegenstand selbst. – Wird Anthroposophie durch exten-sive akademische Forschung nicht letztlich zu einer interes-santen kulturgeschichtlichen Episode der vorletzten Jahrhun-dertwende gemacht? Oder sind Anthroposophen die einzigen, die über ihren Gegenstand legitime Aussagen machen können, und sollten sie ihre Domäne daher sorgfältig isoliert halten? Ist aber Anthroposophie nicht schon längst selbst eine historische Erscheinung geworden? Wenn ja, weshalb ist ihre historische Erforschung dann überhaupt kulturgeschichtlich relevant? Und: werden Anthroposophen an dieser universitären Deutung ihres Gegenstandes teilhaben? Noch wichtiger: gibt es Anthro-posophie heute als den lebendigen Versuch einer Wissenscha* vom Geist? Wenn ja, wie steht sie dann in der Gegenwart unter diesen veränderten Bedingungen? Ergeben sich nicht Konse-quenzen für die Anthroposophie selbst?

#. Hemmungen und Hindernisse

Einer zunehmenden akademischen Untersuchung der Anthro-posophie kann so auch skeptisch begegnet werden. Ganz fun-damental könnte man einwenden, dass ohne Erfahrungen auf dem anthroposophischen Erkenntnisweg kein adäquates Ver-ständnis von Anthroposophie entstehen kann. Auch hatte Ru-dolf Steiner gerade bei der Neukonstituierung der Anthropo-sophischen Gesellscha* $#&!/&, auf diesen Punkt großen Wert gelegt: in den Statuten im so genannten «Hochschulvermerk» wird die Möglichkeit der Beurteilung anthroposophischer Pu-blikationen an die Bedingung der Schulung geknüp*.& So ist zu bezweifeln, ob mit akademischen Methoden überhaupt Sach-gemäßes über Esoterik herauszu+nden ist. Eine solche «Akade-misierung» der Anthroposophie könnte auch dazu beitragen, Anthroposophie mit ihrer akademischen Untersuchung zu ver-wechseln.

Außerdem sind – wie erwähnt – die meisten bisherigen Er-fahrungen mit akademischen Studien zur Anthroposophie nicht geeignet, viel Verständnis für die Sache erwarten zu lassen. Vielmehr wurden diese Studien meist dazu verwendet, welt-anschaulich, politisch oder existenziell gegen Anthroposophie oder Rudolf Steiner vorzugehen.! Die Zerstörung des ersten Goetheanum durch Brandsti*ung $#&&, nachdem zuvor ö-ent-lich von Kanzel und Katheder eine solche Tat propagiert wurde,

& Vgl. §" der Statuten der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellscha*

! Vgl. Walter Kugler, Feindbild Steiner, Stuttgart &''$; Rudolf Steiner, Die Anthroposophie und ihre Gegner, GA &%%b (&''.)

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stellt ein entscheidendes, identitätsbildendes Faktum der Ge-schichte der Anthroposophie dar. Die Verfolgung und das Ver-bot von Anthroposophen in totalitären Gesellscha*en und die lange Geschichte ihrer ö-entlichen Verleumdung führten o* zur Selbstwahrnehmung am Rande der Gesellscha*. Aber auch heute wird mit akademisch legitimiertem Geschütz gegen etwa die Ausübung anthroposophischer Medizin gekämp* oder in Tageszeitungen wüst polemisiert oder lächerlich gemacht. Die Zurückweisung solcher Polemik bringt den Zurückweisenden dann in die unglückliche Lage des Apologeten, was an und für sich schon Anlass genug für weitere Polemik bietet. Zum Glück, möchte man sagen, gibt es heute, nach dem &'. Jahrhundert, ein doch recht breit gewachsenes di-erenziertes Verständnis für kulturelle Minderheiten und ihren Beitrag für die Gesellscha*.

Dass gegenüber einer akademischen Esoterikforschung hier also Skepsis vorliegt, ist nachvollziehbar, doch könnte dieses Bild sich ändern. Zunächst muss gesagt werden, dass unter «Esoterik» – auch im akademischen Feld – ein weites, nicht scharf abgegrenztes Gebiet von )emen zusammengefasst wird, das mit Schlagworten wie Astrologie, Alchemie, Magie, Kabbala, Gnosis, Mystik, Okkultismus, New Age, Rosenkreu-zertum, Freimaurerei usw. assoziiert ist und zu dem selbstver-ständlich )eosophie und Anthroposophie gerechnet werden. Bis in die $#('er Jahre war die Erforschung dieser )emen und ihrer Geschichte größtenteils unter der Perspektive von abweichender religiöser Kultur gelaufen. Im Rahmen der Re-ligionswissenscha* haben allerdings schon in der ersten Häl*e des &'. Jahrhunderts Untersuchungen etwa von Mircea Eliade, Gershom Scholem, Henry Corbin, aber auch Carl Gustav Jung

oder Martin Buber Verständnis für alternative Entwürfe von Religiosität geweckt.,

Wissenscha*sgeschichtlich war jedoch am prägendsten die Rezeption des Bereichs unter dem Ein/uss theologischer Deu-tung. Esoterik wurde, wenn überhaupt, dort von der Seite ihrer Inhalte her untersucht. Das aber implizierte eine Beobachtung unter der Prämisse der «Häretik», der Domänensicherung, oder wertneutraler: der «Alterität». Damit war die Eigenart der Esoterik freilich kaum in den Blick zu bekommen, falls dies überhaupt je von Interesse war.

Speziell in Deutschland gibt und gab es noch zusätzliche Bar-rieren, die einerseits mit einer traditionell stärkeren Bindung der Kirche an die )eologie an Universitäten, andererseits mit der deutschen Geschichte selbst zusammenhängt: der Natio-nalsozialismus hatte sich ja esoterischer Mythen, Zeichen und Praktiken bedient. Die Rezeption von Esoterik im Rahmen der deutschen Geschichtswissenscha* geschah daher berechtigter-weise vorwiegend im Rahmen der Erklärung der Ursachen des Nationalsozialismus und damit aber auch unter bestimmten Vorzeichen. Im Zuge der jüngeren kulturgeschichtlichen Zu-gri-e ist Esoterik dann auch im Rahmen von Untersuchungen

, Die Eranos-Tagungen, die seit $#!! jährlich in Ascona stattfan-den, hatten hierfür eine wichtige Funktion. Hier wurden, frei von akademischen Zwängen, in Gesprächen die Grenzen und Bedeu-tung von Spiritualität und Religion im Verhältnis zu Wissen-scha* und Au0lärung erörtert. Siehe )omas Hakl, Der verbor-gene Geist von Eranos. Unbekannte Begegnungen von Wissenscha$ und Esoterik, Bretten &''$; Steven M. Wasserstrom, Religion a$er Religion. Gerschom Scholem, Mircea Eliade and Henry Corbin at Eranos, Princeton $###.

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der Jahrhundertwende – wie etwa der Lebensreformbewegung – breiter thematisiert worden, oder im Rahmen der Neuzeit-Forschung.% Geschichtswissenscha*lich wird das Gebiet nach wie vor o* als randständiges Relikt einer unvollständigen Sä-kularisierung, als au0lärungsrenitente Marginalie europäischer Kultur angesehen – kaum der Erwähnung wert. Außerdem wur-de und wird man schon durch die bloße Berührung mit dem )ema zum Außenseiter – und steht unter Ideologieverdacht. Schließlich war das )ema bis in die $#.'er stark tabuisiert, ähnlich wie etwa Sexualität.(

% Einen Überblick über die diesbezüglichen fachlichen Entwick-lungen der Historik in Deutschland zwischen $#., und &'', gibt Monika Neugebauer-Wölk, «Zur Konstituierung historischer Religionsforschung $#.,-&'',», in: Zeitenblicke % (&''(), Nr. $ (online: www.zeitenblicke.de).

( Tre-end formuliert Wouter Hanegraa-: «Sex may no longer be a taboo in academic discussion, but this does not mean that a pro-fessor of gender studies is expected to consider the practice of sex as part of his or her professional duty. Practicing sex is one thing while studying it is another; and neither of the two is expected to take the place of the other. Esotericism has remained a taboo in academic discussion because its countercultural-religionist repre-sentatives have too frequently refused to draw such distinctions, and insisted that only practitioners […] are able to adequately study esotericism. Accordingly they held that the very nature of academy needed to change, in order to make the study of esoteri-cism possible. […] those who want to experience ‹the real thing› are well advised not to turn to academics but to practitioners. But those who want to understand how and why these important do-mains of human experience and expression have played – and are still playing – a signi+cant role in western culture are well advised not to ask the practitioners but turn to academics.» Wouter Ha-negraa-, «Beyond the Yates Paradigm», in: Aries $/&''$, S. !&.

Dazu muss noch auf einen weiteren Grund bisheriger Zu-rückweisung hingewiesen werden: nämlich den Versuch von «Esoterikern», esoterischen Sichtweisen in der Universität Gehör und Anerkennung zu verscha-en oder gar das Wissen-scha*sverständnis der Universität selbst in ihrem Sinne verän-dern zu wollen.. – Das )ema war und ist – berechtigt und unberechtigt – umgeben vom Verdacht der o-enen oder impli-ziten Apologetik.

