Anwendungen und Anwendungen – Chancen für den Unterricht in Stochastik Manfred Borovcnik,...

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„Anwendungen“ und Anwendungen – Chancen für den Unterricht in Stochastik Manfred Borovcnik, Klagenfurt Im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde die „Now itzki-Aufgabe“ in „unlösbarer“ Form gestellt . D as hat zu einem erheblichen Aufruhr und einer erbitterten D iskussion um das Zentralabitur geführt . Natürlich ist es m ehr als peinlich, w enn solch ein Fehler unterläuft. W eder die Aufgabenstellung an sich noch die folgende D iskussion haben sich aber daran gestoßen, dass die gewählte Modellierung die anstehenden Fragen – auch wenn die fehlenden Angaben ergänzt w erden – kaum sinnvollbeantw orten lässt .Natürlich w ollen w irdie Lernenden nichtüberfordern,w ie in einer geäußerten Kritik festgehalten w ird: „Wenn die Modellierung feststeht, wird die Aufgabe innerhalb des Modells weiter bearbeitet.D.h. es w ird angenom m en,dass das M odellstim m t. Es ist nicht die Aufgabe des Abiturienten,die Angem essenheitderM odellierung zu hinterfragen. Solche Fragen aber im Unterricht auszuklam m ern bedeutet, Anw endungen auf „Anw endungen“ zu reduzieren und sich w esentlicher Chancen eines Unterrichts in Stochastik zu begeben.

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„Anwendungen“ und Anwendungen – Chancen für den Unterricht in Stochastik Manfred Borovcnik, KlagenfurtIm deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde die „Nowitzki-Aufgabe“ in „unlösbarer“ Form gestellt. Das hat zu einem erheblichen Aufruhr und einer erbitterten Diskussion um das Zentralabitur geführt. Natürlich ist es mehr als peinlich, wenn solch ein Fehler unterläuft. Weder die Aufgabenstellung an sich noch die folgende Diskussion haben sich aber daran gestoßen, dass die gewählte Modellierung die anstehenden Fragen – auch wenn die fehlenden Angaben ergänzt werden – kaum sinnvoll beantworten lässt. Natürlich wollen wir die Lernenden nicht überfordern, wie in einer geäußerten Kritik festgehalten wird: „Wenn die Modellierung feststeht, wird die Aufgabe innerhalb des Modells weiter bearbeitet. D.h. es wird angenommen, dass das Modell stimmt. Es ist nicht die Aufgabe des Abiturienten, die Angemessenheit der Modellierung zu hinterfragen.“ Solche Fragen aber im Unterricht auszuklammern bedeutet, Anwendungen auf „Anwendungen“ zu reduzieren und sich wesentlicher Chancen eines Unterrichts in Stochastik zu begeben.

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Vorausblick

Die vorgestellte Aufgabe war Teil des zentralen Abiturs in Nordrhein-Westfalen Vorgestellt wird eine Kritik des Statistikers Davis. Diese Kritik wird einer Kritik unterzogen.

Vorausblick

Die Kritik von Davis hält einer Kritik nicht stand. Es ist schwierig, zentral Aufgaben zu stellen Mehr als Basiskompetenzen wird man nicht abfragen können Die Textgestaltung ufert zu einer juristischen Aufgabe aus

Das hat wohl zur Folge: Gerade die interessanten Modellierungsaspekte, das Hinterfragen, warum und ob die Ergebnisse denn auch relevant sein könnten, müssen ausgeklammert werden. Übrig bleibt schematisches „Anwenden“ statistischer Methoden, die mit Basiskompetenzen gelöst werden.

