Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

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Campus Einführungen

Herausgegeben vonThorsten Bonacker (Marburg)Hans-Martin Lohmann (Frankfurt a.M.)

Geert Hendrich, Dr. phil., promovierte über arabisch-islami-sche Philosophie in der Moderne. Er ist Lehrbeauftragter amInstitut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadtund als Dozent in der Erwachsenenbildung tätig.

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Geert Hendrich

Arabisch-islamischePhilosophieGeschichte und Gegenwart

Campus VerlagFrankfurt/New York

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

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ISBN 3-593-37583-4

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1 Die Anfänge der arabisch-islamischenPhilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2 Die Kultur der klassischen Epoche unddas Zeitalter der Übersetzungen . . . . . . . . . . . 22

3 Der Beginn der systematischen Philosophieim Islam: al-Kindi und ar-Razi . . . . . . . . . . . . . 34

3.1 al-Kindi und das Denken des Neoplatonismus . . 35

3.2 ar-Razi und der philosophische Skeptizismus . . . 48

4 Die großen Neoplatoniker des Ostens:al-Farabi und Ibn Sina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

4.1 al-Farabi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

4.2 Ibn Sina (Avicenna) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

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5 Philosophische Kritik der Philosophie:al-Ghazali und seine Nachfolger . . . . . . . . . . 86

6 Die Philosophie im arabischen Spanien(al-Andalus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

6.1 Ibn Badjdja und Ibn Tufayl . . . . . . . . . . . . . . . 99

6.2 Ibn Ruschd (Averroes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

7 Gewandelte Kontexte:Religionsgelehrte und Mystiker . . . . . . . . . . . 119

8 Wissenschaften, Philosophie und ihr Einflussauf das europäische Mittelalter . . . . . . . . . . . 130

9 Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit . 140

9.1 Ibn Khalduns Geschichtsphilosophie . . . . . . . . 143

9.2 Neuplatonische und illuministischeTraditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

10 Philosophie in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . 153

10.1 Moderne als Krise und Aufbruch . . . . . . . . . . 154

10.2 Diskurslinien in der Gegenwart . . . . . . . . . . . 157

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

6 Inhalt

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Einleitung

Das Erstaunlichste an der arabischen Philosophie ist für dieEuropäer immer noch, dass es sie gibt, spottete ein Journalist,als 1998 überall in Europa und der arabischen Welt Averroes-Kongresse und -Gedenkfeiern stattfanden. Für eine kleine Min-derheit von Islamwissenschaftlern, Mediävisten und Philoso-phiehistorikern war Averroes, der 800 Jahre zuvor gestorbenearabische Denker, kein Unbekannter. Aber das journalistischeFazit traf den Kern einer allgemeinen Wahrnehmung: Philoso-phie gehört nicht zum anerkannten Fundus der arabisch-isla-mischen Kultur. Der palästinensische LiteraturwissenschaftlerEdward Said bemerkte einmal ironisch, dass »Harun al-Ra-schid, Sindbad, Alladin, Scheherazade und Saladin mehr oderweniger die vollständige Liste arabischer Personen [ausma-chen], die moderne gebildete Europäer kennen.« (Said 1981,13) Zum Bild vom märchenhaften und geheimnisvollen »Ori-ent« trat seit dem Mittelalter das vom fanatischen und gewalt-bereiten Islam. Dieses religiöse Feindbild ging im 19. und20. Jahrhundert fast nahtlos in das vom »rückständigen«und »unaufgeklärten« Islam über. Dahinter verbirgt sich einGrundproblem in der Wahrnehmung von Kultur, nämlich ihrenMitgliedern einen unwandelbaren Charakter und ein »Wesen«zuzuschreiben, das sie auf eine ganz bestimmte Seinsweise fest-legt. »Ausgegangen wird von einer Anzahl naturgegebener we-

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sentlicher Eigenschaften, die den unveränderlichen oder nuroberflächlich veränderbaren homo islamicus ausmachen«,schreibt der Philosoph Aziz al-Azmeh, und dieser Essentialis-mus verdankt sich vor allem »der Umkehrung der drei Haupt-bestimmungen, die das bürgerlich-kapitalistische Zeitalter fürsich selbst in Anspruch nimmt: Vernunft, Freiheit und Vervoll-kommnungsfähigkeit« (al-Azmeh 1996, 200). Übrig bleibt eineKultur namens »Islam«, die nicht nur mit »unserer« Moderneinkompatibel ist, sondern nicht einmal über eine wahre Ge-schichte verfügt. Denn alles in ihr reduziert sich auf die quasigenetisch vorgegebenen Denk- und Handlungsmöglichkeitendes homo islamicus: Das Fehlen einer arabischen Aufklärung,eines islamischen Descartes oder arabischen Kant resultiertnicht aus einer spezifischen Geschichte, sondern wird als Aus-druck einer kulturellen Disposition der Subjekte gedeutet, inder Philosophie als Vernunftwissenschaft keinen Ort hat.

Betrachtet man den Islam als eine der Weltreligionen in sei-ner Entwicklung bis zur Gegenwart näher, so erweist sich baldseine Heterogenität. Weder in Theologie noch in der gelebtenReligiosität der Alltagswelt kennzeichnete ihn je die Einheit-lichkeit, die die westliche Wahrnehmung ihm zuschreibt unddie islamistische Selbstbeschreibungen gerne hätten. Zumalman sehr schnell auf ein weiteres Problem des Begriffes »Islam«stößt: Er bezeichnet eben nicht nur eine Religion, sondern ana-log zu »Europa« oder dem »Westen« eine Kultur. Als Kulturbe-griff umfasst er die vielfältigen Erscheinungen von Kultur, ihreGeschichte mit allen politischen, sozialen und ökonomischenKontexten, und dies auch noch in seiner lokalen Vielfältigkeit.So kann die Bezeichnung als »islamische« oder »arabisch-isla-mische« Kultur nur als Chiffre begriffen werden für den Reich-tum, aber auch für die Widersprüchlichkeit einer gelebten undlebendigen Kultur. Das gilt auch für die Philosophie in ihr.

Die europäischen Wissenschaften haben die Philosophie imIslam lange Zeit als Teil einer von der Religion des Islam und

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ihrer spezifischen Kultur geprägten Besonderheit betrachtetund nicht als Teil einer universalen Geschichte des philosophi-schen Denkens. Selbst heute findet dies seinen Ausdruck in derseltenen Behandlung der arabisch-islamischen Philosophie imakademischen Lehrbetrieb und der mangelnden Präsenz derphilosophischen Klassiker des Islam in den Bibliotheken.Zumal die wissenschaftlichen Disziplinen eifersüchtig ihre spe-zifischen Kompetenzen betonen und dadurch die dringenderforderliche interdisziplinäre Arbeit erschweren.

Gegenüber den gemeinsamen Wurzeln der arabisch-islami-schen und der europäischen Kultur und gegenüber den vielfälti-gen Beziehungen innerhalb ihrer Geschichte hat das europäi-sche Selbstbewusstsein also eine bemerkenswerte Verdrängungbetrieben, die aktuell in die gefährliche Rhetorik vom »Kampfder Kulturen« mündet. Nicht zu Unrecht kann man dagegenvom Islam als dem »verdrängten dritten Erbe« der Europäerneben dem griechisch-antiken und dem jüdisch-christlichensprechen. Das Anliegen dieses Buches ist es, in einen Aspektdieses gemeinsamen Erbes einzuführen: die arabisch-islami-sche Philosophie. Die Darstellung ist weitgehend chronolo-gisch, ergänzt und erläutert durch die Behandlung historischerund kultureller Kontexte. So beginnt das Buch mit zwei Entste-hungsbedingungen, die zum Verständnis der arabisch-islami-schen Philosophie besonders wichtig sind (Kapitel 1): die Kon-tinuität der antiken Traditionen, in denen die »islamische«Kultur von ihren Anfängen an steht, und die Besonderheitender neuen Weltreligion des Islam. Hier sind vor allem Anfängeund Entwicklung der islamischen Theologie in ihren Auswir-kungen auf die Philosophie wichtig. Für die spätere Blüte derarabisch-islamischen Philosophie und für ihre Wirkung auf dieeuropäische Kultur ebenso wichtig war die umfassende Über-setzung der antiken Autoren (Kapitel 2). Mit dem neuntenJahrhundert beginnt eine eigenständige, systematische Philoso-phie im Islam (Kapitel 3). Prägend für sie war der Einfluss des

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Neoplatonismus, der in diesem Kapitel erläutert wird. Erbeeinflusste bereits den ersten der großen arabisch-islamischenDenker, al-Kindi, während der Arzt und Philosoph ar-Razi sicheher am antiken Atomismus orientierte und als Religionskriti-ker hervortrat. Den ersten Philosophen folgten die auch im mit-telalterlichen Europa berühmten Denker der Neoplatonismus(Kapitel 4): Al-Farabi, dessen Staatsutopie von der »Muster-stadt« eine ethisch-politische Synthese von rationaler Philo-sophie und geoffenbartem Glauben versucht, und Ibn Sina(Avicenna), der ähnliches in der Metaphysik anstrebte. Diesforderte Kritiker heraus, die auf dem Primat des Religiösen vorder Philosophie beharrten (Kapitel 5). Als ihr wichtigster Ver-treter kann al-Ghazali gelten, der zugleich selbst als kreativerDenker hervortrat, etwa hinsichtlich der Behandlung des Kau-salitätsproblems.

Auch die Philosophie des arabischen Spaniens brachte be-deutende Vertreter hervor (Kapitel 6): Ibn Badjdja und IbnTufayl mit seinem philosophischen Entwicklungsroman, des-sen Wirkung bis in europäische Aufklärung reicht. Der be-rühmteste Vertreter aber war zweifellos Ibn Ruschd (Averroes).Seine eher der aristotelischen Tradition als dem Neoplatonis-mus zugewandte Philosophie vertrat die Superiorität der Ver-nunft gegenüber dem Glauben. Sein eindrucksvolles philoso-phisches System beeinflusste das europäische Denken vor allemim Mittelalter maßgeblich. Dagegen blieb er innerhalb der ara-bisch-islamischen Welt bis zur Moderne nahezu unbeachtet.Dafür waren nicht zuletzt gewandelte gesellschaftliche Kon-texte (Kapitel 7) verantwortlich, die sowohl zu einer Stärkungorthodoxer Theologie als auch zum Aufblühen mystischerStrömungen im Islam führten. Beides schwächte den Einflussund die Qualität der Philosophie. Zur gleichen Zeit erreichteder Einfluss der arabisch-islamischen Kultur auf Europa (Kapi-tel 8) seinen Höhepunkt. Zwischen dem 8. und 14. Jahrhundertwar die arabisch-islamische Kultur der europäischen hinsicht-

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lich ihrer Wissenskultur, ihrer technologischen und zivilisatori-schen Standards weit überlegen und stieß in Europa entspre-chende Entwicklungen an, die schnell an Eigendynamik ge-wannen. Dagegen fehlen der islamischen Philosophie zwischendem 14. und dem 19. Jahrhundert (Kapitel 9) die großen Na-men, auch wenn mit Ibn Khaldun und Mulla Sadra zumindestzwei Vertreter herausragen.

In der Neuzeit kehrt sich das Verhältnis zwischen Europaund islamischer Welt um: Die europäische »Moderne« wird zurWeltkultur. Alle anderen Kulturen sind seitdem gezwungen,sich mit der Hegemonie des »Westens« in ihren vielfältigenErscheinungsformen auseinander zu setzen. Die Frage nach derEntwicklung, den Fehlern und Chancen der Moderne bestimmtdie Gegenwartsdebatten (Kapitel 10), und insofern teilt auchdie aktuelle Philosophie in der arabisch-islamischen Welt er-neut Themen und Thesen mit der westlichen. Neben der ge-meinsamen Geschichte gibt es also auch eine gemeinsameGegenwart, die eher durch die Rede von den angeblich unüber-windbaren kulturellen Unterschieden geleugnet wird als durchdie Spezifik von Wahrnehmungen und Werturteilen. Denn wieder deutsche Philosoph Herbert Schnädelbach treffend an-merkt, »modernisierende Kulturen müssen nicht immer wie-der, wie ein geradezu kolonialistisch anmutendes Modell eswill, die abendländische Modernisierungsgeschichte nachah-men, um schließlich modern zu sein« (Schnädelbach 2000, 33).Die gemeinsame Geschichte Europas und der arabisch-islami-schen Welt zeigt ja gerade, wie auch aus gemeinsamen Wurzelneigenständige Entwicklungen entstehen können. Die Gegen-wartsphilosophie der arabisch-islamischen Welt wird im Wes-ten leider kaum wahrgenommen. Dabei können gerade ihreBeiträge als Teil eines universalen Diskurses über die Moderne,die wir alle teilen, begriffen werden. Eine längst fällige Ausei-nandersetzung mit der außereuropäischen Philosophie erleich-tert nämlich nicht nur das Begreifen ihrer spezifischen Frage-

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stellungen und die Pluralität ihrer Positionen, sondern aucheinen kritischen Rekurs auf die Selbstwahrnehmungen der»westlichen« Philosophie und Gesellschaft.

Das vorliegende Buch möchte in die »klassische« wie diemoderne Philosophie der arabisch-islamischen Kultureinführen. Es ist deshalb um Allgemeinverständlichkeitbemüht und nimmt dafür zwei Nachteile in Kauf: Ange-sichts einer gigantischen Stofffülle müssen Namen unge-nannt, Details unbehandelt bleiben, und manches kannnur kurz und knapp besprochen werden. Außerdem folgtdie Schreibweise arabischer Begriffe und Eigennamennicht der üblichen Transkription der Arabistik, sondernist zugunsten der Aussprache lesefreundlich angepasst.Trotzdem muss auf einige Besonderheiten der Aussprachehingewiesen werden: Das »th« in arabischen Wörtern istwie ein englisches »th« zu sprechen. Die Buchstabenfolge»gh« entspricht einem weichen, nicht gerollten Zäpf-chen-r. Das Auftauchen eines Apostroph (’) zu Beginnoder in einem Wort zeigt einen Stimmabsatz wie bei einerSilbentrennung an und kann zudem vereinfachend fürden in europäischen Sprachen völlig unbekannten arabi-schen Buchstaben »ain« stehen, einem »Kehlpresslaut«.Es sei außerdem noch darauf hingewiesen, dass der arabi-sche Artikel »al-« sich manchmal den nachfolgendenBuchstaben in der Aussprache anpasst, also zum Beispielzu einem »asch-« oder »at-« wird (»ar-Razi« statt »al-Razi«).

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1 Die Anfänge derarabisch-islamischen Philosophie

Von einer Philosophie im engeren Sinne können wir in der isla-mischen Kultur seit dem 9. Jahrhundert christlicher Zeitrech-nung1

1 Im Folgenden richten sich alle Zeitangaben nach der »christlichen«Zeitrechnung. Die islamische, Hidjra (Auszug) genannt, beginnt622 n. Chr. mit dem Auszug Muhammads aus Mekka. Da die Hid-jra aber dem Mondkalender folgt, ist eine Umrechnung schwierigund verwirrend.

sprechen. Doch das bedeutet nur, dass aus dieser Zeit dieersten Texte vorliegen, die einen eindeutig philosophischenInhalt haben und ein entsprechendes Erkenntnisinteresse ihrerAutoren vermuten lassen. Aber Philosophie ist weder real-noch geistesgeschichtlich ein isoliertes Ereignis, sondern voll-zieht sich immer in Traditionen und Kontexten. Die arabisch-islamische Philosophie steht dabei in zwei Beziehungsfeldern,die für ihr Verständnis wichtig sind: ihre Einbettung in einenKulturraum, in dem die Traditionslinien der Antike nie völligabgebrochen waren, und ihre Formierung unter den Bedingun-gen der neu entstandenen Weltreligion des Islam und der ara-bisch-islamischen Reiche, aus denen sich die neue »islamische«Kultur entwickelte.

Nordafrika und der gesamte Vordere Orient einschließlichPersiens verband in der Antike, bei aller Unterschiedlichkeit imDetail, die Zugehörigkeit zur hellenistischen Kultur. Dazu

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gehörten Kulturtraditionen, Religion und Riten, Handelsbezie-hungen und vor allem das Griechische als Sprache der Gebilde-ten und Eliten, einschließlich der literarischen, wissenschaftli-chen und philosophischen Traditionen. An der Kultur des Hel-lenismus waren zahlreiche Völkerschaften beteiligt und berei-cherten sie um ihre jeweils eigenen Elemente oder transformier-ten diese wiederum unter griechisch-hellenistischem Einfluss.Zurecht hat man in diesem Zusammenhang von einer »Fusionder Kulturen« gesprochen, zu der auch die arabischen Völker-schaften gehörten. Die Umwandlung der lokalen yemeniti-schen Gottheiten in griechisch-hellenistische legen davon eben-so Zeugnis ab wie die beeindruckende hellenistische Architek-tur, die wir in den großen Ruinenstädten wie Petra (Jordanien)oder Tadmur/Palmyra (Syrien), die jeweils eine arabischeBevölkerung hatten, bewundern können. Die allmähliche Auf-lösung der römischen Zentralgewalt am Ende der Antike be-deutete nun keineswegs, dass diese Traditionen und Verbin-dungen abbrachen. Die hellenistische Kultur existierte unterden Byzantinern und den persischen Sasaniden, die um dasrömische Erbe erbittert stritten, weiter. Geändert hatten sichaber die politischen, sozialen und religiösen Bindungskräfte.Die Kämpfe um politische Vorherrschaft, das Wegbrechen tra-ditioneller Handelsverbindungen zum Mittelmeerraum undvölkerwanderungsähnliche Bewegungen im gesamten Vorde-ren Orient und Nordafrikas destabilisierten die nachantikenGesellschaften und erzeugten das Gefühl einer umfassendenKrise. Das Fehlen politischer Legitimation der Herrschenden,soziale Desintegration und sich auflösende kulturelle Identitä-ten bildeten die Grundlage für die Aufnahmebereitschaft fürneue Heilsbotschaften.

Die Krise der sozialen und politischen Wirklichkeit nach derAntike spiegelte sich durchaus in der Vielfältigkeit der religiö-sen Kulte. Neben dem antiken Pantheon standen Stammesgott-heiten, alte Religionen wie das Judentum und neue wie das

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Christentum in seinen vielfältigen Erscheinungsformen undSekten. Mit der Verkündung des Islam durch den ProphetenMuhammad (ca. 570–632) trat eine neue Religion auf.2

2 Entstehung, Entwicklung und zentrale Glaubensinhalte des Islamkönnen im Zusammenhang dieses Buches nicht erläutert werden.Aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema sei verwiesen auf En-dreß 1991 und Hourani 1991.

DerIslam richtete sich als eine spezifische Offenbarung ursprüng-lich an die Araber, breitete sich im Gefolge der arabischen Ero-berungen aber rasch über den gesamten ehemals hellenisti-schen Kulturraum südlich des Mittelmeeres aus. Weil der Islamals neue Religion überhaupt erst Dogmatik und Theologie ent-wickeln musste, gelangten vielfältige inhaltliche und systemati-sche Einflüsse der vorgefundenen Kulturen und Religionen inden Islam. Außerdem bestand die Notwendigkeit, die Religionder Araber in eine universelle Botschaft zu transformieren. Undnoch eine weitere Schwierigkeit ergab sich aus den Entste-hungsbedingungen: Als charismatischer Führer von Stämmender arabischen Halbinsel war Muhammad nicht nur der Pro-phet einer Religion, sondern auch der politische Führer derneuen Glaubensgemeinschaft, der Umma.

Die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, kann als ein»zweiseitiges Wesen« (Bernard Lewis) begriffen werden:Sie war eine religiöse und eine politische Gemeinschaft.Für alle Nachfolger des Propheten Muhammad galt, dassdie Legitimation politischer Herrschaft an die religiöseBotschaft des Islam geknüpft war, so dass niemand dieFührung der Umma übernehmen konnte, ohne sie als reli-giöse Einheit, eben als »Gemeinschaft der Gläubigen« zuverstehen und – zumindest dem Anspruch nach – als sol-che zu führen. Wer »Chalifa« (Nachfolger) des Propheten

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als Führer der Umma sein wollte, berief sich auf die reli-giöse Botschaft und den Gotteswillen als Legitimations-geber.

Zugleich aber waren die realen gesellschaftlichen Widersprü-che, zum Beispiel zwischen den reichen Kaufleuten Mekkasund den armen Beduinen oder zwischen unterschiedlichenVolksgruppen im neu entstehenden islamischen Weltreich,durch die bloße Deklaration der Umma nicht beseitigt. Es ent-brannte ein erbitterter Streit darüber, welche Weise des Regie-rens mit der Botschaft des Islam vereinbar sei, wie also Herr-schaft überhaupt »islamisch« legitimiert werden sollte. Diesepolitischen und sozialen Auseinandersetzungen fanden ihreSpiegelung in den theologischen Debatten der Zeit. Geradedadurch aber tauchen bereits lange vor den ersten Philosophender arabisch-islamischen Kultur philosophische Themen in dentheologischen Debatten auf: über das Verhältnis von Glaubenund Wissen, von menschlicher Vernunft im Verhältnis zu denOffenbarungstexten, über Vorherbestimmung und Gottes Ge-rechtigkeit, über die Ewigkeit oder Geschaffenheit der Schöp-fung und des Gotteswortes, wie es im Koran und in den Hadi-then, der Sammlung von Aussagen und Taten des ProphetenMuhammad und seiner Weggefährten, festgelegt ist. Alle dieseFragen ließen sich nicht diskutieren ohne systematisch-metho-dische Kenntnisse, etwa von Logik. Und alle diese Fragen wa-ren bereits im Kontext antiker Philosophie und anderer Religi-onen, etwa von Judentum und Christentum, behandelt wordenund beeinflussten jetzt die frühe islamische Theologie.

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Kalam – die spekulative Theologie im Islam

Neben den ohnehin vorhandenen philosophisch-wissenschaft-lichen Traditionen der hellenistischen Kultur stand also ausge-rechnet die Theologie Pate bei der Entwicklung einer eigenstän-digen Philosophie in der arabisch-islamischen Kultur. DieseTheologie war wiederum eine Reaktion auf reale politische undsoziale Probleme innerhalb der Umma. Die theologischen»Sekten«, die so entstanden, spiegelten also einmal die sozialeund politische Wirklichkeit der islamischen Frühzeit. Sie sorg-ten zweitens thematisch wie methodisch für das Einfließen vonPhilosophie in die Theologie und bereiteten überdies drittenseiner Verselbständigung philosophischer Spekulation den Bo-den. Entsprechend fanden auch theologische Fragestellungeninnerhalb der späteren Philosophie ihre Fortsetzung, etwa hin-sichtlich von Prädestination oder der Ewigkeit der Welt. Dietheologische Scholastik im Islam bezeichnet man als Kalam(von arabisch für »Rede«), die Vertreter des Kalam als Mu-takallimun, also im strengen Sinn eigentlich »die, die immer-fort reden«. Ursprünglich ein Spottname, wurden sowohlKalam wie Mutakallimun im Verlauf der islamischen Geistes-geschichte zu allgemein akzeptierten, neutralen Begriffen füreine rationalistische, spekulative Theologie und ihre Vertreter.Der Kalam der Frühzeit war geprägt von einer großen Offen-heit und Diskussionsbereitschaft, nicht zuletzt deshalb, weil diejunge Religion auf Anregungen und Informationen aus unter-schiedlichsten Quellen angewiesen war. Von hier aus befruch-tete der Kalam die spätere Philosophie sowohl methodisch wiethematisch, während umgekehrt im Laufe der Jahrhundertevor allem philosophische Methodik in die Theologie des Islameinfloss. Doch zeichnet sich der spätere Kalam eher durch dieVorherrschaft orthodoxer, traditionalistischer Interpretationund ihrer Repräsentanten aus. Auch wenn die freie Erörterungtheologischer Fragen unter Einbeziehung philosophischer Spe-

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kulation nie gänzlich aufhörte, so steht der Kalam seit spätes-tens dem 11. Jahrhundert sehr viel stärker in Gegnerschaft zurPhilosophie und zum griechischen Erbe in ihr als in den Jahr-hunderten zuvor.