Schließlich gibt es o-enbar auch psychologische Gründe für die akademische Zurückweisung des Gegenstandsgebiets: die historische Auseinandersetzung mit den Quellen der «Esote-rik», des «ganz Anderen», des «Irrationalen» rührt an die eigene Identität des aufgeklärten Bewusstseins, des klaren, ra-tionalen Verstandes. Durch eine detaillierte historische Unter-suchung der Entstehung von Wissenscha* und Esoterik wird nämlich deutlich, dass Wissenscha* und Esoterik durch eine (o* kämpferische) Ausgrenzung des jeweils Anderen entstan-den sind. Wenn aber eine historische Untersuchung zeigt, dass die wechselseitigen Feindbilder (also die «der» Esoterik über «Wissenscha*» und die «der» Wissenscha* über «Esote-rik») vor allem imaginär waren, die alten Feinde also nicht mehr so klar von einem selbst verschieden sind, dann müsste auch die eigene Position – und das ist hier die Vorstellung von «der» Wissenscha* – fundamental hinterfragt werden (siehe Ab-schnitt ,.!). Mit der Pluralisierung von Wissenscha*sformen, mit der Postmoderne-, Konstruktivismus- und nicht zuletzt der Gender-Debatte in den $##'er Jahren wurde hier zusätzlich

. vgl. Quelle in Anmerkung (

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Lu* gescha-en, das autoritäre Wissenscha*sverständnis selbst zu hinterfragen und sich )emen und Methoden zuzuwenden, die auf der Seite der «Schwachen» lagen.

%. Protagonisten und Paradigmen

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Eine gewisse Initialzündung für eine Auseinandersetzung mit Esoterik im etablierten akademischen Betrieb stellten die For-schungen der Engländerin Frances A. Yates ($"##-$#"$) dar." Sie hatte an der $#!! nach London emigrierten Aby-Warburg-Bibliothek seit $#!. gearbeitet und konnte sich hier ausgiebig ihren Studien zur Wissenscha*sgeschichte der Renaissance widmen. Ihr Buch Giordano Bruno and the Hermetic Traditi-on von $#(, (und nachfolgende Publikationen) konnte durch eine provokative )ese die Historikerzun* genügend irritieren: die moderne, neuzeitliche, empirische Wissenscha* sei in ihrer Entstehung bedingt durch den Hermetismus der Renaissance. Oder allgemeiner formuliert: «die Wissenscha*» sei in ihrer Entstehung gar nicht das au0lärerische Gegenprojekt zu Eso-terik und Religion, sondern vielmehr eine Hervorbringung von «Esoterikern» selbst. Dieses «Yates-Paradigma» hinterfragte so eine zentrale und identitätsbildende Erzählung der Wissen-scha* (nämlich von Esoterik unabhängig zu sein), wurde he*ig kritisiert und war dennoch so ernst zu nehmen, dass die Kri-

" Einen relativ aktuellen Überblick über Forscher und Positionen in der Esoterik-Forschung auf Deutsch verscha8 das online er-hältliche Journal zeitenblicke % (&''() Nr. $: www.zeitenblicke.de

tik zum Ausgangspunkt für eine vertie*e Auseinandersetzung mit «Esoterik» innerhalb universitärer Forschung wurde. Das Paradigma ist heute zwar weitgehend überholt, da die histo-rischen Ver/echtungen von Wissenscha* und esoterischem Denken komplex und keine einfachen Kausalitäten auszuma-chen sind.# Es genügte aber, um einen ausgeblendeten Bereich in die Universität hereinzuholen, wenn sich dies auch zuerst auf Wissenscha*shistoriker und Philosophen beschränkte.

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In den $#"'er Jahren gelang eine gewisse Etablierung von Eso-terik-Forschung durch Antoine Faivre mit seinem Lehrstuhl an der Pariser Sorbonne. Dort wurde bereits $#(, François Secret Professor für «Histoire de l’Esoterisme chrétien», er arbeitete im Folgenden aber vor allem zur Kabbala. Nach seiner Emeri-tierung $#.# wurde dieser Lehrstuhl in «Histoire des courants ésoteriques et mystiques dans l’Europe moderne et contempo-raine» umbenannt und Antoine Faivre zum Professor gewählt. Nach extensiven Studien zur europäischen )eosophie von der frühen Neuzeit bis ins $#. Jahrhundert hat Faivre Anfang der $##'er Jahre begonnen, ein systematisch begründetes Fachge-biet zu entwickeln. Ausgehend von seinen Studien versuchte er, Gemeinsamkeiten zwischen hermetischer Renaissance-Lite-ratur, christlicher Kabbala, Alchemie, Rosenkreuzertum oder beispielsweise der )eosophie Jakob Böhmes herauszustellen. Um das Forschungsgebiet abzustecken, suchte er nach einem

# Vgl. Wouter Hanegraa-, «Beyond the Yates Paradigm: )e Stu-dy of Western Esotericism Between Counterculture and New Complexity», in: Aries $/&''$, S. %-!.

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heuristischen De+nitionsrahmen: es musste eingegrenzt wer-den, was zum Gegenstandsbereich «Esoterik» gehört und mit welchen Mitteln ein Verständnis entwickelt werden könnte.

Faivres methodischer Gri- dabei war, nicht von inhaltlichen oder historischen Kategorien für diesen Rahmen auszugehen. Nicht die Annahme der Existenz von Naturgeistern etwa, be-stimmte Epochenbegri-en wie «Renaissance» oder «Au0lä-rung», oder bestimmte Gründer+guren, Praktiken oder )e-menfelder sollten zur Gegenstandsbestimmung dienen: Faivre arbeitete aus seinem Kenntnishorizont «Denkformen» heraus, die es erlauben, einen Text als «esoterisch» (als der Esoterik zugehörig) zu bestimmen, auch dann, wenn dies nominell gar nicht der Fall ist. Der Vorteil dieses ideell-phänomenologischen Ansatzes ist, dass zur Untersuchung und Identi+zierung weder Deutungsvorgaben von Esoterikern, noch denen von «Kriti-kern» gefolgt werden muss. Eines dieser Kriterien ist beispiels-weise, dass in esoterischen Literaturen in «Entsprechungen» gedacht wird. «Wie oben – so unten» ist ein gedankliches Leitprinzip von Esoterik: Mikrokosmos und Makrokosmos werden in einer symbolischen oder real wirksamen Entspre-chung stehend gedacht (s. u. ,.$.).$'

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Parallel zu den Arbeiten von Faivre konnten die Forschungen von Nicholas Goodrick-Clarke in den $#"'er Jahren dem Be-darf an einer profunden historischen Erforschung von esote-rischen Strömungen und Praktiken Nachdruck verleihen. Mit

$' Antoine Faivre, Esoterik im Überblick, Freiburg &''$, S. &,-.

seiner überaus erfolgreichen Publikation von $#"% über die ok-kulten Wurzeln des Nationalsozialismus in der österreichisch-deutschen «Ariosophie» konnte er zeigen, dass Esoterikfor-schung durchaus enorme historiographische Relevanz besitzen kann.$$ Mit einem Forschungsschwerpunkt zu Hermetik, Ro-senkreuzertum, )eosophie und Anthroposophie lehrt Good-rick-Clarke an der Universität Exeter (GB) und leitet den MA-Studiengang «Western Esotericism».

W9@751 H235A122BB

Die Entwicklungen innerhalb der Religionswissenscha* in den $##'er Jahren erlaubte, dass die Esoterik-Forschung wei-tere Felder ergreifen konnte. Wegweisend war beispielsweise die Habilitation von Wouter Hanegraa-, der erstmals den ge-samten Korpus der so genannten «New-Age-Literatur» von David Bohm bis Ken Wilber sichtete, deren Quellen analysier-te, die parallelen esoterischen Motive strukturierte und dann herausarbeitete, wie «säkulares» Denken, also Naturwissen-scha*, Psychologie oder )eologie, das «New Age» in sich abbildete: es interpretierte, bekämp*e oder zu ridikulisieren suchte. Dabei lag der methodische Gri- darin, sich nicht auf die Seite der Esoteriker oder der Bekämpfer zu stellen, sondern den Diskurs zwischen den beiden Seiten selbst ins Auge zu fas-sen. Welche )emen werden angesprochen, welche Argumente werden verwendet, welche Weltsichten liegen dem zugrunde

$$ Nicholas Goodrick-Clarke, &e Occult Roots of Nazism: Secret Aryan Cults and &eir In'uence on Nazi Ideology, New York $##&. Übersetzungen in viele Sprachen. Deutsch: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz &'''.

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und welche Ansprüche werden jeweils eingefordert? Er kommt zu dem Resultat, dass «New Age» gar nicht die Rückkehr zu einem vorau0lärerischen Standpunkt ist, sondern am besten zu charakterisieren ist, wenn es als ein Synkretismus von älteren esoterischen und weltlichen Wissensformen verstanden wird, der eine Kulturkritik darstellt, die in weiten Teilen von Prämis-sen der modernen Kultur selbst ausgeht.$& Auf dieser Grundlage wurden dann weitere Blicke auf die Kulturgeschichte Europas geworfen, die auch das bisherige Verständnis der Moderne und der Au0lärung selbst in Frage stellen (s. u. ,.!). Zum grundle-genden Motiv von Hanegraa-s Forschungen gehört es, bishe-rige historiographische Vereinfachungen aufzulösen (etwa die Vorstellung einer einfachen Säkularisierung) und auf der ande-ren Seite keine andere neue «große Erzählung» einer hervor-ragenden Bedeutung der Esoterik für die Moderne entstehen zu lassen, sondern solche Selbstbilder und ihre Entstehungsmuster selbst ins Auge zu fassen und dadurch Raum für historische Komplexität zu scha-en.$!