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Eine zentral gestellte Abituraufgabe, die Staub aufgewirbelt hat

Der deutsche Basketball-Profi Dirk Nowitzki spielt in der amerikanischen Profiliga NBA beim Club Dallas Mavericks. In der Saison 2006/2007 erzielte er bei Freiwürfen eine Trefferquote von 90,4%. a) Berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass er

(1) genau 8 Treffer bei 10 Versuchen erzielt, (2) höchstens 8 Treffer bei 10 Versuchen erzielt, (3) höchstens viermal nacheinander bei Freiversuchen erfolgreich ist.

b) Bei Heimspielen hatte er eine Freiwurfbilanz von 267 Treffern bei 288 Versuchen, bei

Auswärtsspielen lag die Quote bei 231:263. Ein Sportreporter berichtet, dass Nowitzki auswärts eine deutlich schwächere Freiwurfquote habe. Untersuchen Sie auf einem Signifikanzniveau von 5%, ob die Trefferanzahl bei Auswärtsspielen

(1) signifikant unter dem Erwartungswert für Heim- und Auswärtsspiele liegt (2) signifikant unter dem Erwartungswert für Heimspiele liegt.

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Wiedergabe der Kritik von Davis = ich

Worum es geht

Wirft man eine 1-€-Münze, beträgt die Wahrscheinlichkeit für einen Zahlwurf 1/2. Würfelt man mit einem normalen Würfel, beträgt … für eine bestimmte Augenzahl 1/6. Beim Lotto beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Zahl gezogen wird 1/49. Diese Wahrscheinlichkeiten werden durch Symmetrieüberlegungen ermittelt. …, wo es keine Symmetrieargumente gibt, z.B. die Erfolgswahrscheinlichkeit bei Freiwürfen im Basketball, greift man auf empirische Ergebnisse zurück und die Wahrscheinlichkeit wird geschätzt. Krankenhaus A … 514 Geburten, … 253 Mädchen ... Mädchenquote .. 0,492. Krankenhaus B registriert 358 Geburten mit einer Mädchenquote von 0,45. Krankenhaus C hat eine Mädchenquote von 0,508.

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Modellierung 1

Diese drei Zahlen können nicht alle die Wahrscheinlichkeit für ein Mädchen sein, sonst hinge diese Wahrscheinlichkeit vom Krankenhaus ab. Will man ein Mädchen, dann Krankenhaus C, will man einen Jungen, dann Krankenhaus B. In der mathematischen Statistik unterscheidet man zwischen einer wahren Wahrscheinlichkeit und einer geschätzten Wahrscheinlichkeit. Diese begriffliche Unterscheidung ist von grundlegender Bedeutung und unerlässlich. In der Abituraufgabe werden die beiden Begriffe vermischt: Manchmal ist die Quote die wahre Wahrscheinlichkeit, manchmal ist sie ein Schätzwert. Somit ist die Aufgabe schlecht gestellt und die Lösung des Ministeriums falsch.

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Modellierung 2

Bei der Aufgabe handelt es sich um eine Anwendung der Binomialverteilung; mit dieser modelliert man Vorgänge

bei denen eine feste Anzahl n von Versuchen durchgeführt wird, bei jedem Versuch gibt es nur zwei Möglichkeiten (Erfolg, Misserfolg)

Es wird davon ausgegangen, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit p für alle Versuche dieselbe ist, und dass sich die einzelnen Versuche nicht gegenseitig beeinflussen.

Ergebnisse der einzelnen Versuche werden durch Zufallsgrößen X1, …, Xn bezeichnet:

Xi = 1 bzw. Xi = 0 falls der i-te Versuch ein Erfolg bzw. ein Misserfolg ist. Bei einer Textaufgabe muss die Modellierung entweder angegeben werden, oder sie muss aus der Beschreibung der Situation eindeutig hervorgehen. Wenn die Modellierung feststeht, wird die Aufgabe innerhalb des Modells weiter bearbeitet. D.h. es wird angenommen, dass das Modell stimmt. Es ist nicht die Aufgabe des Abiturienten, die Angemessenheit der Modellierung zu hinterfragen.

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Modellierung 3

Bei der Binomialverteilung ist die Anzahl n von Versuchen bekannt. Bei der Erfolgswahrscheinlichkeit p gibt es zwei Möglichkeiten:

p ist bekannt, oder p ist nicht bekannt und man will p aus der Versuchsreihe schätzen.

In der letzteren Situation muss klar zwischen dem wahren Wert p und einem Schätzwert np̂ unterschieden werden.