Die wichtigste Gruppe innerhalb der Mutakallimun, diedurch die Rezeption griechischen Denkens sowohl die Theolo-gie der Muslime wie Entwicklung ihrer Philosophie beförder-ten, war die Mu’tazila. Sie entstand bereits im späten 7. Jahr-hundert, hatte ihre Blütezeit aber in den ersten hundert Jahrennach dem Machtantritt der Abbasiden im Jahr 750. DieMu’taziliten bezogen sich auf die älteren »Sekten« der Qadari-ten, der Djabiriten und der Murdj’iten3

3 Auch die frühe islamische Theologie kann hier leider nicht einge-hend behandelt werden. Ihre beste Darstellung ist immer noch zufinden in: Watt/Marmura 1985.

, die jeweils unter-schiedliche Auffassungen über das Verhältnis von Gottes All-macht und Gerechtigkeit und der Vorherbestimmung hattenund daraus Folgerungen über die Verantwortung der Gläubi-gen und ihre Willensfreiheit zogen. Die Mu’tazila stellt ingewisser Weise einen Bruch mit allen bisherigen »Sekten« oder»Schulen« im Islam dar. Bisher war – gleich welche, und sei esnoch so radikale Position die Theologen jeweils eingenommenhatten – immer von der Einheit von Glauben und Wissen ausge-gangen worden. Die Mu’tazilla kündigte diesen Konsens auf,nicht indem sie die Wahrheit des Glaubens anzweifelte, son-dern indem sie die Eigenständigkeit der Vernunft betonte, umsich die Wahrheiten des Glaubens auch rational erschließen zukönnen. Dies hatte zwei entscheidende Konsequenzen. Gingman davon aus, dass die Wahrheit der göttlichen Botschaft rati-onal beweisbar war, dann war der menschliche Verstand undnicht mehr ein heiliger Text der letzte Richter in allen Fragen.Die Mu’tazila entfernte sich also von der Schriftgläubigkeit, diebisher die islamische Theologie (übrigens genau wie die christ-

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liche) bestimmt hatte. Die andere Konsequenz war, dass manvon einer Welt ausging, die Gott, der höchste Vernunft war,auch vernünftig geschaffen und geordnet hatte. Dies bedeutete,dass man jede Unstimmigkeit im Glauben, die man mittels derVernunft entdeckte, als nicht von Gott stammend und damitnicht zum »wahren« Glauben gehörig ansehen konnte. Wasalso widersprüchlich oder gar widersinnig in der Religion war,gehörte nicht zur »wahren« göttlichen Botschaft, auch wennman es bisher vielleicht gerade als ihren spirituellen Gehalt, dersich der Vernunft entzog, gedeutet hatte.

Es ist oft zu lesen, die Doktrin der Mu’tazila seien einer ratio-nalistischen Philosophie entlehnt und liefen damit auf eine Re-lativierung der Gültigkeit religiöser Überzeugungen im Islamhinaus oder sie seien sogar Vorläufer einer Religionskritik. InWahrheit waren die Mu’taziliten strenggläubige Muslime, dieweder Muhammad als »Siegel der Propheten« (also als letztenPropheten Gottes) noch den Koran als Gotteswort in Fragestellten. Aber ihre theologischen Überzeugungen waren mitdem Ziel der Widerspruchsfreiheit gerade auch in Glaubens-fragen formuliert, und dementsprechend unterschied dieMu’tazila sich deutlich von der orthodoxen Theologie, mit dersie im Dauerkonflikt stand.

So waren die Mu’taziliten etwa davon überzeugt, dass Got-tes Gerechtigkeit die Willensfreiheit des Menschen mit ein-schloss. Aus diesem »Prinzip der Gerechtigkeit« ergab sichaber folgerichtig, dass Gottes Allmacht durch die Willensfrei-heit des Menschen zumindest im Diesseits relativiert wurde,und die Willensfreiheit wiederum bedeutete, dass nun diemenschliche Vernunft die einzige weltliche Richterinstanz war.Das »Prinzip der Gerechtigkeit« war also der Ausgangspunktfür eine Reihe von scholastischen Denkfiguren, die ihrerseitsdas Misstrauen der orthodoxen Gelehrten hervorrief. Auchwaren sie mit eine Ursache für den antiintellektualistischenSpott, der über die mu’tazilitischen Theologen in der islami-

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schen Welt verbreitet wurde, ähnlich dem, den sich die christli-chen Scholastiker des Mittelalters ausgesetzt sahen. Aber eswar solch spekulatives Denken, das eine nachhaltige Wirkungauf die Philosophie im Islam wie im Christentum hatte und dasInteresse an griechischer Philosophie in ihren Originaltextenförderte. Zugleich verselbstständigte sich hier philosophischesDenken aus den Wurzeln theologischer Spekulation.

Das »Prinzip der Gerechtigkeit« führte zu Konsequenzenfür die Ethik, nämlich zu Implikation des Könnens in das Sol-len oder des Vermögens zum richtigen Handeln in die Pflich-tenlehre. Es ist ein schönes Beispiel für die Weiterentwicklungeines theologischen Problems zur philosophischen Spekula-tion in der arabisch-islamischen Kultur, ohne dass hier Mut-maßungen über den Einfluss griechischen Denkens notwendigwären. Die Mu’taziliten waren sich einig, dass Gott keine Stra-fen über die Menschen verhängen würde, wenn er ihr Handelnvorherbestimmt hätte, oder umgekehrt: Die Drohung mit denHöllenqualen war nur dann gerecht, wenn der Mensch zuvortatsächlich frei nach seinem Willen über sein Handeln ent-scheiden konnte. Daraus folgte aber auch, dass Gott den Men-schen nur solche Pflichten auferlegte, die sie erfüllen können,wenn sie die Einsicht dazu haben. Der berühmte mu’tazilitscheSchriftsteller al-Djahiz (gest. um 869) überliefert einen Satz desTheologen Mu’ammar (gest. um 830): »Man muss die Entde-ckung des Menschen durch sich selbst vor die Entdeckung vonetwas anderem stellen.« (Zit. nach Pellat 1967, 55) Nach die-sem Verständnis steht vor der Erörterung der Gebote die Erör-terung der Möglichkeiten des Menschen überhaupt. Ein Sollenzu beschreiben, heißt die Prinzipien der Vernunft in Beziehungzu setzen zu den Gründen für ein Sollen, die in der Erfahrungs-welt des Menschen vorkommen, und ihn dann zu einem Urteilüber ein Sollen zu nötigen. In dem vernünftigen Schluss, etwastun zu sollen, ist dann das Können impliziert. Dies kommt derkantischen Formel des »Sollte impliziert Kann« schon recht

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nahe4

4 Was der Mensch »auf den Geheiß seiner moralisch-gebietendenVernunft will, das soll er, folglich kann er es auch tun (denn dasUnmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten)«. ImmanuelKant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, 1. Teil § 12

. Das »leidenschaftliche Bemühen um die Klärung desVerhältnisses von Glauben und Wissen, von Offenbarung undrationaler Wahrheits- und Werterkenntnis« (Endreß 1991, 60)wirkte so auf die Philosophie zurück. Die Mu’tazila ist also fürdie Philosophie im Islam sogar bedeutender als für die Theolo-gie, in der sie weniger Spuren hinterließ und von der Orthodo-xie überlagert wurde. Für kurze Zeit zu Beginn des 9. Jahrhun-derts von den abbasidischen Kalifen zu einer Art Staatsdoktrinerhoben, verlor die Mu’tazila zur Mitte des Jahrhundertszunehmend an Einfluss und sah sich später sogar massiven Ver-folgungen durch die orthodoxe Theologie ausgesetzt.

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2 Die Kultur der klassischen Epocheund das Zeitalter der Übersetzungen

Folgen wir einer chronologischen Darstellung, dann sind dietheologischen Schulen und »Sekten«, von denen bisher dieRede war, vor allem ein Phänomen des sich formierenden Islamals Weltreligion nach Muhammads Tod (632) bis zum 9. Jahr-hundert. In der Zeit der ersten vier Nachfolger des Propheten inder Führerschaft der Umma (den sog. »rechtgeleiteten Kali-fen«) und in der nachfolgenden Umayyaden-Dynastie in Da-maskus breitete sich der islamische Einflussbereich enorm aus.Als 750 die Umayyaden von den Abbasiden gestürzt wurden,reichte der islamische Einfluss von Nordspanien bis zum Indus.In dieser Zeit verfügte lediglich das chinesische Großreich übereine ähnliche Ausdehnung und Macht. Trotzdem war inner-halb des islamischen Kalifats die »Einheit der Gläubigen«durch den Islam eine reine Fiktion. Die politische Realität wargeprägt von den Auseinandersetzungen zwischen den sozialenKlassen, den arabischen Muslimen und den Neumuslimen dereroberten Gebiete, zwischen städtischer, bäuerlicher und bedu-inischer Lebensweise. Die theologischen Debatten waren dabeidas Spiegelbild sozialer und politischer Auseinandersetzungen.Von einer politischen Einheit im neuen islamischen Großreichkann also keine Rede sein. Sehr schnell verloren die Kalifen diedirekte Kontrolle über weite Gebiete ihres nominalen Staatsge-bietes; sie herrschten vor allem über die Städte und die frucht-

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baren Gebiete. Ihre Statthalter in fernen Provinzen erlangtenweitgehende Selbständigkeit, aus der in vielen Fällen eigenelokale Dynastien hervorgingen. Das zu Beginn des 8. Jahrhun-derts eroberte Spanien schließlich machte sich unter einem der750 von den Abbasiden vertriebenen Umayyaden völlig unab-hängig. Die Abbasiden-Kalifen, die zu Beginn ihrer Herrschaftmit Bagdad eine neue Residenz erbaut hatten und von dort ausunumschränkt herrschten, verloren ihre zentrale Macht imislamischen Reich und herrschten seit dem 10. Jahrhundert nurnoch über ihre Hauptstadt und die umliegenden Gebiete.

Die Entstehung eines Weltreiches

Diesem Wegfall einer starken Zentralgewalt stand erstaunli-cherweise eine geeinte Gesellschaft in Ökonomie, Sprache undKultur gegenüber. Die neuentstandene muslimische Welt ent-wickelte nicht nur eine große Zahl von Macht- und Kulturzen-tren, sondern auch intensive Verbindungen zwischen ihnen.Ökonomisch fiel dem Reich die Transferfunktion im internati-onalen Ost-Westhandel zu, und die damit verbundenen Reich-tümer führten auch zu einer Weiterentwicklung der Ökonomie.Nicht mehr nur Händler bewohnten die Städte, sondern Produ-zenten von Manufakturwaren: Waffen, Stoffe, Zucker oderPapier wurden auch für den Export hergestellt. Die Sicherheitund der Wohlstand der Städte wiederum belebte die Landwirt-schaft. Die Bauern fanden größere Absatzmärkte und profitier-ten vom militärischen Schutz und der politischen Stabilität derStädte, während umgekehrt reiche Händler in die Landwirt-schaft investierten und sich dadurch die Versorgungslage in denStädten verbesserte. Die wirtschaftliche Prosperität fördertetechnologische Entwicklungen, etwa in der Metallverarbeitungoder im Bewässerungswesen. Die weitreichenden Handelsbe-ziehungen erforderten geographische Kenntnisse, die zuneh-mende Seefahrt im Mittelmeer, im indischen Ozean bis nach

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China hin verlangte die Orientierung an den Sternen und diePositionsbestimmung durch entsprechende Geräte. Wissen-schaften wie Astronomie, Optik, Physik, Geometrie und Ma-thematik nahmen ihren Aufschwung. Die Zunahme der Kennt-nisse hatte wiederum Auswirkungen auf die Alltagswelt.

Vergleicht man die Beschreibung mittelalterlicher StädteEuropas mit denen des Orients, fallen diese nicht nur durch ihreschiere Größe, sondern zudem durch hohe zivilisatorischeStandards auf: Kanalisation, gepflasterte Straßen und Straßen-beleuchtung werden in Europa erst im 19. Jahrhundert zurNorm, während sie, zumindest in den Metropolen wie Damas-kus, Bagdad oder den persischen und spanischen Städten seitdem 9. Jahrhundert bezeugt sind. Diese kulturelle Blüte be-gründet sich neben den ökonomischen Voraussetzungen außer-dem in der Sprache und in der Assimilation der eroberten Völ-ker. Das Arabische war die Sprache des Koran und insofern dasBindeglied zwischen Muslimen jeglicher Herkunft. Das neu-entwickelte Gedanken- und Rechtssystem des Islam fußte aufdieser Grundlage, und sein Verständnis und seine Weiterent-wicklung erforderten die Beherrschung der Sprache. Schon vorder Eroberung durch die Muslime von der arabischen Halbin-sel sprach die Bevölkerungsmehrheit in Syrien und im Westirakarabische Dialekte. Mit der Ausdehnung des Reiches wurdedas Arabische zur Hochsprache der Gebildeten, der politischenund religiösen Eliten und der Kaufleute. Als Schriftsprachewurde sie auch dort übernommen, wo sich die Menschen wei-ter ihrer Muttersprache bedienten, wie etwa im Iran und späterunter den osmanischen Türken. Die Folge war, dass in dergesamten islamischen Welt eine Universalsprache zur Verfü-gung stand, in der sich nicht nur die Gelehrten austauschen undmiteinander kommunizieren konnten. Das erklärt auch dieVerbreitung philosophischer Schriften schon kurz nach ihrerEntstehung. Die Technik der Papierherstellung, die die Kostenfür Bücher erheblich senkte, tat ein Übriges.

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Mindestens so wichtig wie die Sprache aber war das Ver-hältnis der siegreichen Muslime zu den Eroberten. Wiejede Eroberung war auch die muslimische Expansionkeine Idylle, sondern mit Zerstörung und Gewalttatenverbunden. Aber die muslimischen Eroberer waren aufdie Kenntnisse der Eroberten angewiesen, um praktischaus dem Nichts heraus staatliche Strukturen aufbauen zukönnen. Juden, Christen, Zoroastrier und andere Mono-theisten galten als Schwesterreligionen des Islam undwaren für die Muslime als Bundesgenossen akzeptabeloder wurden zumindest geduldet. Die neuere Forschungschätzt, dass am Ende des Umayyaden-Kalifats nur zehnProzent der Bevölkerung in den eroberten Gebieten Mus-lime waren. Lediglich heidnische Kulte, die der Koran alsGötzenanbetung verdammte, mussten mit gewaltsamerBekehrung rechnen.

Hier liegt der Hauptunterschied zum christlichen Kreuzzugsge-danken, der die – auch gerade gewaltsame – Bekehrung der»Heiden« zum eigentlichen Ziel erklärt, um die politischen undökonomischen Interessen der Eroberer als sekundär erscheinenzu lassen. Man denke hier etwa an die karolingische Expansiongegen Sachsen und Slawen, an die späteren Kreuzzüge nachOsteuropa und schließlich an die Eroberung des »HeiligenLandes« und die spanische Reconquista. In der islamischenWelt änderte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung erstim 10. und 11. Jahrhundert entscheidend; danach war einGroßteil der Bevölkerung muslimisch.

Die Zeit des Umayyaden-Kalifats und die ersten zwei Jahr-hunderte der Abbasiden-Herrschaft (also bis etwa 1000) warengeprägt von Offenheit und Toleranz gegenüber Andersgläubi-gen und auch gegenüber wissenschaftlich-philosophischer

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Gelehrsamkeit. Dies ist weniger auf eine theoretisch begrün-dete Ethik zurückzuführen als auf ein pragmatisches Herange-hen an die Herausforderungen des Alltags. Den arabischenEroberern war alles willkommen, was das Leben erleichterteund verlängerte. Medizinische Kenntnisse waren interessant,weil der Bedarf an Ärzten nicht nur am Kalifenhof wuchs, son-dern auch bei dem wohlhabenden Bürgertum, das sich in denStädten zu bilden begann. Mathematik war interessant, weildie eigenen Kenntnisse zur Berechnung von Feiertagen und Fas-tenzeiten, aber vor allem wegen der komplizierten Erbanteile,der Beuteverteilung und der Steuern nicht ausreichten. Weilder expandierende Staat und der Handel Karten benötigte,brauchte man Geographen, und um erobertes Land zu vermes-sen und als Beute zu verteilen, waren Geometrie und Astrono-mie nötig. Letztere war auch für die Festlegung der Gebetsrich-tung (qibla) wichtig, die in dem nun riesigen Reich ohne Wis-senschaft nicht mehr möglich war. Durch die Kenntnisse derGelehrten in den ehemals byzantinischen und sasanidischenBesitzungen stieß man auf die »Wissenschaft der Alten« (ulumal-awa’il). Darunter verstand man nicht nur die Texte der grie-chisch-hellenistischen Tradition, die alle Themen der antikenWissenschaften einschließlich der Philosophie beinhaltete, bishin zum frühchristlich-neoplatonischen Denken. Für die musli-mischen Gelehrten schloss die »Wissenschaft der Alten« durch-aus auch alles mit ein, was an »Weisheitslehren« vorgefundenwurde, und das konnte mystisch-esoterisches Gedankengutebenso meinen wie indische Mathematik. Deutlich werdenauch hier die Verbindungslinien zwischen muslimischer undhellenistischer Kultur, die das Christentum ebenso wie »heidni-sche« Kulte mit einschloss.

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Das Zeitalter der Übersetzungen

Die Epoche zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert wird häufigdas »Goldene Zeitalter Arabiens« genannt. Es war die Epocheder abbasidischen Kalifen. Tatsächlich war es eine Zeit derBlüte von Kunst, Wissenschaften und besonders der Philoso-phie. Aber dieses Goldene Zeitalter war in Wirklichkeit keinausschließlich »arabisches«; an der kulturellen und ökonomi-schen Blüte hatten nichtarabische Völker einen mindestensebenso großen Anteil. So sind viele große Philosophen undWissenschaftler keine Araber gewesen. Sowohl der Islam alsauch das Arabische als Hochsprache waren zwar verbindendeGlieder zwischen den Völkerschaften, doch gerade die Spracheund die aus ihr erwachsende Kunst und Wissenschaft war eineAngelegenheit der Eliten. So präsentiert sich die historischeEpoche der Abbasiden-Kalifen weder politisch noch sozialoder in der Selbstwahrnehmung der Zeit als Einheit.

Am Beginn der Blütezeit der arabisch-islamischen Philoso-phie stand die Tätigkeit der Übersetzerschulen. Diese warenzunächst eindeutig in der außerislamischen Kultur angesiedelt;die Sabier von Harran (das antike Carrhae im nördlichenMesopotamien) und die Ärzteschule von Djundischapur sindBeispiele dafür. Auch die medizinische und philosophischeSchule von Alexandria, die 718 von dort nach Antiochia umge-siedelt war, gehört in diesen Zusammenhang. Schon im frühen8. Jahrhundert, in der späten Umayyadenzeit, waren medizini-sche, mathematische und astronomische Texte aus dem Grie-chischen ins Arabische angefertigt worden. Aber erst unter denAbbasiden folgte eine wahre Flut von Übersetzungen, die nichtnur durch die schiere Menge, sondern auch hinsichtlich ihreswissenschaftlichen Niveaus bemerkenswert ist. Das lag einmalan der »Erschließung« des Arabischen als Schriftsprache. Siegeht direkt auf den Islam zurück, denn sie war die Sprache, inder Gott den Koran offenbart hatte. Zunächst gab es dafür

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keine einheitliche Schriftsprache, und so wurde der Koran teil-weise mündlich tradiert oder nach unterschiedlichen Systemenaufgezeichnet. Erst unter dem »rechtgeleiteten« Kalifen Uth-man (Osman, gest. 656) kam es zu einer einheitlichen Samm-lung, und dies beförderte die Entstehung einer arabischenSprachwissenschaft, die sich nun mit der Ausgestaltung derSprache befasste. Folglich waren Texte zur Grammatik auchmit das erste, was aus fremden Sprachen, etwa dem Griechi-schen, in die neue arabische Sprache übersetzt wurde. Hier lagein praktisches Interesse vor, wie überhaupt die Wissensaneig-nung durch die Muslime besonders vom konkreten Nutzengeleitet war und dabei erstaunlich vorurteilsfrei. Zugleicherleichterte die nun entstehende gemeinsame Hochsprache dieIntegration der Nichtaraber und den Dialog mit Nichtmusli-men. Dieser beförderte, etwa in den Disputationen zwischenden Mutakallimun und den christlichen oder manichäischenGelehrten, die Aufnahme antiken Denkens, an dem auch diepersische Elite besonders interessiert war. Die Tradition grie-chischer Philosophie war im vorderen Orient nie völlig abge-brochen. Plotin und seine Nachfolger, etwa Porphyrios undProklos, hatten ein System des Neoplatonismus aufgebaut, dasAristoteles nach ihrer Interpretation und Lehre tradierte. Nachder Schließung der platonischen Akademie in Athen durch Jus-tinian 529 floh die Schule; sie ließ sich sowohl in Djundaschi-pur, Harran, als auch in Ägypten nieder. Hier lag ein Schwer-punkt der Lehr- und Forschungstätigkeit der Philosophen aufLogik, Ethik, Mathematik (mit den Disziplinen des Quadri-vium: Geometrie, Arithmetik, Musiktheorie, Astronomie) undschließlich Astrologie. Zunehmend unter christlichen Einflussgeratend, trat an die Stelle der Überlieferung platonischer Dia-loge (mit Ausnahme des Timaios) ein neoplatonisch interpre-tierter Aristoteles. Die Paraphrase von Texten aus PlotinsEnneaden als »Theologie des Aristoteles« charakterisiert viel-leicht am treffendsten diese »Versöhnung des philosophischen

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und des religiösen Denkens« (Endreß 1990, 11). Nicht vonungefähr ist gerade dieser Text einer der ersten philosophi-schen, den die Araber übersetzten. Unter dem abbasidischenKalifen al-Ma’mun (813–833) stieg nicht nur die Zahl derÜbersetzungen stark an, auch ihr Themenschwerpunkt verla-gerte sich: In größerem Umfang wurden jetzt philosophischeTexte übersetzt.

Die neue Hauptstadt Bagdad war das Verwaltungszentrumdes riesigen arabischen Reiches. Zugleich lag sie in der Mittedes Handelsweges, der die beiden großen Meere der »zivilisier-ten Welt« miteinander verband: das Mittelmeer und den indi-schen Ozean. Die islamische Welt war in dieser Zeit der Schau-platz eines rasanten urbanen Aufschwungs, in dessen Folge ihreMetropole eine der bedeutendsten Kontaktzonen im räumli-chen wie im ökonomischen und technisch-kulturellen Sinnewurde. Dank ihrer Lage in der Mitte der »Alten Welt« und ihrerHerrschaft über die Länder zwischen den beiden Meeren standsie in direktem Kontakt mit den anderen Zentren städtischerKultur. Dadurch relativierte sich allmählich auch der Einflussder antik-hellenistischen Kultur auf die Wissenskultur imIslam. Viele technische und wissenschaftliche Neuerungen ent-stammten nun, zumindest als Denkanstöße, der indischen undchinesischen Kultur. Man denke etwa an die Mathematik (die»arabischen« Zahlen sind eigentlich »indische«) oder an diePapierherstellung. Diese Phase der islamisch-arabischen Kulturist vor allem gekennzeichnet durch die Vermischung unter-schiedlichster Einflüsse, von denen das griechisch-hellenisti-sche Erbe nur ein Teil ist, wenn auch der für die Philosophiebedeutendste. In dieser für Neuerungen offenen, wissbegieri-gen Welt fehlte es aber an sprachkundigen Vermittlern, dieTexte von zentralem Interesse hätten übersetzen können.Neben dem praktischen Interesse an dem »Wissen der Alten«,nämlich durch Naturbeherrschung das alltägliche Leben zuerleichtern, tritt zu Beginn des 9. Jahrhunderts auch der Ver-

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such, die mu’tazilitische Doktrin durch die Berufung auf dieAutorität der großen antiken Philosophen zu stützen. Nichtumsonst war es eben jener Kalif al-Ma’mun, der um 830 eineÜbersetzerschule mit großer Bibliothek in Bagdad gründenließ: das »Bait al-hikma«, das »Haus der Weisheit«. Hier wur-de neben der obligatorischen islamischen Gesetzeskunde unddem Koranstudium vor allem Logik und Medizin gelehrt. Indem Maße, in dem Übersetzungen griechischer Autoren vor-lagen, wurde deren Philosophie in den Unterricht integriert.Solche Übersetzungen anzufertigen war die zweite, bald wich-tigste Aufgabe des Bait al-hikma.

