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taz. weltmusik 30 SONNABEND/SONNTAG, 7./8. MAI 2011 DIE VERLAGSSEITEN DER TAGESZEITUNG | WWW.TAZ.DE | [email protected] | FON 030 25 90 23 14 | FAX 030 25 10 694 Impressum Redaktion: Daniel Bax | Anzeigen: Kaspar Zucker ANZEIGE ANZEIGE Mit der Gitarre auf der Terrasse des Elternhauses it ihren Brillen, adret- ten Studentenhem- den und Schieber- mützen erinnern die drei Jungs von SMOD ein wenig an das alternative US-HipHop- Trio De la Soul. Und auch ihre freundlich-naive Cover-Ästhetik wirkt, mit bonbonbunten Farben und Motiven irgendwo zwischen Tribal-Tattoos und Kinderzeich- nungen, wie eine Hommage an die „Native Tongues“-Bewegung der Neunzigerjahre, die sich mit Wortwitz, Jazz-Samples, College- Themen und einem freundli- chen Image von gängigen Gangs- tarap- und Ghettoklisches des US-HipHop distanzierte. Doch die drei Schulfreunde Sam, Ousky und Donsky alias SMOD sind „Native Tongues“ aus Mali und tief in den heimischen Traditionen der Mandingo-Gri- ots und der lokalen Blues-Folklo- re verwurzelt. Eine Gitarre und ihre Stimmen, bestenfalls ein paar Beatbox-Effekte mehr brauchen sie nicht für ihre melo- diösen Akustik-Songs. Wie gut, dass eines Tages Ma- nu Chao in Bamako vorbeischau- te. Mit ihm entstand auf der M Dachterrasse von Sams Eltern ein gemeinsames Album, das über weite Strecken mehr nach Afro-Folk klingt, als dass es sich in die Schablonen des HipHop fügt. Das eine oder andere Motiv dürfte allen, die Manu Chao ken- nen, allerdings bekannt vorkom- men: seine suggestiv-monoto- nen Instrumental-Loops und sein eingängiger Gitarren-Groo- ve prägen auch die Songs von SMOD. Das Trio hält die Balance zwischen sozialkritischem An- spruch und reiner Spaß-Attitü- de. Im Stück „Les Dirigeants Afri- cains“ kritisieren sie Afrikas po- litische Elite für die verbreitete Ungerechtigkeit, die Perspektiv- losigkeit der Jugend und die Kor- ruption der besitzenden Klasse. Und in „Fitri Waleya“ verkünden sie selbstbewusst: „HipHop weist uns den Weg. Der HipHop in Mali wächst mit jedem Tag.“ SMOD geben beim Afrika Festival in Würzburg ihr Deutschland-Debüt Smod aus Bamako machen afrikanischen FolkHop. Beim letzten Album sprang ihnen Manu Chao bei gründete er vor fünf Jahren das DJ-Kollektiv La Chusma, mit dem sie regelmäßige Latin-Partys be- schallten. Jüngst gründeten sie eine eigene Plattenfirma, mit der sie nun auch ein Album von Sys- tema Solar vertreiben. Für das Münchner Trikont-La- bel hat Thorsson jetzt den Samp- ler „Afritanga“ zusammenge- stellt, der zum Streifzug durch die diversen Regionen dieses südafrikanischen Riesenstaats einlädt, der an die Karibik und den Pazifik grenzt und sich bis zum Amazonasbecken erstreckt. Cumbia, Son und Salsa, aber auch lokale Genres wie Vallenato, Porro oder Champeta vermen- gen sich dabei mit HipHop, House und Techno, Reggaeton oder psychedelischem Funkrock zur unwiderstehlichen Ge- räuschkulisse. Dazwischen ge- ben sich auf „Afritanga“ aber auch altgediente Veteranen der kolumbianischen Folklore wie Alfonso Córdoba die Ehre. Der Cumbia-Kult treibt jedoch längst in ganz Lateinamerika Blüten. Im Norden des Konti- nents schnipseln mexikanische Produzenten wie Toy Selectah aus Monterrey mal Texmex, mal HipHop mit Polizeisirenen und Industrial-Beats unter mutierte Cumbia-Rhythmen, die mit der gleichnamigen Volksmusik nur noch wenig zu tun haben. Ganz im Süden hat sich eine Spielart namens Cumbia Digital heraus- gebildet: die Rhythmen der ko- lumbianischen Folklore bilden Monsterboxen und Mutationen LATIN BASS Kolumbiens musikalischer Exportschlager, die Cumbia, wird gerade durch den Fleischwolf gedreht und als urbaner Dancefloor-Stil neu erfunden VON ZONYA DENGI olumbien wird in wirt- schaftlicher und politi- scher Hinsicht bis heute von weißen Eliten be- herrscht. In der Musik dagegen sind die afrikanischen Einflüsse unüberhörbar: etwa in der Cum- bia, die auf Rhythmen aus der Sklavenzeit gründet, die durch indigene Einflüsse und europäi- sche Instrumente wie Gitarre und Akkordeon angereichert wurden. Sie ist der größte musi- kalische Exportschlager Kolum- biens und erlebt gerade ihren zweiten oder dritten Frühling. Eine junge Generation von Beatbastlern, DJs und Band-Kol- lektiven ist in den letzten Jahren mit Erfolg dabei, das Genre aus seiner ursprünglichen Umge- bung der Dorffeste und Armen- viertel herauszulösen, mit mo- derner Elektronik durch den Fleischwolf zu drehen und in den Pop-Circuit einzuspeisen. Bands wie Systema Solar, Choc Quip Town und La 33 verbinden die Cumbia mit urbanen Lyrics und Sounds zum tropischen Barrio- Underground. Mit Witz und Iro- nie sprechen sie dabei auch The- men wie die Kluft zwischen Arm und Reich, den Machismo, Ar- mut und Gewalt an. Die „Pico“ ist die kolumbiani- sche Variante der Sound Systems jamaikanischer Art: mobile und bunt bemalte Boxentürme, die Partyzentrale, Treffpunkt und Nachbarschaftsradio zugleich sind. Die siebenköpfige Band Systema Solar von der kolumbia- nischen Karibikküste beamt die Pico-Kultur ins digitale Zeitalter. Mit spacigen Astronautenanzü- gen und visuellen Effekten wer- fen sie bei ihren Auftritten alle Vorstellungen von „authenti- scher Latino-Kultur“ über den Haufen. In ihrem Hit „Ya Verás“ gleitet eine melodische Old- School-Cumbia elegant in einen Raggamuffin-Part über, im pum- penden Track „Bienvenidos“ ver- künden sie eine sarkastische Willkommensbotschaft: Du be- kommst kein Visum für ein an- deres Land, keine Bank gibt dir noch Kredit, du bist pleite? Dann bleib doch hier in Kolumbien! Gerne in Kolumbien ist auch der Wahlberliner Steen Thors- son. Zusammen mit seinem Kumpel Lukasz Tomaszewski K nur noch das Gerüst für pulsie- rende Elektro-Tracks, die sich ir- gendwo zwischen Baile Funk, Ita- lo-Disco und anderen Dance- floor-Stilen einreihen. Das Gravitationszentrum die- ser Bewegung bildet das argenti- nische Underground-Label ZZK Records mit Sitz in Buenos Aires. Zu dessen Galionsfiguren zählen die Frikstailers: zwei DJs und Pro- duzenten, die sich hinter neon- farbenen, grellbunten Perücken, überdimensionierten Brillen und wechselnden Pseudonymen verstecken und ihre Cumbia-Col- lagen mit tropischem Techno, hypnotischem Minimal Dub, Mi- ckymaus-Stimmen und hekti- schen Videoclip-Effekten aufmi- schen. Ob man das Ergebnis nun Cumbia Electrónico, Tecno Cum- bia oder Nu Cumbia nennt, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass diese Bewegung inzwi- schen, über Internet und digita- les File-Sharing, längst auch in die USA und bis nach Europa und Australien ausstrahlt. Systema Solar (Chusma Records). Compilations: Cumbia Bestial (Chusma Records). Afritanga: The Sound of Afrokolombia (Trikont) ORCHESTRE POLYRHYTHMO DE COTONOU: COTONOU CLUB Revival des Voodoo-Funk Lange Zeit war das Orchestre Polyrhythmo de Cotonou ei- nes der bestge- hüteten Ge- heimnisse Westafrikas. Doch findigen Rare- Groove-Sammlern wie Samy Ben Redjeb, der in Frankfurt am Main das Raritäten-Label „Analog Africa“ betreibt, ist es zu verdanken, dass es heute wieder entdeckt wird. Er hat verschollene Aufnahmen der legen- dären Band wieder veröffentlicht und ihr damit ein Comeback be- schert. Dreißig Jahre nachdem sich das Or- chestre Polyrhythmo de Cotonou aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte, traf sie sich wieder im Studio, um neue Stücke und Versionen alter Hits aufzunehmen – darunter „Gbe- ti Madjro“, das jetzt Benins Disco- Star Angelique Kidjo singt, oder „Li- on is Burning“, bei denen ihnen Mu- siker der britischen Band Franz Fer- dinand zur Seite standen. So kann man nun den Sound wieder entdecken, für den das Orchester berühmt war: psychedelischer Funk, hypnotische Gitarrengrooves und Rhythmen, die aus der traditionel- len Trance-Musik ihres Landes schöpfen, sowie ekstatische Schreie, die James Brown vor Neid hätten erblassen lassen. Damit lie- fen sie in ihrer Region eine Weile lang sogar Fela Kuti den Rang ab. (Strut Records/K7) THE JOLLY BOYS: GREAT EXPECTATION Zu alt für die Rehab Die Hafenstadt Port Antonio auf Jamaika war einst Bana- nenhauptstadt der Welt, weil hier so viele Schiffe mit Südfrüchten ablegten. Im berühmten Geejam Hotel, in dem einst auch Hollywoodstars wie Errol Flynn residierten, spielen seit den fünfziger Jahren die Jolly Boys auf – bis heute zum Teil noch in Ori- ginalbesetzung. Die Jolly Boys sind die dienstälteste Mento-Band der Insel und eine Insti- tution. Mento war die erste Musik- mode auf Jamaika und Vorläufer von Rocksteady, Ska und Reggae, berühmt auch für beißende Gesell- schaftskritik wie für explizit-offen- herzige und anzügliche Texte. So gesehen, war Mento der Punk- rock seiner Zeit, weil er herrschende Tabus rüde über den Haufen warf. Das brachte ein paar Produzenten auf die Idee, die Jolly Boys mal ein paar Punkrock-Klassiker der Stoo- ges, der Stranglers oder von The Clash und Pophits wie „Rehab“ von Amy Winehouse neu einspielen zu lassen. Aus dem Munde der rüsti- gen Rentner klingt vor allem „Re- hab“ wie ein guter Witz. Die jamai- kanischen Lebenskünstler haben einfach schon so viele Aufs und Abs erlebt, dass sie auch dieses unver- hoffte Comeback jetzt mit viel Hu- mor nehmen. (PIAS/Rough Trade) Size matters! Systema Solar von der Karibikküste haben da gut lachen Foto: Chusma Yo! Sam, Ousky und Donsky Foto: PR