Bei der Binomialverteilung ist der Schätzwert immer das arithmetische Mittel

Xn = (X1+ . . .+Xn)/n der Versuchsreihe. Die klare Unterscheidung zwischen einem wahren Parameterwert und einem Schätzwert hierfür ist fundamental: die ganze schließende Statistik basiert darauf.

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p bekannt

Wenn die Anzahl n von Versuchen und die Erfolgswahrscheinlichkeit p bekannt sind, kann man mit Hilfe der Binomialverteilung Aussagen über die Anzahl der erfolgreichen Versuche in der Versuchsreihe treffen. Eine Münze wird fünfmal geworfen … höchstens drei ”Zahl“-Würfe ... Hier ist n = 5 und p = 1/2.

Mit Hilfe der Binomialverteilung ergibt sich… 0.8125. …, genau drei ”Zahl“-Würfe zu bekommen: 0.3125.

Bei einer normalen Münze scheint 1/2 aus Symmetriegründen plausibel, denn es gibt im Normalfall keinen Grund, die eine oder die andere Seite der Münze vorzuziehen. Ähnliches gilt für einen Würfel oder für die Ziehung der Lottozahlen. Um ganz eindeutig zu sein, … ”fairen“ oder ”unverfälschten“ Münze sprechen.

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p bekannt 2

Die Wahrscheinlichkeit p ist hier durch Symmetrieüberlegungen bestimmt. In den meisten Anwendungsfällen ist aber eine Symmetrie nicht vorhanden und

die Wahrscheinlichkeit p muss anders ermittelt werden. Ein Beispiel ist das Geschlecht eines neugeborenen Kindes. Man kann schreiben

”Aus langjähriger Erfahrung … Wahrscheinlichkeit, ein Mädchen ..., 0,418 …“ ”Die Wahrscheinlichkeit, ein Mädchen zu bekommen, beträgt 0,418“ ”bei einem gefälschten Würfel … für die Augenzahl Sechs 0.183“.

Es ist nicht Aufgabe des Abiturenten, nachzufragen, wie die Werte 0,418 oder 0,183 ermittelt wurden, er hat sie lediglich bei den weiteren Berechnungen einzusetzen. Auf die Frage, wie solche Werte ermittelt werden, gehen wir später ein, weil dies für die Bearbeitung der Abituraufgabe relevant ist. Auf jeden Fall gibt es bei bekanntem p eine klare Sprachregelung, die einzuhalten ist, …

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p unbekannt

Bei Geburten stellt man anhand der Daten ziemlich schnell fest, dass es mehr Jungen als Mädchen gibt. Will man die Wahrscheinlichkeit für eine Mädchengeburt bestimmen, so muss man so viele unverfälschte Daten wie möglich, die über Zeit und Raum homogen sind, bekommen, und daraus die relative Häufigkeit von Mädchengeburten bestimmen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass wir die Daten für eine Millionen Geburten haben, wovon 418.345 Mädchen …. Man könnte nun p durch die Zahl 0,418345 schätzen aber man weiß, dass dies nicht der ”wahre“ Wert von p ist: Würde man eine faire Münze mit p = 1/2 eine Millionen Mal werfen, dann wäre man sehr überrascht, wenn es genau 500.000 Zahlwürfe gäbe.

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p unbekannt 2

In der Statistik gibt man deswegen ein sogenanntes Konfidenzintervall von plausiblen Werten für p an. Die Bestimmung eines Konfidenzintervalls in dieser Situation ist Bestandteil des Leistungskurses in der Mathematik. Für die oben angegeben Daten erhalten wir als 95%–Konfidenzintervall für p

[0.41738, 0.41931]. Wenn man berücksichtigt, dass wir eine Million Daten haben, ist es vielleicht überraschend, dass wir sowohl 0.4174 als auch 0.4193 als plausible Werte für p halten. Stehen uns nur 1000 Daten zur Verfügung, von denen 418 Mädchen sind, so bekommt man als Konfidenzintervall

[0.3874, 0.4486]. Hier ist die Unsicherheit über den wahren p–Wert ziemlich groß.