Der erste Leiter dieser Einrichtung war Hunain ibn Ishaq(ca. 809–873), ein nestorianischer Christ, Arzt in Djundischa-pur, der zunächst als Hofarzt für den Kalifen tätig war und sichdabei auch der Patronage wohlhabender Bagdader Handels-herren erfreute. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die grie-chische Texte meist nur aus dem Syrisch-Aramäischen über-setzt hatten, konnte er Griechisch. Er entwickelte eine eigeneÜbersetzungsmethode, indem er Vorlagen kollationierte, alsoverschiedene Textvorlagen miteinander verglich, bevor er dieeigentliche Übersetzung erstellte. Im Bait al-Hikma versam-melte er eine Gruppe ähnlich kompetenter Mitarbeiter um sich,darunter seinen Sohn Ishaq (gest. 910), seinen Neffen Huba-ysch (gest. 890) und Isa ibn Yahya (gest. 910). Der große Ge-lehrte Thabit ibn Qurra (gest. 901) aus Harran übersetzte nichtnur die Physik des Aristoteles, sondern auch einen umfangrei-chen Kommentar zu ihr. Ein anderer bedeutender Übersetzerwar der aus Baalbek im Libanon stammende Qusta ibn Luqa(ca. 820–912), der wahrscheinlich griechischer Abstammungwar. Aus seiner Feder stammen Übersetzungen und zahlreicheVerbesserungen älterer Versuche sowie auch eine Reihe eigen-ständiger philosophischer Texte. Berühmt wurde seine Über-setzung der Placita philosophorum des Pseudo-Plutarch, eineSchrift, die vor allem das arabische Verständnis der griechi-

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schen Naturphilosophie förderte und die Araber erstmals um-fassend mit den Vorsokratikern und den Texten der Stoa ver-traut machte. Dieses Werk ist insofern besonders interessant,weil es die Arbeitsweise der Übersetzer verdeutlicht. Sehr baldbegnügten sie sich nämlich nicht mehr mit der bloßen Übertra-gung aus den Originalen, sondern fügten diesen Kommentie-rungen und Erläuterungen hinzu. Hinsichtlich der reinen Über-setzung ist Ibn Luqas Text erstaunlich exakt.

In nur etwas mehr als einhundert Jahren entstand durch dieÜbersetzungen ein umfassender Fundus antiker Philosophieund Wissenschaften. So lag zu Beginn des 10. Jahrhunderts diefast vollständige Übersetzung der Werke des Aristoteles vor,etwa das gesamte Organon einschließlich Rhetorik und Poetik,sowie die metaphysischen und die naturwissenschaftlichenSchriften. Dagegen scheinen die Schriften zur Ethik und Politikerst später übersetzt worden zu sein. Anders verhielt es sich mitden Werken Platons. Sein Denken hatte großen Einfluss auf diearabisch-islamische Philosophie, aber erstaunlicherweise warnur ein Bruchteil seiner Dialoge vollständig ins Arabische über-tragen worden. Vielmehr existierten von fast allen DialogenSummarien oder Paraphrasen. In die Rezeption Platons misch-ten sich von Beginn an neoplatonische Einflüsse. Oft hielt mandas, was von Plotin, Porphyrios oder Proklos stammte, für pla-tonische Texte oder, wie am Beispiel der bereits erwähntenberühmten »Theologie des Aristoteles«, gar für aristotelischesDenken. Erst die spätere arabische Philosophie, vor allem Spa-niens, hat hier mehr Klarheit geschaffen. Interessant ist dabei,dass die Araber Plotin selbst nicht kannten. Zwar war ihnender Name in seiner arabisierten Form, Flutinus, geläufig, dochidentifizierten sie diesen mit einem Aristoteles-Kommentatorder Spätantike, nicht mit dem Verfasser der Enneaden. Nebenden antiken Philosophen galt die Übersetzungstätigkeit auchanderen wissenschaftlichen Feldern. Medizinische Schriften,die mathematischen und naturwissenschaftlichen Texte der

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Antike nebst solchen zur Musik wurden gesammelt und über-setzt. Lange bevor in Europa Kenntnis davon genommenwurde, hatten die Araber die Elemente des Euklid, den Alma-gest des Ptolemäus oder Archimedes übersetzt. Damit war dieGrundlage für eine Blüte der Wissenschaften geschaffen wor-den.

Die oft verbreitete Auffassung, in der Bewahrung undÜbermittlung antiker Wissenschaft habe sich die histo-rische Leistung der islamischen Kultur erschöpft, istgrundfalsch. Vielmehr begann nach der ersten großenWelle der Übersetzungen die produktivste Phase der ara-bisch-islamischen Geisteswelt, nämlich als Aufstieg derWissenschaften. In Mathematik und Astronomie, in Op-tik und Chemie, in Medizin und schließlich der Philoso-phie entwickelten die Muslime die Wissenschaften aufder Grundlage der »Alten« und den Kenntnissen andererVölker, wie etwa der Perser und Inder, weiter. Dagegenfehlte ihnen das Interesse an den antiken Historikern undDichtern fast völlig. Dies unterscheidet tatsächlich diespätere europäische Antikenrezeption von der arabisch-islamischen. Für die umfassende Aufnahme des antikenWissens war das allgemeine kulturelle »Klima«, nämlichdie Offenheit für neues Wissen, die Neugierde und dieausgesprochen pragmatische Lebenseinstellung der meis-ten Muslime sehr wichtig. Mindestens so bedeutsam wardie Entwicklung der kulturellen Techniken zur Wissens-vermittlung.

Nicht nur das Bait al-Hikma, sondern viele Einrichtungen zurWissensvermittlung entstanden, und vor allem ein umfangrei-ches Bibliothekswesen. Am Ende des 9. Jahrhunderts hatte

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Bagdad mehr als 30 öffentliche Bibliotheken, deren größteeinen Bestand von hunderttausend Bänden hatte. Die großeBibliothek von Corduba soll es am Ende der Regierungszeit desKalifen al-Hakam II. (gest. 976) gar auf vierhunderttausendBände gebracht haben. Nichts im christlichen Mittelalter lässtsich damit vergleichen. Selbst die größten Klosterbibliothekenwiesen kaum mehr als einen Bestand von einigen hundertBüchern auf. Auch die größten Klöster verfügten über keineeigenen Räumlichkeiten für ihren kleinen Bestand; in SanktGallen etwa war die Bibliothek in einem Winkel am Choruntergebracht. Damit erklärt sich allmählich das enormeGefälle zwischen der mittelalterlichen Wissenskultur im Islamund im christlichen Abendland. Die Phase der Übersetzungenbildet, neben der Entwicklung der Theologie, eine zweiteVoraussetzung für die Entstehung des systematischen Philoso-phierens im Islam. Beide gehen ineinander über. Der erste große»Systematiker«, al-Kindi, lebte zur Zeit der großen Übersetzer,und es ist bekannt, dass der Gelehrte Ibn Na’ima al-Himsi(gest. 835) just die so einflussreiche »Theologie des Aristote-les« für al-Kindi übersetzte. Damit begann die Phase der zahl-reichen bedeutenden neoplatonischen Philosophen im Islam.

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3 Der Beginn der systematischenPhilosophie im Islam:al-Kindi und ar-Razi

Systematisches Philosophieren bedeutete zunächst, dass dieDenker auf bestehende philosophische Systeme zurückgriffen,also auf die große Philosophie der Antike und Spätantike: Pla-ton, Aristoteles und die Neoplatoniker. Es bedeutet aber auch,dass die islamischen Philosophen ihrerseits philosophische»Systeme« der Welterklärung aufzustellen begannen, die mög-lichst alle Bereiche des philosophischen Denkens behandelten(und dazu gehörten zumindest prinzipiell auch die heute sogenannten Naturwissenschaften). Dabei flossen unterschiedli-che Elemente der antiken Vorbilder ein, die aber im Ergebnis zueiner autonomen Weltbetrachtungen führten. Die arabisch-islamische Philosophie in ihrer »klassischen« Epoche ist kei-neswegs epigonenhaft. Diese Entwicklung von den Vorbildernhin zu eigenständigen philosophischen Systemen machte auchdie christliche Philosophie Europas durch. Allerdings müssenbeide Philosophien soziologisch völlig anders verortet werden.Das Philosophieren in Europa war gekennzeichnet durch seineNähe zum Klerus; Philosophie war ein Teil der Theologie, unddie »Philosophen« waren Geistliche, zunächst vor allem Mön-che. Erst im ausgehenden Mittelalter und in der Renaissancetaucht deshalb im europäischen Kontext der »Philosoph« alseigenständiger akademischer Lehrer und Wissenschaftler auf.Dagegen entstammten im islamischen Kontext die Gelehrten

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Schulen, die einen »praktischen« Schwerpunkt vermittelten. Sowar die Mehrzahl der »großen« Philosophen des Islam an denneu gegründeten Ärzteschulen ausgebildet worden, und ihrRuhm stützt sich in einigen Fällen auch auf ihr medizinischesWissen. Die Ärzteschulen vermittelten nicht nur medizinischeKenntnisse, sondern möglichst den ganzen Kanon des damalsbekannten Wissens, und dies schloss so unterschiedliche Ge-biete ein wie »Naturwissenschaften«, Astronomie, Mathema-tik, Philosophie und Logik, Korankunde und islamischesRecht. Entsprechend breit gefächert war das wissenschaftlicheInteresse der arabisch-islamischen Gelehrten; kaum einer, dernur auf einem Wissensgebiet glänzte. Ähnlich breit gefächertesWissen vermittelten auch andere Bildungsstätten, etwa das Baital-Hikma, ähnliche Übersetzerschulen und anfänglich durch-aus auch die Koran- und Rechtsschulen.

3.1 al-Kindi und das Denken des Neoplatonismus

Umfassende Kenntnisse in allen Wissenschaften kennzeichnenauch das Werk des ersten der großen arabisch-islamischen Phi-losophen. Abu Yusuf Ya’qub Ibn Ishaq al-Kindi wurde um dasJahr 800 in der südirakischen Stadt Kufa geboren. Dort warsein Vater Gouverneur der Abbasiden. Al-Kindi entstammteeinem alten Königsgeschlecht aus dem südarabischen Hadra-maut und dem Stamm der Kinda, daher sein Name, »al-Kindi«.Schon zu Lebzeiten nannte man ihn den »Philosophen der Ara-ber«, und tatsächlich blieb er für lange Zeit der letzte bedeu-tende arabischstämmige Philosoph. Über seine Ausbildung istnichts bekannt, aber über deren Ergebnis: an-Nadims »Fih-rist«, eine im 10. Jahrhundert entstandene Sammlung aller seitMuhammad verfassten Schriften im Islam, zählt 240 Titel sei-ner Werke auf. Diese Liste enthält zwar auch kurze Aufsätze

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und Briefe, doch beeindruckt vor allem die Fülle der Themen,die behandelt werden: Philosophie, Theologie, Logik, Astrono-mie, Alchemie, Arithmetik, Geometrie und Musik.

Ein bedeutendes Werk, das von dieser Fülle erhalten blieb,war al-Kindis Abhandlung Über die erste Philosophie, die erdem Kalifen al-Mu’tasim (gest. 842) widmete. Mit ihm ver-band al-Kindi ein besonderes Verhältnis. Er wurde zu seinemvertrauten Ratgeber und Lehrer seines Sohnes Ahmad. Auchdem Nachfolger des Kalifen, al-Watiq (gest. 847), stand er alsBerater zur Seite. Unter der Herrschaft des Kalifen al-Muta-wakkil (gest. 861) wurde er das Opfer einer Hofintrige, fielbeim Kalifen in Ungnade und verließ Bagdad. Er starb um 873,angeblich verarmt und verbittert. Man kann diese Ereignisseallerdings auch in Verbindung mit dem sich wandelnden geisti-gen Klima der Zeit bringen: al-Mutawakkil war derjenigeKalif, der die »Inquisition« des Kalifen al-Ma’mun aufhob, diemu’tazilitischen Doktrin ablehnte und die These von der Ewig-keit des Koran zum offiziellen Dogma erhob. Damit setzte sichdie sunnitische Orthodoxie gegen die Mu’tazila durch, zu derenAnhängern auch al-Kindi gerechnet wurde. Was blieb, war derRuf, den al-Kindi sich als Gelehrter und vor allem als Philosopherworben hatte. Bei al-Kindi begegnet uns erstmals die für diearabisch-islamische Philosophie so wichtige Verbindung vonaristotelischem und neoplatonischem Denken oder andersgesagt: der neoplatonisch interpretierte Aristoteles. Hier istes wichtig, ein wenig auszuholen, um die Bedeutung diesesDenkens aufzuzeigen. Denn unserem »modernen« Bewusstseinscheint das neoplatonische Philosophieren fremd, um nicht zusagen absurd: von »Mondsphären« ist die Rede, vom »ausflie-ßen« (emanieren) des Intellekts von einer Sphäre in die nächste;all dies klingt eher nach Esoterik als nach Philosophie.

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Das neoplatonische Denken

Der Neoplatonismus ist der letzte der großen philosophischenEntwürfe der Antike, die nichts weniger wollen, als die Welt inihrer Gesamtheit zu erklären und zu erfassen. So unterschied-lich diese Philosophien in Detail auch sein mögen, sind sie alledem ontologischem Paradigma unterworfen. OntologischesPhilosophieren fragt nach dem, »was ist«, also was eine Sache,ein Ding, einen Sachverhalt zu dem macht, was es ist. In derKonsequenz waren sich alle antiken Philosophen einig, dassdieses »Sein« (griech. on), das die Essenz der Dinge ausmacht,eine andere Qualität haben müsse als ihre bloße materielleExistenz. Ontologisches Denken führt also weg von der kon-kreten Existenz des Stofflichen und hin zu dem Versuch, das»Wesen« der Dinge, eben ihr »Sein« zu begreifen. Philosophieist dann das »wissenschaftliche Erkennen der Wahrheit«, alsoder wahren Beschaffenheit des Seins, wie Aristoteles sagt (Me-taphysik 993b, 20). Dies schließt nicht nur die Gesamtheit derWelt und des Universums ein und wird dadurch zur kosmolo-gischen Welterklärung, sondern auch die Fragen nach demWesen dieser Weltordnung, ihrem Ziel (griech. telos) und Sinn.Damit gelangt ontologisches Philosophieren folgerichtig im-mer zur Frage nach der Beschaffenheit der Wahrheit und des»reinen« Seins selbst und damit zur Frage nach dem »Urgrund«allen Seins. Entsprechend vollzieht die Beantwortung der Fragenach dem Sein verschiedene Stufen oder Grade der Beschaffen-heit einer Sache nach sich: von der bloßen existentia, dem Das-Sein einer Sache, hin zur essentia, dem Was-Sein einer Sache.

Platon bestimmte das reine Sein als Idee (eidos). Die Philoso-phie hatte für ihn die Aufgabe, von der Ebene der bloßen Mei-nung (doxa) und des sinnlichen Scheins zur Ebene der Erkennt-nis (episteme) der Formen des wahren Seins zu wachsen: zumreinen Wahren, Guten und Schönen, das in der letzten Konse-quenz »eins« ist. Die Pointe der Ideenlehre Platons liegt darin,

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dass diese Erkenntnis des Seins eine Wiedererinnerung (ana-mnesis) ist: Die Seele, die in den Körper verbannt ist, gelangtdurch die systematische, »wissenschaftliche« Beschäftigungmit dem Wesen des Seins zurück zu ihrer Präexistenz vor ihrerVerbannung in den Körper, als sie die Ideen mit dem »Auge desGeistes« unmittelbar schauen konnte. Während unsere Sinneuns also etwas über die Außenwelt vermitteln, aber nie darüber,was das Wesen, die Essenz, das Sein dieser Welt ist, muss folge-richtig die Erkenntnis über das Sein bereits in uns geschlum-mert haben. Der Erkenntnisgang der Philosophie führt uns alsoweg von der Sinnenwelt, hin zu einer rein geistigen »Schau« derWelt, die freilich nur wenigen Weisen vorbehalten sein kann.

Platons großer Schüler Aristoteles geht dagegen davon aus,dass das menschliche Bewusstsein den Weg zur Erkenntnis desSein, zur Wahrheit, in jedem Fall vollziehen kann. Wenn diePhilosophie die Wissenschaft vom Allgemeinen, von den Grün-den und Ursachen und damit letztlich vom Wesen der Dingeund vom Sein ist, dann muss sie systematisch und damit lehrbarund für jeden nachvollziehbar sein. Folgerichtig beginnt Aris-toteles den Weg der Erkenntnis mit der Dingwahrnehmungdurch die Sinne, und so ist Wissenschaft nicht (wie bei Platon)»Wiedererinnerung«, sondern Erfahrung. Entsprechend vielWert legt Aristoteles auf die Methodik der Erschließung vonErfahrungsaussagen und auf die Begründung von Schlussfolge-rungen. Philosophie als Wissenschaft von den Gründen undUrsachen dessen, was ist, führt aber auch zu der Frage nach den»ersten« Gründen und Ursachen. Und damit muss auch Aristo-teles die Sphäre der Erfahrungswissenschaften verlassen undgelangt wie Platon auf das Feld der »immateriellen« Wesenhei-ten des Seins. Sinnvollerweise muss diese Frage nach den Er-kenntnissen über die physische, sinnlich wahrnehmbare Weltabgehandelt werden, und deshalb hat sie der Aristoteles-For-scher Alexander von Aphrodisias im zweiten vorchristlichenJahrhundert auch meta ta physika, »nach der Physik«, genannt

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(woher unser Wort »Metaphysik« stammt). Hier geht es umdas erste Prinzip des Seins, zu der man in einer Kette von Ursa-chen und Wirkungen folgerichtig gelangt. Aristoteles definiertedieses erste Prinzip als »unbewegt Bewegendes« (in Metaphy-sik 1012) und identifizierte es mit dem Prinzip des Göttlichen.Daraus wurde im theistischen Denken späterer Zeit der »unbe-wegte Beweger«, der mit dem personenhaften Schöpfergott ineins gesetzt wurde.

Deutlich wird jetzt, warum sowohl der Platonismus als auchdie aristotelische Philosophie in einer solch starken Beziehungzu den monotheistischen Weltreligionen stehen konnte: DieTheologien von Judentum, Christentum und Islam greifen glei-chermaßen auf die antiken philosophischen Welterklärungenzurück. Die platonische Ideenlehre verweist das reine Wah-re, das Sein, in eine immaterielle Sphäre, die nur durch die»Schau« der Seele zu erreichen ist. Hier wird der Platz für denGlauben geschaffen. Aristoteles lässt den göttlichen »erstenBeweger« zugleich als Teil einer Ordnung alles Seiendenerscheinen, die sich wiederum systematisch erschließen lässtund damit der Vernunft zugänglich ist. So kann die Welt als vonGott sinnvoll geordnet angesehen werden, nachvollziehbardurch die menschliche Vernunft, weil Gott selbst reine Ver-nunft ist. Hier wird der Platz für den Menschen als Vernunftwe-sen geschaffen. Wenn die mittelalterliche Philosophie nun er-bitterte Auseinandersetzungen über das Wesen der Vernunft imVerhältnis zum Wesen Gottes und des Glaubens führte, so ver-läuft die Bruchlinie zwischen den Philosophien meistens an derjeweiligen Betonung des platonischen oder aristotelischenErbes. Lediglich einige wenige Philosophen im islamischen undchristlichen Kontext des Mittelalters stellen sich durch ihr radi-kales Fragen und ihre Thesen außerhalb des ontologischenDenkens und bereiten damit dessen Ablösung vor. In der ara-bisch-islamischen Philosophie stand zu Beginn eine eindeutigeBetonung des neoplatonischen Erbes.

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Der Neoplatonismus war in der Spätantike ein letzter Ver-such, systematisch und nach einheitlichen Grundprinzipienplatonisches mit aristotelischem Denken zu versöhnen. Dabeiflossen andere, ihrerseits von den großen griechischen Denkernbeeinflusste Philosophien in den Neoplatonismus ein: Die Stoi-ker und die Gnostiker lieferten Beiträge. Umgekehrt wurde dasfrühe Christentum vom Neoplatonismus beeinflusst. Obwohlnicht der Begründer des Neoplatonismus, gilt doch der ausÄgypten stammende Philosoph Plotinos (205–270) als seinerster und wichtigster Vertreter. Orientiert an Platon geht auchPlotin davon aus, dass das »reine« Sein als ausschließlich Geis-tiges immateriell ist, und der Mensch in seiner Seele zwar noch»Anteil« daran hat, aber nur eine wage Ahnung, einen»Hauch« davon bewusst erkennt. Plotin fragt sich, wie dieserVerlust der reinen Erkenntnis zu erklären ist. Er stellt zunächstfest, dass die materielle Welt unserer Erfahrung dem Werdenund Vergehen unterworfen ist. Dagegen ist das Universum undseine Ordnung (die Griechen sprachen vom Kosmos) etwasBeständiges. Der Kosmos behauptet seine Existenz und seineOrdnung als Ganzes, auch wenn seine Bestandteile vergänglichsind. Daraus folgt für Plotin einmal, dass in dieser Ordnung dasUnvergängliche und Ewige genauso wie das Vergängliche undFlüchtige seinen festen Ort haben muss. Zweitens folgt, dassdas Unvergängliche von einer anderen, nämlich höheren Quali-tät sein muss als das Vergängliche. Damit werden zwei Charak-teristika des Neoplatonismus, die uns in der flüchtigen Betrach-tung »unphilosophisch« und bloß esoterisch-schwärmerischvorkommen, als sowohl ernsthafte Wissenschaft wie als Teilder platonisch-aristotelischen Tradition erkennbar.

Die Ordnung der »Welt« ist eine kosmologische, umfas-sende Ordnung, und diese Ordnung ist in »Stufen« vom

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unvergänglichen, reinen Sein hinab zur vergänglichen,bloß materiellen Existenz angelegt. Die in der neoplatoni-schen Philosophie so befremdliche Rede von den kosmi-schen »Sphären« bekommt dadurch ihren philosophi-schen Sinn. Die Ordnung des Makrokosmos, mit seinerunvergänglichen Ordnung der Gestirne, hinab zur verän-derlichen Welt, auf der wir uns bewegen, wird gespiegeltin der Ordnung, der wir selbst als denkende Wesen un-terliegen. Unsere materielle, körperliche Existenz ist dievergängliche, niedrigste Stufe des Seins, während unsereVernunft, der Geist, auf das unvergängliche, reine Seingerichtet ist.