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Mit Hanegraa-s Berufung $### auf eine eigens eingerichtete Unterabteilung der Humanities der Universität Amsterdam («History of Hermetic Philosophy and Related Currents») wurde ein Rahmen gescha-en, um diese Forschungstätigkeiten

$& Wouter Hanegraa-, New Age Religion and Western Culture. Eso-tericism in the Mirror of Secular &ought, Albany $##", S. %&'f.

$! Programmatisch dazu: Wouter Hanegraa-, «Beyond the Yates Paradigm: )e Study of Western Esotericism between Counter-culture and New Complexity», in: Aries $/&''$, S. %-!.

langfristig aufzubauen, Kompetenz aus anderen Fachberei-chen einzubinden und die Infrastruktur für einen eigenen For-schungsbereich zu scha-en. Dazu gehört natürlich eine laufen-de Debatte um die Eingrenzung und methodische Erschließung des Gegenstandsbereichs, ein zentrierendes Organ wie das Jour-nal ARIES und die &''% gegründete «Society for the Study of Western Esotericism» (ESSWE).$, Die Konsolidierung des Forschungsstandes wurde sichtbar in dem zwischen $### und &''% erarbeiteten Dictionary of Gnosis & Western Esotericism.$%

So gibt es in Europa heute drei Lehrstühle, die ausgewiesener-maßen Esoterik erforschen und BA- und MA-Studiengänge auf diesem Gebiet anbieten. Zuerst ist hier Amsterdam mit Wou-ter Hanegraaf zu nennen, dann Paris mit Jean-Pierre Brach (als Nachfolger von Antoine Faivre) und Exeter (GB), wo Nicholas Goodrick-Clarke seit Ende der $##'er Jahre einen Lehrstuhl besetzt. Anthroposophie und Rudolf Steiner sind dort selbst-verständlicher Teil des Lehrplans. Auch in Deutschland hat die Forschung zu Esoterik sich vervielfacht, wenngleich auch bisher kein eigener Lehrstuhl entstanden ist, wo die Vielzahl der beste-henden Arbeiten zusammenlaufen könnte.$( &''( hat zudem

$, Aries. Journal for the Study of Western Esotericism, neue Serie &''$, hrsg. von Roland Edigho-er, Antoine Faivre und Wouter Hane-graa-: www.brill.nl/arie. Zur ESSWE siehe: www.esswe.org; die nordamerikanische Parallelorganisation ist die «Association for the Study of Esotericism»: www.aseweb.org

$% Wouter J. Hanegraa-/Antoine Faivre/Roelof van den Broek/Jean-Pierre Brach, Dicitonary of Gnosis & Western Esotericism, Leiden &''%, &. Au/. &''(

$( Einen Überblick über die diesbezüglichen fachlichen Entwick-lungen der Historik in Deutschland zwischen $#., und &'', gibt: Monika Neugebauer-Wölk, «Zur Konstituierung his-

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auch die Päpstliche Universität in Rom einen Lehrstuhl für «Nichtkonventionelle Religionen und Spiritualitätsformen» eingerichtet.$.

(. Beispiele

Weshalb sollten all diese Entwicklungen für die Anthroposo-phie von Bedeutung sein? Denn die Erforschung der Anthropo-sophie und des Werkes Rudolf Steiners unter diesen Prämissen steckt noch in den Kinderschuhen – im Gegensatz beispielswei-se zur Geschichte der )eosophie. Seit den $#"'er Jahren wird insbesondere im englischsprachigem Raum die Geschichte der )eosophie und der )eosophischen Gesellscha* zunehmend erforscht$" – In dieser Hinsicht ist sie der Anthroposophie um Jahre voraus und es würde sich wohl lohnen, diese Publikati-onen einmal nachzuzeichnen, um daran abzulesen, was eventu-ell noch bevorsteht. In diesen Darstellungen jedenfalls gilt An-throposophie als eine Abspaltung der )eosophischen Gesell-

torischer Religionsforschung $#.,-&'',», in: Zeitenblicke % (&''(), Nr. $ (online: www.zeitenblicke.de). Weitere Ausgangs-punkte in den $##'er Jahren bilden die Arbeiten von Hans G. Kippenberg im Rahmen der Religionswissenscha* oder die kul-turgeschichtlichen Untersuchungen von Ulrich Linse. Auch auf germanistischem Gebiet wurde zu esoterischer Literatur reichlich publiziert, das Feld ist mir aber nicht überschaubar. Hinzu kom-men kunstgeschichtliche Arbeiten, die z. B. den Zusammenhang von Esoterik und klassischer Moderne untersuchen.

$. Die Zeit vom &'.$&.&''(, Nr. %& $" Einen Meilenstein bildeten die Forschungen von Jocelyn God-

win, z. B. &e &eosophical Enlightenment, Albany $##,.

scha* und wird o*, bis in neuere akademische Publikationen, auch aus der (Wertungs-)Perpektive der )eosophischen Ge-sellscha* dargestellt. Darüber hinaus sind diese Darstellungen o* fehlerha*, schon auf der Ebene der historischen Fakten.$# Anthroposophie ist mit ihren Besonderheiten in diesem Rah-men noch nicht besonders in den Blick genommen, insbeson-dere auch bezüglich ihrer heutigen gesellscha*lichen Relevanz in Bereichen wie Pädagogik, Landwirtscha* oder Medizin. Die Arbeit von Helmut Zander Anthroposophie in Deutschland ver-sucht zwar, das en bloc nachzuholen; hier bleibt dennoch viel zu tun.&'

Im Folgenden soll an drei Beispielen verdeutlicht werden, warum auch schon die bisherige akademische Esoterik-For-schung das Verständnis von Anthroposophie verändern und erweitern kann.

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Nach dem Tod von H. P. Blavatsky $"#$ kam es in der )e-osophischen Gesellscha* zu einer Orientierungskrise und zur Frage der legitimen Nachfolgerscha*, die über eine Referenz auf die «Meister» zu einem he*igen Kon/ikt eskalierte, der zur ersten großen Spaltung in der Geschichte der )eosos-phischen Gesellscha* («)e Split») führte: die Verselbstän-digung des größten Teils der Amerikanischen Sektion der

$# so z. B. Kocku von Stuckrad, Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München &'',

&' Die eingangs erwähnten Arbeiten sind mehr als ein Indiz, dass sich dies ändert, außerdem sind in dem hier skizzierten For-schungskontext auch schon Arbeiten in Vorbereitung.

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)eosophischen Gesellscha* $"#% unter der Leitung von Wil-liam Quan Judge, einem der ursprünglichen Mitbegründer der )eosophischen Gesellscha* $".%, gegenüber dem Gros der Gesellscha* unter der Leitung des Gründungspräsidenten Henry Steel Olcott mit Annie Besant. Judge starb im Folge-jahr und nach einer Übergangspräsidentscha* wurde $"#" Katherine Tingley Präsidentin dieser Abspaltung, der )eoso-phischen Gesellscha* in Amerika. Tingleys Engagement galt vor allem sozialen, pädagogischen und pazi+stischen Aktivi-täten. Ihr eigentliches Lebenswerk wurde «Lomaland» – eine theosophische Gemeinscha* und Siedlung auf einer Anhöhe am Pazi+k in San Diego. Hier legte sie am &!. Februar $"#. den Grundstein für die «School for the Revival of the Lost Mysteries of Antiquity». Es sollte eine Mysterienstätte ent-stehen, an der die antiken Mysterien wieder au/eben sollten. In den nächsten Jahren entstand auf dem Gelände zunächst

Lomaland um ")**

eine Schule mit einer speziellen, theosophisch ausgerichteten Pädagogik: intellektuelle Bildung stand neben praktisch-hand-werklicher, spiritueller und künstlerischer Ausbildung; die Schüler spielten beispielsweise klassische Dramen und jedes Kind lernte mindestens ein Musikinstrument. Neben dem Sitz der )eosophischen Gesellscha* in Amerika und einer Yoga-Schule entstand in der wachsenden Siedlung ein Frei-lichttheater nach antikem Vorbild, wo antike Mysterienspiele aufgeführt wurden; $#$, wurde eine Akademie gegründet und die Schule auf ein College mit Internaten erweitert, $#$# folgten eine eigene theosophische Universität mit geistes- und naturwissenscha*lichen Fächern, ein Verlag, eine Schreinerei, eine Gärtnerei und kunsthandwerkliche Werkstätten. Neben kleineren ö-entlichen Erfolgen – wie etwa die Tourneen des Schülerorchesters und Anerkennungen Tingleys für ihr pazi-+stisches Engagement – wurde Lomaland eine touristische At-traktion. Nach Tingleys Tod $#&# wurde aus dem Pionierpro-jekt sehr rasch ein lebendes Museum, in dem ein treuer Kern an der ursprünglichen Idee festhielt, aber bald überalterte. Aufgrund wirtscha*licher Schwierigkeiten infolge der Welt-wirtscha*skrise und auch wegen seiner Lage in der Nähe eines Marinestützpunkts wurde Lomaland $#,& aufgegeben.&$

Wer die Geschichte des Goetheanums kennt, kann schon an dieser kurzen Skizze Parallelen und Unterschiede erkennen. Die architektonische Verwandtscha* des Zentralgebäudes zu den ersten Entwürfen von Carl Schmid-Curtius springt ins Auge,

&$ Literatur zu Lomaland: Emmett A. Greenwalt, California Utopia. Point Loma "+),–")(#, San Diego $#."; ausführliche Literatur-liste auch auf www.wikipedia.de, Stichwort «Lomaland».