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Teil a) der Aufgabe

Der deutsche Basketball-Profi Dirk Nowitzki spielt in der amerikanischen Profiliga NBA bei… . In der Saison 2006/2007 erzielte er bei Freiwürfen eine Trefferquote von 90,4%. a) Berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass er

(1) genau 8 Treffer bei 10 Versuchen erzielt, (2) höchstens 8 Treffer bei 10 Versuchen erzielt, (3) höchstens viermal nacheinander bei Freiversuchen erfolgreich ist.

Zuerst ist es aus der Formulierung der Aufgabe klar, dass der Wert 90,4% aus den Daten der Saison 2006/2007 empirisch festgestellt wurde. Interpretiert man 90,4% als eine Wahrscheinlichkeit von 0,904, so handelt es sich eindeutig um einen Schätzwert und nicht um die wahre unbekannte Wahrscheinlichkeit p. … wird die Quote 0,904 vom Ministerium als die wahre Wahrscheinlichkeit betrachtet: ”Die Zufallsvariable X für die Anzahl der Treffer bei 10 Versuchen ist B10; 0,904–verteilt“. Später in Teil b) der Aufgabe wird eine solche Quote als Schätzwert betrachtet. Es liegt also eine Begriffsverwirrung vor, weil nicht unterschieden wird zwischen der wahren Wahrscheinlichkeit p und einem Schätzwert X n für diese Wahrscheinlichkeit.

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a) Teile (1) und (2)

Wenn der Stichprobenumfang, auf dem der Schätzwert basiert, hinreichend groß ist, ist die Differenz klein, und gerade diese Tatsache rechtfertigt Formulierungen wie ”aufgrund langjähriger Erfahrung weiß man, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit 0,9 beträgt“. Eine solche Formulierung wurde nicht gewählt, im Gegenteil, der Hinweis auf die Saison 2006/2007 verdeutlicht, dass der Stichprobenumfang eher klein war. In Teil b) der Aufgabe werden genaue Angaben über die Daten gemacht. Danach erzielte Nowitzki 498 Treffer bei 551 Versuchen. Berechnet man hierfür ein 95%–Konfidenzintervall für die wahre Wahrscheinlichkeit p, so bekommt man

[0.8792, 0.9284]. Damit ist die einzig plausible Lösung zu (1) die Behauptung, dass die gesuchte Wahrscheinlichkeit zwischen 0.2345 (p = 0.8792) und 0.1273 (p = 0.9284) liegt.

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a) Teil (3)

Teilaufgabe (3) lässt mehrere Interpretationen zu. Ich analysiere drei. Da wir hierfür einen Wert für die ”wahre “ Wahrscheinlichkeit brauchen, werde ich trotz der oben angegebenen Kritik den Wert 0,904 einsetzen. .. Presse … behauptet, … die Anzahl der Versuche fehlt, um die Aufgabe lösen zu können. Da aber die Anzahl 10 in (1) und (2) angegeben wird, liegt es nahe, auch 10 in (3) anzunehmen.

Nimmt man an, dass 10 Versuche durchgeführt wurden … n = 5 ist Beim Training folgendes „Spiel“ zwischen zwei Spielern

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Erste Interpretation in (3)

Nimmt man an, dass 10 Versuche durchgeführt wurden, ist die Aufgabe nun wohl gestellt, aber .. Berechnung der Lösung ist äußerst langwierig:

Von den 210

= 1024 möglichen Versuchsreihen muss man die Anzahl … bestimmen, in denen die Eins höchstens viermal nacheinander vorkommt. … zuerst die Gesamtanzahl k von Erfolgen festlegt. Bei k = 10 und k = 9 …, dass es keine Möglichkeit gibt, die Einsen so zu platzieren, dass sie höchstens viermal nacheinander vorkommen. Bei k = 8 gibt es 15 Möglichkeiten, die hier aufgelistet sind:

(0111101111) (1011101111) (1011110111) (1101101111) (1101110111) (1101111011) (1110101111) (1110110111) (1110111011) (1110111101) (1111001111) (1111010111) (1111011011) (1111011101) (1111011110)

Nun kann man das Ganze wiederholen mit k = 7 usw. Es ist klar, .. Schwierigkeitsgrad und … Zeitaufwand .. nicht angemessen sind.