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taz.weltmusik30

SONNABEND/SONNTAG, 7./8. MAI 2011

DIE VERLAGSSEITEN DER TAGESZEITUNG | WWW.TAZ.DE | [email protected] | FON 030 25 90 23 14 | FAX 030 25 10 694Impressum Redaktion: Daniel Bax | Anzeigen: Kaspar Zucker

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Mit der Gitarre auf derTerrasse des Elternhauses

it ihren Brillen, adret-ten Studentenhem-den und Schieber-mützen erinnern die

drei Jungs von SMOD ein wenigan das alternative US-HipHop-Trio De la Soul. Und auch ihrefreundlich-naive Cover-Ästhetikwirkt, mit bonbonbunten Farbenund Motiven irgendwo zwischenTribal-Tattoos und Kinderzeich-nungen, wie eine Hommage andie „Native Tongues“-Bewegungder Neunzigerjahre, die sich mitWortwitz, Jazz-Samples, College-Themen und einem freundli-chen Image von gängigen Gangs-tarap- und Ghettoklisches desUS-HipHop distanzierte.

Doch die drei SchulfreundeSam, Ousky und Donsky aliasSMOD sind „Native Tongues“ ausMali und tief in den heimischenTraditionen der Mandingo-Gri-ots und der lokalen Blues-Folklo-re verwurzelt. Eine Gitarre undihre Stimmen, bestenfalls einpaar Beatbox-Effekte – mehrbrauchen sie nicht für ihre melo-diösen Akustik-Songs.

Wie gut, dass eines Tages Ma-nu Chao in Bamako vorbeischau-te. Mit ihm entstand auf der

MDachterrasse von Sams Elternein gemeinsames Album, dasüber weite Strecken mehr nachAfro-Folk klingt, als dass es sichin die Schablonen des HipHopfügt. Das eine oder andere Motivdürfte allen, die Manu Chao ken-nen, allerdings bekannt vorkom-men: seine suggestiv-monoto-nen Instrumental-Loops undsein eingängiger Gitarren-Groo-ve prägen auch die Songs vonSMOD. Das Trio hält die Balancezwischen sozialkritischem An-spruch und reiner Spaß-Attitü-de. Im Stück „Les Dirigeants Afri-cains“ kritisieren sie Afrikas po-litische Elite für die verbreiteteUngerechtigkeit, die Perspektiv-losigkeit der Jugend und die Kor-ruption der besitzenden Klasse.Und in „Fitri Waleya“ verkündensie selbstbewusst: „HipHop weistuns den Weg. Der HipHop in Maliwächst mit jedem Tag.“

■ SMOD geben beim Afrika Festivalin Würzburg ihr Deutschland-Debüt

Smod aus Bamakomachen afrikanischenFolkHop. Beim letztenAlbum sprang ihnenManu Chao bei

gründete er vor fünf Jahren dasDJ-Kollektiv La Chusma, mit demsie regelmäßige Latin-Partys be-schallten. Jüngst gründeten sieeine eigene Plattenfirma, mit dersie nun auch ein Album von Sys-tema Solar vertreiben.

Für das Münchner Trikont-La-bel hat Thorsson jetzt den Samp-ler „Afritanga“ zusammenge-stellt, der zum Streifzug durchdie diversen Regionen diesessüdafrikanischen Riesenstaatseinlädt, der an die Karibik undden Pazifik grenzt und sich biszum Amazonasbecken erstreckt.Cumbia, Son und Salsa, aberauch lokale Genres wie Vallenato,Porro oder Champeta vermen-gen sich dabei mit HipHop,House und Techno, Reggaetonoder psychedelischem Funkrockzur unwiderstehlichen Ge-räuschkulisse. Dazwischen ge-ben sich auf „Afritanga“ aberauch altgediente Veteranen derkolumbianischen Folklore wieAlfonso Córdoba die Ehre.