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die Idee der Gründung einer Mysterienstätte, einer spirituell fundierten Forschungsstätte und einer eigenen Pädagogik, der Akzent auf künstlerischer Betätigung oder die Au-ührung von Mysterienspielen. Dass die deutsche Mitgliedscha* von dieser Unternehmung wusste, kann man annehmen, da Tingley wäh-rend einer Vortragsreise in Europa für dieses Projekt warb. Die-se Tatsachen können natürlich verschieden gedeutet werden und keineswegs soll damit gesagt sein, dass das Goetheanum in etwa dasselbe wie Lomaland sei. O-enbar lag aber die Idee eines theosophischen Zentralbaus in der Lu*. Die Auseinanderset-zung mit Mysterien, die künstlerischen Betätigungen waren Teil des theosophischen Selbstverständnisses, und keine Er+ndung der deutschen Sektion. Während ohne Kenntnis solcher Zu-sammenhänge die bloße Tatsache, dass ein Zentralbau errichtet wird, originell erscheint, kann so ein Verständnis dafür entwi-

Modell Johannesbau

ckelt werden, wie sich Steiner dieser Aufgabe angenommen hat. Auch die o* betonte Tatsache, dass Steiner auf Anliegen und Fragen der Mitglieder einging, erscheint so in einem anderen Licht.

Ähnliches gilt für andere theosophische )emen und Ideale: etwa Reinkarnation, die Bedeutung des Denkens in der esote-rischen Schulung, die Evolution der Erde oder das Verhältnis von )eosophie zum esoterischen Christentum, zum Rosen-kreuzertum oder zu freimaurerischen Aktivitäten, bis hin zur Gründung von theosophisch orientierten Schulen. $#$' gab es beispielsweise in Indien und Ceylon schon ,,% Schulen unter der Organisation der )eosophischen Gesellscha*. In der Sa-che, in Bezug auf das «Was» steht Rudolf Steiner in der deut-schen Sektion der theosophischen Gesellscha* jedenfalls nicht allein, sondern innerhalb einer vielfältigen, o* kontroversen theosophischen Auseinandersetzung.

Nimmt man dieses Gesamtszenario in den Blick, erscheint nicht mehr die Tatsache einzigartig, dass Rudolf Steiner auf das Rosenkreuzertum Bezug nimmt, sondern die Art und Weise, wie er das tut. Um also das «Wie» von Rudolf Steiners Wirken ins Auge fassen zu können, bedarf es einer doppelten Kenntnis: der Kenntnis des Werkes Steiners und seines Umfeldes, seines theosophischen Zusammenhangs. Nicht etwa um Steiners Bedeutung zu schmälern, indem man sein Tun in diesen Kon-text aufzulösen versucht, sondern um sein Wirken überhaupt adäquat und di-erenziert in den Blick zu nehmen, bedarf es der vertie*en Kenntnis historischer Bedingungen. Zu diesen gehört in einer ersten Schicht auch die internationale theoso-phische Bewegung, innerhalb der Rudolf Steiner zwar o* mit

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Vorbehalten, aber doch mit großem Engagement zehn wichtige Jahre wirkte.

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Als zweites Beispiel sollen einige Versuche der Esoterik-For-schung in den Blick genommen werden, zu fassen, was Esoterik ist. Wie schon oben erwähnt, ist natürlich die Voraussetzung für eine Erforschung von «Esoterik», eine Bestimmung des Gegenstandes, was also unter «Esoterik» als akademischer Disziplin verstanden werden soll. Hier sollen drei Ansätze der Esoterikforschung skizziert werden, allerdings nur insofern, als sie für das Verständnis von Anthroposophie interessant sind. Mögliche Kritikpunkte an den einzelnen Ansätzen und die Dis-kussion darüber referiere ich daher nicht.

Antoine Faivre: Denkformen der EsoterikNach Antoine Faivre, der wesentlich zur Konturierung des Fachgebiets beigetragen hat (s. o.), kennzeichnen sechs Eigen-scha*en das Denken abendländischer Esoterik.$. Das erste zentrale Kennzeichen esoterischen Denkens ist,

nach Zusammenhängen zwischen der «kleinen Welt» des Mikrokosmos und der «großen Welt» des Makrokosmos zu suchen. Die ganze Welt kann als Chi-re gelesen werden, es gilt der Grundsatz des «Wie oben, so unten» und des leben-digen Korrespondierens der beiden. Dies gilt ebenso für die Natur wie auch für die esoterischen Schri*en: sie stehen in einer lebendigen, aktuellen Beziehung zur «großen Welt». Die logischen Prinzipien vom «ausgeschlossenen Dritten» und von der «Widerspruchsfreiheit» sind dabei aufgehoben

in gleichzeitige Anwesenheit. Ein kongeniales «Denken in Entsprechungen» sucht Einsicht in diese Zusammenhänge.

&. Ein zweites Kennzeichen ist die Idee einer lebenden Natur. Die Natur, die Schöpfung, wird dabei als Lebewesen, o* als unerlöstes Subjekt, verstanden. Sie ist hierarchisch gegliedert und kann «gelesen» oder aber durch Magie manipuliert werden.

!. Hier schließt sich das dritte Prinzip an: die Imagination und Mediation (Vermittlung) als Erkenntnismittel. Bilder, Zei-chen und Symbole werden zum Zweck der mystischen Ver-einigung oder gnostischen Erkenntnis verwendet, sie sind eine Brücke zu einer aktuellen Verbindung zum Göttlichen. Charakteristisch für Esoterik scheint dabei zu sein, dass eine Mittelposition angestrebt wird, die nicht in vollständiger Vereinigung, sondern in annähernder Beziehung gesucht wird, welche zu innerer Schau und Gewissheit, statt zu Über-zeugung und Glaube führe; es handele sich um die Ausbil-dung eines «Seelenorgans, mit dessen Hilfe der Mensch eine kognitive und visionäre Verbindung zu einer Zwischenwelt, einem Mesokosmos, herzustellen vermag».&&

,. Hinzu kommt das vierte Charakteristikum: die Erfahrung der Transmutation. Diese hebt den Esoteriker nicht unbe-dingt nur auf eine andere Ebene, sondern verändert diesen selbst, führt zu einer «zweiten Geburt» und geht in Schrit-ten vor sich, wie beispielsweise «Läuterung, Erleuchtung, Vereinigung». Der Erkennende muss sich selbst verändern, wenn er Anderes erkennen will.

&& Antoine Faivre, Esoterik im Überblick, Freiburg &''$, S. &"

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Diese zentralen vier Merkmale werden nach Faivre häu+g, aber nicht bindend, durch zwei weitere ergänzt: die Konkordanz-bildung (%.) und die Transmission ((.). Konkordanzbildung bezeichnet den Versuch, esoterische Strömungen oder Traditi-onen aufzusuchen, miteinander zu vergleichen und darin eine höhere Urweisheit, eine ursprüngliche Tradition zu entdecken, die einer Urwahrheit am Nächsten ist. Transmission bedeutet die Übermittlung des esoterischen Wissens vom Meister an den Schüler – im Zentrum stehen «die Gültigkeit der Erkenntnisse, garantiert durch einen Weg der Weitergabe, dessen Authentizi-tät verbürgt und dessen Rechtmäßigkeit außer Frage steht»,&! und die Initiation, die ein Meister in welcher Form auch immer mit einem Schüler vornimmt und die verschiedentlich auch ge-sellscha*lich organisiert ist.

Monika Neugebauer-Wölk: Im Unterschied zum (Kirchen-)ChristentumDiesen und frühere De+nitionsansätze mit ihren methodischen Schwächen hat Wouter Hanegraa- einmal diskutiert;&, auf Faivre aufbauende und weiterführende Ansätze, um Esoterik als akademischen Gegenstandsbereich zu fassen, haben neben Hanegraa- (siehe unten ,.!.) beispielsweise auch Monika Neu-gebauer-Wölk (Professorin für Geschichte in Halle) und Kocku von Stuckrad (Assistenzprofessor in Amsterdam bei Wouter Hanegraa- ) vorgelegt.

&! ebenda, S. !& &, Wouter Hanegraa-, «On the Construction of ‹Esoteric Tra-

ditions›», in: A. Faivre/Wouter Hanegraa- (Hrsg.), Western Esotericism and the Science of Religion, Leuven $##"

Monika Neugebauer-Wölk arbeitet fünf Kennzeichen der neuzeitlichen europäischen Esoterik heraus: $. Die «Überschreitung des O-enbarungsangebots des Chris-

tentums», indem Esoterik andere Quellen als die beiden Tes-tamente, jedoch mit ähnlicher Verbindlichkeit einbezieht.

&. Das Paradigma des «höheren Wissens»: Esoterik bean-sprucht, den bloßen Glauben in ein Wissen zu überschrei-ten; dies geschieht durch Lektüre esoterischer Texte, durch das Lesen des Buchs der Natur oder durch individuelles Schauen.