Die Ordnung des Kosmos in Sphären geht auf die klassischegriechische Naturphilosophie und auf Aristoteles selbst zu-rück. Dieser hatte den Planeten Bahnen zugewiesen, nämlichSphären, auf denen sie sich bewegen. Um die Bewegung selbstzu erklären, nahm Aristoteles »Ausgleichssphären« an, diejeweils aufeinander wirken. Logischerweise mussten alle Plane-tenbewegungen letztlich auf die äußerste Sphäre zurückgehen,die selbst vom »unbewegten Beweger« angestoßen wurde. Die-ser »Anstoß« aber konnte nicht mechanisch erfolgen, denn der»erste Beweger« musste eine immaterielle Form haben, umnicht seinerseits wiederum Teil einer Ursache-Wirkungs-Rela-tion zu sein. Wodurch wurde also die Bewegung ausgelöst?Hier gab der Neoplatonismus eine faszinierende Antwort:durch das »Leben« selbst – griech. psyche –, was wir mit»Seele« übersetzen. Also fließt »Lebendigkeit« oder »Seele«von der höchsten Sphäre in die jeweils niedrigere; dieses Aus-fließen wird Emanation genannt. Auf der höchsten Stufe derkosmologischen Ordnung steht also der Urgrund allen Seins.Dieser Urgrund muss qualitativ etwas völlig anderes sein als die

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niedrigeren Stufen des Seins, und deshalb können wir, die wirals Menschen ja an die materielle, also eine niedrigere Seins-stufe gebunden sind, es auch nur mit Chiffren bezeichnen: alsdas »Ur-Eine«, weil es nicht in Teile zerlegt werden kann undkeiner Veränderung unterworfen ist, oder als das »Absolute«,weil es allumfassend ist und damit von unserem beschränktenDenkvermögen abgelöst. Es ist in einem strengen Sinn etwasÜberweltliches, Transzendentes, und nicht umsonst benutzt dieneoplatonische Philosophie dafür die Licht-Metapher: das Ur-Eine ist reines Licht, das uns Menschen blind macht. Aberschon Plotin nennt es auch den »Vater«, und damit ist die theis-tische Deutung des Ur-Einen als personaler Gott naheliegend.

Dem Urgrund des Seins folgt ein Stufenbau hinab zur »dunk-len«, bloß materiellen Existenz.

Die erste, »göttliche« Ebene des Lichts tritt auf der nächstenSphäre als reiner Geist (nus), als Denken-an-sich in Erschei-nung. Er verkörpert das Denken der reinen Ideen allen Seins.Damit diese reinen Gedanken die Kraft haben, sich zu materia-lisieren, emanieren sie in das Lebendige, nämlich die Weltseele.So zeigt sich das Ur-Eine, vermittelt über den Geist, lebendig inder Weltseele. Gott oder das Ur-Eine ist also in dreifacher Weisein der Welt: als reines Licht und Absolutes; als Geist, der die rei-nen Ideen verkörpert; und als belebende Weltseele. Nicht vonungefähr konnte gerade die christliche Theologie mit ihrerDreifaltigkeitslehre hier besonders gut an den Neoplatonismusanschließen. Dann folgt die Stufenfolge weiter hinunter bis zurgänzlich ungeformten Materie. Plotin setzt sie mit der absolu-ten Dunkelheit und dem Bösen gleich, und hier mischt sich eineDenkfigur der Gnosis in die neoplatonische Philosophie. FürClemens von Alexandria (150 – ca. 215) war »Gnosis« (grie-chisch für »Erkenntnis«) die Gotteserkenntnis in Ergänzungzum Glaubensakt des Christentums. Gnosis heißt aber aucheine religiös-philosophische Position, die in der römischenAntike aufkam und Gott nicht mittels rationaler Erkenntnis,

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sondern durch eine mystische »Schau« erreichen wollte. Damitwird Gnosis zu einer Art von »Geheimwissen«, das nur Auser-wählten zugänglich ist. Allen gnostischen Lehren gemeinsamwar aber der strikte Dualismus von Gut und Böse: Das Gute istdie Gottheit und das rein Geistige, das Böse die Materie und dieBegierden, die sie auslöst. Der Mensch – als beidem verhaftet –muss nach der Erlösung vom materiell-sündigen Leib streben.Ähnlich sah das auch der Neoplatonismus: Ziel des Menschenist die Loslösung von seiner Leiblichkeit, die das »Dunkle« und»Böse« der Seinsordnung verkörpert. Hier wird die neoplato-nische Kosmologie nun durch die Umkehrung der Stufenfolgenochmals interessant, weil sie als Teleologie verstanden werdenkann, nämlich indem sie den Menschen und der Welt ein Ziel(telos) vorgibt. So wie die Sphären in die jeweils niedrigereSeinsform emanieren, kann der Mensch den umgekehrten Weggehen. Kraft seiner Vernunft kann es ihm gelingen, sich von sei-ner Körperlichkeit und damit von dem Bösen in ihm frei zumachen und zur Schau des Einen, des Göttlichen zu gelangen.Dieses »Transzendieren« ist aber bei den Neoplatonikern kei-neswegs ein esoterisch-hysterisches Brimborium, sondern einan Aristoteles geschultes Ringen um Wissen: Es ist Philosophieals strenge Wissenschaft. Nur am Ende steht nicht (anders alsbei Aristoteles) der nüchterne Verweis auf die Existenz eines»unbewegt Bewegenden«, sondern ein mystisches Erlebnis,eine Gottesschau, die nur durch Weltabwendung und Askese zuerlangen ist.

Der Neoplatonismus zeigt sich uns als ein großer syste-matischer Entwurf der Welterklärung, der sowohl an pla-tonisches wie aristotelisches Philosophieren anschließt.Zugleich aber enthält er starke Elemente eines metaphysi-schen wie moralischen Dualismus, der in Leibfeindlich-

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keit, asketische Lebensweise und mystische Erfahrungenmündet. Genau hier lag auch das besondere Interesse derarabisch-islamischen Philosophen am Neoplatonismus.Er konnte begriffen werden als Fortführung und Lö-sungsangebot für die Debatten der frühen islamischenTheologie und der Mutakallimun um das Wesen Gottesund seiner Schöpfung und um das Verhältnis des Men-schen und seines Intellekts zum Wesen Gottes. Dabei wardie »Spitze« der kosmologischen Weltordnung des Neo-platonismus aus islamischer Sicht besonders problema-tisch, konnte sie doch sowohl ohne große Verfälschungals Symbol der christlichen Dreieinigkeit ausgelegt alsauch pantheistisch interpretiert werden und damit denallmächtigen Schöpfergott des Koran negieren. Darausergaben sich Fragen, an denen sich zumindest die erstengroßen Systematiker der arabisch-islamischen Philoso-phie abarbeiteten: Wie vollzieht sich die Emanation desUr-Einen, Göttlichen, zur nächsten Stufe, und wie istumgekehrt der Gang des menschlichen Geistes hin zur»Schau« des Absoluten genau zu verstehen?

Metaphysik und Intellekttheorie al-Kindis

Al-Kindi bemüht sich stärker als seine Nachfolger um die Ver-mittlung zwischen koranischer Botschaft und griechischer Phi-losophie. So lehnt er etwa als einziger der bedeutenden islami-schen Philosophen die aristotelische Auffassung von einer ewi-gen Welt ab zugunsten einer Schöpfung ex nihilo, aus demNichts, denn nur diese Auffassung ist mit dem koranischenSchöpfergott vereinbar. Dieser Wunsch nach einer Einheit vonoffenbartem Glauben und philosophischer Welterklärung istbei al-Kindi nicht das Ergebnis eines Zwanges seitens der

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orthodoxen Religionsgelehrten und auch nicht eine opportu-nistische Geste ihnen gegenüber, sondern Ausdruck einer tiefenGläubigkeit. Wie ernst es al-Kindi gleichzeitig mit der systema-tischen Erfassung philosophischer Gedanken war, sieht mannicht nur daran, dass er selbst dafür sorgte, dass arabischeÜbersetzungen griechischer Philosophen in großer Zahl erstelltwurden. Auskunft darüber gibt uns auch die Einleitung zu sei-ner Schrift Über die erste Philosophie, in der er den Leser er-mahnt, »aus jeder beliebigen Quelle, sogar, wenn sie von frühe-ren Generationen und anderen Völkern stammt«, zu schöpfen.Philosophie ist für ihn das »Erkennen der wahren Natur derDinge, soweit der Mensch dessen fähig ist«, und dafür darf eskeine Beschränkungen geben.1

1 Zitiert nach der Übersetzung von Watt/Marmura 1985, 331. Vgl. al-Kindi 1950, 82ff.

Seiner Auffassung nach kannPhilosophie aber zu keinen anderen Einsichten kommen, als siedie Botschaft des Koran bereits vermittelt hat, und dies giltauch für das Ur-Eine, die Gottheit. Al-Kindi kann hier nur aufdie Unfähigkeit der menschlichen Vernunft verweisen, etwasüber das Wesen Gottes zu sagen. Darin folgt er den neoplatoni-schen Denkern des Frühchristentums, die von der Unmöglich-keit der Gottesrede gesprochen hatten. Diesen, in der Philoso-phiegeschichte »Negative Theologie« genannten Interpretati-onsansatz haben die späteren Philosophen abgelehnt, weil erdie philosophischen Fragen unbeantwortet lässt.

Al-Kindi beeinflusste die islamische Philosophie stärkerdurch seine Intellekttheorie. Dabei wurde die neoplatonischenStufenpyramide des Seins sozusagen aus umgekehrter Perspek-tive betrachtet, nämlich von unten nach oben aufsteigend. Al-Kindis Ausgangsfrage war, wie der menschliche Intellekt, der jaan die Materie gebunden ist, den reinen Geist (nus) erreichenkann. Aristoteles hatte zwei Formen des Intellekts unterschie-den (in De anima III, 430a): den tätigen Intellekt (intellectus

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agens oder activus), und den passiven, »leidenden« Intellekt(intellectus passivus). Der tätige Intellekt sei wesenhafte Tätig-keit und Erkenntnis-gebend, der passive Intellekt dagegen nurrezeptiv, also aufnehmend und an die sinnliche Welt gebunden.Für den Erfahrungswissenschaftler Aristoteles ist das nicht nureine »erstaunliche Aussage« (Flasch), sie wirft zudem die Fragenach dem Wesen des »aktiven Intellekts« auf: Ist er, weil er »erselbst« nur aufgrund seines Aktiv-Seins ist, fast ein göttlicherVerstand? Al-Kindi führt die aristotelische Unterscheidungzwischen dem aktiven und passiven Intellekt in die islamischePhilosophie ein. Zugleich will er das Problematische des Ent-wurfs umgehen, indem er den Intellektbegriff weiter differen-ziert und sich die anderen Ebenen als vermittelnde Zwischen-stufen vorstellt: »Das erste Intellekt ist der aktive Intellekt; derzweite ist einer, der in Potentialität ist und in der Seele; derdritte ist der Intellekt in der Veränderung vom Zustand derPotentialität in der Seele zu dem der Aktualität; und der vierteder Intellekt, von welchem wir sagen können, er habe sichmanifestiert.« (al-Kindi 1950, 353)

So ist also der aktive Intellekt das, was immer als höchstesPrinzip in den Dingen anwesend ist; er ist sozusagen die reine,theoretische Vernunft, das nus. Er richtet sich auf die intelli-gible Welt, was unter dem ontologischen Paradigma verstan-den werden muss als das allgemeine Wesen, die reine Form desSeienden.2

2 An diesem Begriff wird der Unterschied zwischen den ontologi-schen und dem neuzeitlich-modernen mentalistischen Paradigmadeutlich: »Intelligibel« heißen für Kant nur noch die Gegenstände,»sofern sie bloß durch den Verstand vorgestellt werden können undauf die keine unserer sinnlichen Anschauungen gehen kann« (Prole-gomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, § 34 Anm.). Sie sindalso »Gedankendinge«, die unser Verstand konstruiert – beispiels-weise, um überhaupt Aussagen über Sinneswahrnehmungen ma-chen zu können (etwa das Kausalitätsprinzip, oder in der Moral

Der »aktive Intellekt« kommt also gewissermaßen

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die Imperative). Dagegen sieht ontologisches Philosophieren hierden Ort der »absoluten« Erkenntnisse und Wahrheiten über dasWesen der Welt.

»von außen« und wirkt auf den menschlichen Verstand, näm-lich zunächst auf die zweite Stufe. Diese ist beseelt, und für diearabischen Philosophen bedeutete »Seele« (psyche) soviel wie»Leben«. Sie ist »als Wesenheit eins; ihre Substanz ist eine Ent-sprechung zur Substanz des Schöpfers, so wie das Licht derSonne eine Entsprechung der Sonne selbst ist.« (al-Kindi 1950,273). In ihr ist also »potentiell« der reine, aktive Intellekt ange-legt. Die dritte Stufe des Denkens stellt nun sozusagen die Ver-bindung zwischen beiden her, nämlich zwischen der Sphäre desin der Seele bereits angelegten reinen Intellekts und der Sphäredes Lebenden, des Bewegten und Naturabhängigen. Dem Er-gebnis dieser Verbindung schreibt al-Kindi eine weitere Formdes Intellekts zu, nämlich die nunmehrige Manifestation derVerbindung, durch die wir das in der empirisch wahrnehmba-ren Welt enthaltene intelligible Wissen erkennen können. Aufdieser Stufe des Intellekts sind die Wissenschaften, die Philoso-phie oder die Prophetie angesiedelt. Freilich bleibt al-Kindiauch mit diesem Modell die Antwort auf die Frage schuldig,wie sich letztlich der Übergang von der sinnlichen zur geistigenErkenntnis vollzieht. Seine bloße Vermehrung der Stufen desIntellekts ändert nichts an ihrem Nebeneinander, ohne dass er-klärt wird, wie sie auseinander entstehen könnten. Die auffälli-gen Lücken in der systematischen Philosophie al-Kindis lassensich auf die bruchstückhafte Überlieferung seines Werkeszurückführen. Aber es ist ein berechtigter Verdacht, dem gro-ßen Denker auch zu unterstellen, dass er die philosophischeBeantwortung bestimmter Fragen zugunsten einer religiösenbewusst vernachlässigte.

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3.2 ar-Razi und der philosophischeSkeptizismus

Für den zweiten großen Systematiker des neunten Jahrhundertsgilt zumindest letzteres nicht: Abu Bakr Muhammad Ibn Zaka-riyya ar-Razi betonte als ausgewiesener Skeptiker und Religi-onskritiker den Primat der Philosophie vor der Religion. Aberauch von ihm sind nur Teile seines philosophischen Werkesüberliefert, so dass eine umfassende Darstellung und Interpre-tation schwer fällt. Er wurde auch vom lateinischen Mittelalterwahrgenommen, freilich nicht zuerst als Philosoph, sondern alsArzt. In Europa bekannt als »Rhazes«, hinterließ er eine Reihevon medizinischen Schriften, von denen mehr als fünfzig erhal-ten geblieben sind. Sie sind nicht nur Exzerpte aus griechischenund arabischen Texten, sondern vor allem klinische Fallstu-dien, die er jeweils in Bezug zu theoretischen Aussagen setzteund diese dabei kritisch oder bestätigend kommentierte. Soblieb auch die größte Autorität für die mittelalterliche Me-dizin, der griechisch-römische Arzt und Philosoph Galen(129–199), nicht von ar-Razis Kritik verschont. Seine medizini-schen Hauptwerke waren die Enzyklopädie al-Djami’ al-Kabir(»Das umfassende Werk«) und al-Hawi fi-tibb (»Behältnis derMedizin«), das in Auszügen als Liber Continens (»Buch derErhaltung«) 1279 in Sizilien ins Lateinische übersetzt wurdeund 1486 als Druck in Brescia erschien. Ar-Razis Buch über dieInfektionskrankheiten (»Über Pocken und Masern«) erschiennoch im 18. Jahrhundert in England als Material im Streit überdie Möglichkeit einer Pockenschutzimpfung. Das ganze Mittel-alter über galten seine Texte neben den antiken Klassikern undAvicennas »Kanon der Medizin« als die wichtigsten Autoritä-ten in der Medizin. Ar-Razi gehörte zu den Denkern, die beson-ders in den Naturwissenschaften und der Medizin mehr anempirischer Forschung als an vormaligen Autoritäten orien-tiert waren. Das machte zwar die hohe Qualität seiner Schriften

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aus, die deshalb auch besonders geschätzt wurden, setzte ihnaber andererseits dem Vorwurf aus, ein »Freidenker« zu sein,der nicht nur die fachlichen Autoritäten in Frage stellte, son-dern letztlich jegliche Autorität. Damit sind wir bei der philoso-phischen Bedeutung ar-Razis angelangt.

Zakariyya ar-Razi stammte aus Rayy (Raj), einem Ort einigeKilometer südlich von Teheran. Damit war ar-Razi der erste derbedeutenden persischstämmigen Philosophen. Seine Wissen-schaftssprache blieb das Arabische, und sein Hauptwirkungs-ort Bagdad, das im 9. Jahrhundert durchaus noch das Zentrumder islamischen Welt war. Über das Leben des ar-Razi wissenwir herzlich wenig: Geboren 865, studierte er in seiner Heimat-stadt den ganzen Kanon der damals bekannten wissenschaftli-chen Disziplinen. Er scheint sich zunächst als empirischer For-scher mit Chemie beschäftigt zu haben, die man arabisch»Alchimie« nannte. Darunter ist einmal eine allegorisch-mysti-sche Deutung chemischer Reaktionen zu verstehen, aber auchim modernen Sinn der Versuch der systematischen Ergründungder Beschaffenheit der Materie. Beides vermischt sich in derarabisch-islamischen Wissenschaft, auch bei ar-Razi. Als Arztübersiedelte er nach Bagdad und leitete dort den Aufbau einesKrankenhauses, dessen Leiter er angeblich wurde. Am Endeseines Lebens erblindet, starb ar-Razi entweder 925 oder 932.Al-Biruni berichtet von ar-Razis Berühmtheit als Arzt: »In derHeilkunst erlangte er einen hohen Rang, die großen Könige ver-langten nach ihm, ließen ihn rufen und ehrten ihn. Er war stän-dig beim studieren und überaus eifrig darin.« (al-Biruni 1991,148) Zu seinen Studien gehörten auch die philosophischenKlassiker, und hier erwies sich ar-Razi wiederum als sowohlsehr kritischer wie sehr produktiver Autor. Leider sind geradedie meisten seiner philosophischen Werke verschollen; vielesüber sein Denken wissen wir nur aus Darstellungen andererAutoren, deren oft ablehnende Haltung ar-Razi gegenüberbefürchten lässt, dass vieles von seinen Gedanken nur ver-

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fälscht überliefert wurde.3

3 Eine arabische Ausgabe seiner wenigen überlieferten Werke und derspäteren Berichte über seine Philosophie liegt seit 1939 unter demTitel Rasa’il Falsafiyya/Opera Philosophica vor.

Ar-Razis Philosophie bezieht sichvon allem auf die griechischen Atomisten, also Demokrit undEpikur, und auf den Timaios des Platon, allerdings in derZusammenfassung Galens. Die Kosmologie, Ethik und Religi-onskritik, die er daraus entwickelt, beziehen sich jeweils auf-einander und ergeben eine Art philosophisches System.Zunächst geht ar-Razi von fünf ewigen Prinzipien aus: Materie,Raum, Zeit, die universelle Seele und der Schöpfer. Al-Birunifasst diesen Ansatz und seine Folgerung zusammen:

»Die fünf (ewigen Prinzipien) sind die notwendige Voraussetzung füralles, was existiert. Was in dem Existierenden durch die Sinne wahrge-nommen wird, ist Hyle4

4 Hier steht »al-hayula«, also die Arabisierung des griechischen»hyle«, was nicht nur konkrete Materie, sondern seit Aristoteleseben auch das Formbare überhaupt bedeutet, also die Möglichkeitaller Form im Verhältnis zur Wirklichkeit.

, die auf dem Wege der ZusammensetzungForm angenommen hat, und weil sie Raum einnimmt, muss es dahereinen Raum geben. Die verschiedenen Zustände, die (die Materie)erlebt, hängen notwendig mit der Zeit zusammen, denn einige (derZustände) sind früher, die anderen später. Und durch die Zeit weißman vom Ewigsein und vom Entstandensein, und das Früher und Spä-ter und die Gleichzeitigkeit. Daher muss es (Zeit) geben. Im Existieren-den gibt es Lebendes, also muss es die Seele geben, und unter ihnen(den Lebenden) solche, die Vernunft haben. Und die Schöpfung ist vonhöchster Vollendung, also gibt es notwendig einen weisen, wissendenund vervollkommnenden Schöpfer, der die Emanation der Vernunftaus ihm selbst zur Läuterung (der Menschen) verursacht.« (ar-Razi1982, 1955

5 Darin: al-Biruni, Fi al-qudama’ al-chamsa (»Von den fünf ewigenPrinzipien«), 191–216.

)

Wenn ar-Razi hier von »Hyle« spricht, dann scheint er der aris-totelischen Materiekonzeption zu folgen. Aber in Wahrheit ist

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diese Materie immer »zusammengesetzt«, und zwar aus Ato-men. Materie ist also nicht, wie Aristoteles annimmt, unendlichteilbar, sondern in ihren kleinsten Bestandteilen »atomos«(griech. unteilbar). Die göttliche Schöpfung besteht nun darin,diesen Atomen eine Ordnung zu geben und damit das materi-elle Universum zu schaffen. Während die Atome ewig sind, istihre Form ein Ergebnis des Schöpfungsaktes. Also ist auch diegöttliche Schöpfung ein Akt in der Zeit. Hier schließt ar-Razian Platons Timaios an: Dort fügt der mythische Demiurg, derWeltenschöpfer, den Kosmos zusammen, der ursprünglich alsbloß materielle Wirklichkeit gestaltlos und unbeseelt war.Indem die Materie zum Ganzen verbunden wird, nimmt sie das»Unsichtbare« des Seins in sich auf, die Weltseele, die Ideen.6

6 Auch dieser Teil der Kosmologie des ar-Razi ist uns nur als Berichtaus zweiter Hand überliefert, nämlich in Nasir-i-Chusraws Überdie Seele und den Kosmos (vgl. ar-Razi 1982, 282–290).

Die Atomlehre und die daraus folgende Lehre von dererschaffenen materiellen Welt bestimmt das Gottesbild von ar-Razi. Gott als Weltenschöpfer ordnet die ihrerseits ewige ato-mare Struktur zu einem geordneten, sinnvollen Ganzen; er ver-leiht ihr die Seele, die reine Vernunft ist. Wäre er dazu durcheine Notwendigkeit gezwungen, wäre er nicht mehr Gott, son-dern lediglich eine Ursache in der Zeit, die ihrerseits sowohlendlich als auch verursacht sein müsste. Daher muss Gott denKosmos als geordnete Materie freiwillig erschaffen haben, undar-Razi sieht diesen Schöpfungsakt als Ausdruck der Liebe undGüte Gottes an. Aus seiner Gnade heraus erweckt er die unge-ordnete atomare Welt zum Leben, und diesem Leben gibt erdurch die Emanation seines innersten Wesens zudem die Mög-lichkeit, sich im Menschen wiederum von der materiellen Formzu lösen und sich ihm zu veranähnlichen. Die Vernunftfähigkeitdes Menschen ist also Ausdruck der Liebe Gottes, und darinlehnt sich ar-Razi erneut an Platons Timaios (30a). Ar-Razi

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setzt die darin geschilderte Erschaffung der Welt fort, indem ersie als eine endliche charakterisiert. Das Ende der geschaffenenWelt ist der Augenblick, in dem die Seele in ihren ursprüngli-chen Zustand reiner Geistigkeit zurückkehrt, also »zu Gottkommt«. Deshalb ist es die Aufgabe der Menschen, sich durchdie Philosophie zu vergeistigen und sich so von der Materie zulösen.