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Zweite Interpretation in (3)

Wir nehmen nun an, dass die Anzahl der Versuche n = 5 ist. Das einzige, das für diese Interpretation spricht, ist, dass die Lösung mit der Lösung des Ministeriums übereinstimmt. Zu der Lösung schreibt das Ministerium

”Man betrachtet das Gegenereignis, dass er fünf Treffer hintereinander schafft...“. Das Gegenereignis von ”höchstens vier“ ist nicht ”fünf“, sondern ”mindestens fünf“.

Es ist nur dann fünf, wenn er genau fünfmal wirft. Dies … steht aber nirgends in der Aufgabe und es gibt keinen Grund, dies anzunehmen. Wenn er nur fünfmal wirft, dann ist die Lösung des Ministeriums

1 − 0, 9045 = 1 − 0, 6037 = 0, 3963

sowie die Begründung korrekt. In allen anderen Fällen ist die Begründung falsch.

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Dritte Interpretation in (3)

…stellen wir uns vor, dass beim Training folgendes Spiel zwischen zwei Spielern …: Einer fängt an (.. durch .. Münzwurf) und macht Freiwürfe bis zum ersten Fehlwurf. Der zweite Spieler ist nun an der Reihe … bis zum ersten Fehlwurf u.s.w. Nowitzki spielt dieses Spiel gegen einen Teamkameraden und fängt an. Man bestimme …, dass er bei seinem ersten Versuch höchstens viermal erfolgreich war.

Die möglichen Versuchsfolgen sind

0 10 110 1110 11110 mit Wahrscheinlichkeiten

0,096 0,904096 0,9042 0,096 0,9043· 0,096 0,9044

0,096 Man rechnet nun aus, dass die gewünschte Wahrscheinlichkeit

1−0,9045 = 0, 3963 beträgt.

Man stellt fest, dass auch diese Lösung mit der Lösung des Ministeriums übereinstimmt. Die Begründung ist aber eine ganz andere. Die Interpretation ist die einzige, bei der die Anzahl der Würfe nicht von vornherein festgelegt ist. Ein sehr guter Schüler ….

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Teil b) der Aufgabe

Bei Heimspielen hatte er eine Freiwurfbilanz von 267 Treffern bei 288 Versuchen, bei Auswärtsspielen lag die Quote bei 231:263. .. Sportreporter .., .. Dirk Nowitzki auswärts .. deutlich schwächere Freiwurfquote ... Untersuchen Sie auf einem Signifikanzniveau von 5%, ob die Trefferanzahl bei Auswärtsspielen (1) signifikant unter dem Erwartungswert für Heim- und Auswärtsspiele liegt (2) signifikant unter dem Erwartungswert für Heimspiele liegt. .. (1)… wird der Begriff ”Erwartungswert“ erwähnt. Führt man n Versuche durch mit einer konstanten Erfolgswahrscheinlichkeit p, so gilt für den Erwartungswert der Trefferanzahl Tn = X1 + . . . +Xn :

E(Tn) = n p. Dabei ist p der wahre unbekannte Wert für die Wahrscheinlichkeit.

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Ein Tippfehler: Trefferzahl statt Trefferquote

Aus der Aufgabe … zwischen Heim- und Auswärtsspielen unterscheiden müssen. Erfolgswahrscheinlichkeit für Heimspiele mit pH für Auswärtsspiele mit pA. Dann ist der Erwartungswert der Trefferanzahl

für Heimspiele E(TH nH) = nHpH

für Auswärtsspiele E(TA nA) = nA pA. Nun, die wahren Werte pH und pA kennen wir nicht. Das Ministerium ersetzt sie einfach durch die Schätzwerte XH nH und XA nA: …

“Es sei X B263; 0,904–verteilt“ woraus die Verwechslung eines Schätzwertes mit dem wahren Parameterwert sichtbar ist. Damit ist der ”Erwartungswert“ für Heim- und Auswärtsspiele nun nichts anders als

TH nH + TA nA Die Trefferanzahl bei Auswärtsspielen ist TA nA und wir müssen nun testen, ob TA nA signifikant kleiner ist als TH nH + TA nA. Dies ist nun ja immer der Fall, … Setzt man die Daten ein, müssen wir testen, ob 231 < 267 + 231, was ja stimmt. …vermutlich ein Tippfehler vor: … nicht die ”Trefferanzahl“, sondern … Trefferquote.