Der Cumbia-Kult treibt jedochlängst in ganz LateinamerikaBlüten. Im Norden des Konti-nents schnipseln mexikanischeProduzenten wie Toy Selectahaus Monterrey mal Texmex, mal

HipHop mit Polizeisirenen undIndustrial-Beats unter mutierteCumbia-Rhythmen, die mit dergleichnamigen Volksmusik nurnoch wenig zu tun haben. Ganzim Süden hat sich eine Spielartnamens Cumbia Digital heraus-gebildet: die Rhythmen der ko-lumbianischen Folklore bilden

Monsterboxen undMutationen

LATIN BASSKolumbiensmusikalischer Exportschlager, dieCumbia,wird gerade

durch den Fleischwolf gedreht und als urbaner Dancefloor-Stil neu erfunden

VON ZONYA DENGI

olumbien wird in wirt-schaftlicher und politi-scher Hinsicht bis heutevon weißen Eliten be-

herrscht. In der Musik dagegensind die afrikanischen Einflüsseunüberhörbar: etwa in der Cum-bia, die auf Rhythmen aus derSklavenzeit gründet, die durchindigene Einflüsse und europäi-sche Instrumente wie Gitarreund Akkordeon angereichertwurden. Sie ist der größte musi-kalische Exportschlager Kolum-biens und erlebt gerade ihrenzweiten oder dritten Frühling.

Eine junge Generation vonBeatbastlern, DJs und Band-Kol-lektiven ist in den letzten Jahrenmit Erfolg dabei, das Genre ausseiner ursprünglichen Umge-bung der Dorffeste und Armen-viertel herauszulösen, mit mo-derner Elektronik durch denFleischwolf zu drehen und in denPop-Circuit einzuspeisen. Bandswie Systema Solar, Choc QuipTown und La 33 verbinden dieCumbia mit urbanen Lyrics undSounds zum tropischen Barrio-Underground. Mit Witz und Iro-nie sprechen sie dabei auch The-men wie die Kluft zwischen Armund Reich, den Machismo, Ar-mut und Gewalt an.

Die „Pico“ ist die kolumbiani-sche Variante der Sound Systemsjamaikanischer Art: mobile undbunt bemalte Boxentürme, diePartyzentrale, Treffpunkt undNachbarschaftsradio zugleichsind. Die siebenköpfige BandSystema Solar von der kolumbia-nischen Karibikküste beamt diePico-Kultur ins digitale Zeitalter.Mit spacigen Astronautenanzü-gen und visuellen Effekten wer-fen sie bei ihren Auftritten alleVorstellungen von „authenti-scher Latino-Kultur“ über denHaufen. In ihrem Hit „Ya Verás“gleitet eine melodische Old-School-Cumbia elegant in einenRaggamuffin-Part über, im pum-penden Track „Bienvenidos“ ver-künden sie eine sarkastischeWillkommensbotschaft: Du be-kommst kein Visum für ein an-deres Land, keine Bank gibt dirnoch Kredit, du bist pleite? Dannbleib doch hier in Kolumbien!

Gerne in Kolumbien ist auchder Wahlberliner Steen Thors-son. Zusammen mit seinemKumpel Lukasz Tomaszewski

K

nur noch das Gerüst für pulsie-rende Elektro-Tracks, die sich ir-gendwo zwischen Baile Funk, Ita-lo-Disco und anderen Dance-floor-Stilen einreihen.

Das Gravitationszentrum die-ser Bewegung bildet das argenti-nische Underground-Label ZZKRecords mit Sitz in Buenos Aires.Zu dessen Galionsfiguren zählendie Frikstailers: zwei DJs und Pro-duzenten, die sich hinter neon-farbenen, grellbunten Perücken,überdimensionierten Brillenund wechselnden Pseudonymenverstecken und ihre Cumbia-Col-lagen mit tropischem Techno,hypnotischem Minimal Dub, Mi-ckymaus-Stimmen und hekti-schen Videoclip-Effekten aufmi-schen. Ob man das Ergebnis nunCumbia Electrónico, Tecno Cum-bia oder Nu Cumbia nennt, istzweitrangig. Entscheidend ist,dass diese Bewegung inzwi-schen, über Internet und digita-les File-Sharing, längst auch indie USA und bis nach Europa undAustralien ausstrahlt.

■ Systema Solar (Chusma Records).Compilations: Cumbia Bestial(Chusma Records). Afritanga: TheSound of Afrokolombia (Trikont)

ORCHESTRE POLYRHYTHMO DE COTONOU: COTONOU CLUB

Revival des Voodoo-FunkLange Zeit wardas OrchestrePolyrhythmode Cotonou ei-nes der bestge-hüteten Ge-heimnisse

Westafrikas. Doch findigen Rare-Groove-Sammlern wie Samy BenRedjeb, der in Frankfurt am Maindas Raritäten-Label „Analog Africa“betreibt, ist es zu verdanken, dass esheute wieder entdeckt wird. Er hatverschollene Aufnahmen der legen-dären Band wieder veröffentlichtund ihr damit ein Comeback be-schert.Dreißig Jahre nachdem sich das Or-chestre Polyrhythmo de Cotonouaus der Öffentlichkeit verabschiedet

hatte, traf sie sich wieder im Studio,um neue Stücke und Versionen alterHits aufzunehmen – darunter „Gbe-ti Madjro“, das jetzt Benins Disco-Star Angelique Kidjo singt, oder „Li-on is Burning“, bei denen ihnen Mu-siker der britischen Band Franz Fer-dinand zur Seite standen.So kann man nun den Sound wiederentdecken, für den das Orchesterberühmt war: psychedelischer Funk,hypnotische Gitarrengrooves undRhythmen, die aus der traditionel-len Trance-Musik ihres Landesschöpfen, sowie ekstatischeSchreie, die James Brown vor Neidhätten erblassen lassen. Damit lie-fen sie in ihrer Region eine Weilelang sogar Fela Kuti den Rang ab.■ (Strut Records/K7)

THE JOLLY BOYS: GREAT EXPECTATION

Zu alt für die RehabDie HafenstadtPort Antonioauf Jamaikawar einst Bana-nenhauptstadtder Welt, weilhier so viele

Schiffe mit Südfrüchten ablegten.Im berühmten Geejam Hotel, indem einst auch Hollywoodstars wieErrol Flynn residierten, spielen seitden fünfziger Jahren die Jolly Boysauf – bis heute zum Teil noch in Ori-ginalbesetzung.Die Jolly Boys sind die dienstältesteMento-Band der Insel und eine Insti-tution. Mento war die erste Musik-mode auf Jamaika und Vorläufervon Rocksteady, Ska und Reggae,berühmt auch für beißende Gesell-

schaftskritik wie für explizit-offen-herzige und anzügliche Texte.So gesehen, war Mento der Punk-rock seiner Zeit, weil er herrschendeTabus rüde über den Haufen warf.Das brachte ein paar Produzentenauf die Idee, die Jolly Boys mal einpaar Punkrock-Klassiker der Stoo-ges, der Stranglers oder von TheClash und Pophits wie „Rehab“ vonAmy Winehouse neu einspielen zulassen. Aus dem Munde der rüsti-gen Rentner klingt vor allem „Re-hab“ wie ein guter Witz. Die jamai-kanischen Lebenskünstler habeneinfach schon so viele Aufs und Abserlebt, dass sie auch dieses unver-hoffte Comeback jetzt mit viel Hu-mor nehmen.■ (PIAS/Rough Trade)

Size matters! Systema Solar von der Karibikküste haben da gut lachen Foto: Chusma

Yo! Sam, Ousky und Donsky Foto: PR

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[email protected] SONNABEND/SONNTAG, 7./8. MAI 2011 DIE TAGESZEITUNG 31WELTMUSIK

des Kontinents – von der Elfen-beinküste bis Sierra Leone, vonAngola bis Südafrika.