!. Esoterik erhebt einen Anspruch auf Realisierung dieses Wis-sens beispielsweise durch Heilung oder Substanzwandlung, ohne dabei auf weltliche Mittel, wie etwa die Politik, zurück-zugreifen.

,. Dem Menschen wird eine Mitwirkung am Erlösungsgesche-hen zugesprochen.

%. Esoteriker grenzen sich gegen die Dogmatik und die organi-sierte Kirche ab und etablieren eigene Riten in «geheimen» Gesellscha*en.&%

Kocku von Stuckrad: Der Diskurs um Wege zu höherer ErkenntnisKocku von Stuckrads wissenscha*smethodischer Ansatz geht nicht von einer Denkform oder von einer Abgrenzung gegen-über kirchenchristlichen Kategorien aus, sondern argumentiert

&% Monika Neugebauer-Wölk, «Esoterik und Christentum vor $"''. Prolegomena zu einer Bestimmung ihrer Di-erenz», in: Aries &/&''!, S. $&.-.; siehe auch: dies., Au-lärung und Esoterik, Hamburg $###

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diskurstheoretisch. Esoterik gibt es dann nicht «an sich», son-dern «Esoterik» ist etwas, das durch den Diskurs hervorge-bracht wird. So ist Esoterik zunächst ein Element der Diskurse in der europäischen Geistesgeschichte. Dieses Element tritt in die Sichtbarkeit der Analyse, wenn man die Modi und die Topoi der Esoterik ins Auge fasst. (Dies um deutlich zu kennzeich-nen, dass es sich um analytische Konstruktionen des Histori-kers handelt und nicht um etwas im naiven Sinne Reales). Die beiden kennzeichnenden Modi sind: a) ein Anspruch auf und die Formulierung von höherer Erkenntnis und b) Wege und Techniken, diese höhere Erkenntnis zu erreichen. Ein häu+ger Topos ist beispielsweise eine monistische Konzeption des Kos-mos oder die Idee einer lebenden Natur. Kurz: Esoterik lässt sich identi+zieren, indem man in die Beobachtung nimmt «claims of higher knowledge and ways of accessing this knowledge. To these dimensions we can add certain world views that are typi-cally involved.»&( Oder anders gefasst: Esoterik zeichnet sich im Kern dadurch aus, dass höhere Erkenntnis beansprucht wird und Wege beschrieben werden, wie diese erreicht werden kann.

Abgesehen von tre-enden Formulierungen, die man in die-sen Darstellungen +nden kann – die Kenntnisse über Esoterik sind nicht nur aus rein akademischer Distanz bezogen&. – be-

&( Kocku von Stuckrad, «Western Esotericism: Towards an Integra-tive Model of Interpretation», in: Religion !%/&''%, S. ""; siehe auch: ders., Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wis-sens, München &'',, S. $%

&. Zu Faivres Bezug zur Esoterik siehe Hanegraa-, «Beyond the Yates Paradigm», a.a.O., S. &$f., oder Kocku von Stuckrad, Lilith. Im Licht des schwarzen Mondes zur Kra$ der Göttin, Kamphausen &'',

leuchten diese Denkformen auch das Werk Rudolf Steiners. Das jeweils mit diesen Kategorien gemeinte, charakterisiert auch die Anthroposophie. Auch sie hat eine Lehre vom Zu-sammenhang des Menschen mit dem Makrokosmos, spricht vom Lesen im Buch der Natur, beansprucht höhere Erkenntnis, geht von der Erde als einem Organismus aus. Anthroposophie erscheint so zunächst als eine Variante von Esoterik, sie wird zunächst einmal subsummiert, oder erscheint in gewisser Weise vielleicht auch als mustergültiges Beispiel für Esoterik. Und ge-rade das Kernanliegen der Anthroposophie, eine Wissenscha$ zu sein, erhellt sich dadurch auf paradoxe Weise: Im Blick von akademischer Esoterikforschung erscheint so das Anliegen der Anthroposophie – nämlich ein Erkenntnisweg zu sein, eine Geistes-Wissenscha$ zu sein – selbst als zentrales Identi+kati-onsmerkmal für die Zuordnung in den Bereich «Esoterik».

Und hier liegt wieder eine Chance: denn das Spezi+sche der Anthroposophie kann dadurch genauer in den Blick kommen. Anthroposophie wird dadurch vergleichbar mit anderen For-men und Praktiken europäischer Esoterik. Vergleichbarkeit ist eine Vorbedingung jedes Verstehens. Ein solcher Vergleich der Anthroposophie bildet dann eine Voraussetzung für die Herausarbeitung ihrer Stellung in der europäischen Geistesge-schichte. Man nimmt ihr dadurch – wie auch durch die Bezüge zur )eosophie – nicht ihre Besonderheit, sondern gewinnt sie erst richtig. Ohne einen solchen Vergleich liefe man Gefahr, etwas für wesentlich an ihr zu halten, das sie mit allen esote-rischen Richtungen gemeinsam hat. So kann die akademische Esoterikforschung von der Außenseite her dazu beitragen, das Spezi+sche anthroposophischer Esoterik besser zu verstehen.

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An einem dritten Beispiel – den methodisch-historiogra-phischen Ergebnissen Wouter Hanegraa-s – soll noch ange-rissen werden, weshalb auch Ergebnisse der historischen Eso-terikforschung für das Selbstverständnis der Anthroposophie relevant sind. Kurz gefasst ist eines der wesentlichen Ergebnisse von Hanegraa-s historischen Studien, dass Esoterik und Wis-senscha* als das historische Produkt eines und desselben pole-mischen Diskurses verstanden werden können. Sowohl Esote-rik als auch rationale Wissenscha* sind historisch in wechsel-seitiger Abgrenzung voneinander entstanden und beziehen ihre Identität jeweils aus der Negation des Anderen. Die Untersu-chung der Geschichte der frühen Neuzeit beispielsweise zeigt, dass viele )emen und Methoden, die heute zu «Esoterik» gerechnet würden, ursprünglich zum Portfolio eines Gelehrten gehörten, so dass man von einem Di-erenzierungsprozess des Gelehrtentums in «Wissenscha*» und «Esoterik» sprechen muss. Dieser spielt sich aber zunächst noch gar nicht in den Positionen einzelner Personen ab, sondern o* innerhalb einer Persönlichkeit selbst. Erst später, mit der Verselbständigung von Methoden in der Wissenscha* einerseits und z. B. dem Bezug auf «esoterische Traditionen» andererseits, ist ein Sta-tus erreicht, an dem beide als eigene gesellscha*liche Faktoren wahrnehmbar werden. Hanegraa- zeigt die Grundstruktur der Di-erenzierung anhand vieler Beispiele.&" In einem grund-

&" Ein selbständiger Band zu diesem )ema ist jüngst erschienen: Olav Hammer/Kocku von Stuckrad, Polemical Encounters. Eso-teric Discourse and Its Others, Leiden &''.

legenden Aufsatz&# skizziert er wichtige Stationen der euro-päischen Geistesgeschichte anhand dieses Paradigmas. Diese Struktur lässt sich bis zur Begründung des Monotheismus zu-rückverfolgen, wie etwa in der gesellscha*lichen Konstrukti-on des Heidentums in der Abgrenzung von Monotheismus zur Bilderverehrung bzw. zum Götzendienst bei Moses, oder in der Konstruktion von Ketzerei und Magie in der Abgrenzung des Kirchenchristentums gegen Gnostizismus und Teufelsan-betung, oder auch in der neuzeitlichen Konstruktion des Ok-kulten in der wechselseitigen Abgrenzung von Au0lärung und «Irrationalem». Der Begri- der «Esoterik» umfasst in seiner Au-assung nun im Wesentlichen diejenigen Anschauungen und Praktiken, die in diesem Prozess der Herausbildung des eu-ropäischen Establishments ausgegrenzt worden sind. So waren «viele der grundlegenden Ideen und )emen […] ursprünglich Teil des akzeptierten Diskurses der allgemeinen westlichen Kul-tur» und «wurden erst zu bestimmten Zeiten aus der Perspek-tive der etablierten Religion, Philosophie, Naturwissenscha* und akademischen Forschung als problematisch (fehlgeleitet, ketzerisch, irrational, gefährlich, böse oder schlicht lächerlich) wahrgenommen.»!'

Freilich ist die Ausgrenzung ein wechselseitiger Prozess, der – so Hanegraa-s Ergebnis – anhand einer für beide Seiten identitätsbildenden Erzählung geschieht: die «Grand Polemi-cal Narrative». Die Ausdi-erenzierung geschieht anhand von vereinfachten Erzählungen über die jeweils eigene Identität,

&# Wouter Hanegraa-, «Forbidden Knowledge. Anti-Esoteric Po-lemics and Academic Research», in: Aries &/&''%, S. &&%-&%,

!' ebenda, S. &&% (Übersetzung: Robin Schmidt)

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darüber, wer, was und wie man sein möchte (wie etwa die Er-zählung der Au0lärung über ihre vollkommene Empirie bzw. Rationalität oder die der Esoterik über eine höhere Erkennt-nis). Die akademische Forschung hat nach Hanegraa- zur Auf-gabe, diese Erzählungen in den Blick zu nehmen und sie mit der historischen Wirklichkeit zu vergleichen – ohne sich dabei selbst auf einen der beiden Standpunkte zu stellen.!$ Ein un-gemütliches Unterfangen, da gewohnte Sicherheiten und De-markationslinien wegbrechen und so in die Vielfalt historischer Komplexität eingetreten werden muss.