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Jetzt mit der Trefferquote

Die Trefferquote für Heimspiele bzw. Auswärtsspiele ist X H nH bzw. X A nA

mit Erwartungswerten E(X H nH) = pH E(X A nA) = pA.

Der Erwartungswert der Trefferquote für Heim- und Auswärtsspiele beträgt

(nH pH + nA pA)/(nH + nA) und wir sollen nun anhand der Daten testen, ob

pA < (nH pH + nA pA)/(nH + nA). Da aber die wahren pH und pA nicht bekannt sind, hat das Ministerium sie in dem Ausdruck

(nH pH +nA pA)/(nH +nA) einfach durch XH nH und X A nA ersetzt und tat so, als ob sie die wahren Werte sind (s.o.). Gleichzeitig wird aber in der Lösung des Ministeriums

X A nA als Schätzwert für pA behandelt. Mit anderen Worten, X A nA wird manchmal als der wahre Wert betrachtet und manchmal als ein Schätzer hierfür und noch dazu im selben Satz. Die Begriffsverwirrung ist komplett.

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Die Lösung des Ministeriums ist unsinnig und falsch

Die Unterscheidung von Schätzwerten und wahren Werten ist von grundlegender Bedeutung in der Statistik: Die ganze Schätz- und Testtheorie d.h. die ganze schließende Statistik basiert darauf. Ein Schüler, der richtig gelernt hat, diese Begriffe zu trennen, kann diese Aufgabe nicht lösen. Die Versuche, die Wahrscheinlichkeitstheorie und die Statistik als Teilgebiete der Mathematik an der Schule zu etablieren, etwa dadurch, dass die Stochastik inzwischen Pflichtbereich für Lehramtskandidaten des Faches Mathematik ist, werden durch solche fehlerhafte Aufgabenstellungen konterkariert.

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Fazit der Kritik an der vorgestellten Kritik

Die vorgestellte Aufgabe war Teil des zentralen Abiturs in Nordrhein-Westfalen. Vorgestellt wurde eine Kritik des Statistikers Davis. Im Vortrag wurde auch diese Kritik einer Kritik unterworfen: Näheres dazu ist beim Autor zu erfragen: [email protected] Weder Davis noch andere vehemente Kritiker haben etwa die Voraussetzungen der Binomialverteilung als geeignetes Modell für den Sportler Nowitzki in Frage gestellt. Die angeblich fehlende Angabe der Anzahl der Freiwürfe war der Angelpunkt. Dabei kann man die Aufgabe, wenn man etwas von Statistik versteht, ohne weiteres ohne diese Angabe lösen. Ja, man sollte die Aufgabe ohne diese Angabe lösen.

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Voraussetzungen der Binomialverteilung:

Der Versuch hat zwei Ergebnisse: 0 – „Misserfolg“; 1 – „ Erfolg“

i) Bei jeder Durchführung hat man dieselbe Erfolgswahrscheinlichkeit ii) Die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs beim i-ten Versuch ist

unabhängig von den vorherigen Ergebnissen Wer auch nur ein bisschen Ahnung von Sport hat, wird diese Voraussetzungen weit von sich weisen: Die Erfolgswahrscheinlichkeit

ist während einer Saison starken Schwankungen unterworfen; Heim- und Auswärtsspiele sind nur ein weiterer Faktor

ist stark vom Verlauf des Spielgeschehens abhängig – und natürlich auch von den vorherigen Ergebnissen. Man spricht von einem „Lauf“, oder auch von einer „Pechserie“

Damit wird die Aufgabe zu einer entarteten „Anwendung“: Wir setzen apodiktisch fest, dass die Voraussetzungen zu gelten haben. Wir rechnen dann einfach damit.