Das Gegenstück dazu bildenihre Londoner DJ-Kollegen HugoMendez, Frankie Francis und TheMighty Crime Minister, die unterdem Namen „Sofrito“ bereits seitsechs Jahren an wechselnden Or-ten wilde Warehouse-Partys fei-ern. Bei „Sofrito“ wird stets einwildes Gebräu aus tropischenStilen längst vergangener Zeitenaufgetischt, von altem Calypso,Zouk und Soca aus der Karibik,Sokous aus dem Kongo undHighlife aus Ghana bis hin zu Sal-sa und Cumbia aus Kolumbien.Die Klänge von alten Tonträgernaus den 50er bis 80er Jahren wer-den dabei behutsam mit Bass-lines und Sounde-Efekten aufge-pimpt, um sie auf die Höhe derZeit zu bringen. „Tropical WorldClash“ nennen die drei Sofrito-DJs ihren Stil. Denn „Tropical“ istbeim Online-KünstlerportalMySpace zur Kennmarke gewor-

den, wann immer Clubkultur aufglobale Folklorismen trifft.

Früher galten die Beatschmie-den von London und New York,vielleicht noch Bristol oder Ber-lin, als Nabel der Dancefloor-Welt. Doch die Globalisierunghat längst auch die Tanzflächender weltweiten Clubszene ergrif-fen. Heute gelten pumpenderBaile Funk aus den Favelas vonRio, überhitze Cumbia-Mutatio-nen aus Kolumbien oder selbstgebastelten Dance-Tunes ausafrikanischen Metropolen alsletzter Schrei. Als In-Stile geltenKuduro aus Angola, der Party-sound Funana von den Kapver-den und Shangaan Electro, einPop-Bastard aus Südafrika.

Wer als Musik-Hipster etwasauf sich hält, schaut sich deshalbheute in Caracas, Lissabon oderKinhasa um. Trendsetter-Labelswie Souljazz, Soundways oderAnalog Africa aus Frankfurt gra-

ben in den entlegensten Winkelnder Welt goldene Grooves ausbesseren Tagen aus, währendsich ihre Kollegen bei SublimeFrequencies, Man Recordings inBerlin oder Outhere in Müncheneher den urbanen Ghettos derGegenwart zuwenden.

Von jener gediegenen Welt-musik, wie sie Leute wie Ry Coo-der, Paul Simon oder Peter Gabri-el einst populär machten, ist bei-des jedoch denkbar weit ent-fernt: zu vulgär, zu kommerziellund zu trashig ist es dafür. Urba-ne Genres wie „Coupé-décalé“zerstören die romantischen Illu-sion, Musik aus Afrika müsse einGegenentmodell zum anglopho-nen Pop bieten. Dafür erliegt dieClubszene immer mehr den Rei-zen archaischer Elektronik, billi-ger Soundeffekten und seltsa-mer Grooves aus dem Kongo, Ko-lumbien oder der Karibik: ein Pa-radigmenwechsel.

Das Ende derWeltmusik (wiewir sie kennen)

HYBRIDER POP Im neuen urbanen

Underground der Welt verschmelzen

globale Clubkultur und lokale Szenen

VON DANIEL BAX

usgerechnet Abidjan!Die Hauptstadt der El-fenbeinküste standkürzlich erst wieder am

Rande eines Bürgerkriegs. Dochglaubt man den Musikvideos, diesich im Internet finden, dannfließt in den Clubs der Metropoleder Schampus in Strömen, wäh-rend Jungs mit Sonnenbrillenund Basecaps sowie Mädchen inengen Jeans und knappen Topszu aufgedrehten Elektrorhyth-men die Hintern kreisen lassen.

Ein Typ namens Baborlay„Bab“ Lee hatte dort mit demTrack „Sous les Cocotiers“ („Un-ter den Kokosnüssen“) vor Jahreneinen Riesenhit. Fette, rockigeSynthie-Riffs, ein hypnotischerKirmestechno-Groove, ein ble-chern schepperndes Steeldrum-Sample und ein simpler Melo-die-Loop sorgen für gute Laune.„Coupé-décalé“ – der Name leitetsich von einem ivorischen Slang-wort für „Unfug treiben“ ab –nennt sich der Stil, der Anfangdes Jahrtausends in den Vorstäd-ten von Paris entstand und sichvon dort aus rasend schnell inganz Afrika verbreitete.

Auch das DJ-Team von Radio-clit legt gerne „Coupé-décalé“auf. Radioclit, das sind der Fran-zose Etienne Tron und derSchwede Johan Hugo, die im„Arts Club“ des Londoner Multi-kulti-Bezirks Notting Hill seit2008 eine Partyreihe namens„Club Secousse“ abhalten. Dortservieren sie ihrem Publikumein buntes Potpourri trashigerBilligelektro-Tunes aus allerWelt. Ihre Lieblingshymnen derNacht haben sie auf dem Samp-ler „The Sound of Club Secousse“vereinigt. Sie fügen sich zu ei-nem verwirrend urbanen Echo

A

Exotismus bleibt imSpiel, wenn die Roots-Elektronika-Kapelleaus dem Kongo imTechno-Bunker desBerliner Berghain auf-tritt oder der syrischeHochzeitsmusikerOmar Suleyman einerHorde Raver anheizt

„Die alte, saubere und sanfteWeltmusik wird attackiert undersetzt durch neue, unbequeme-re Sounds“, meint der SchweizerMusikwissenschaftler ThomasBurkhalter und prägte dafür dasWort von der „Weltmusik 2.0“.Aber passt der Begriff überhauptnoch? Der genaue Migrations-hintergrund ist der Musik ja oftnicht mehr anzuhören, sie istlängst das hybride Produkt einertransnationalen Kulturindustrie.Die WDR-Welle Funkhaus Euro-pa, auf dem Gebiet globaler Klän-ge in Deutschland führend, ver-zichtet deshalb inzwischen ganzauf das Schlagwort „Weltmusik“und fasst die neue Vielfalt lieberunter dem unverfänglichen Be-griff „Global Pop“ zusammen.

Natürlich ist auch jetzt nocheine gehörige Prise Exotismusim Spiel, wenn etwa die kongole-sischen Musiker der Roots-Elek-tronika-Formation Konono No 1

im Techno-Bunker des BerlinerBerghain auftreten oder der syri-sche Hochzeitsmusiker OmarSuleyman in traditioneller arabi-scher Tracht zu synthetischenDabke-Rhythmen aus der Kon-serve eine Horde Raver anheizt.