Daraus ergibt sich die Frage, warum Gott überhaupt diematerielle Existenz geschaffen hat, wenn doch die geistige, vonder Materie befreite Seele die beste aller möglichen Zuständeist. Davon berichtet Abu Hatim ar-Razi (gest. 932) in einer Dis-putation, die zwischen ihm und Zakariyya ar-Razi stattgefun-den haben soll (al-Munazarat, ar-Razi 1982, 291–316).Danach war ar-Razis Antwort, dass Gott die Verbindung zwi-schen Seele und Materie wünschte, um der vernunftbegabtenSeele die freie Wahl über ihr Schicksal zu ermöglichen. Denneine Seele, die frei handelt, sei besser als eine, die gelenkt wird.Hier mündet ar-Razis Kosmologie in seine Ethik ein. DerMensch ist ein beseeltes, vernunftbegabtes Wesen, und deshalbist er auch ein freies Wesen. Er ist durch den göttlichen Schöp-fungsakt aufgefordert, sich selbst seine Existenzform zubestimmen. Er kann der bloß materiellen Sphäre verhaftet blei-ben, dann wird er nicht zu seiner wahren Existenz kommen; erkann sich aber auch Kraft seiner Geistigkeit zu einer höherenExistenzform aufschwingen. Damit überwindet er den »Sün-denfall« der Verbindung von Materie und Geist. Aber dieserSündenfall liegt nicht, wie in biblischer und koranischer Sicht-weise, nach der Schöpfung und beruht auf der Sünde des Men-schen, sondern er ist im Schöpfungsakt Gottes selbst enthalten.Es ist so, als ob Gott seine eigene Sünde der Schöpfung der Weltdem Menschen zur Überwindung anheim stellt. Diese Über-windung vollzieht zwar wie im Neoplatonismus eine Aufwärts-bewegung, wendet sich also von der materiellen, irdischenExistenzform ab, aber sie ist im Unterschied zu diesem nicht

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von einer Verachtung für die materielle Existenz gekennzeich-net. In ar-Razis überlieferter Schrift Die philosophischeLebensweise (as-sira al-falsafiyya, ebd., 97–112) verteidigt erseine Orientierung am Ideal des Weisen, den er in Sokrates ver-körpert sieht. Freilich ist dies der Sokrates der arabischen Über-lieferung, also vermischt mit Charakteristika des Kynikers Dio-genes von Sinope: Auch der Sokrates in ar-Razis und seinerZeitgenossen Darstellung lebt in einer Tonne und zeitweise inder Wüste.7

7 Sehr schön dargestellt ist dieses Bild in der Beschreibung des Sokra-tes durch den arabischen Mediziner und Gelehrten Ibn Djuldjul(944–994) aus Cordoba, vgl. Fleischhammer 1991, 139f.

Doch diese asketische Lebensweise gibt er nach ar-Razis Ansicht auf, um sich der Philosophie zu widmen, die ebenauch lebenspraktische Weisheit bedeutet. So heiratet Sokrates,zeugt Kinder, genießt köstliche Speisen und (in geringem Maß,wie es ausdrücklich heißt) Wein und kommt überdies seinerVerpflichtung als Bürger nach, indem er gegen die Feinde seinerStadt kämpft. Reine Leibfeindlichkeit und Askese ist also nichtder Weg zu einer höheren geistigen Existenz, sondern die philo-sophische Anstrengung, die sich zwar vom Körperlichen lösenwill, aber nicht im Widerspruch zum Körper stehen darf, son-dern einen Mittelweg einschlägt.

Dies deckt sich auch mit einer wichtigen Einsicht des Arztesar-Razi in die Zusammenhänge von organischen und psychi-schem Leiden. Während Galen und mit ihm viele seiner mittel-alterlichen Epigonen der Auffassung waren, dass die Verfas-sung der Psyche von der Gesundheit des Körpers abhängig ist,dreht ar-Razi diese Perspektive, gestützt auf klinische Beobach-tungen, um: Die Psyche kann den Körper erkranken lassen oderihm Symptome einer Krankheit bescheren, ohne dass eineeigentliche organische Erkrankung vorliegt. Damit kommt derGedanke der psychosomatischen Erkrankung auf, und er wirdvon der arabisch-islamischen Medizin durchaus rezipiert. Die

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islamischen Ärzte bemühten sich, etwa durch eine möglichstexakte und umfassende Anamnese, auch den »seelischen«Ursachen von Krankheitsbildern auf die Spur zu kommen.Wesentlich wichtiger als die Abwendung vom Leiblichen ist fürar-Razi also die Hinwendung zum Geistigen. Für den »Wei-sen«, das Vorbild und Ideal ar-Razis, heißt dies eine Selbstver-pflichtung zu »unbegrenzter Güte und dem Bemühen um denFortschritt aller Menschen«: »Das Leben, so wie es die großenPhilosophen der Vergangenheit geführt haben, kann mit weni-gen Worten gezeichnet werden: es besteht darin, allen Men-schen gegenüber gerecht zu sein.« (Zitiert nach Jockel 1981,131) Als Vernunftwesen haben wir dazu die Freiheit, aber wirsind auch dazu aufgerufen, uns durch die Philosophie zu ver-vollkommnen. In jedem Falle, sowohl für die persönliche Erlö-sung als auch für das Führen eines gerechten und gütigenLebens, ist die Vernunft das Medium. Ar-Razi sieht dabei auchdie Anwendungsdimension des Vernunftgebrauchs und be-greift sie als Teil des göttlichen Schöpfungsplanes:

»Der Schöpfer verlieh uns den Verstand, damit wir durch ihn jedenFortschritt erreichen, den wir unserer Art nach und der nächsten Welterlangen sollen. Er ist Gottes größte Gabe an uns, und nichts übertrifftihn in der Sorge für unseren Fortschritt und Nutzen. [. . .] Durch denVerstand haben wir eigenartige und abseitsgelegene Dinge begriffen,die zuvor geheim und vor uns verborgen waren. Durch ihn erkanntenwir die Oberfläche der Erde und des Himmels, die Maße der Sonne,des Mondes und der Sterne, ihre Entfernungen und Bewegungen.Durch ihn haben wir sogar die Erkenntnis des Allmächtigen, unseresSchöpfers, erlangt, das Erhabenste was immer wir zu erlangen suchtenund unsere vorteilhafteste Errungenschaft. [. . .] Indem dies sein (desVerstandes) Wert und seine Stufe, seine Bewertung und Bedeutung ist,ziemt es uns, ihn nicht von seinem hohen Rang herabzubringen oderihn auf irgend eine Weise zu erniedrigen. Vielmehr müssen wir ihn inallen Angelegenheiten zu Rate ziehen, ihn achten und uns auf ihn ver-lassen, indem wir unsere Angelegenheiten nach seinem Geheiß hand-haben und sie zu Ende bringen, wie er es befiehlt.« (Ebd., 129ff.)

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Nicht Gott oder das Gotteswort in einer Offenbarungsschriftist also nach ar-Razi der für den Menschen relevante Maßstab,sondern das Urteil der eigenen autonomen Vernunft. Entspre-chend kritisch, ja ablehnend steht ar-Razi den Offenbarungsre-ligionen gegenüber. Das Prophetentum ist seiner Meinung nachüberflüssig, weil die Erlösung des Menschen nur Kraft seinereigenen philosophischen, also geistigen Anstrengung zu erlan-gen ist. Dies ist allen Menschen möglich, und mit dieser egalita-ristischen Ansicht unterscheidet sich ar-Razi deutlich von allenanderen arabisch-islamischen Philosophen, die fast unisono dieNotwendigkeit des Prophetentums als Weisheitslehre für daseinfache Volk behauptet haben, auch dann, wenn sie von derÜberlegenheit einer philosophisch-vernünftigen Weltsicht aus-gingen. Auch die Religion selbst wird von ar-Razi kritisch gese-hen. Er weist darauf hin, dass ein gütiger und gerechter Gottniemals nur einem »auserwählten« Volk seine Botschaft über-mittelt hätte. Wenn Judentum, Christentum und Islam jeweilsihre Exklusivität gegenüber einander behaupten, dann zeigtsich darin ein Irrglaube, der nur zu Konflikten und Kriegenführt. Entsprechend stehen die Propheten der jeweiligen Religi-onen unter dem Verdacht, sich aus Machtgier und Selbstüber-schätzung nur als Gottesgesandte ausgegeben und so die Men-schen verführt und in sinnlose Auseinandersetzungen getriebenzu haben. Die Rede von Moses, Jesus und Muhammad als Vonden drei Betrüger (De tribus impostoribus), die sowohl im isla-mischen wie im christlichen Mittelalter die Runde machte, gehtvielleicht direkt auf ar-Razi zurück, auch wenn kein entspre-chendes Buch von ihm überliefert ist.8

8 Das lateinische Mittelalter wurde mit dieser Religionskritik wahr-scheinlich durch den Hof des Stauferkaisers Friedrich II. bekannt,der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in engem Kontakt zurislamischen Welt stand und für seine Offenheit und Toleranz gegen-über dieser Kultur bekannt war. Die erste Erwähnung eines gleich-namigen Buches stammt erst von 1562, die erste erhaltene Druck-

Selbst kritische und

55ar-Razi und der philosophische Skeptizismus

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fassung von 1688. Eine anonym verfasste französische Religions-kritik von 1719 hat außer dem Titel nichts mit der arabischen Vor-lage gemein.

bedeutende Gelehrte der islamischen Philosophie späterer Jahr-hunderte äußern sich ar-Razi gegenüber mit kaum verhohle-ner Wut. Das legt nahe, dass seine Religionskritik tatsächlichgrundsätzlich und radikal war. Al-Biruni bemerkt dazu:

»Hinsichtlich der Religion begnügte er sich in seiner Halsstarrigkeitnicht nur damit, sie zu vernachlässigen oder mit Stillschweigen zuübergehen, sondern er machte sich daran, sie als Werk der bösen Geis-ter und der Teufel zu verunglimpfen. [. . .] Die Bestätigung meinerWorte findet man am Ende seines Buches über das Prophetentum, woer geringschätzig über die verdienstvollen Männer spricht, und einesolche Unverschämtheit ist unanständig.« (al-Biruni 1991, 146)

Für die Einschätzung der »klassischen« Phase der arabisch-isla-mischen Kultur ist dies insofern bedeutsam, als ar-Razi derartradikale Ansichten vertreten konnte, ohne in einen Konflikt mitden Vertretern der religiösen Orthodoxie oder der Staatsgewaltzu geraten. Dies zeugt erneut von dem außerordentlich liberalengeistigen Klima, das im mittelalterlichen Islam zumindest teil-weise herrschte. Es wäre aber ein Missverständnis, ar-Razi einenatheistischen Standpunkt zu unterstellen. In Wahrheit ist seineReligionskritik selbst insofern religiös, als der gütige Schöpfer-gott nicht nur die materielle Welt in ihrer Verbindung mit Geistund Seele geschaffen hat, sondern durch seine Emanation denMenschen überhaupt erst zum Geistwesen werden lässt. Aber ar-Razis Gott ist ein Philosophen-Gott, und kein Gott der heiligenBücher und religiösen Dogmen. Gerade durch dieses Gottesbildgilt für ar-Razi der Primat der Vernunft. Dies und seine häufigeBetonung der Verpflichtung des Menschen zu gerechtem undgutem Handeln macht ar-Razi zu einem der großen Humanistender mittelalterlichen Philosophie.

Ar-Razis Religionskritik war durchaus nicht so einzigartig

56 Der Beginn der systematischen Philosophie im Islam

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für die arabisch-islamische Geistesgeschichte, wie dies europäi-sche Schriften oft darstellen. Noch radikaler als er war der wahr-scheinlich aus Persien stammende Ibn ar-Rawandi (gest. ca. 910).Er gehörte zunächst zum Kreis der Mu’tazila und war ein aner-kannter und geachteter Theologe. Doch scheinen die mu’taziliti-schen Doktrinen seinen Wissensdurst nicht befriedigt und seineradikalen Fragen nicht beantwortet zu haben. Sein theologisch-philosophisches Bemühen mündete so in eine radikale Religions-kritik, die nicht nur das Prophetentum als unnötig ansah, son-dern darüber hinaus auch den Koran nicht als »Wunder« göttli-cher Offenbarung, sondern als literarischen Versuch innerhalbder arabischen Kultur. Wunder waren für ihn überhaupt Sinnes-täuschungen oder Betrug, und er lehnte alle religiösen Dogmenab, die nicht durch die Vernunft begründet wurden – und daswaren seiner Ansicht nach die meisten. Es ist kein Wunder, das ar-Rawandi für die gläubigen Muslime ein gefährlicher Ketzer war.Folgerichtig traf sein philosophisches Werk die Intoleranz undKleingeisterei der nachfolgenden Zeit noch stärker als das ar-Razis: Wir kennen seine philosophischen Ansichten nur höchstungenau aus Darstellungen Dritter, die durchweg polemisch undfeindselig gehalten sind. Dadurch lässt sich über den Inhalt vonar-Rawandis Philosophie nichts Genaues sagen. Lediglich seinRuf als radikaler Religionskritiker ist erhalten geblieben. Sehrviel exponierter als in der Philosophie ist die Religionskritik übri-gensbei einigenDichternzu finden.AbuNuwas (ca.753–ca.811)etwa war ein satirischer Spötter gegen jede Form von Dogmatis-musundSinnenfeindlichkeit.Berühmt sind seineHymnenaufdieLiebe und den Wein. Bei Abu al-Ala al-Ma’arri (975–1058)begegnet uns eine philosophische Gedankenlyrik, in der das Bildvon den Propheten der Weltreligionen als den »drei Betrügern«verknüpft wird mit der Entlarvung der politischen Instrumentali-sierung von Religion: »Diese verschiednen Glaubenssekten, dieeuch spalten/ erfunden hat man sie, um den Mächtigen zu sicherndie Gewalten.« (Zitiert nach Jockel 1981, 169)

57ar-Razi und der philosophische Skeptizismus

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4 Die großen Neoplatoniker desOstens: al-Farabi und Ibn Sina

Am Ende des 9. Jahrhunderts tritt die arabisch-islamische Phi-losophie in eine neue Phase ein. Die Zeit der Übersetzungenwar weitgehend abgeschlossen, und auf dieser Grundlagegewann die Philosophie ein eigenständiges Profil. Es ist geprägtvon dem Bemühen, die Ergebnisse der Antikenrezeption zu sys-tematisieren und mit den normativen Elementen der Religionzu einer Synthese zu bringen. Während die vorherige Philoso-phie eher bruchstückhaft, wenn auch im Einzelfall glänzendwar und wie die sich formierende Religion den Eindruck desSuchens erweckt, ist die folgende Philosophie geprägt voneinem einheitlichen Ausgangspunkt. Er nimmt die grundsätzli-che Übereinstimmung des Denkens von Platon und Aristotelesan und findet sie im Neoplatonismus vorformuliert. DessenThese von der Herkunft der Welt aus dem Ur-Einen ist zugleichder Verbindungspunkt zur Offenbarungsreligion des Islam undermöglicht die Einheit von philosophischer Erkenntnis durchdie Vernunft und den als ewig begriffenen Wahrheiten der Reli-gion. Damit aber setzt die Philosophie an die Stelle der traditio-nellen, autoritätsgeleiteten »Lebensweise« (arab. sira) des Pro-pheten und seiner Anhänger als Vorbild und Maßstab für alleGläubigen die individuelle Vervollkommnung des Menschendurch die Vernunft. Nicht umsonst nennt ar-Razi eine seinerSchriften sira falsafiya, die Philosophische Lebensweise: Damit

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setzt er sich auch bewusst ab vom Konzept eines gelungenenLebens durch Befolgung religiöser Autorität und fordert statt-dessen einen vernunftgeleiteten, individuellen Humanismus.Dies rief verstärkt die Kritik der Religionsgelehrten hervor, diesich als Sachwalter und Interpreten des »sira-Konzeptes« imGeiste der Offenbarungsreligion begriffen. Außerdem bedientesich die arabisch-islamische Philosophie der Gesamtheit derwissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Zeit, hat also eine fastenzyklopädische Breite und greift dabei auf einen Bestand anphilosophischen und wissenschaftlichen Quellen zurück, derum ein vielfaches größer ist als im christlichen Europa. Philoso-phie und Wissenschaften entwickeln sich weiter im Rahmenvon Bildungs- und Forschungsinstitutionen wie dem Bait al-hikma und besonders dort, wo sie unter der Patronage mächti-ger und wohlhabender Gönner stehen.

Aber die arabisch-islamische Philosophie ist auch eine Reak-tion auf die Veränderungen ihrer Zeit. So ist der Versuch ihrergrößten Vertreter, al-Farabi und Ibn Sina, aristotelische Philo-sophie neuplatonisch zu interpretieren und so die sich auftu-ende Kluft zwischen rationalem Denken und Offenbarungs-glauben zu überbrücken, zumindest teilweise zu erklären mitdem veränderten gesellschaftlichen Klima in der islamischenWelt. Die »islamische« Welt schloss immer mehr Völkerschaf-ten und Kulturen ein; sie erreicht eine Ausdehnung, die vonEuropa bis weit nach Asien und Afrika hinein reicht. Dadurchvermindert sich das arabische Element weiter. Andere Völkerund ihre spezifischen Kulturen, obschon islamisiert, spielenzunehmend eine wichtige Rolle. Die zunehmende Bedeutungder islamischen Rechtsgelehrten, der Ulama, die aus den städti-schen Eliten hervorgingen und mit diesen immer eng verbun-den blieben, erklärt sich aus der Schwäche des Kalifenstaates.Die Zeit eines arabisch-islamischen Großreiches mit einen klardefinierten Zentrum endete politisch, und an seine Stelle tretenlokale Reiche. Auch die zunehmenden Wanderungsbewegun-

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gen der türkischen Völker, die das Reich von den Rändern herdestabilisierten, trugen dazu bei. Außerdem machte die ara-bisch-islamische Welt einen sozio-ökonomischen Wandlungs-prozess durch. Die aus der Abspaltung vom Bagdader Kalifatentstandenen Reiche stützten sich zumeist auf Militärlehen,also auf die Entlohnung der Soldaten und ihrer Anführer sowiedes Verwaltungspersonals durch Übertragung von Lehensrech-ten in der Landwirtschaft. Dies schwächte den Stand der freienBauern und beschleunigte zugleich die Umwandlung einergeld- und handelsorientierten städtischen Wirtschaft in einFeudalwesen. Weitgehend löste eine agrarische Subsistenzwirt-schaft die frühere Handels- und Manufakturwirtschaft ab undbeendete damit eine Entwicklung, die Jahrhunderte später inEuropa in den italienischen und flandrischen Städten die Vor-läufer der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftwaren. Zwar gab es im islamischen Kontext immer wieder lo-kale Blütezeiten, die auch von ökonomischer Bedeutung wa-ren, doch ist das Zeitalter insgesamt vom Beginn einer wirt-schaftlichen, sozialen und politischen Krise geprägt, die ihrenNiederschlag auch in den erschwerten Rahmenbedingungenfür intellektuelle Debatten findet. Die zunehmende Herausbil-dung einer religiösen Orthodoxie und der wachsende gesell-schaftliche Einfluss ihrer Vertreter engten den Freiraum fürWissenschaften und Philosophie zunehmend ein.

6.1 al-Farabi

Das Leben von Abu Nasr Muhammad ibn Tarhan ibn Uzlughal-Farabi (ca. 870– ca. 951) spiegelt diese Entwicklungen wie-der. Er stammte nicht mehr aus den Zentren der islamischenWelt, aus Bagdad oder zumindest aus dem alten Kulturland Per-sien, sondern aus der äußersten Peripherie des islamischen

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Herrschaftsgebietes. Geboren wurde er in Farab, das an denUfern des Flusses Syr Darja nordwestlich von Taschkent imheutigen Kasachstan lag. Sein Vater war Offizier im Dienste derSamanidendynastie. Diese hatte hier die Turkstämme der Kar-luken und Ogusen angesiedelt und ihnen dafür die Aufgabezugewiesen, das Land gegen Einfälle der Steppenvölker zu ver-teidigen. Al-Farabis Vater entstammte wahrscheinlich der ein-heimischen Turkbevölkerung und war der erste seiner Familie,der sich zum Islam bekannte. Al-Farabis Muttersprache warein Turkdialekt, außerdem sprach er persisch. Das Arabische,die Hochsprache der islamischen Reiche und die Sprache derPhilosophie und Wissenschaften, erlernte er erst später. Anfangdes 10. Jahrhunderts kam al-Farabi nach Bagdad und Har-ran und wurde dort Schüler von christlichen Gelehrten wieYuhanna ibn Hailan (gest. 910) und (nach einigen Quellen) AbuBischr Matta Ibn Yunis (gest. 940). Außerdem wurde er zumArzt ausgebildet, praktizierte in diesem Beruf aber im Gegen-satz zu ar-Razi oder zu Ibn Sina nie. Er begriff die Medizin als»Handwerk« und deshalb nicht als Wissenschaft zur Erfor-schung der Wahrheit, zu der allein die reine Theorie befähigte.Das galt letztlich auch für die Musik; obwohl al-Farabi als erst-klassiger Musiker galt, trat er auch hier mit seinem GroßenBuch über die Musik als einer bedeutendsten Musiktheoretikerder islamischen Welt hervor, ohne aus seinen Fähigkeiten eineProfession zu machen. Insgesamt führte er in Bagdad ein be-scheidenes und unauffälliges Leben – so unauffällig, dass keinezeitgenössische oder spätere Quelle viel darüber zu berichtenweiß. Seinen Lebensunterhalt soll er etwa als Wächter einesGartens verdient haben, weil er die Muße der nächtlichenTätigkeit schätzte, um in Ruhe denken zu können. SolcheAnekdoten förderten die Wahrnehmung von al-Farabi alseinem weltabgewandten, bescheiden lebenden Weisen, der sichnicht in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seinerZeit hineinziehen ließ. In Wahrheit ist gerade al-Farabis Philo-

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sophie sehr viel deutlicher ein Spiegel der gesellschaftlichenUmbrüche als die vorangegangene Philosophie.

Im 10. Jahrhundert wurde erstmals ausgiebig diskutiert,was die griechische, also »fremde« Kultur eigentlich derislamischen geben kann und ob sie nicht ein Abwendungvom reinen Islam sei, der doch den Gipfelpunkt menschli-cher Kultur darstellen soll. Dieses neue Interesse an der»Reinheit« und »Unverfälschtheit« des Islam ist eineReaktion auf die anhaltende politische und soziale Krisedes Kalifenstaates. Der Kalif war zur Marionette vonMilitärführern und Adelsgeschlechtern geworden undhatte damit seinen Anspruch auf die Führung der islami-schen Gemeinschaft als Bewahrer des reinen Glaubens inden Augen der Muslime weitgehend verloren. Die »Rück-kehr zu den Wurzeln« (nämlich einer unverfälschten Reli-giosität) als Grundlage zur Bewältigung einer gesell-schaftlichen Krise ist seitdem eine Konstante der islami-schen Geschichte geblieben. Im 10. Jahrhundert markiertsie den Übergang zwischen einer auch der philosophi-schen Spekulation offenen Wissenskultur und einergesellschaftlich-politischen Reaktion, die die Philosophiezu marginalisieren drohte.

Es ist nicht verwunderlich, dass al-Farabi Bagdad verließ undsich andernorts die Protektion und den Schutz eines Herrscherssuchte. Er fand sie in Aleppo bei Saif ad-Daula, einem Herr-scher aus der arabischen Dynastie der Hamdaniden. Dieser ver-sammelte in einer der Kunst und Philosophie aufgeschlossenenAtmosphäre einige der bedeutendsten Wissenschaftler undDichter seiner Zeit um sich, zu denen auch al-Farabi gehörte.Als al-Farabi im Jahr 950 oder 951 starb, soll Saif ad-Daula auf

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seiner Beisetzung in Damaskus angeblich die Totenrede auf denPhilosophen gehalten haben. Sicher ist jedoch, dass die Ver-treter der Ulama diesem Begräbnis demonstrativ fernblieben.Nach seinem Tod bildete sich etwas ähnliches wie eine »Schu-le« der farabianischen Philosophie. Ihr gehörten vor allemarabische Christen an, die jeweils gesondert und mit eigenenAkzentsetzungen al-Farabis Denken tradierten und weiterent-wickelten. Dazu gehörten Yahya ibn ’Adi (893–974), AbuSulaiman as-Sidjistani (913–988), Jusuf al-’Amiri (gest. 992)und Abu Haiyan at-Tauhidi (um 925–1021). Sie setzten sichauf der Grundlage der Philosophie al-Farabis mit Physik, Logikund Erkenntnis- bzw. Intellekttheorie auseinander.