Hier soll nur ein strukturelles Merkmal herausgestellt werden: der Diskurs, der zur Herausdi-erenzierung der Esoterik geführt hat, erweist sich als polemisch; Esoterik und Wissenscha* sind Resultat der «großen polemischen Erzählung». Polemische Diskurse unterscheiden sich beispielsweise vom erkenntniso-rientierten idealiter dadurch, dass sie Komplexität vermeiden und nicht nur auf eine sachliche Untersuchung abzielen, son-dern auch die Person mitmeinen und diese zum Gegner stilisie-ren. Der polemische Diskurs zielt daher nicht auf Verbesserung der Ergebnisse, sondern auf Eliminierung der Wirksamkeit des Gegners, und das kann heißen: seiner Argumente, seiner ge-sellscha*lichen Akzeptanz oder sogar seiner Person. Damit ein polemischer Diskurs entstehen kann, müssen bestimmte Bedin-gungen erfüllt sein – und es lohnt sich, diese kurz in den Blick zu nehmen. Ein polemischer Diskurs kann – nach Hanegraa- – nur entstehen, wenn folgende Bedingungen vorliegen:!&

!$ Freilich wird auch darauf re/ektiert, dass hierbei selbst eine Er-zählung konstruiert wird und man somit Teil des Prozesses ist.

!& Das Folgende frei n. Hanegraa-, «Forbidden Knowledge …», a.a.O.

$. Unsicherheit und Bedrohung. Die beiden Seiten müssen von der jeweils anderen Seite verunsichert oder bedroht sein, oder sich zumindest verunsichert oder bedroht fühlen. In Zeiten gefühlter Sicherheit und Zufriedenheit besteht kein Anlass, sich in polemische Auseinandersetzungen zu verwickeln.

&. Die Quelle der Unsicherheit oder Bedrohung ist weder voll-ständig transparent, noch direkt zugänglich oder adressierbar. Es bedarf also di-user Verallgemeinerungen, die nicht kon-kret einem anwesenden oder benannten Gegenüber gelten.

!. Trotz Di-usion braucht es ein Ziel für die Polemik: es muss einen realen oder imaginierten Feind zum Angreifen geben. Da dieser aber (Punkt &) di-us ist, muss er zuerst zurecht-konstruiert werden. Der imaginäre Gegner muss mit feind-lichen Attributen ausgestattet werden.

,. Jeder polemische Diskurs benötigt ein Publikum – wenn niemand der Auseinandersetzung ein Ohr leiht, bleibt es bei einsamen, rasch abklingenden Monologen.

%. Die Polemik bedarf einfacher und leicht verständlicher Op-positionen. Die anzugreifenden Eigenscha*en müssen sim-pel und auf einen Nenner zu bringen sein. – Komplexe Ar-gumentationen mit viel Raum zum Nuancieren der Urteile verhindern e-ektive Polemik.

Um sich vorzustellen, was das konkret bedeuten kann, mag man diese Punkte für sich einmal durchspielen, beispielswei-se anhand eines +ktiven Anthroposophen im Blick auf «die» Wissenscha* oder eines Akademikers im Blick auf «die» An-throposophie.

Dabei spielt es für den polemischen Diskurs keine Rolle, ob die Feindbilder real oder +ktiv sind, wichtig ist, dass der Feind

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zumindest in der Phantasie der Argumentierenden und des Pu-blikums real erscheint. Es treten so zwei simpli+zierte imaginäre Figuren auf den Plan. Und schon durch die Tatsache, dass der Feind als «falsch» oder «böse» beschrieben wird, erscheint der aktuelle Redner für das Publikum als «wahr» oder «gut» – so Hanegraa-.

«Die E-ektivität eines polemischen Diskurses nimmt zu, je besser es ihm gelingt, die Teilnehmer so zu verwirren, dass sie die Kategorien ihrer Vorstellungen (über den anderen) für Be-schreibungen der Wirklichkeit halten.»!! Es genügt also, wenn die Diskutanten und die Zuhörer glauben, was sie hören. Jeder Versuch einer di-erenzierenden Urteilsbildung wirkt hier stö-rend – denn er unterbindet den Erfolg der Polemik, der sich gesellscha*lich dadurch abbildet, dass er Anhänger und Gegner produziert, die sich jeweils auf der Seite der Wahrheit, Vernun*, Moralität oder Sicherheit wissen.

Nun dienen polemische Diskurse ja nicht dem Erkenntnis-fortschritt, sondern der sozialen Ausgrenzung. Erkenntnisge-sinnung stellt die Frage: «Wie ist es?» – und zielt nicht in ers-ter Linie darauf ab, recht zu haben oder zu zeigen, dass jemand anderes recht oder unrecht hat. Eine Behauptung wie «Esoterik ist irrational» dient also nicht der Abbildung eines Tatbestan-des, auch wenn sie als solche getarnt und mit vielen Zitaten unterlegt würde, sondern der Ausgrenzung aus dem Bereich «Wissenscha*». Umgekehrt kann dasselbe Argument «Wis-senscha* ist irrational» lauten – und damit z. B. die Risiken von Technologien meinen.

!! ebenda, S. &&"

Polemische Diskurse konstruieren ihr Gegenüber durch eine Ausgrenzung von «Wahrheit» gegenüber «Irrtum», durch die Ausgrenzung des einzig «Vernün*igen» gegen das «Irra-tionale», des «Gesunden» gegen das «Kranke», des «Schö-nen» gegen das «Hässliche». Eine weitere Steigerung ist, «das Andere» als das Unmoralische, ja «das Böse» zu identi+zie-ren und dagegen die eigene unbe/eckte Moralität in Stellung zu bringen. Die letzte Steigerung stellt die Stigmatisierung des Anderen als «gesellscha*liche Gefahr» dar, die gegen eine umfassende soziale Sicherheit ausgespielt wird, begleitet vom Handlungsappell an höhere Instanzen.

Die soziale Ausgrenzung geschieht dann auch jeweils ver-schieden, je nach dem ob der Feind «unwahr», «böse» oder gar «gefährlich» ist. Das Irrationale beispielsweise wird vor-nehmlich lächerlich gemacht, das «Ungesunde» eher mora-lisiert, die Konstruktion des «Gefährlichen» zielt auf Verbot. In Anlehnung an Hanegraa-, aber in eigener Weiterführung, sollen diese Muster der rhetorischen Konstruktion des «Ande-ren» und die Mittel seiner sozialen Ausgrenzung zusammenge-stellt werden (siehe Tabelle Seite .').

Das Problem des polemischen Diskurses ist, dass er auf Ver-mischung der Wirklichkeit mit den Bildern von Wirklichkeit abzielt – und darin nicht selten «erfolgreich» ist: das heißt, politische oder ethische Realität entstehen lassen kann. Die Geschichte ist voll davon und reicht von der Ketzerverfolgung bis zur Konstruktion einer «Achse des Bösen». Freilich darf die Wirklichkeit nicht mit den rhetorischen Wendungen ver-wechselt werden, die sie beschreiben. Und das heißt auch, dass es durchaus reale Gefahren gibt, die in den Blick genommen

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werden müssen und entsprechende Konsequenzen fordern. Für die Urteilsbildung muss aber im Vorfeld gefragt werden, wie der Kontakt zur Wirklichkeit hergestellt werden kann. Im Setting polemischer Diskurse ist es wohl am Sinnvollsten, die Bedin-gungen zur Entstehung der Polemik (s. o.) selbst auszuhebeln. Man kann versuchen, die vorhandenen Unsicherheiten zu klä-ren. Man kann unmittelbaren, wahrnehmlichen Kontakt zum «Feind» herstellen, um zu sehen, wie die Welt mit seinen Au-gen aussieht; man kann anstreben, einen Raum für die Komple-xität des Sachverhalts zu scha-en. Oder man kann versuchen, die zugrunde liegende Haltung bewusst zu machen, indem man etwa die andere Wange hinhält.