Doch das Faible westlicher DJs,Produzenten und Clubheads fürexotische Elektro-Tunes, die,nach dem Do-it-yourself-Prinzipzusammengeschraubt, in den Fa-velas, Townships und anderenWellblechsiedlungen dieser Weltwider hallen, ist mehr als nurmusikalischer Armutstouris-mus. Es ist auch eine respektvolleVerbeugung vor der Innovati-onskraft, der Kreativität unddem musikalischen Genie derPeripherie.

■ Radioclit: The Sound of Club Se-cousse Vol I (Crammed Discs / Indi-go); Sofrito: Tropical Discotheque(Strut/!K7)

Parodie statt Klischee: Miss Bolivia stammt aus Buenos Aires und ist die Dancehall-Queen der „Cumbia Digital“ Foto: Chusma

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MONO & NIKITAMAN: UNTER FREUNDEN

Helden der Tanzflächen-ArbeitDas Cover erin-nert an sozialis-tische Propa-ganda-Male-rei: Nur, dass inder Mitte nichtdie Konterfeis

von Marx und Lenin prangen, son-dern die Porträts von Mono und Ni-kitaman. Ironisch setzen sich Mono& Nikitaman damit selbst ein Denk-mal als Helden der Tanzflächen-Ar-beit. Unter diesem Pseudonym ma-chen Monika Jaksch und Nick Tilstraals Dancehall-Duo machen seit sie-ben Jahren die Tanzflächen unsi-cher. Ihr heller Gesang und sein rau-es Timbre gehen dabei so gut zu-sammen wie ihre politischen undmusikalischen Überzeugungen, die

sich nicht zuletzt in ihren pointiertenTexten ausdrücken.Das Thema „Freundschaft“ ziehtsich wie ein roter Faden durch dasneue Album, auf dem Gleichgesinn-te wie die Dancehall-Queen Ce’Cileaus Jamaika, die deutschen Reg-gae-Pflanze Gentleman oder Gam-bias Reggaestar Rebellion „The Re-caller“ eine prominente Rolle spie-len. Und vom eigenen Studio biszum Merchandising machen Mono& Nikitaman alles selbst oder über-lassen es guten Freunden. Technikund Produktion liegen in ihrerHand, der Mehrwert kommt der Ge-sellschaft zugute: Diese Arbeitsethikhätte den Urvätern des Kommunis-mus auch sicher gut gefallen.■ (Rootdown)

17 HIPPIES: PHANTOM SONGS

Flüchtige Großstadt-ChansonsDie 17 Hippiessind ein Phan-tom. Sie sindein unüber-schaubaresKollektiv, ausdem als Ge-

sicht allein ihre Sängerin Kiki Sauerhervorsticht. Als eine der erfolg-reichsten Bands aus deutschen Lan-den sind sie im Ausland oft bekann-ter als zu Hause, und auch ihr musi-kalisches Profil ist schwer greifbar,lassen sie sich doch von Einflüssenaus aller Welt inspirieren.Doch im Laufe der Zeit hat ihr „Ber-lin-Style“ immer stärkere Konturenangenommen, ihr großes Arsenalan ausgefallenen Instrumenten wieKora, Baglama und Ukulele fügt sich

immer besser in ein sorgsam arran-giertes Songwriting.Das Flüchtige, Geheimnisvolle undSchemenhafte zieht sich auch durchihre neuen „Phantom Songs“. Dochgelingt es ihnen dabei stets, präziseStimmungen zu erzeugen. Die oftmysteriösen oder fremdsprachli-chen Texte ihrer Großstadt-Chan-sons drehen sich um urbane Ein-samkeit, Tagträume und Fantasie.Der Produzent von Calexico, JD Fos-ter, hat ein Übriges dafür getan, die-sen Sound in klare Bahnen zu len-ken. Das Ergebnis klingt, als hätte esElement of Crime mit Django Rein-hardt in einen Western-Saloon inder Wüste von Arizona verschlagen.Berlin, Texas.■ (Hipster Records)

Wegen ans Ziel ihrer Träume zugelangen, wartet dort alles ande-re als das Paradies auf sie. Davonkünden die afrikanischen Stra-ßenhändler, die fast überall inEuropa auf den Straßen und Plät-zen, auf Märkten und an denStränden gefälschte Uhren, Fake-Designerware und anderen billi-gen Modetand feilbieten. Sie le-ben von der Hand in den Mund,werden von der Polizei drangsa-liert oder gejagt, während mansich in der Heimat oft völlig fal-sche Vorstellungen von ihremLeben in Europa macht.

Von all diesen Dingen han-deln die Songs auf diesem Samp-ler – vom schweren Los auf derStraße, den alltäglichen Schwie-rigkeiten und dem Abdriften indie Kleinkriminalität („Lidl“ vomGrime-MC Afrika Boy aus Lon-

don), von Ausgrenzung und Dis-kriminierung („Green Passport“vom nigerianischen Rapper Mo-denine), vom Heiratstourismus(„Green Card“ von Wanlov theKubolor aus Ghana) oder von Ma-terialismus und moralischer Ori-entierungslosigkeit („MoneyTalk“ vom nigerianischen Rap-per Rapturous). Während derfranzösische Slam-Rapper Rou-da in „Paris Canaille“ den Rassis-mus in Europa geißelt, der vonbestimmten Politikern geschürtwird, weisen CAPSI Revolutionaus dem Senegal in „Immigra-tion Clandestine“ auf die fatalenAuswirkungen hin, die der Brain-Drain auf die Herkunftsländerhat, die dadurch ausgerechnetihre aktivsten und mobilsten Tei-le ihrer Gesellschaften verlierenund damit ihre Zukunft aufsSpiel setzen.

Musikalisch werden auf „Yeswe can“ alle möglichen Spielar-ten des HipHop gestreift, vonbrummenden Elektro-Tunes,dublastigem Reggae-Hop, hekti-schen Breakbeats, französi-schem Chanson-Rap, nöligemSprechgesang bis hin zu klassi-schen Conscious-Tracks. Dazwi-schen finde sich Ausflüge in denaktuellen Londoner Club-Under-ground sowie zu den hüpfendenParty-Beats westafrikanischerModetänze wie „Coupé decalè“von der Elfenbeinküste, Funanavon den Kapverden oder Sokous-Pop aus dem Kongo.

Senegals HipHop-SuperstarsDaara J etwa haben für die Com-pilation eigens einen neuen,wuchtig wummernden und kühlschimmernden Track verfasst.Der Titel „Unite 75“ bezieht sich

auf den Preis, den ein Telefon-gespräch nach Europa in Westaf-rika kostet – im Senegal sind das75 Centimes pro Einheit. Er han-delt von den Schwierigkeiten vie-ler Migranten, in Europa über dieRunden zu kommen und regel-mäßig Geld nach Hause an dieFamilie zu schicken.

Auch der Track „15 Minutesaway“ handelt von Geldüberwei-sungen: der Titel zitiert einenWerbeslogan der Geldtransfer-Firma „Western Union“ – 15 Minu-ten dauert es, eine Summe an ei-ne „Western Union“-Filiale in Af-rika zu übermitteln. Von diesenregelmäßigen Transfers hängenmancherorts ganze Dörfer ab.

Der somalische Rapper K’Na-an zählt heute zu den Großen imHipHop, zur WM 2010 in Südafri-ka steuerte er die offizielle Fifa-Hymne bei. Auf „15 Minutesaway“ gibt er die widerstreiten-dem Gefühle wieder, die mit die-sen Geldtransfers verbundensind – die Bürde der Verantwor-tung, der Druck überzogener Er-wartungen, die Freude, anderenetwas Gutes tun zu können, unddie Scham, sich dafür das Essenvom Mund absparen zu müssen.Sein Lob der Großzügigkeit hatK’Naan in eine sommerlich-leichte Melodie und einen unwi-derstehlichen Groove verpackt.