Die Verbindung von Metaphysik und politischer Ethik

Al-Farabis philosophisches Werk war eine direkte Reaktion aufdie Veränderungen seiner Zeit. Insofern kann er als der erstearabisch-islamische Denker gelten, der eine neoplatonischeWeltinterpretation bewusst mit der Ausformulierung einerpolitischen Theorie verbindet. Metaphysik und ethisch-politi-sche Theorie bilden bei ihm eine Einheit und greifen ineinander,während sie bei seinen Vorgängern nebeneinander existiertenund nicht systematisch verbunden waren. Al-Farabi hat vielSchaffenskraft darauf verwendet, die griechischen Klassikererneut zu sichten, und dazu scheint er selbst einige Neuüberset-zungen angefertigt zu haben. Jedenfalls war ihm der größte Teilder aristotelischen Schriften und immerhin die Mehrzahl derplatonischen Dialoge bekannt. In einem seiner Hauptwerke,Die Philosophie Platons und Aristoteles, stellt er die beidenKlassiker in all ihrer Unterschiedlichkeit dar, ohne den Versuchzu unternehmen, die Unterschiede zwischen beiden zu harmo-nisieren. Aber im einleitenden Kapitel betont er nicht nur, dassbeide Philosophen als gemeinsames Ziel die Vervollkommnungdes Menschen verfolgen, sondern er präsentiert sein eigenes

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philosophisches System, das nun eine Brücke zwischen den bei-den Vorbildern schlägt. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dassal-Farabi jenen Auszug aus Plotins Enneaden (IV–VI), der imMittelalter als Theologie des Aristoteles bekannt war, ebenfallsAristoteles selbst zuschrieb. Dadurch wird die systematischeEinheit der farabianischen Philosophie erleichtert: die Kosmo-logie, die im Makrokosmos die Weltordnung darstellt; dieIntellekttheorie, durch die diese Weltordnung auch als erkenn-bare bewiesen wird; und die politische Theorie, die die Voll-kommenheit dieser Weltordnung in die Möglichkeiten mensch-licher Gemeinschaft überträgt. Für al-Farabi stehen Meta-physik, Kosmologie, Erkenntnistheorie und Politik in engemZusammenhang. Der Ausgangspunkt ist die aristotelischeDefinition der Metaphysik als Erkenntnis des Seienden. Daswirkliche Sein der Dinge, also ihre objektive Natur zu erken-nen, ist die Aufgabe wie die Möglichkeit des Menschen. Diesbedeutet, dass die Erkenntnis des Seienden auch die Möglich-keit der Orientierung für den Menschen beinhaltet, und imUmkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass der irrendeoder in Unkenntnis handelnde Mensch immer ein schlechterFührer und Ratgeber der Gemeinschaft sein wird. Die Vervoll-kommnung der eigenen Erkenntnis, die Beherrschung des Ver-nunftgebrauchs, ist also die Voraussetzung für eine gelungeneGesellschaftsordnung. So entsteht die Theorie vom »gutenStaat« aus einer Theorie der Erkenntnis des Wahren, undumgekehrt stellt politische Theorie als Staatstheorie die Vollen-dung von Metaphysik dar. Die politische Philosophie al-Fara-bis hat also den Anspruch, theoretische und praktische Philoso-phie nicht nur zu verbinden, sondern zu überschreiten. Dieswird in drei seiner wichtigsten Schriften deutlich: dem kitabtahsil al-sa’ada (Buch über die Erlangung der Glückseligkeit),ara’ ahl al-madina al-fadila (Ansichten der Bürger der tugend-haften Stadt, madina abgekürzt) und al-siyasa al-madaniyya(Über die Staatsleitung, siyasa abgekürzt).

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Wenn für al-Farabi die politische Ordnung rational gestalt-bar ist, dann deshalb, weil die Welt selbst eine Ordnung hat, dieder Ratio zugänglich ist. Diese Ordnung basiert auf der Vorstel-lung eines geozentrischen Weltbildes, bei dem sich die himmli-schen Sphären (Mond, Sonne, Planeten) auf festen Bahnen umden Erdtrabanten drehen. Aristoteles hatte behauptet, dass dieBewegung der Sphären von Bewegern ausgehe, die von denmuslimischen Philosophen dann »Intelligenzen« genannt wur-den. Al-Farabi vereinfacht diese Kosmologie, indem er derenneoplatonische Interpretation übernimmt: Die erste Bewegunggeht vom ersten Beweger aus, dem »Ur-Einen« Plotins, und diesist Gott. Aus Gott, der reiner Geist, also Intellekt ist, »strömt«(emaniert) der Geist auf die nächste Sphäre, um auch dort wie-der auf die nächste Sphäre zu emanieren. Aber dabei ist dieserIntellekt immer derselbe; die absolute Vernunft Gottes unter-scheidet sich von der menschliche Vernunft nicht substantiell,sondern nur aktuell. Während nämlich die göttliche Seele zujeder Zeit reiner Geist ist, muss die menschliche Seele um ihreVernünftigkeit ringen. Indem sich die menschliche Vernunft»aktualisiert« und fähig wird, die Ordnung der Welt und damitauch sich selbst zu erkennen, löst sie sich von ihrer bloßenmateriellen Existenz und gelangt zu einem Leben in Kontemp-lation und Weisheit. Dabei sind zwei Besonderheiten zu beach-ten, die al-Farabi dem plotinischen Emanationsschema hinzu-fügt: Der Emanationsprozess steigt zwar von der reinen Geist-Seele zu den niedrigeren Sphären »hinab«, aber dieser Geist,dieser Intellekt könnte sich ohne die materielle Existenz garnicht konkretisieren. Al-Farabi sagt in seiner Schrift Über denIntellekt, dass »der tätige Intellekt keineswegs für das Prinzipaller vorhandenen Dinge gelten kann, denn er bedarf ja zu sei-ner Aktion einmal, dass ein Stoff da sei und dann, dass ein Hin-dernis fehle, und somit liegen in seiner Natur nicht genugKräfte vor, um alle Dinge zu vollendeten zu machen« (al-Farabi1892, 78). Also muss der erste Beweger als erste Ursache zwei

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Prinzipien in sich vereinigen: eben nicht nur Geist-Seele, reinerIntellekt zu sein, sondern auch das Prinzip des Stofflichen insich zu enthalten. Die erste Ursache, die Gott ist, ist also nichtetwas nur Geistiges, das nichts mit einer Materie zu tun, die janoch bei al-Kindi das Sinnbild des Bösen, des Nicht-Geistigenwar.

Die zweite Besonderheit al-Farabis betrifft das Verhältnisdes Menschen und seines Intellektes zum absoluten, göttlichenIntellekt. Das neoplatonische Emanationsschema ging immerdavon aus, das die Emanation des Ur-Einen (Gottes) zu niedri-geren Stufen hinabgeht, an dessen Ende der Mensch mit seinemIntellekt stand. Daraus konnte man die Superiorität und Voll-kommenheit des göttlichen Intellekts ableiten. Al-Farabi drehtdiese Beweisführung nun um. Der Emanationsprozess stelltkeine Verminderung des Intellekts von Stufe zu Stufe dar, son-dern eine jeder Stufe und jeder Seinsform adäquate Zuschrei-bung: »Es ordnet sich von ihm aus das Vorhandene und kommteinem jeden desselben sein richtiger Teil vom Sein, je nach sei-ner Stufe zu. Ferner ist er gerecht und es liegt seine Gerechtig-keit schon in seiner Substanz« (al-Farabi 1985, 26). Weil derEmanationsprozess mit Gerechtigkeit und Liebe von Gottgestaltet ist, erklärt sich die einzigartige Stellung des menschli-chen Intellekts. Dieser nämlich kommt jedem Menschen»schon von Natur, von Anfang an« zu und ist seinem Wesennach bereit, »dass er die Grundzüge des Intelligiblen annehme«(ebd., 69). Das Intelligible aber ist das rein Geistige, und damitkommt der menschliche Intellekt dem reinen Geist der Ur-Einen, des Göttlichen insofern nahe, als er es erkennen kann,auch wenn er im Unterschied zu diesem kein Sein erschafft(emaniert). Diese Fähigkeit der Vernunft kommt im Prinzipjedem Menschen zu, aber nur die Philosophie stellt auch die tat-sächlich höchste Stufe der Erkenntnis dar. Ist ein Philosophzugleich auch ein Prophet, dann kann er die philosophischenErkenntnisse, die durch die Vernunft gewonnen wurden, mit

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der imaginativen Fähigkeit verbinden, durch Gleichnisse, Ana-logien und Symbole die Vernunfterkenntnisse auch denen mit-zuteilen, die keine Philosophen sind. Genau dies aber ist Offen-barung: Sie ist die rhetorisch vermittelte Vernunftserkenntnis.Al-Farabi schreibt in der madina:

»Findet der schaffende Intellekt in den beiden Teilen seiner Denkkraft,nämlich dem theoretischen und dem praktischen statt, dann aber auchin seiner Vorstellungskraft, so ist dieser Mensch einer, der Offenbarungempfängt, und es ist Gott der Herrliche, der Erhabene, der ihm Offen-barung spendet, und zwar vermittelst des schaffenden Intellekts. [. . .]Dann wird der Mensch durch das Emanieren aus jenem Passiv-Intellektein Weiser, ein Philosoph, ein der Vollendung anhängender, durch dasaber, was von ihm auf seine Vorstellungskraft emanierte, ein Prophet,ein Warner vor dem, was kommen wird, und ein Verkünder davon, wiesich zur Zeit die Teildinge im Sein verhalten. Er ist ja in einem Sein, inwelchem er das Göttliche denken kann.« (Ebd., 93)

Die göttliche Botschaft der Offenbarung ist also ihrem Gehaltnach nichts anderes als die Vernunfterkenntnis, zu der die Phi-losophie gelangt. Das bedeutet, dass die geoffenbarte Religionnichts anderes enthält als die Philosophie, nur dass Offenba-rung die reine Vernunft auch den Nicht-Philosophen zugäng-lich macht. Zugleich behauptet al-Farabi eine Analogie zwi-schen den verschiedenen Arten der Vernunfterkenntnis beimMenschen und den Formen des Intellekts, die durch göttlicheEmanation auf den Kosmos wirken. Insofern ist der Menschein »kleines Universum« (Marmura), in dem sich die Harmonieund Rationalität des Kosmos wiederfindet.

Der ideale Staat und die Philosophen

Ganz folgerichtig muss sich die Harmonie der vernünftigenWelt auch im Zusammenleben der Menschen wiederspiegeln,also im Staat. Jeder einzelne Mensch, von Gott mit der Ver-nunft ausgestattet, sollte sich darum bemühen, die Sphäre des

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»aktuell Intelligiblen«, also der reinen Vernunft zu erlangen,denn genau hier ist auch die Sphäre der reinen Freiheit, Selbst-bestimmung und des höchstmöglichen Glücks. Das ist in al-Farabis Denken auch ganz folgerichtig, weil die reine Vernunftdie Vernunft Gottes ist, und was könnte freier und glücklichersein als Gott. Aber die Menschen haben unterschiedlicheFähigkeiten, und so ist es ein Gedanke der praktischen Ver-nunft, sich als Gesellschaftswesen zu begreifen. Wie Aristotelessieht al-Farabi den Menschen als zoon politikon: Er wählt dieGemeinschaft, weil dies vernünftig ist. Zugleich bedeutet Ver-nunft immer die Erkenntnis des Wahren, und dies kann für al-Farabi nur die Erkenntnis der Seinsordnung sein. Die »gute«Ordnung der menschlichen Gemeinschaft bildet also die »gute«Ordnung des Kosmos nach. So imitiert der ideale Staat dieStruktur des Universums. Diese aber ist hierarchisch: Das Ur-Eine, also das Göttliche, steht an ihrer Spitze, und nur durchseine Emanation können die Potentiale der einzelnen Stufenaktualisiert werden. Genauso begreift al-Farabi die politischeOrdnung im Staat. An seiner Spitze steht ein Philosophen-König(arab. Ra’is, also Oberhaupt, Leiter), der zugleich auch ein Pro-phet ist, denn nur so ist gewährleistet, dass der Herrscher alleinden Vernunfterkenntnissen folgt und diese in einer Form weiter-geben kann, die auch den Nicht-Philosophen verständlich ist.

Religion und Philosophie bilden also keine Gegensätze oderkonträren Weltinterpretationen, sondern meinen letztlich das-selbe, und so kann al-Farabi den Führer des Staates sowohl ein-mal »Philosoph« als auch »Imam«, also religiöser Führer nen-nen. Dabei lässt al-Farabi keinen Zweifel daran, dass Religionund Prophetie nur Nachahmung der philosophischen, also ver-nünftigen Erkenntnisse sind, und zwar in symbolischen, verein-fachenden Darstellungsweisen. Weil sich dies in einer rhetori-schen Sprache vermittelt, die von Kultur zu Kultur unterschied-lich ist, entstehen auch die unterschiedlichen Religionen.Bemerkenswert daran ist nun nicht, dass alle Religionen ver-

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mutlich dieselben Kerngedanken in nur unterschiedlicher Sym-bolik enthalten, sondern dass eine jede Religion nur der symbo-lische Ausdruck einer originär durch die Philosophie vermittel-ten Vernunftordnung ist. Al-Farabi beharrt also auf dem Pri-mat der Vernunft vor den Glaubenswahrheiten, zwar nicht iminhaltlichen Sinn – denn Philosophie und Religion behandelnidentische Wahrheiten –, aber durchaus im epistemologischen:Weil die Ordnung der Welt reine Vernunft ist, ist ihre adäquateErkenntnis nur durch Vernunft möglich. Von hier erklärt sichdie Rede von der »Doppelten Wahrheit«, die sowohl Teilen derislamischen wie der mittelalterlich-christlichen Philosophiezugeschrieben wird.

Ursprünglich wird mit dem Begriff der »Doppelten Wahr-heit« gerade die Unterscheidung zwischen philosophi-schen und einem theologischen Standpunkt ausgedrückt.Was die Philosophie nämlich als »wahr« erkannt zu ha-ben glaubt, kann von einem theologischen Standpunktaus durchaus falsch sein (und umgekehrt). Für al-Farabiund auch für die nachfolgenden großen Philosophen derislamischen Kultur gilt das eben nicht: Der Standpunktdes Glaubens und der der Philosophie können sich niewidersprechen, aber die Philosophie hat dabei den Vor-zug, denn sie liefert nachvollziehbare Argumente, wo sichdie religiöse Wahrheit hinter Chiffren und Symbolen ver-birgt. Das Oberhaupt eines tugendhaften Staates mussdeshalb zuerst Philosoph sein, um dann als Prophet dieWahrheit vermitteln zu können.

Für al-Farabi vereinigt der Führer des Staates alle Tugenden insich: die theoretische, die ihren Ausdruck in der wissenschaftli-chen Erkenntnis der Welt findet; die geistige, die die Umsetzung

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der wissenschaftliche Erkenntnis in Handlungen ermöglicht;die moralische, die den Ra’is befähigt, sein eigenes Leben undStreben ausschließlich an Kategorien der Ethik zu orientieren;und schließlich die praktische Tugend, die seine Herrschaftnicht nur gerecht und weise, sondern eben auch erzieherisch fürdie Mitglieder des Staatswesens macht. Dass ein solcher Ra’is,das Ideal eines Weisen, schwer zu finden ist, weiß auch al-Farabi. Deshalb empfiehlt er, die Führung des Staates im Zwei-felsfall lieber vielen zu überlassen, als einen unfähigen Herr-scher einzusetzen:

»Findet sich nun nicht ein Mann, in dem alle diese Bedingungen erfülltsind, gibt es aber deren zwei, von denen der eine weise ist, während imzweiten die übrigen Bedingungen erfüllt sind, so sind sie beide in dieserStadt Führer. Sind aber diese Bedingungen nur zerstreut in einerMenge zu finden, [. . .], so bilden sie zusammen die vorzüglichen Füh-rer.« (al-Farabi 1985, 97)

Dass damit keineswegs eine demokratische Ordnung gemeintist, erläutert al-Farabi im Zusammenhang mit den nicht-tugendhaften Staaten. Zu diesen zählt er ausdrücklich despoti-sche Herrschaft und Demokratie. In der Despotie haben dieInteressen eines einzelnen Menschen absolute Geltung, obwohler nur an seinem privaten Vorteil interessiert ist und weder überphilosophische Erkenntnis noch über prophetische Gaben ver-fügt. In einer Demokratie dagegen streben die Bewohner nurdanach frei zu sein, so dass »ein jeder tut, was er will« (ebd., 99)und damit den Bestand der Gemeinschaft gefährdet. Aber auchdie Herrschaft von falschen Propheten, die Verwechslung vonTugend mit materiellem Erfolg oder Kriegstreiberei und Ruhm-sucht sind Beispiele für »Torheits- und Frevelstaaten«. Al-Fara-bis Staatskonzeption weist auch Unterschiede zu den antikenVorbildern auf. So hatte Platon seine Idee von Staat an das Vor-bild der griechischen Polis angelehnt; er ging also immer vomModell eines deutlich begrenzten Stadtstaates aus. Zwar

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spricht auch al-Farabi von der »madina«, dem arabischen Wortfür Stadt, aber ihm schwebt dabei die Vereinigung aller Städtezu einem größeren Ganzen vor. Vollkommenheit ist für dieBewohner nur möglich, wenn »viele Gemeinschaften« sich ver-einigen, und so taucht folgerichtig die Umma als die »tugend-hafte Gemeinschaft« auf (ebd., 54). Was hier wie ein Rückgriffauf die Ideale der islamischen Frühzeit und damit auf die nor-mative Kraft der Religion aussieht, kann eher interpretiertwerden als ein Reflex auf die Krise der islamischen Welt zu al-Farabis Zeit. Der Zerfall des Großreiches in sich bekriegendeTeilstaaten schien wie ein Beleg für die These, dass sich einetugendhafte Gesellschaft nur im größeren Zusammenhang ver-wirklichen lässt. Nimmt man dazu al-Farabis strikten Ratio-nalismus, kann der Begriff der »umma al-fadila« bei ihm nichtmit der »tugendhaften Gemeinschaft der Gläubigen«, sondernmit der »tugendhaften Gemeinschaft« des Philosophenstaatesgleichgesetzt werden. Aber im Gegensatz zu Platon sieht erdiese nur durch den gegenseitigen Beistand aller an Tugendhaf-tigkeit orientierten Gemeinwesen garantiert, also letztlich ineinem umfassenden Weltstaat.

Wirkungsgeschichte des farabianischen Staatsideal

Interessanterweise lag die Wirkung al-Farabis weniger in seinerpolitischen Theorie als vielmehr in der Verbindung von Meta-physik/Kosmologie und Lebenspraxis. Indem er die geistigeVervollkommnung als das Ziel menschlichen Strebens begriff,aber zugleich den aktiven Intellekt der kosmologischen Ord-nung an die materielle Welt band, verlieh er dem abstraktenEmanationsschema etwas Lebendiges und Sinnhaftes. Wennein Staat nur so gut sein kann, wie es den Bürgern gelingt,Anteil an einer Vergeistigung ihrer Existenz zu haben, dann istdas Streben nach Weisheit nicht nur Abglanz der kosmischenGottesordnung, nicht nur moralische Vervollkommnung des

71al-Farabi

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jeweiligen Individuums, sondern konkrete Verbesserung derLebenswelt. In der madina und der siyasa widmet sich al-Farabi auch der eschatologischen Sicht seines Staatskonzeptes.Wenn es um die »letzten Dinge«, um Ziel und Zweck desmenschlichen Lebens geht, dann besteht für den Menschen, derin einem tugendhaften Staat lebt, die Möglichkeit, sich soweitzu vergeistigen, eine so moralische Existenz zu führen, dass sichnach seinem Tode die Seelen vom Körper trennt, um in einerewigen geistigen Seligkeit zu leben. Die Bürger eines unmorali-schen Staates haben diese Möglichkeit nicht, und sie sind nachdem Tod zu ewiger Qual verdammt. Die Bürger von Staaten, indenen Unwissenheit herrscht, können für ihr Versagen jedochnicht verantwortlich gemacht werden. Sie sind Teil des ewigenProzesses des Entstehens und Vergehens oder gelangen auchzur Seligkeit, wenn sie sich eine moralische Existenz gewünschthaben, diese aber unter den Bedingungen ihres Staates nichtleben konnten. Es sind solche Gedanken in ihrer Verbindungmit al-Farabis Kosmologie, die wiederum Einfluss auf dieinnerislamischen Debatten nahmen.

Die Spaltung des Islam in eine sunnitische Mehrheit undeine schiitische Minderheit war zu al-Farabis Lebzeitenbereits vollzogen. Zudem bildeten sich innerhalb dieserbeiden Gruppierungen weitere Untergruppen heraus,besonders innerhalb der Schiiten. Eine davon waren dieIsma’iliten, die vor allem in Beziehung mit der Fatimiden-dynastie in Tunesien standen und unter dieser im 11. und12. Jahrhundert auch in Ägypten und Syrien zeitweisevorherrschend wurden.

Es wird vermutet, dass schon al-Farabis Förderer Saif ad-Dauladem isma’ilitischen Schiismus anhing. Möglicherweise ergaben

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sich von hier Einflüsse auf seine Philosophie. Da allerdings diemeisten seiner Werke schon in seiner Zeit in Bagdad entstandenwaren, verhielt es sich wohl eher umgekehrt: Die Isma’ilitennahmen Elemente der farabianischen Kosmologie und Escha-tologie auf. Das war folgerichtig, denn der Schiismus allgemeinund die Isma’iliten im Besonderen zeichnen sich durch ihre Vor-stellungen von Erlösung und Vervollkommnung als Ziel derWeltordnung aus. Man hat in diesem Zusammenhang oft aufdie Verwandtschaft zwischen schiitischen Islam und Christen-tum hingewiesen, aber mindestens ebenso wichtig ist die Ver-bindung zu gnostischen und neoplatonischen Vorstellungenaus der Spätantike. Die Isma’iliten teilten mit den neoplatoni-schen Philosophen die Überzeugung, dass die Erlösung desMenschen von seiner Vervollkommnung abhängig sei, wobeisie allerdings die menschliche Vernunft als begrenzt ansahenund damit auf die Anleitung durch einen Propheten oder Imamangewiesen. Trotzdem bemühten sich isma’ilitische Denker, dieOrdnung der Welt rational nachzuvollziehen. Dabei ist eineverblüffende Übereinstimmung mit dem Emanationsschemafestzustellen; die Isma’iliten folgten der neoplatonischen Kos-mologie, wie sie etwa bei al-Farabi dargestellt ist. Die »Brückezwischen Philosophie und Religion« (HI, 226), die damitgeschlagen wird, betrifft auch die Stellung des Imam und derGläubigen: Ersterer ist die Vermittlung zwischen dem erstenIntellekt, der der Prophet ist, und den Menschen, die alsbeseelte Wesen der höheren, rein geistigen Ebene angehören,und zugleich in die unreine Welt des Werdens und Vergehensverstrickt sind. Löst sich der Mensch durch Weisheit von dermateriellen Welt, dann erreicht er den Zustand der ewigenSeligkeit. Die isma’ilitische Eschatologie begriff das Paradies,das im Koran und den Hadithen so farbenprächtig und lebens-voll beschrieben wird, nur noch symbolisch, nämlich als Ver-geistigung.