Ein interessanter Punkt, den Wouter Hanegraa- selbst for-

Konstruktion des «Anderen»

(rhetorische) Mittel zur sozialen Ausgrenzung

«Wahrheit» vs. «Irrtum» lächerlich machen

vernün*ig vs. irrational lächerlich machen

schön, edel vs. häßlich moralisieren

gesund vs. krank moralisieren

moralisch, «gut» vs. un moralisch, «böse»

verbieten

Sicherheit vs. Gefahr verbieten

Tabelle: Konstruktion von Alterität und Strategien der Exklusion

muliert, liegt darin, dass die Erforschung der Geschichte der Esoterik aufgrund der referierten Methoden dazu führt, dass die Wissenscha* sich selbst hinterfragen muss – sie stößt auf die in ihrer historischen Identitätsbildung abgestrei*en Schlacken, sie tri8 in der Esoterik auf ihr eigenes Gegenbild, an dessen Entstehung sie (durch Ausgrenzung) selbst Anteil hat. Sie gerät an die Grenze ihrer eigenen Identitätsbildung und bedingt den Einstieg in eine komplexe Welt:

«Wir neigen nicht nur deshalb dazu, an der großen pole-mischen Erzählung festzuhalten, weil wir daran gewöhnt sind (so sehr, dass wir häu+g noch nicht einmal ihre Anwesenheit be-merken), sondern auch, weil wir fühlen, dass wir ohne sie verloren wären: die Erzählung verhindert, dass wir die volle Komplexität unserer eigenen Kultur erkennen. Einfachheit ist psychologisch selbstvergewissernd, während Komplexität schwer handzuha-ben ist und das Verschwinden der traditionellen Abgrenzungs-linien uns zunächst in einen Zustand der Orientierungslosigkeit versetzt. […] Wenn wir es scha-en, aus dieser großen polemischen Erzählung heraus zu treten, sieht nichts mehr so aus wie vorher und der Boden schwindet unter unseren Füßen […].»!,

!, Wouter Hanegraa-, «Forbidden Knowledge …», a.a.O., S. &%' (Übersetzung: Robin Schmidt). Original: «[…] we tend to ad-here to the Grand Polemical Narrative not only because we are used to it (so that we seldom even perceive its presence) but also because we feel we would be lost without it: the narrative protects us from perceiving the full complexity of our own culture. Simpli-city is psychologically reassuring, while complexity is hard to deal with; and the disappearance of traditional lines of demarcations will leave us in the state of disorientation. […] if we can manage to step out of the Grand Polemical Narrative, nothing will look the same, the ground will vanish under our feet […].»

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.& .!

Historisch gesehen wird daran deutlich, das Esoterik kein atavistisches Relikt der Geschichte ist, sondern die andere Seite der europäischen Identität. Sie ist Teil davon, gehört zur Viel-falt ihrer Erscheinungen und ist insofern ganz normal. Sie mag in den Mustern der eigenen Erinnerung oder den identitäts-bildenden Erzählungen des gerade dominierenden Establish-ments als abnormal stigmatisiert sein, doch gerade dies gehört zu den Mustern ihrer Rezeption und den Bedingungen ihrer Entstehung.

Wenn man dies re/ektiert und sich aneignet, ist man vor eine Entscheidung gestellt: Entweder die bisherige Geschichte fort-zuschreiben, indem man die alte Identität von Anthroposophie und Wissenscha* durch eine gegenseitige polemische Abgren-zung aufrecht erhält. Oder man unternimmt den Versuch, ein anderes Paradigma an diese Stelle zu setzen. Das ist nicht ein-fach, und es impliziert das Ende sowohl eines alten Wissen-scha*sverständnisses als auch das eines alten Verständnisses von Esoterik. Im Grunde gibt es hier nur die Flucht nach vorn und das heißt: Engagement in positive Setzungen.

.. Das Problem und seine Perspektiven

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Die drei Beispiele lassen Anthroposophie auf verschiedenen Ebenen als Teil eines größeren Zusammenhangs erscheinen. Das erste Beispiel kann veranschaulichen, dass bestimmte Ideen Teil der internationalen theosophischen Kultur um $#'' waren und insofern nichts Außergewöhnliches darin liegt, wenn sie auch in

der deutschen Sektion der )eosophischen Gesellscha* disku-tiert oder angestrebt wurden oder Rudolf Steiner in Bezug auf dieses Umfeld konzise Stellung bezieht. Anthroposophie wird in ihrer Entstehungszeit und ihrem näheren Entstehungsmilieu gekennzeichnet, an dem Rudolf Steiner intensiv mitwirkte, er repräsentierte bis $#$& ja auch die )eosophie. Wie er das tat und was dann das Charakteristische der Anthroposophie im Unterschied zur )eosophie ist, das zu bestimmen, ist die damit gestellte Forschungsaufgabe.

Das zweite Beispiel stellt dieselbe Frage in Bezug auf einen weiteren Kreis: das Spezi+sche der Anthroposophie im Umfeld der europäischen Esoterik. Wenn fast alle Merkmale zur Be-stimmung von Esoterik im Allgemeinen auch auf die Anthro-posophie zutre-en, worin liegt dann ihr Spezi+sches?

Das dritte Beispiel stellt diese Frage auf der Ebene der euro-päischen Geistesgeschichte: Wie steht Anthroposophie in der europäischen Geistesgeschichte und wie stellt sie sich in den historisch gebildeten Hiatus gegenüber Wissenscha*, Religion und Politik?

In allen drei Beispielen stellt akademische Esoterikforschung zunächst einmal die Identität der Anthroposophie in Frage, in-dem sie sie einordnet; ihr Allgemeines, nicht ihr Individuelles tritt in den Blick. Esoterikforschung wirkt dabei zunächst ne-gativ, da sie möglicherweise etwas im eigenen Verhältnis zur Anthroposophie, das man für individuell und einzigartig ge-halten hat, dieser Einmaligkeit entkleidet. Sie macht u. U. sicht-bar, dass man es mit etwas Allgemeinem, Kollektivem, Zeit-gebundenem oder gar einer ehemaligen Modeerscheinung zu tun hat. Es kann einem auch gehen wie nach einem längeren

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Familienbesuch: Eigenscha*en, die man an sich selbst höchst individuell fand, entdeckt man an seinen Vorfahren und ist er-nüchtert. Aber gerade das kann die Frage anstoßen, wer man selbst ist, wenn man alles in Abzug bringt, was man auf diese Weise sehen kann. Da mag zunächst wirklich «nichts mehr wie vorher aussehen und der Boden unter den Füßen schwinden» wie Hanegraa- formuliert, und Gebärden der Haltsuche kön-nen sich verstärken, beispielsweise in noch he*igerer Polemik, weil man keine andere Identität kennt, als diejenige, die in der Abgrenzung gegen anderes oder in der Unterordnung zu +nden ist.

Anders formuliert heißt das aber, dass Esoterikforschung zunächst gar nicht die positive Identität von Anthroposophie ins Auge fasst, und – so könnte man schlussfolgern – auch gar nichts zum Verständnis des Wesens der Anthroposophie beitra-gen kann. Das stimmt ebenso wie die Tatsache, dass die Aufzäh-lung und Nennung der Eigenscha*en einer Person wie Alter, Ausbildung, Geschlecht, Nationalität, Beruf usw. nichts über das Wesen eines Menschen aussagt. Wie viel solche Aussagen jedoch zum Verständnis von einem Menschen beitragen kön-nen, hängt gar nicht vom Inhalt der Aufzählung ab, sondern davon, wie dieser Mensch sich mit seinen Verhältnissen iden-ti+ziert hat und zugleich mit welcher Subtilität es gelingt, ins Auge zu fassen, wie jemand in diesen Verhältnissen steht, wie er beispielsweise seinen Beruf ausübt. Man mag sich dann aus er-kenntnistheoretischen oder methodischen Gründen eines Ur-teils über das Wesen dieses Menschen enthalten, aber dennoch zu seinem Verständnis beitragen. Aus einer erweiterten Perspek-tive kann man dann fragen, wie unwesentlich die Zeitverhält-

nisse der Entstehungszeit der Anthroposophie denn wirklich sind – auch aus geisteswissenscha*licher Perspektive können die Zeitverhältnisse und historischen Bedingtheiten nicht nur als Ballast oder bloße Außenseite verstanden werden, sondern durchaus als zum Wesen gehörig: lebte denn nicht nach Rudolf Steiners eigenen Aussagen in der theosophischen Bewegung ein Geist, an den er sich anschließen wollte; lebte nicht in bestimm-ten Erscheinungen seiner Zeit der zukun*weisende Zeitgeist? Hier kann jedes Detail der Geschichte interessant werden, und hier ist auch der Ort, an dem akademische Esoterikforschung und esoterische Geschichtsforschung sich die Hand reichen könnten: entsprechend dem methodischen Ansatz, wie ihn Ru-dolf Steiner in seiner Schri* Von Seelenrätseln entworfen hat: wie ein Bildnegativ und ein Bildpositiv zwei Seiten derselben Sache zeigen.!%

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Der Versuch einer positiven Bestimmung der Anthroposophie durchzieht das Werk Rudolf Steiners. Freilich +ndet sich auch eine scharfe rhetorische Abgrenzung gegen vieles Andere. Nach dem Ersten Weltkrieg traten zunehmend Anthroposophen in der Ö-entlichkeit auf, die sich auf Rudolf Steiner bezogen, im selben wachsenden Maße auch Kritiker und Gegner der An-throposophie. Es war ein entscheidender Moment in der Ge-schichte der Anthroposophie, als die Kritik und Polemik gegen die Anthroposophie nicht mehr nur auf dem Papier blieb, son-dern handgrei/ich wurde. Zuerst vielleicht in den von der rech-

!% Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln, GA &$ ($#"!), S. $$-. Vergleich mit der Fotoplatte, S. !!

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ten Szene angestellten Saalschlachten bei Vorträgen Steiners, am extremsten in der Brandsti*ung, die das erste Goetheanum Sylvester $#&& zerstörte. Das musste Konsequenzen haben und – wohl in Anerkennung der Realität der Machtverhältnisse – in Selbstkritik und Selbstveränderung transformiert werden. Ru-dolf Steiner zweifelte bekanntlich eine Zeit lang, ob die Wei-terführung einer anthroposophischen Bewegung überhaupt möglich sein werde, wenngleich die anthroposophische Arbeit ununterbrochen weiter geführt wurde. Seine Antwort auf die-sen Prozess war die Neugründung der Anthroposophischen Gesellscha* und der Freien Hochschule für Geisteswissenscha* Ende $#&!.