Der afrikanische Traum

MIGRATION HipHop-Tracks und Electro-Tunes bilden die Begleitmusik zum

afrikanischen Exodus übers Mittelmeer. Ein Sampler fasst sie zusammen

VON DANIEL BAX

igtausende junge Afrika-ner verlassen jedes Jahrihre Heimat, um auf ei-nem anderen Kontinent

ihr Glück zu suchen. Für mancheendet schon allein der Versuch,auf illegalen Wegen über das Mit-telmeer nach Europa zu kom-men, tödlich. Keine Frage, dasseine der größten Wanderungsbe-wegungen unserer Zeit auch inder Musik ihren Widerhall fin-den musste.

Der Sampler „Yes we can“ ver-sammelt 15 Stücke, die in der ei-nen oder anderen Weise die afri-kanische Massenemigrationzum Thema haben. Der Titelgreift den bekannten Obama-Slogan auf und münzt ihn sar-kastisch auf die Situation in Afri-ka um. Denn der Wandel zumBesseren, den der US-Präsidenteinst seinen Landsleuten ver-sprach, ist für viele Afrikaner nurdurch Auswanderung zu haben,der Traum von Wohlstand undgesellschaftlichem Aufstieg er-scheint ihnen nur in der Fremderealisierbar. „Barka mba Mbar-zak“ – sinngemäß: „nach Barce-lona gehen oder ein Leben in derHölle führen“ –, so lautet das bit-tere Motto, das in den Straßenvon Dakar zum geflügelten Wortgeworden ist.

Während das schöne Leben inEuropa durch Filme, Fernsehenund das Internet nur einenKnopfdruck entfernt scheint, istes für die meisten Menschen inAfrika fast unmöglich, ein Visumzur Reise zu bekommen. Undselbst wenn sie es irgendwieschaffen, auf verschlungenen

ZDie Songs handeln vonder Härte der Straße,Heiratstourismus,Geldüberweisungenund Kleinkriminalität

Ein weiteres Highlight ist derTrack von Afrikan Boy, der die be-kannte deutsche Supermarktket-te „Lidl“ im Titel trägt. Zu einemziemlich roh scheppernden Beatlässt sich der Shooting Star derLondoner Grime-Szene in provo-kanten Zeilen über das Leben il-legaler Migranten aus, die sichmit kleinen Ladendiebstählenüber Wasser halten und Proble-me mit der Einwanderungsbe-hörde bekommen, weil sie sichbei der Einreise fälschlich alsMinderjährige ausgegeben ha-ben. Geschichten, die das Lebenso schreibt.

Ein reich bebildertes, gut ge-staltetes und informatives Book-let sorgt für einen Überblick,stellt die einzelnen Künstler undihre Titel vor. So vermittelt derSampler „Yes we can“ ein besse-res Bild dieser brisanten Proble-matik, als es viele Zahlen undStatistiken, Konferenzen oderZeitungsartikel vermögen.

■ Yes we can! Songs about leavingAfrica (Outhere Records)

Geschichten, die das Leben schreibt: der Londoner Grime-MC Afrikan Boy packt sie in rohe Breakbeats Foto: Outhere

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[email protected] SONNABEND/SONNTAG, 7./8. MAI 2011 33WELTMUSIK

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AYNUR: REWEND

Kurdisches KunstliedIhr neues Al-bum hat dieSängerinAynur denMenschen vonHasankeyf ge-widmet – einer

antiken Stadt am Tigris, die in denFluten versinken wird, wenn dort einumstrittener Staudamm gebautwerden sollte. In ähnlicher Weisebemüht sie sich darum, das kurdi-sche Liedgut ihrer Region in die Zu-kunft zu retten.Auf „Rewend“ („Nomade“) rücktsie traditionelle Weisen aus Anatoli-en mit modernen Arrangements indie Nähe von Jazz und Folk. So strah-len die Klagegesänge und kurdi-schen Tanzweisen, die häufig um

dörfliche Themen wie Liebeshändelund Naturerfahrungen kreisen, inneuem Licht.Noch vor einigen Jahren landete ihrAlbum „Kece Kurban“ in der Türkeiauf dem Index. Der absurde Vorwurflautete, ihre Lieder würden jungeFrauen dazu ermuntern, sich in denBergen der PKK-Guerilla anzuschlie-ßen, die von dort gegen den türki-schen Staat kämpft; das Verbotwurde später von einem Gerichtwieder aufgehoben. Denn tatsäch-lich hält sich die kurdische Sängerin,die aus der Provinz Tunceli stammt,einer Hochburg der religiösen Min-derheit der Aleviten, von plakativenpolitischen Slogans oder nationalis-tischen Parolen denkbar fern.■ (Arista/Sony Türkiye)

BABA ZULA: GECEKONDU

Lärm der VorstädteDas Wort „Ge-cekondu“ be-deutet „überNacht erbaut“und beziehtsich auf die Ar-mensiedlun-

gen, die sich in den letzten 40 Jahrenum türkische Metropolen wie Istan-bul und Ankara ausgebreitet haben.Baba Zula bestehen aus dem Sän-ger Murat Ertel, der auch die Elec-tro-Saz spielt, dem Schlagzeuger Le-vent Akman und dem Darbuka-Trommler Cosar Kamci. Sie werfensie sich gerne in ausgefallene Kostü-me, tragen Sonnenbrillen zum Fezoder gleich ein ganzes Dschingis-Khan-Outfit. In Fatih Akins Musikdo-ku „Crossing the Bridge“ hatte das

schrille Trio einen Auftritt auf einemBoot auf dem Bosporus.Bei Baba Zula treffen der psychedeli-sche Rock der 70er Jahre auf Bauch-tanz-Rhythmen, Dada auf Dub, Ko-mik auf Krach. Auf ihrem neuen Al-bum „Gecekondu“, das dem Lärmder Vorstädte gewidmet ist, erin-nert die Klarinette an den Einflussder türkischen Zigeuner, die Ney-Flöte an die Tradition der Sufi-Der-wische und Holzlöffel an die scha-manistischen Ursprünge der türki-schen Musik. Einlullende Melodiender Elektro-Saz und Bauchtanz-Beats mischen sich so, von pulsie-renden Dub-Rhythmen umwölkt, zueiner urbanen Kakofonie des mo-dernen Istanbuls.■ (Essay Recordings)

ARABIC GRAFFITI Aus der Kombination von arabischerKalligraphie und moderner Street Art ist eine ganzneue Ästhetik entstanden. Der libanesische GrafikerPascal Zoghbi und der Graffitikünstler Stone haben

Demonstranten zum Appell„Geh!“ ausbaute; die Aufnahmedavon wurde auf Youtube tau-sendfach verbreitet. Einen Mo-nat nach Mubaraks Rücktritt, alsdas Militär die verbliebenen De-monstranten vom Tahrirplatzfegte, wurde der 27-jährige Musi-ker dafür von ägyptischen Solda-ten zusammengeschlagen.