73al-Farabi

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Die »Lauteren Brüder von Basra«

Vergeistigung bedeutet ganz praktisch auch die Aufnahme vonWissen, und folgerichtig waren die schiitischen »Sekten« ge-genüber Philosophie und Wissenschaften viel offener als etwadie Ulama, die sunnitischen Religionsgelehrten. Die Durch-dringung von neoplatonischer und antiker Philosophie undNaturwissenschaft mit religiösen und eschatologischen Vor-stellungen ist ein typisches Merkmal für die schiitisch-islami-sche Kultur dieser Zeit. Sie wird deutlich am Phänomen der sogenannten »Lauteren Brüder von Basra« (Ichwan as-safa’).Dabei handelt es sich um einen Kreis von Philosophen undNaturwissenschaftlern, die gegen Ende des 10. Jahrhundertsin der südirakischen Stadt Basra lebten und wahrscheinlichsämtlich dem isma’ilitischen Bekenntnis folgten. Ihr berühmtes»Sendschreiben« (rasa’il) enthält eine beeindruckende Darstel-lung von Philosophie (einschließlich Logik und Ethik), vonMathematik und Physik, von Kosmologie und Intellektlehre.Dies alles mischt sich mit esoterischen Inhalten der Alchemie,Astrologie und Magie, hinzu kommt die Darstellung der schiiti-schen (isma’ilitischen) Imamatslehre und die Eschatologie. Zielwar vielleicht weniger die enzyklopädische Vermittlung vonWissen, denn in vielen Teilen ist die Darstellung der wissen-schaftlichen Erkenntnisse oberflächlich und von esoterischenGedanken verfälscht. Vielmehr scheint es den Ichwan um diepraktische Vermittlung der farabianischen und neoplatoni-schen Vorstellung gegangen zu sein, nach der der Weg zur Erlö-sung über die Erkenntnis und die philosophische Einsicht führt.Es ging also um die Vermittlung von Weisheit nicht als Selbst-zweck, sondern als Anleitung zur Erlangung von Seligkeit undzur Vermittlung eines Heilsweges. Dazu gehörte auch diegerade bei den Isma’iliten verbreitete Vorstellung, dass die posi-tive Religion, einschließlich des Islam, nur im Besitz einer rela-tiven Wahrheit sei, deren tieferer Kern in der Erlangung einer

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geistigen Existenz und damit einer Loslösung von allen Zwän-gen und Irrungen des materiellen Lebens liegt. Insofern war das»Sendschreiben« weniger Ausdruck einer spezifisch isma’iliti-schen Haltung, als vielmehr eine Traditionslinie, die seit derAntike eschatologischen Erlösungsglauben mit philosophi-schen und kosmologischen Vorstellungen verband. Aus demUmkreis dieser Vorstellungen haben sich übrigens auch die isla-mischen »Sekten« der schiitischen Zaiditen, der Drusen undder Alawiten (Nusayriten) entwickelt.

4.2 Ibn Sina (Avicenna)

Der Zerfall des Kalifats von Bagdad hatte auch im Osten dieEntstehung autonomer Staaten zur Folge, die nun umgekehrtmachtpolitisch auf die arabischen Länder ausgriffen und zu-gleich ihrerseits diese kulturell beeinflussten. Al-Farabis Vor-stellungen vom Staat waren sicher folgerichtig innerhalb seinerneoplatonischen Kosmologie und Eschatologie, aber sie warenzugleich eine Reaktion auf den Zerfall einer gesicherten Weltund Ausdruck der Hoffnung auf die Überwindung einer gesell-schaftlichen Krise. Al-Farabis Utopie einer Gesellschaft wardabei orientiert an einer Überwindung des Weltlichen, die ander Realität ansetzen sollte und strikt an die Vernunft des Men-schen gebunden war. Ibn Sina als der nächste große Philosophder islamischen Welt behielt die Grundgedanken der farabiani-schen Philosophie bei, setzte aber andere Akzente. Sein Denkenist einerseits mehr an der Wirklichkeit menschlichen Lebensorientiert, aber zugleich (oder vielleicht gerade deswegen) istder Weg des menschlichen Intellekts aus der Verstrickungen dermateriellen Welt nicht nur eine Sache der Rationalität, sondernzugleich eine der Spiritualität. Wenn Ibn Sina schreibt, dass esder »Zweck der Philosophie ist, die wahre Natur aller Dinge in

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dem Ausmaß zu erkennen, in welchem der Mensch des Erken-nens fähig ist« (Watt/Marmura 1985, 320), dann ist das zu-gleich eine Apologie der Vernunftserkenntnis wie ein Hinweisauf Ibn Sinas Überzeugung, dass die »Aneignung der Weisheit«nicht allein in rationaler Philosophie besteht.

Ibn Sinas Leben

Abu Ali al-Husayn Ibn Abddallah Ibn Sina wurde 980 in derNähe von Buchara im heutigen Usbekistan geboren. In Bu-chara herrschte die Dynastie der Samaniden, die dem Land einePhase ökonomischer und kultureller Blüte brachten. Ibn SinasVater, ein höherer Beamter, scheint wohlhabend genug gewesenzu sein, um seinem Sohn eine umfassende Ausbildung bei Pri-vatlehrern zu ermöglichen. Dabei trat die außergewöhnlicheBegabung des Kindes hervor: Schon mit zehn Jahren kannte erneben dem Koran und den Hadithen viele wichtige Werke derLiteratur und Wissenschaft. Wenn das Leben al-Farabis darge-stellt wird als das eines weltabgewandten Weisen, so liegt dieMystifikation in Ibn Sinas Biographie in der Betonung seinesGenies, hinter der der reale Mensch zu verschwinden droht.Wahre Wunderdinge sind zu lesen über seine umfassendenKenntnisse, seinen Wissenshunger und seine Fähigkeit, sichals Autodidakt auch schwierigste Themen zu erarbeiten. AmMythos des Wunderkindes und Universalgenies hat Ibn Sinaselbst mitgewirkt. Sich seines eigenen Wertes und seiner Stel-lung wohl bewusst, verfasste er eine Autobiographie, in der ergebührend auf seine außergewöhnlichen Begabungen hinweist.An einer Aufgabe allerdings scheiterte nach eigenem Bekundenauch er: Die aristotelischen Metaphysik, obwohl er behaup-tete, sie auswendig zu können, blieb ihm ein völliges Rätsel biszu dem Tag, an dem er die Kommentierung al-Farabis las. Al-Farabi trug nicht umsonst schon zu Lebzeiten den Titel des»Zweiten Lehrers«; nach Aristoteles (dem »ersten Lehrer«)

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galt er als Vermittler der antiken Philosophie schlechthin undals deren Vollender. Auf Ibn Sina machte die farabianische Phi-losophie einen starken Eindruck, und er versuchte sie mit sei-nen naturwissenschaftlichen und medizinischen Kenntnissenzu verbinden.

Aus seiner Jugendzeit her rührt auch die enge Freundschaftmit dem sieben Jahre älteren Universalgelehrten al-Biruni(973–1048); der Briefwechsel zwischen ihnen über Fragen derPhysik, der Astronomie und Kosmologie ist ein großartigesDokument der Universalgeschichte der Wissenschaften. In ihmwird auch eine Art von dialektischer Spannung deutlich, die fürIbn Sinas Denken so wichtig ist: Al-Biruni ist an den Ergebnis-sen und der Interpretation empirischer Wissenschaft interes-siert und bleibt skeptisch gegenüber der Verteidigung aristoteli-schen Denkens, wie Ibn Sina sie vertritt, vor allem aber gegen-über den neoplatonischen Spekulationen des Philosophen.Damit ist al-Biruni näher an den Ergebnissen moderner Wis-senschaft als Ibn Sina, aber zugleich auch an den Positionen derreligiösen Orthodoxie, während Ibn Sinas Denken zwar natur-wissenschaftlich fehlerhaft bleibt, aber dafür als philosophi-sche Spekulation, vor allem in ihrem neoplatonischen Charak-ter, weitaus radikaler ist. Dadurch eröffnet Ibn Sinas Denkenneue Perspektiven nicht nur hinsichtlich des erkenntnistheore-tischen Subjekts, sondern auch für den Menschen in seiner Stel-lung zur Weltordnung und zu Gott. So weist etwa al-Biruni dar-auf hin, dass sich aus der Beschaffenheit der Gebirge auf dieTatsache schließen lässt, dass sie entstanden sind, und deshalbdie entsprechende Auffassung in Aristoteles’ Schrift Vom Him-mel (De Caelo) über die Ewigkeit der Welt ein Irrtum seinmüsse. So richtig dies ist, so fragwürdig ist die implizierteSchlussfolgerung, dass nämlich mit dem Gewordensein derErdoberfläche auf die göttliche Schöpfung geschlossen werdenkönne. Entsprechend gereizt reagiert Ibn Sina: »Wie du übri-gens wissen solltest, hat Aristoteles mit seiner Behauptung,

77Ibn Sina (Avicenna)

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dass die Welt keinen Anfang habe, keineswegs gemeint, dass siekeinen Schöpfer habe, vielmehr möchte er ihren Schöpferdavon freisprechen, jemals untätig gewesen zu sein.« (In: al-Biruni 1991, 50) Die Ewigkeit der Welt ist also kein Wider-spruch zur Existenz Gottes, sondern vielmehr ein Hinweis dar-auf, dass Gottes Sein essentiell ist, während dies von der Weltnicht gesagt werden kann. Um Gott beweisen zu können,bedarf es mehr als nur des Hinweises auf die Existenz der Welt.

Ibn Sinas Berühmtheit rührte in erster Linie von seinemRuhm als Arzt, weniger als philosophischer Lehrer her. SeinRuf verbreitete sich auch deshalb, weil er an vielen verschiede-nen Orten wirkte. Grund dafür war seine Verstrickung in diepolitischen Konflikte seiner Zeit. Politik war für ihn wenigerals für al-Farabi von theoretischem Interesse, sondern vonpraktischem: Mit Ibn Sina stoßen wir auf einen Philosophen,der die Nähe zur Macht suchte. Sein Ruf als hervorragenderDenker und Analytiker, sein umfassendes Wissen und seinegroße Begabung als Arzt machten ihn für viele Potentaten sei-ner Zeit zum idealen Berater und Leibarzt. Viele Jahre seinesLebens verbrachte er an verschiedenen Fürstenhöfen als Wezir,Berater und Leibarzt, immer wieder in Ränke der Macht ver-strickt, die ihn zu Flucht und Exil zwangen, um dann wieder inder Gunst eines anderen Fürsten aufzusteigen. So ist Ibn SinasLeben auch ein Spiegelbild der Geschichte seiner Zeit: DerUntergang der Samaniden und der Aufstieg der Ghaznawiden,die Entwicklung einer Reihe lokaler Fürstentümer und die stän-digen Kämpfe um die Vorherrschaft zwangen ihn zu einemunsteten Wanderleben und zum Dienst bei vielen Herren, derihn oft in Lebensgefahr und mehrmals in den Kerker brachte.Die letzten Jahre seines Lebens diente er dem Herrscher vonIsfahan, Ala ad-Daula, als Leibarzt und Leiter des dortigenBimaristan (Krankenhaus). Er starb 1037, als er seinen Fürstenauf einem Feldzug nach Hamadan begleitete.

Ibn Sina hinterließ mehr als hundert Bücher, von denen

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einige sehr schnell große Verbreitung fanden. Zuerst sind hierseine medizinischen Werke zu nennen, denn ohne sie ist einwichtiges Stück Wissensgeschichte des Mittelalters schwer ver-ständlich. Der Kenntnisstand der Medizin war, besonders imchristlichen Europa, im Mittelalter erschreckend gering. Dieslag nicht zuletzt an der Macht der religiösen Dogmen. Die reli-giöse Orthodoxie erkannte die Medizin nicht als wissenschaft-liches Bemühen an, weil sie, statt über das Wesen der Krankheitim Schöpfungsplan zu meditieren, dem allmächtigen Gott dieBestimmung über das Schicksal des Menschen streitig zumachen schien. So argumentierte beispielsweise lange Zeit diekatholische Kirche und später im Islam auch die so genannte»Prophetenmedizin«, die sich ausschließlich an den teils dürfti-gen, teils allegorischen Gesundheitsratschlägen von Koran undHadithen orientieren wollte. Oder die Medizin galt nur dannals ernsthafte Wissenschaft, wenn sie sich an den verbürgten»Autoritäten« orientierte, deren Weisheit Einsicht in das»Wesen« der Dinge garantierte, und dies waren zuerst die anti-ken Autoren medizinischer Abhandlungen wie Hippokrates,Galen oder Plinius. Erst später kamen weitere Autoren hinzu,und dies waren auch im lateinischen Mittelalter vor allem dieWerke islamischer Autoren. Kein Buch hat dabei jene Bedeu-tung erlangt, die Ibn Sinas Kanon der Medizin erreichte. Bis ins17. Jahrhundert bildete sein Buch neben den antiken Klassikerndie Grundlage der Medizinerausbildung in Europa, weit mehrnoch als die ebenfalls berühmten Abhandlungen von ar-Razi.Sein Ruhm als Arzt bewirkte etwa auch, dass die latinisierteForm seines Namens (Avicenna) bis heute gebräuchlicher ist alssein eigentlicher Name. Der große Verdienst Ibn Sinas bestanddarin, unter Wahrung der Autoritäten dem medizinischen Wis-sen seiner Zeit viele wichtige empirische Erkenntnisse beigefügtzu haben. Diese Offenheit und Wertschätzung gegenüber derErfahrungswissenschaft hat etwas mit seinem philosophischenDenken zu tun.

79Ibn Sina (Avicenna)

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Die Metaphysik

Ausgehend von al-Farabi begriff auch Ibn Sina Metaphysik alsdie Wissenschaft vom Seienden, und auch seine Vorstellungvon der Seinsordnung ist farabianisch. Sie vollzieht das Emana-tionsschema seines Neoplatonismus nach und setzt das Ur-EinePlotins mit der aristotelischen »Ersten Ursache« gleich undüberdies mit dem Gott der koranischen Offenbarung. Auch derPrimat der Vernunftserkenntnis vor der bloßen Glaubenswahr-heit taucht bei Ibn Sina wieder auf. Einen eignen Weg aberschlägt Ibn Sina bei der Interpretation der Seele auf ihrem Wegzur Erkenntnis Gottes ein. Die Metaphysik, wie sie Ibn Sina inseinem philosophischen Hauptwerk Kitab asch-schifa’ (Buchvon der Genesung) entwickelt, ist die Wissenschaft vom Seien-den als solchen. Aber reines Sein kann nur Gott sein, denn nurGott ist notwendig statt kontingent, ewig statt werdend, Einesstatt Vielheit. Die Metaphysik behandelt also die Wissenschaftvon der Gotteserkenntnis. Dabei fällt der Titel des Werkes auf:»Genesung« – und hier liegt der Unterschied zur bisherigenneoplatonischen Tradition. Ibn Sina versteht Philosophie, vorallem in ihrer Königsdisziplin Metaphysik, die nach Aristotelesja von den »letzten Dingen« handeln soll, als die Heilung vonschädlichen Irrtümern, so wie die Medizin die Heilung vonschädlichen Einflüssen auf den Körper ist. Geist und Seeleeinerseits und körperliche Existenz andererseits hängen not-wendig zusammen, und so ist auch die Heilung des einen nievollkommen erreichbar ohne die Heilung des anderen. Damitist nicht nur, wie wir heute sagen würden, eine »ganzheitliche«Medizin gemeint, sondern vor allem eine wichtige Aussageüber das Verhältnis des reinen Seins zur materiellen Welt.

Aristoteles hatte den Stoff als bloßes In-Möglich-Seindefiniert, das die Form passiv aufnimmt, die ihrerseits

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Wirkursache und in ihrer reinsten Form, gänzlich stoff-frei, der reine Denkgott ist. Die Neoplatoniker hatten dieFrage, wie der seelen- und geistlose Stoff zur Form ge-langt, durch das Emanationsschema zu beantworten ver-sucht: Aus dem reinen Sein Gottes emaniert der reineIntellekt, der aber im Unterschied zum reinen Sein Gottes,das Eins ist, bereits die Vielheit enthält. Und so geht esStufe um Stufe weiter, bis das zufällige, vielfache Stoffli-che den geringsten Anteil an formgebenden, reinen Intel-lekt besitzt: die materielle Welt, in der wir selbst leben.Daran hält auch Ibn Sina im Prinzip fest, aber er verweistauf die Notwendigkeit, mit der das Stoffliche auf jederStufe der Emanation mit der Wirkform verbunden ist.Denn wodurch erlangt das Stoffliche, das wir in der Zeitals wandelbar und vergänglich erfahren, sein eigenesSein?

Nur in der Stufenfolge des Emanationsschemas gedacht,müsste das Stoffliche nämlich irgendwann eine reine Möglich-keit sein, die wir dann aber nicht mehr erfahren könnten, dennum etwas zu erfahren, muss etwas Erfahrbares da sein, also einStoff, der eine Form hat, etwas Seiendes. »Jedes Ding, das neuentsteht, hat vor seinem Werden entweder in sich die Möglich-keit zu existieren oder es ist unmöglich.« (Avicenna 1960, 269)In der Ursachenkette muss es also etwas geben, das die Interde-pendenz von Form und Stoff notwendig hervorbringt:

»Jedes einzelne von diesen Prinzipien (die Materie und die Wesens-form) [ist] Ursache für das andere in irgendeiner bestimmten Hinsicht,und bezüglich einer bestimmten Realität, nicht in ein und derselbenHinsicht. Wenn dieses nicht der Fall wäre, dann besäße die materielleWesensform keine notwendige Abhängigkeit von der Materie in ir-gendeiner Weise.« (Ebd., 600)

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Und dies, so Ibn Sina, könne nichts anderes sein als das notwen-dig Seiende, das Gott ist. So ist Gott als reines Sein und reineNotwendigkeit auch im Stofflichen anwesend, und zwar durchdie notwendige Verbindung von Stoff und Form. Das Univer-sum besteht also aus diesen notwendigen Verbindungen. Da sieaber gleichzeitig mit Gott, der sie hervorgebracht hat, existie-ren, müssen sie wie Gott auch ewig sein. Folgerichtig bestehtauch die Welt und das Stoffliche von Ewigkeit her.

Rationalität und Intuition

Für den menschlichen Geist bedeutet dies, dass das Universumdamit auch zum Gegenstand von Erkenntnis wird, und zwarnicht nur hinsichtlich der Erkenntnis der einzelnen Ursachenund des einzelnen Seienden, sondern auch hinsichtlich derErkenntnis des notwendig Seienden, also Gottes. Die »Gene-sung«, um die es in der Metaphysik des Ibn Sina geht, ist dieMöglichkeit des menschlichen Intellekts zur Erkenntnis Got-tes, der zwar transzendent ist, aber zugleich immanent in denstoffgebundenen Formen aufscheint. Ob man diese Philoso-phie, wie Ernst Bloch dies tat, bereits als eine »materialistische«und »pantheistische« bezeichnen kann (vgl. Bloch 1972), seidahingestellt. Sie ist jedenfalls die Grundlage für den an IbnSina anschließenden Versuch einer philosophischen Mystik imIslam, die über den Weg der Erkenntnis zu einer Befreiung derSeele von der irdischen »Gefangenschaft« gelangen will, alsoum eine Verbindung von mystischer Schau des Göttlichen undphilosophischem Rationalismus, die über die Entdeckung vonlogischen Notwendigkeiten zur Gotteserkenntnis gelangt. IbnSina hat einen solchen Erkenntnisweg in der allegorischenErzählung »Hayy ibn Yaqzan« (Der Lebende, Sohn des Wa-chenden) beschrieben, in der ein Erzähler auf einer Reise durchimaginäre Länder unterschiedliche Lebewesen kennenlernt,die jeweils die Stufen der kosmologischen Ordnung und des

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menschlichen Erkenntnisweges symbolisieren. Später hat derPhilosoph Ibn Tufayl im spanischen al-Andalus den Titel füreine eigene, sehr viel berühmter gewordene Erzählung über-nommen. In Ibn Sinas Allegorie, und noch viel stärker in sei-nem zweiten philosophischen Hauptwerk, den Hinweisen undMahnungen, tritt an die Seite der rationalen, philosophischenWelt- und Gotteserkenntnis die intuitive Schau. Diese ist aller-dings nicht nur, wie bei den islamischen Mystikern, eine nicht-rationale Einsicht aus Versenkung und Askese heraus, sondernvielmehr die Fähigkeit, den rationalen Erkenntnisprozessdurch pointiertes Begreifen des Wesentlichen und Essentiellenzu beschleunigen. Diese Fähigkeit zeichnet nach Ibn Sina etwadie Propheten aus, und hier unterscheidet er sich von al-Farabi,der letztlich die Prophetie der philosophischen Erkenntnisnachgeordnet hatte. Für Ibn Sina sind die Propheten nicht nurMeister der Vorstellungskraft, die rationale Erkenntnis in Bil-der und Symbole umsetzen, sondern Meister des geschärftenVerstandes, die den mühevollen Weg der Erkenntnis auch hin-sichtlich seines rationalen Charakters überbieten. Als vereh-rungswürdige »Meister der Menschen« machen sie den einfa-chen Menschen die Weisheit des Koran allegorisch verständ-lich. An alle Menschen gemeinsam geht die Aufforderung, denTugenden von Weisheit, Enthaltsamkeit und Mut, und in derSumme von allen, der Gerechtigkeit zu folgen. »Wer jedoch zudiesen praktischen Tugenden noch die theoretische Weisheithinzuerwirbt, der ist glücklich geworden«, beschließt Ibn Sinaseine Genesung (Ibn Sina 1960, 685).

Einfluss Ibn Sinas

Die Verbindung von mystischer Gottesschau und rationalerPhilosophie in seiner Metaphysik übte in der Folge einen gro-ßen Einfluss aus, auch auf das spätere europäischen Denken imMittelalter. Roger Bacon (1214–1291) sah in ihm den wahren

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Nachfolger des Aristoteles, und Thomas von Aquin (1224/25–1274) orientierte sich an ihm in der Herausarbeitung seinerGottesbeweise, auch wenn er andererseits gegen Ibn SinasEmanationslehre polemisierte. Insgesamt war der Einfluss IbnSinas auf die europäische Philosophie zwar geringer als der desIbn Ruschd, aber umso folgenreicher für die arabisch-islami-sche. Hier bildete sich auf der Grundlage seiner Philosophieeine regelrechte Schule heraus. Dieser große Widerhall riefallerdings auch energische Kritiker auf den Plan, so al-Ghazaliund in seiner Folge Fachr ad-Din ar-Razi (s. folgendes Kapitel),was dann wieder die Gegenkritik der Anhänger Ibn Sinas aus-löste. So ließ sich etwa Nasir ad-Din at-Tusi (1201–1274) ineinen literarischen Disput mit ar-Razi ein, um sein Vorbild IbnSina gegen dessen Angriffe in Schutz zu nehmen. At-Tusi warnicht nur Philosoph, sondern ein Universalgelehrter, der auchauf den Feldern der Mathematik und Astronomie brillierte.Der mongolische Eroberer Hülägü schätzte ihn so sehr, dass erfür ihn ein großes Observatorium für seine Forschungsarbeitenerrichten ließ. Als Philosoph tradierte at-Tusi das System IbnSinas weiter, wobei er in einem enzyklopädischen Ansatz auchandere Wissensgebiete in die Metaphysik zu integrieren suchte,etwa Optik als Teil von Wahrnehmungstheorie oder praktischePhysik innerhalb der Kausaltheorie.