Im Blick auf die Frage nach der neuen Identitätsbildung fällt auf, dass Rudolf Steiner drei Elemente aus der neuen Gesell-scha* ausschalten wollte: Dogmatismus, Sektiererei und Po-litik. Dogmatismus kennzeichnet sich dadurch, dass die Ant-wort vor der Frage da ist und nicht die Auseinandersetzung mit dem )ema interessiert, sondern der andere, der noch nicht zur Wahrheit gefunden hat und folglich überzeugt oder be-kämp* werden muss. Dann Sektiererei: die Gruppenbildung, die sich durch Ausgrenzung bestimmter Gattungsmerkmale, Meinungen, Dogmen bestimmt und für sich beansprucht, unbe/eckte Leitkultur der Zukun* zu sein. Schließlich sollte Politik keine Aufgabe der Gesellscha* sein, was bedeutet hät-te, die Interessen einer Gruppe durch verschiedene Mittel der Macht gesellscha*lich zu etablieren. Dogmatismus, Sektiererei und Politik (in diesem Sinne) sind aber die sozialen Resultate des Geistes der Polemik, wie sie oben gekennzeichnet wurde: Dogmatismus konstruiert ein Eigenes gegen ein Feindbild,

schart eine Gruppe von Zustimmern hinter sich und spielt sie gegen die Anderen aus, und versucht schließlich durch Mittel der Macht eine soziale Ausgrenzung der Anderen herbeizufüh-ren. In der Neugründung der Anthroposophischen Gesellscha* sollte also ein Raum gescha-en werden, der ohne den Geist der Polemik Identität zu bilden vermag.

Die positive Bestimmung der Identität der Anthroposo-phischen Gesellscha* bestand in einer Aufgabe: die Bedin-gungen einer inneren Kultur zu scha-en, die durch die «Freie Hochschule für Geisteswissenscha*» ermöglicht werden soll (P/ege des seelischen Lebens durch Geisterkenntnis, §$ der Sta-tuten). Steiner nennt als Voraussetzung für eine Mitarbeit in der Freien Hochschule drei Bedingungen – man könnte sie die Lebensbedingungen dieser Hochschule nennen: die Bildung eines eigenen Verhältnisses zum Geist (Meditation), den Wil-len zur Zusammenarbeit und den Willen zur eigenständigen Hervorbringung und Vertretung (Repräsentanz) der Anthro-posophie.

Für heute kann die Situation ähnlich gesehen werden, wenn auch verschär*. Nach einer Phase der Institutionalisierung und gesellscha*lichen Normalisierung in den letzten !' Jahren ist jetzt mit zunehmendem zeitlichen Abstand und einer zuneh-menden Betrachtung als historisches Sujet die Existenzfrage im Kern noch ganz anders gestellt: ob Anthroposophie eine interessante kulturgeschichtliche Episode des beginnenden &'. Jahrhunderts gewesen sein wird, oder ob dort erstmals etwas formuliert und versucht wurde, dessen Zukun* noch bevor-steht?

Ob das so ist, kann die Geschichte selbst nicht beantworten.

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Die historischen Fakten schweigen darüber. Wie aber lässt sich entscheiden, was an einem historischen Komplex zukun*wei-send, was zeitgebunden ist, was fortschrittlich, was rückwärts-gewandt ist? Die Entscheidung darüber liegt im Beobachter, im Historiker, im Rezipienten. Historik kann von Bindungen an die Geschichte durch Bilder von der Geschichte lösen. Damit stellt sie den Betrachter aber zugleich auf sich selbst. Und sie stellt die Frage nach einer Zukun*, indem sie ein Urteil darüber verlangt, was von dem Betrachteten zur Vergangenheit gehört, was zur Gegenwart und was seine Zukun* noch vor sich hat. Ohne ein vorausgehendes, o* verborgen wirkendes Urteil dar-über wird erst gar nichts von der Vergangenheit sichtbar. Die Geschichte selbst liegt sozusagen o-en in der Welt; die Quellen selbst schweigen, wenn sie nicht durch eigene Entscheidungen gelesen werden. Geschichte vermag aus Bindungen an die Ver-gangenheit zu lösen, versetzt in die Einsamkeit der historischen Komplexität und fordert zu neuen Setzungen für die Gegen-wart auf.

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Insofern ist die Vergangenheit und die Zukun* der Anthropo-sophie eine Entscheidungsfrage in der Gegenwart, nicht eine Frage von («an sich» gar nicht vorhandenen) Fakten. Was zu-kün*ig und was vergangen ist, erscheint so als eine Frage von Werten, als Frage ethischer Setzungen, als Frage danach, wel-chem Geist ich dienen will. Und so fordert auch jede histo-rische Betrachtung zu einer Unterscheidung der Geister heraus. Im Fall der historischen Untersuchung von Anthroposophie fordert sie eine immer neue Entscheidung was Anthroposophie

ihrem Wesen nach ist, und was lediglich ihr zeitliches Beiwerk. Das historisch für immer und für eine Gemeinscha* festzule-gen, hieße, Anthroposophie zum Dogma zu machen und sie damit auf eine Vergangenheit festzulegen. Kurz gesagt: Was Anthroposophie war, ist und was sie sein kann, steht gar nicht fest, sondern ist immer neu eine Forschungsfrage. Diese Frage einmalig für immer zu beantworten hieße scheitern, ebenso wie sie unbeantwortet zu lassen. Forschung heißt – meines Erach-tens – sich diesem Paradox zu stellen.

Für heute scheint jedenfalls Tatsache zu sein, dass das Werk Rudolf Steiners und seine Geschichte zunehmend mit akade-mischen Methoden bearbeitet wird. Zu ho-en ist hier, dass Anthroposophen diese Debatte mit prägen und Methoden entwickelt werden, die dem Werk Steiners gerecht werden. So sehe ich es als eine erste Aufgabe, einen anthroposophischen Beitrag zu einer Steiner-Philologie im besten Sinne des Wortes zu leisten. Da sind substanzielle Anfänge gemacht; die Lösung der Aufgabe, das sozial zusammenzufassen, um einen Diskurs-raum zu bilden, um Geleistetes zu integrieren, zu kritisieren und fortschreiben zu können, steht noch aus.

Eine zweite Aufgabe liegt meines Erachtens in der Ausarbei-tung eines anthroposophischen Wissenscha*sverständnisses selbst. Hier liegen einerseits eine Fülle methodischer Ausarbei-tungen vor; andererseits +nden sich vor allem Ergebnisse von einzelnen Anthroposophen, die wissenscha*lich gearbeitet ha-ben. Das sind zwar beides Voraussetzungen für Wissenscha*, doch scheint mir hier noch kaum absehbar, wie Forschung unter der Bedingung von beispielsweise Meditation und Zu-sammenarbeit aussehen kann. Oder die unbequemen, aber un-

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ausweichlichen Fragen zu beantworten, welche Paradigmen für anthroposophische Forschung gelten, falls es denn welche gibt, welche «Teilnahmevoraussetzungen» anthroposophische Wis-senscha* hat, welche Art der Gültigkeit ihre Erkenntnisse be-anspruchen können, inwiefern sie vom Erforscher unabhängig sind. Und dies nicht nur für Rudolf Steiner, sondern auch für uns heute.

Und das führt in meinen Augen zur dritten Aufgabe: die Zu-kun* der Anthroposophie selbst. Denn es liegt an uns, ob heute etwas geschieht, das unsere Gegenwart überhaupt in Zukun* noch interessant erscheinen lassen wird. Also: gibt es heute eine lebendige Anthroposophie? Wie ist sie möglich? Was zeichnet sie eigentlich aus? Wie charakterisiert sich ihre Esoterik, als der lebendige Kern ihres Wirkens? Und damit ist man mitten in den Fragen, die in dem Maße zunehmend einer Antwort be-dürfen, als die Historisierung fortschreitet. Es zeigt sich, dass die Beantwortung dieser Fragen schwieriger, interessanter und komplexer wird, aber auch vermutlich tre-ender, tragender und stärkender für die Zukun* der Anthroposophie, wenn die historische Perspektive in deren Beantwortung integriert wird. In erster Linie bedarf die Antwort aber natürlich einer esote-rischen Praxis, die in eine aktuelle Beziehung zu den Wesen führt, die Anthroposophie ausmachen. – Strukturell bedeutet das in meinen Augen, wie die Freie Hochschule für Geisteswis-senscha* heute reales Leben hervorbringt.

Die soziale Bedingung dafür scheint mir zu sein, dass die Frage nach der lebendigen Anthroposophie nicht zu einer allgemein-gültigen Antwort führt. Es ist zu erwarten, dass dieser Diskurs zu individuellen Entscheidungen führt, sich individuell dem

Wesen Anthroposophie zuzuwenden. Ich ho-e, dass das nicht zu sozialen Spaltungen führt, sondern zu einem Entdecken und einem Staunen darüber, wie andersartig der Geist im so ganz Anderen wirkt. Und dass dieses Entdecken und Staunen die Grundlage einer Gesellscha* bilden kann, deren Mitglieder sich für Werke interessieren, die so aus dem Ich geboren sind. – Strukturell bedeutet das in meinen Augen, ob die Anthropo-sophische Gesellscha* ihre Aufgabe wahrnimmt.