Früh solidarisierten sich auchdie Rockmusiker Amir Eid, HanyAdel und Sherif Mostafa aus Kai-ro medienwirksam mit den De-monstranten auf dem Tahrir-platz. Ihre melodiöse Rockballa-de „Sout al-Hurriya“ („Die Stim-me der Freiheit“) ist das „Windsof Change“ der ägyptischen Re-volte. Das professionelle Musik-video setzte die Proteste – etwasgeschönt – als friedliches, fröhli-ches und verbindendes Volksfestin Szene. Mohamed Mounir, ei-ner der Granden der ägyptischenGegenkultur, wollte da nicht ab-seits stehen. Zusammen mit derjungen Rockband Wust el Baladspielte er den Song „Ezzay“ ein:eine rockige Ode an die „Bewe-gung des 25. Januar“, wie die Pro-teste in Ägypten genannt wer-den, der Videoclip rief die Dra-matik und die Gefahr jener Tagenoch einmal ins Gedächtnis.

HipHop in Tunesien, Rock inÄgypten: das spiegelt die Unter-schiede in den Jugendkulturendieser Länder. Und es zeigt den

kulturellen Umbruch in der ara-bischen Welt. Es ist noch nicht solange her, dass Eltern und Kinderim Nahen Osten die gleiche Mu-sik hörten. Doch in den letztenDekaden ist die Kluft zwischenden Generationen immer größergeworden. Der arabischen Ju-gendrevolte ging eine Poprevolu-tion voraus.

Dutzende arabische Musik-sender sind in den letzten 15 Jah-ren entstanden, die ihr Pro-gramm über Satellit bis ins letzte

arabische Dorf strahlen. Sie ha-ben eine panarabische Öffent-lichkeit geschaffen und Legio-nen von Popstars hervorge-bracht, die ein neues Lebensge-fühl transportieren, romantischund materialistisch zugleich.Man kann diese leicht bekleide-ten Sängerinnen und die jungenBeaus, die mit süßlichen Stim-men um die Wette schmachten,leicht belächeln. Aber sie habenbei vielen ihrer Fans zweifellosden Wunsch nach persönlichenFreiheiten und einem besserenLeben genährt. Das Internet unddie Handys haben Jugendlichenaußerdem neue Möglichkeiteneröffnet, den engen Familien-strukturen und der sozialen Kon-trolle zu entfliehen. Und wer beieiner TV-Casting-Show à la „Ara-bien sucht den Superstar“ abge-stimmt hat, der wird sich ge-wünscht haben, auch einmal imrichtigen Leben die Wahl zuhaben.

Es ist die Popkultur, nicht diePolitik, die heute junge Arabervon Marokko bis Syrien und vonÄgypten bis Bahrain verbindet.Auch das hat dazu beigetragen,dass der Funke der Proteste sorasch überspringen konnte. ImWindschatten der ultrakommer-ziellen Popindustrie sind in denletzten Jahren zudem wachsendeNischen für unabhängige Musi-ker entstanden. Wenn er ihnenmehr Freiräume eröffnet, könn-te der politische Umbruch inÄgypten und anderswo auch diearabische Popwelt verändernund zu einer größeren musikali-schen Vielfalt führen.

Viele der etablierten arabi-schen Popstars hat die aktuelleProtestwelle hingegen auf demfalschen Fuß erwischt. Im Netzkursieren „schwarze Listen“ je-ner Künstler, die sich etwa inÄgypten bis zuletzt mit dem al-ten Regime solidarisiert hatten.Dagegen hat sich in Syrien bis-lang noch kein namhafter Pop-star offen auf die Seite der Protes-tierer gestellt, ganz im Gegenteil.

Doch wenn die Revolution ge-siegt hat, will jeder dabei gewe-sen sein. Das gilt auch für die Su-perstars des arabischen Pop. UmAmr Diab, Ägyptens Ricky Mar-tin, war es bis zum Sturz von Hus-ni Mubarak am 11. Februar rechtstill gewesen. Dafür legte er mit„Masr A’let“ („Ägypten hat ge-sagt“) jüngst eine kitschige Hym-ne an die „Märtyrer der Revoluti-on“ nach. Auch von der libanesi-schen Popsängerin Nancy Ajram,der Jennifer Lopez des Nahen Os-tens, heißt es, sie habe ihr neuesLied dem Umsturz am Nil gewid-met. „Wahshani Ya Masr Mot“(„Ich vermisse Ägypten“) ist eineLiebesballade, die nur zufälligam Nil spielt, und wurde bereitsim letzten Jahr eingespielt. ImVideo dazu sieht man jetzt je-doch stolze Ägypter vor ihreFahne stehen. Trittbrettfahrenist eben billig zu haben.

Odeanden Tahrirplatz

ARABELLION Jetzt werden die Revolten zu Pop gemacht.

Das könnte auch die arabische Musikwelt verändern

VON DANIEL BAX

ine Revolution ist keinEvent wie eine Fußball-Weltmeisterschaft, zu demes automatisch einen

Soundtrack geben muss. Dochseit den Studentenrevolten von1968 ist die Vorstellung verbrei-tet, dass politische Umbrücheauch ihre musikalische Entspre-chung haben müssten. Dass es1968 trotz ikonischer Songs wie„Revolution“ von den Beatles,„Street Fighting Man“ von denStones und „The Times They Area-Changin’“ von Bob Dylan nichtzum politischen Umsturz kam,wird dabei leicht vergessen.Denn musikalische Revolutio-nen mögen zwar Ausdruck einesgesellschaftlichen Wandels sein,sie bringen aber nur selten –auch wenn das gern behauptetwird – gleich die politischen Ver-hältnisse „zum Tanzen“.

Natürlich hatten auch die ara-bischen Revolten ihre Protest-hymnen: etwa „Rayes Lebled“, ei-ne wütende Attacke des tunesi-schen Rappers El Général gegenTunesiens Präsidenten Ben Ali,die in den Tagen vor dessen Sturzim Internet zirkulierte und demRapper kurzzeitig die Haft ein-brachte. Oder die spontane Kom-position des ägyptischen Rock-sängers Ramy Essam, der aufdem Tahrirplatz die Slogans der

E

Wandbilder und Alltagskunst aus dem Nahen Osten so-wie radikale und innovative Entwürfe von Typografie-Künstlern aus Europa und Kanada zusammengetragen:„Arabic Graffiti“ (From here to fame) erscheint im Mai.

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[email protected] 7./8. MAI 2011 DIE TAGESZEITUNG WELTMUSIK

ten“, fügt sie hinzu. „Also bin ichdort genau am richtigen Ort.“

Karin Hallakoun verrät, dasssie erst vor rund zehn Jahren an-fing, sich intensiver mit ihrerHerkunft zu beschäftigen. „Ichwurde im Norden von Marseillegeboren, wo es viele Araber undMuslime gibt. Ich fühlte michdort weder jüdisch noch ara-bisch. Mir war das egal.“ Dochdann hat eine Reise in das Ge-burtsland ihres Vaters, nach Al-gerien, alles verändert: „Mein Va-ter ist Berber. Viele Berber sindjüdisch, denn vor der arabischenEroberung Nordafrikas lebtendort viele Juden und Berber. Alsogab es auch viele Mischehen zwi-schen ihnen.“

Doch nicht nur die Entde-ckung ihres jüdisch-berberi-schen Erbes hat die Sängerin da-mals verblüfft. „Meine Familiekommt wirklich aus Afrika. MeinGroßvater war fast schwarz. Fürihn wie für viele andere war esdeshalb ein großer Schock, als sieim Unabhängigkeitskrieg vonder Kolonialregierung kurzumzu Franzosen erklärt wurden,denn sie hatten ja keinerlei Be-ziehung zu Frankreich.“

Seit der Konflikt zwischen Is-raelis und Palästinensern eska-liert ist, hat sich das toleranteMiteinander selbst in der Viel-völker-Metropole Marseille ver-ändert. Die Leute unterscheidenjetzt zwischen Schwarzen undWeißen, zwischen Arabern undJuden, sagt Sista K. Ganz im Ge-gensatz zu der Sängerin selbst,die auf Jiddisch genauso wie auf

Arabisch, Englisch, Spanisch undFranzösisch oder gar Hebräischsingt. Aber egal was sie singt – esist immer politisch gemeint.