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Lösung von a) Teilaufgabe (3), wenn die Voraussetzungen “gesetzt” werden

Wenn man sich auf diesen Standpunkt stellt, dass die Voraussetzungen gegeben und nicht zu hinterfragen sind, dann zerfällt allerdings die von Davis so angriffig vorgetragene Kritik an der Lösung des Ministeriums: Wenn sich die Bedingungen IMMER gleich darstellen – Statistiker sprechen von iid-Bedingungen (unabhängige, identisch verteilte Situationen), dann ist es völlig egal, wann man mit dem Datensammeln beginnt Wieder: im Sport ist das wahrlich nicht, aber wir wollen vorderhand das nicht noch einmal hinterfragen. Wenn es egal ist, dann gehen wir einfach hin zu einem Spiel und warten dann auf die nächsten Freiwürfe von Nowitzki. Wir wollen sehen, ob Nowitzki

nicht mehr als viermal hintereinander trifft – Ereignis A oder ob er mehr als viermal hintereinander trifft – Ereignis A

Klar: 5)( pAP und 51)( pAP

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Wenn man die Zahl der beobachteten Freiwürfe vorgibt, verändert sich die Lösung!

Wenn man auf die Idee verfällt, dass man die Zahl der Versuche beschränkt, so ändert sich natürlich die Wahrscheinlichkeit:

Bei 5, 10, 15 usw. Versuchen erhält man dieselbe Lösung. Bei einer anderen Zahl von Versuchen eine andere!

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Zur Verwirrung von festen und bekannten Modellwerten und Schätzwerten, die ungenau sind, in Aufgabe b)

Auch die Kritik von Aufgabe b) von Davis kann man völlig erschüttern. Details sollen hier nicht mehr erläutert werden, nur eines: Die Wahrscheinlichkeit, einen Freiwurf zu realisieren, gültig für die ganze Saison,

kann natürlich nach der Saison als bekannt angesehen werden. Und nicht, wie Davis es tut, als Schätzwert – einer fiktiven längeren

Serie – einstufen. Die Frage in b) kann man dann so umformulieren: Wenn man diese Wahrscheinlichkeit kennt, ist es möglich, die Auswärtsspiele als

unabhängige Wiederholung desselben Bernoulli-Experiments mit eben dieser Wahrscheinlichkeit

zu modellieren?

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Fazit der Kritik an der vorgestellten Kritik

Aus dieser Kritik an der Kritik von Davis geht hervor: Es ist schwierig, zentral Aufgaben zu stellen Die Kritik hält einer Kritik fast weniger Stand als die kritisierte Aufgabe

selbst Viel schlimmer ist die Konsequenz auf die Zukunft von zentralen Aufgaben

Mehr als Basiskompetenzen wird man nicht abfragen können Die Textgestaltung ufert zu einer juristischen Aufgabe aus Eine zentrale Hypothese von Davis: Die Modellierung muss wasserdicht

in Text gefasst sein und darf / kann vom Abiturienten keinesfalls hinterfragt werden.

Und die möglichen Konsequenzen auf den Unterricht:

Gerade die interessanten Modellierungsaspekte, das Hinterfragen, warum und ob Ergebnisse relevant sein könnten, müssen ausgeklammert werden.

Übrig bleibt schematisches „Anwenden“ statistischer Methoden, die mit Basiskompetenzen gelöst werden.

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Teilzentral anstatt zentral organisierte Matura

Sollte eine Matura in Österreich keine „lokalen“ Anteile enthalten, so kann man vorhersehen, dass der Unterricht sich auf die Vermittlung von Basiskompetenzen konzentrieren wird. Vorschlag: Teilzentrierte Matura

Zentral gestellte Aufgaben: Zur Überprüfungen gemeinsamer Sprache und Basiskompetenzen

Lokal gestellte Aufgaben: Zum sinnvollen Anwenden und Hinterfragen von Ergebnissen.