Auch auf „Radio Babel“, demaktuellen Album des WatchaClan, wird eine geradezu babylo-nische Sprach- und Völkerviel-falt beschworen. In den neuenStücken geht es viel um Mauernund darum, wie man sie über-windet – die Mauer zwischenArm und Reich, zwischen denUSA und Mexiko, zwischen Euro-pa und Afrika oder zwischen„Isaak“ und „Ismael“, wie es imTrack „We are One“ heißt.

Das Prinzip Vielfalt spiegeltsich auch in der Zusammenset-zung der Band aus dem Melting-pot Marseille. Neben dem fran-zösischen Electronic-Frickler Su-prem Clem und dem korsischenKontrabassisten Matt Labessespielt der Algerier Nassim Koutidie Gitarre und das afrikanischeSaiteninstrument Gumbri. Zu-sammen mischen sie Drum ’n’Bass und arabische Musik, Hip-Hop und jiddische Gassenhauer

wild durcheinander. Sogar Ge-gensätzliches hat in ein unddemselben Song Platz. So wirddie Musik zum Spagetti-Western„Once Upon a Time in the West“kurzerhand zu „Il etait un foisdans L’est“ (Es war einmal im Os-ten) umfunktioniert, indem derostjüdische Klassiker „Shejn vi dilevone“ recycelt wird. DieSchtetl-Nummer „Tschiribim“wird dagegen zur Bauchtanz-HipHop-Orgie und Ofra HazasOhrwurm „Im Nin’Alu“ zur pop-pigen Dancefloor-Version. Au-ßerdem mit dabei: nordafrikani-sche Gnawa-Grooves, Abstecherin den Tuareg-Rock („Hasnadu-ro“) oder in den algerischen Rai(„Osfour“).

Hinzu kommen auf „Radio Ba-bel“ Gastmusiker aus aller Her-ren Länder. Neben dem engli-schen Klarinettisten Merlin She-phard spielt der Altvater des me-diterranen Piano Oriental, Mau-rice El Medioni, eine prominenteRolle. Neben dem Banjo vonMaurice Lo Cicero taucht die Gei-ge von Pee Wee auf, neben derOud-Laute des Experimentalis-ten Mehdi Haddab die Flamen-co-Gitarre von Alexandre Mori-er, und mit Fanfare Ciocarliaspielt gleich noch eine ganze Bal-kanbrass-Band mit. Ein geradezubabylonisches Miteinander derStimmen. Das Resultat ist keinkarnevalesker Multikulti-Kla-mauk. Es ist die reine Lust an derPolyfonie dieser Welt.

■ Watcha Clan: Radio Babel (Piran-ha/Indigo)

DieMauermussweg

ORIENTAL DUB Der Watcha Clan aus Marseille propagiert das Prinzip Vielfalt.

Das spiegelt sich bereits in der Familiengeschichte seiner Frontfrau, Sista K

VON JONATHAN SCHEINER

ag sein, es liegt amZwielicht, das die gel-ben Vorhänge immorgendlichen Zim-

mer verbreiten. Mag sein, es liegtan der wursteligen Art, wie sie ih-re Locken mit der Sonnenbrillenach oben gesteckt hat. Aber die-se Frau, die nach jedem Satz anihrem Kräutertee schlürft, istkein Tausendschönchen. Zumin-dest nicht um diese Uhrzeit.Doch abends, wenn Sista K aufder Bühne steht, dann ist dasganz anders. Da tanzt die Front-frau des Watcha Clan wie ein wil-der Derwisch, benutzt schon malein Megafon zum Singen und hatihr Gesicht mit goldenen Orna-menten verziert. Auf dem Kopfträgt sie einen bunten Turbanund ein paar ihrer widerspensti-gen Locken hat sie mit Rasta-Bän-dern umwickelt. Ein wahrer Hin-gucker!

Die Bühnenfigur mit demKünstlernamen Sista K heißt imrichtigen Leben Karin Halla-koun. Der französisch-deutscheVorname verweist auf ihre litau-isch-aschkenasische Familiemütterlicherseits, der arabischeNachname hingegen auf ihrenVater, einen sefardischen Berberaus Algerien. „Mein Bruder kamin Israel zur Welt“, dort hattensich ihre Eltern einst kennen ge-lernt, erzählt die Sängerin. „Undich, ich bin in Marseille geborenund damit die einzige Französinin der Familie“, sagt sie stolz. „InMarseille gibt es viele Immigran-

M

Seit der Konflikt imNahen Osten eskaliertist, hat sich das einsttolerante Miteinanderin Marseille verändert

Zwei Erfahrungswelten aus Deutschland

s ist eine mehr als unge-wöhnliche Verbindung.Esther Bejarano, 86, hatAuschwitz überlebt – nicht

zuletzt, weil sie im Mädchenor-chester des KZ das Akkordeonspielte. Mit ihrer Tochter Edna alsSängerin und ihrem Sohn Yoramals Bassisten rief sie vor vielenJahren in Hamburg das En-semble „Confidence“ ins Leben,dessen Repertoire sich vor allemaus jiddischen Arbeiterliedern,Partisanenfolklore und hebräi-schem Folk speist.

Kutlu Yurtseven gründete vorvielen Jahren mit seinen Jugend-freunden Rosario Panini alias Si-gnore Rossi und Önder Bardakciin Köln die deutsch-türkisch-ita-

E

lienische HipHop-Crew Micro-phone Mafia. Inzwischen ist er 37und arbeitet als Lehrer an einerGrundschule in einem „Pro-blembezirk“, doch noch immerist er als Musiker aktiv.

CONSCIOUS RAP Antifaschismus verbindet: Er führte die Holocaust-ÜberlebendeEsther Bejarano und die Kölner HipHop-Crew Microphone Mafia zusammen

Als der Rapper den Auftrag be-kam, ein CD-Projekt zur Erinne-rung an den Holocaust zu gestal-ten, lernte er Esther Bejeranound ihre Familie kennen. Aus derBegegnung entstand vor zweiJahren das gemeinsame Album„Per La Vita“ („Für das Leben“),das die verschiedenen Generati-onen und Erfahrungswelten zu-sammenbringt. Ein Teil der Lie-der handelt von der Hölle derGhettos und Konzentrationsla-ger, ein anderer von Ausgren-zung und Rassismus, Gewalt undKrieg in der Gegenwart. Beim TFFRudolstatt bietet sich eine derseltenen Gelegenheiten, das au-ßergewöhnliche Ensemble liveauf der Bühne zu erleben.

Triumvirat des Watcha Clan: DJ Suprem Clem, Sängerin Sista K und Bassist Matt Labesse Foto: Piranha

Familie Bejarano und ihre Rapper