Die Wirkung Ibn Sinas reicht gerade in der iranischen Philo-sophie bis weit in die Neuzeit hinein. Allerdings gibt es in derarabisch-islamischen Gegenwartsphilosophie einen heftigenStreit über die Bewertung dieses Einflusses. Der marokkanischePhilosoph al-Djabiri sieht in der Öffnung der neoplatonischenTradition zur islamischen Mystik durch Ibn Sina eine der Ursa-chen für den Niedergang der rationalistischen Tradition in derislamischen Kultur und damit für das Ausbleiben einer eigen-ständigen Modernisierung. Die Übermacht von Ibn Sinas Den-ken in der philosophischen Tradition des Islam habe die Rezep-tion der Philosophie Ibn Ruschds verhindert, die sehr viel eher

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einen Durchbruch einer mit der Moderne kompatiblen Sub-jektphilosophie bedeutet hätte. Die »Philosophie des Ostens«mit ihrer Tendenz zur Mystik sei also mit verantwortlich für dieDominanz des Religiösen innerhalb der islamischen Kultur.Deshalb müsse man an die Philosophie des arabischen Westens,also vor allem an Ibn Ruschd anknüpfen, um eine autochthoneModerne zu entwickeln. Diese These ist sowohl weit verbreitetwie umstritten; zu ihren schärfsten Kritikern gehört etwa derägyptische Philosoph Hasan Hanafi. Diese Auseinanderset-zung um Ibn Sina findet insofern ihre Spiegelung innerhalb derzeitgenössischen europäischen Rezeption, als sie zwischen ei-ner fast euphorischen Bewertung Ibn Sinas und dem Hinweisauf seine mangelnde philosophische Originalität und Eigen-ständigkeit, etwa im Vergleich zu al-Farabi, schwankt.

85Ibn Sina (Avicenna)

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5 Philosophische Kritikder Philosophie:al-Ghazali und seine Nachfolger

Abu Hamid al-Ghazali (lat. Algazel, 1058–1111) gehört zuden umstrittensten Denkern in der islamischen Philosophiege-schichte, und manche Darstellungen führen ihn nicht einmalunter den Philosophen auf. Das liegt an den unterschiedlichenFacetten seines Werkes: Er tritt als scharfer Kritiker der Philo-sophie, besonders von al-Farabi und Ibn Sina auf. Gleichzeitigist er selber ein Philosoph von hohem Rang, dessen Logik undMetaphysikkritik über seine Zeit hinausweisen. Außerdem hatsein Werk zwei völlig unterschiedliche Darstellungsweisen: Erist einmal ein exoterischer, also an wissenschaftlich-rationalerArgumentation ausgerichteter Denker, aber zugleich ein esote-rischer Schriftsteller mit einem starken Zug zur Mystik. Nebender Kritik der Philosophie lehnte er auch die Klasse der Religi-ons- und Rechtsgelehrten, die Ulama, ab und unterzog ihreUnterwürfigkeit gegenüber den Mächtigen, ihre Karrieresuchtund ihr moralisch fragwürdiges Leben scharfer Kritik. Er waralso ein Denker, der sich schwer in ein einheitliches Interpreta-tionsschema pressen lässt. Al-Ghazali wurde 1058 in Tus inChorassan im östlichen Persien geboren. In Nischapur lernte erbei dem berühmten ascha’ritischen Theologen al-Djuwayni(gest. 1085), in Bagdad übernahm er selbst einen bedeutendenLehrstuhl für islamisches Recht. In die Zeit dieser Lehrtätigkeitfällt auch seine intensive Beschäftigung mit der Philosophie,

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insbesondere mit Ibn Sina. Gegen diesen verfasste al-Ghazalieine seiner Hauptschriften, Tahafut al-Falasifa (Destructio phi-losophorum, Die Inkohärenz der Philosophen). Eine tiefe Sinn-krise veranlasste ihn, sein Lehramt aufzugeben. Er wandte sichsowohl von einer rein doktrinären als auch rationalen Annähe-rung an die Religion ab und der Mystik zu. Jahrelang reiste erdurch die islamische Welt, um schließlich erst nach Nischapurund dann in seine Geburtsstadt Tus zurückzukehren, wo er1111 starb. Sein gesamtes Denken kann als Reaktion auf diegeistige Krise begriffen werden, die einerseits von der Philoso-phie ausgelöst wurde, andererseits aber auch in der tiefen Zer-rissenheit der islamischen Theologie wurzelte, die nicht nur insunnitische und schiitische Auslegungen zerfiel, sondern inner-halb dieser Bekenntnisse in zahllose Sekten und Schulen. In derPhilosophie war es vor allem Ibn Sina und seine Gleichzeitig-keit von philosophischer Stringenz und religiös-mystischerAusdruckskraft, die die islamischen Theologen verunsicherte.Die Antwort darauf bestand bis zu al-Ghazali mehr oder weni-ger in einer Annäherung der Theologen an die Philosophie oderumgekehrt in einer undifferenzierten, ja wütenden Abwehr.

Kritik der Philosophie

Al-Ghazali hat eine umfangreiche Sammlung von Schriften hin-terlassen. In seinem theologischen Hauptwerk, Ihya Ulum ad-Din (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften), ent-standen in seinen Wanderjahren, versucht er traditionelle isla-mische Glaubensvorstellungen mit Praktiken des Sufismus,islamische Ethik mit aristotelischer und diese wiederum mitSufi-Tugenden in Verbindung zu bringen. Seine Philosophiekri-tik im Tahafut setzt vor allem bei al-Farabi und Ibn Sina als denbedeutendsten Vertretern einer aristotelisch-neoplatonischenPhilosophie an. Al-Ghazali macht sich anheischig, zwanzigphilosophische Theorien zu widerlegen; siebzehn davon erklärt

87Philosophische Kritik der Philosophie

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als Abweichung vom rechten Glauben, die zwar nicht mit demIslam vereinbar sind, aber noch keinen Unglauben darstellen,wie etwa Ibn Sinas Theorie der Seele, die Natur- und Kausal-vorstellungen der Philosophen überhaupt oder die Auffassung,Gott als das Ur-Eine könne keine Attribute haben. Drei Theo-rien dagegen sind seiner Meinung nach Unglaube und damitKetzerei und Abfall vom Islam: erstens die Auffassung von derEwigkeit der Welt; zweitens die Behauptung der Philosophen,Gott kenne die Einzeldinge nicht als solche, sondern nur imZusammenhang der universellen Ordnung, also nur als not-wendige Teile der Weltordnung, die er geschaffen hat; drittensdie These von der Unsterblichkeit der Seele, die die Auferste-hung des Leibes leugnet. Das Ergebnis fasst er in der kleinerenSchrift Der Erretter aus dem Irrtum (Al-mundiq min ad-dalal)zusammen, die fälschlicherweise oft als »Autobiographie«bezeichnet wird, weil al-Ghazali hier sein intellektuelles Fazitmit Erlebnissen aus seinem persönlichen Werdegang verknüpft.Streng ist sein Urteil über die arabisch-islamischen Philoso-phen: Wenn schon Sokrates, Platon und Aristoteles tief »in denUngereimtheiten ihres Unglaubens und ihrer Ketzereien ver-haftet« seien, dann müsse man »sie und ihre Anhänger, unterihnen islamische Philosophen wie Ibn Sina, al-Farabi undandere als Ungläubige« betrachten. Und al-Ghazali fügt hinzu:»Keiner unter den islamischen Philosophen hat die Lehren desAristoteles so wie diese Männer übermittelt.« (al-Ghazali 1988,18)

Diese Verdammung der Philosophie wäre wenig originell,wenn al-Ghazali sich nun nicht in entscheidenden Punkten vonden orthodoxen Theologen unterscheiden würde. Zuerstunterteilt er nämlich die Wissenschaft der »Philosophie« insechs unterschiedliche Teilgebiete: Mathematik, Logik, Natur-wissenschaft, Metaphysik, Politik und Ethik. Diese beurteilt erhöchst unterschiedlich. Über die Mathematik sagt er: »Wer indiese Wissenschaft hineinblickt, bewundert die Exaktheit und

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die Vortrefflichkeit ihrer Beweise.« Folgerichtig begehen dieReligionsgelehrten »ein großes Verbrechen, wenn man glaubt,dass der Islam durch die Ablehnung dieser Wissenschaft zumSieg gebracht werden kann.« (Ebd., 19ff.) Das gilt auch für dieLogik, die als Instrumentarium zunächst neutral und auch fürdie Theologen eine wichtige Hilfswissenschaft ist. Wendet mansie allerdings undifferenziert auf die Religion an, so wird sie zueinem Instrumentarium der Verfälschung der religiösen Wahr-heiten. Auch die Naturwissenschaften haben für al-Ghazalidiese zwei Seiten: Ihre Ergebnisse abzuleugnen ist nicht Auf-gabe der Rechtgläubigkeit, es sei denn, sie führen zu Ketze-reien, etwa zur Leugnung von Aussagen des Koran. Im Ergeb-nis fordert al-Ghazali die Religionsgelehrten sogar dazu auf,die logischen Methoden ihrer philosophischen Kontrahentenzu übernehmen. Er selbst verfasste gleich zwei Abhandlungenzur Logik, die dadurch für die Theologie und die Jurisprudenznutzbar gemacht werden soll. Ganz anders ist sein Befund inHinsicht auf die Metaphysik: Sie zeugt von den »Irrtümern«der Philosophen, die al-Ghazali einzeln zu widerlegen trachtet.Hier kommt auch seine Kritik der Logik zum Tragen, und diesist zurecht als der philosophisch interessanteste Teil in al-Gha-zalis Denken bezeichnet worden.

Das Kausalitätsproblem

Grundsätzlich bestreitet al-Ghazali das Recht der Vernunft,ihre Prinzipen auf die Religion anwenden zu dürfen. Ausdrück-lich argumentiert er dabei gegen das Kausalprinzip, und zwarausgehend von der Leugnung der Wunder durch die Philoso-phen. Diese hatten die Möglichkeit von Wundern bestritten mitdem Argument, dass Wunder der Theorie von den natürlichenWirkursachen entgegenstünden, die nicht nur empirisch nach-zuvollziehen sei, sondern darüber hinaus als Prinzip der Welt-ordnung notwendig, weil nur durch die Annahme der Kausali-

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tät eine erkennbare Ordnung überhaupt möglich sei, die zuGott als der ersten, notwendigen Wirkursache führe. Wennzum Beispiel etwas zu brennen beginne, dann müsse es dafüreine natürliche Ursache geben, die bei gleicher Konstellationauch immer wieder zum Entstehen von Feuer führt. Keinesfallsaber könne der Brand ohne eine natürliche Ursache entstehen,der ihn auslöst. Entsprechend wollten die Philosophen alle Bei-spiele für Wunder im Koran und der islamischen Überlieferungmetaphorisch ausgelegt sehen und nicht wörtlich verstandenwissen. So einleuchtend dies klingen mag, so sahen die Theolo-gen dahinter zurecht eine grundsätzliche Infragestellung desallmächtigen Gottes. Denn wenn Gott die Ordnung der natürli-chen Verursachung nicht durchbrechen konnte, dann war erselbst dieser Ordnung unterworfen und hörte auf, der allmäch-tige Gott zu sein. Entsprechend war das gängige Gegenargu-ment der islamischen Theologie der Verweis auf die AllmachtGottes, die auch das scheinbar Unmögliche ermöglichen könneund so das Kausalprinzip nach dem Willen Gottes jederzeit auf-hebe.1

1 Dies darf nicht mit dem Okkasionalismus späterer Philosophie ver-wechselt werden. Denn dieser leugnet die Kausalbeziehung zwi-schen Leib und Seele und behauptet, dass »bei Gelegenheit« (lat.occasio) Gott oder das göttliche Prinzip die Verbindung zwischenseelisch-geistigen und leiblich-körperlichen Vorgängen vermittelt.Dieser Okkasionalismus führt aber direkt in eine pantheistischeWeltsicht, denn nur der in Allem und jederzeit anwesende göttlicheGeist könnte eine solche Verbindung herstellen. Dies aber lag sichernicht in der Absicht der islamischen oder christlichen Theologendes Mittelalters und ihrer Vorstellung vom personifizierten Gott.

Als credo quia absurdum (»Ich glaube, weil es widersin-nig ist«) taucht diese Denkfigur übrigens auch im christlichenDenken schon bei Tertullian zu Beginn des 3. Jahrhunderts auf.

Das Neue an al-Ghazalis Erwiderung auf die Leugnung derWunder durch die Philosophen liegt nun in der Art seiner Argu-mentation. Er bezieht sich nämlich nicht einfach auf die All-

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macht Gottes, sondern versucht, das Kausalitätsprinzip alsTheorie einer notwendigen Verursachung allen Geschehens zuwiderlegen. Auch al-Ghazali geht davon aus, dass es notwen-dige Beziehungen zwischen dem Seienden gibt, etwa bei attribu-tiven Zuschreibungen oder räumlichen Beziehungen. Aber diesgilt keineswegs für alle sinnlich wahrnehmbaren Geschehnisseoder Dinge: »Die Beziehung zwischen dem, was man gewohn-heitsmäßig als Ursache und Wirkung betrachtet, ist nach unse-rer Auffassung keine notwendige. [. . .] Wo immer zwei Dingesind, ergibt sich aus der Existenz des einen nicht notwendiger-weise die des anderen und ebenso wenig aus der Nichtexistenzdes einen die des anderen.« (Zitiert nach Ibn Ruschd 1913, 252)Die Beziehung zwischen zwei Dingen oder Ereignissen gehtnicht auf einen inhärenten Zwang zurück, denn dieser kann inder Natur nicht beobachtet werden. Wenn etwa ein Stück Wollemit Feuer in Berührung kommt und die Wolle zu brennenbeginnt, dann ist bei den Philosophen von einem Kausalzusam-menhang die Rede. Al-Ghazali aber wendet ein:

»Wie lautet also der Beweis dafür, dass das Feuer die Wirkursache sei.Der einzige Beweis der Philosophen ist die empirische Konstatierung,dass die Verbrennung bei und gleichzeitig mit der Berührung des Feu-ers eintritt. Die Konstatierung beweist, dass die Verbrennung gleich-zeitig mit diesem eintritt, sie beweist jedoch nicht, dass sie durch dieBerührung mit dem Feuer erfolgt.« (Ebd., 253)

Was wir also beobachten können, ist tatsächlich nur eine post-hoc-Beziehung, also ein Nacheinander, und keine propter-hoc-Beziehung, ein Wegeneinander. Rein empirisch ist al-Ghazalihier tatsächlich nicht zu widersprechen. Seine Schlussfolgerunglautet dementsprechend, dass wir es nicht mit notwendiger Ver-ursachung zu tun haben, sondern mit dem Wirken Gottes: »DieWirkursache des Verbrennens ist Gott, indem er die Schwärzein der Wolle erschafft und ebenso die Auflösung in ihre Be-standteile und ihre Verwandlung in Asche. Er vollführt dies ent-

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weder durch Vermittlung der Engel oder auch unvermittelt.«(Ebd.) Die Bedeutung dieser Argumentation liegt nicht in demerneuten Rückbezug auf Gott oder in dem schwächlichen Ver-such, den Wunderglauben zu retten, sondern in der Tatsache,dass hier die bis dahin unangefochtene empirische Beweiskraftder propter-hoc-Beziehung widerlegt wird. Dieser Gedanken-gang al-Ghazalis bliebt folgenlos; erst in den europäischen Phi-losophie der Neuzeit, nämlich bei David Hume, taucht dieseArgumentation erneut auf. Hier lässt sich sehr eindrucksvollder Wandel zwischen dem ontologischen Paradigma, dem al-Ghazali verpflichtet ist, und dem neuzeitlichen, mentalisti-schen Paradigma, dem Hume folgt, verdeutlichen. Denn aus al-Ghazalis Kritik des empirischen Beleges notwendiger Kausal-zusammenhänge folgt nichts außer dem Hinweis auf Gott alserneutem ontologischen Kern allen Geschehens. Hume dage-gen folgert aus der Unmöglichkeit, Kausalität empirisch alsontologische Gewissheit zu beweisen, dass die Herstellung vonUrsache-Wirkungs-Relationen eben nur ein Produkt der Ge-wöhnung menschlichen Denkens qua Erfahrung sind. Wäh-rend al-Ghazali also die Kausalität, die er als Teil einer ontolo-gisch verstandenen Weltordnung widerlegt hat, durch den Ver-weis auf eine ebenso ontologische Gottesordnung rettet, gehtHume den einzig der Vernunft noch offenstehenden Weg: StattKausalität als ein Ordnungsprinzip, das in der Natur ist (alsoontologisch), zu begreifen, sieht er es als Prinzip des menschli-chen Bewusstseins an, nämlich als Reaktion des Bewusstseinsauf die gemachten Erfahrungen. Freilich kann er damit nichterklären, wie nun überhaupt Erfahrungen von Etwas möglichsein sollen. Diesen Schritt wird erst Kant vollziehen, der, vonHume aus seinem »dogmatischen Schlummer« geweckt, Kau-salität überhaupt nur noch als Kategorie des Verstandesbegreift, der dementsprechend »der Natur ihre Gesetze vor-schreibt«, anstatt sie ihr mittels Erfahrung ablesen zu wollen(Immanuel Kant, Prolegomena, §36).

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Al-Ghazalis Argumente gegen den Kausalitätsbegriff derPhilosophen zeigen, wie weit die scholastische Debatte inner-halb der Glaubenssysteme des Mittelalters vordringen konnteund damit an das Denken der Moderne anschließt. Zugleichzeigt sich hier aber auch, wie folgenlos gerade die scharfsin-nigste Kritik bleibt, wenn sie nur der dogmatischen Verteidi-gung eines Primats des Religiösen dienen soll. Ingesamt hatteal-Ghazalis Kritik der Philosophen zwei Ergebnisse. Er trägtsicherlich zu einem veränderten Klima gegenüber der Philoso-phie bei, und dies wird ihm gerade von arabisch-islamischenPhilosophen der Gegenwart vorgeworfen. Seine Polemik gegendie Philosophie traf innerhalb eines insgesamt verändertengesellschaftlichen Umfeldes direkt die Philosophen selbst, dienun einer zunehmenden Intoleranz und Feindseligkeit ausge-setzt waren. Schließlich hatte al-Ghazali nicht nur gegen »Irrtü-mer« polemisiert, sondern diese direkt mit dem Vorwurf einesAbfalls vom Glauben verbunden, der im gesellschaftlichenKontext seiner Zeit mörderisch wirken konnte. Gleichzeitigaber ist gerade al-Ghazali geistesgeschichtlich für die Verbrei-tung der Philosophie verantwortlich. Er versuchte, die Philoso-phie durch eine argumentative Widerlegung zu bekämpfen, diesich selbst an philosophischen Methoden orientierte und über-dies die kritisierten Thesen der Philosophen getreulich refe-rierte. Dadurch gelangte sehr viel Wissen über die aristotelischeund neoplatonische Philosophie an breite Kreise gerade dersunnitischen Theologen und führte zur Etablierung aristoteli-scher Logik in den Religionsschulen.

Al-Ghazalis Kritik der Philosophie hatte aber auch einepolitische Konsequenz. Der Zerfall des Islam in Sunnitenund Schiiten und die Aufspaltung in zahlreiche Sektenund Schulen war für ihn ein Indiz für die Verführung der

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Gläubigen durch falsches Denken. Dieses sah er ausgelöstdurch die Philosophie, die mit ihrem Anliegen, die Ord-nung der Welt rational zu erklären und zu durchdringen,den Islam zerstörte.

In einer Streitschrift gegen die isma’ilitische Schia hob er dieVerbindung hervor, die zwischen ihnen und den Neoplatoni-kern bestand: die Verknüpfung des »reinen Intellekts« als ersterEmanation des Ur-Einen mit dem Gedanken des Propheten-tums. Damit schwächte das philosophische Denken in al-Gha-zalis Sicht nicht nur das Wunder der Prophetie, sondern in derKonsequenz auch das Kalifat, das in der Nachfolge des Prophe-ten der Bewahrer und Verteidiger des Glaubens sein sollte. Al-Ghazalis Radikalität gegenüber den Schiiten und den Philoso-phen war also eine direkte Reaktion auf den Zerfall und denUnfrieden innerhalb der islamischen Welt, und er machte daskritische Denken – ganz im Sinne einer noch heute gängigenkonservativen Weltsicht – ursächlich verantwortlich dafür.Entsprechend wünschte er die Stärkung des Kalifats und alsMittel dazu die Unterbindung allen inhaltlichen Streits, indemman die Philosophie zu einer Angelegenheit weniger Gelehrtermachte. Die Mehrheit der Menschen sollte ihre Orientierungaber ausschließlich Koran und Sunna entnehmen, und auch diepolitische Praxis hatte sich daran zu orientieren. Sein Fazit zurPhilosophie in ihrer Bedeutung für eine gesellschaftliche Praxislautete dementsprechend: »Weil die Mehrheit der Menschenvon der Einbildung beherrscht ist, [. . .] Vollkommenheit derVernunft sowie des Vermögens zur Unterscheidung der Wahr-heit von der Falschheit und des rechten Glaubens vom Irrtumzu besitzen, muss man die Allgemeinheit möglichst entschiedendavor warnen, die Bücher der Irregeführten zu lesen.« (al-Gha-zali 1988, 27) Vergleicht man das mit al-Farabis Utopie vom

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Weisheitsstaat, dann wird deutlich, wie weit die politische Phi-losophie hier auf dem Weg zur geistfeindlichen Theokratie fort-geschritten war.

Nachfolger al-Ghazalis

Zugleich spornte al-Ghazalis philosophische Kritik der Philo-sophie die Theologie an, sich genauere Kenntnisse der Philoso-phie zu verschaffen und ihre Methodik zu übernehmen. Einerder ersten, die sich darum bemühten, war Muhammad ibn-’Abd-al-Karim asch-Schahrastani (ca. 1086–1153). Berühmtwurde er durch seine umfassende Darstellung der Sekten undParteien im Islam, dem Kitab al-milal wa-n-nihal (Religions-parteien und Philosophenschulen). Darin stellte er nicht nur diegesamte Geschichte der islamischen Sekten von der Frühzeit andar, sondern auch die Philosophie in der islamischen Kultursowie die anderen großen Religionen neben dem Islam. SeineDarstellung ist sicherlich nicht objektiv, sondern enthält vielvon der Philosophiekritik der Theologen und al-Ghazalis. Ge-genüber Ibn Sina fasst asch-Schahrastani mehr oder wenigerdas zusammen, was bereits al-Ghazali im Tahafut geschriebenhatte. Aber sein Buch ist eine der umfassendsten Darstellungender islamischen Geistesgeschichte bis zu seiner Zeit und einwichtiger Fundus an Informationen, besonders über die frühis-lamischen »Sekten« und ihr Denken. Durch die Art seiner Dar-stellung bietet das Buch zugleich einen Einblick in das Denkender religiösen Orthodoxie im Islam. Von größerer philosophi-scher Bedeutung war Fachr-ad-din ar-Razi. Er wurde 1149 inRayy geboren. Nach einem dortigen Studium und Wanderjah-ren ließ er sich schließlich in seiner Heimatstadt als Lehrer nie-der. Nach einem Leben in großer Armut brachte er es durcheine Erbschaft zu Wohlstand; er starb 1210 in Herat (im heuti-gen Afghanistan), wo der lokale Herrscher ihm die Einrichtungeiner Schule in seinem Palast ermöglicht hatte. Ar-Razi war

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einer der letzten großen Enzyklopädisten im Islam. In mehrerenWerken unternahm er es, sowohl die Theologie einschließlicheiner umfassenden Interpretation des Koran als auch die profa-nen Wissenschaften und die Philosophie darzustellen und zuerläutern. Dabei war er vor allem an al-Ghazali orientiert undschuf in dessen Tradition auch einen Kommentar zur Philoso-phie des Ibn Sina. Noch sehr viel mehr als al-Ghazali ver-knüpfte er darin Philosophie mit Theologie, so dass beide Sphä-ren kaum noch unterscheidbar sind. Ausgehend von Logik undNaturphilosophie suchte er eine rationale Erklärung für dieGottesidee und wandte sich erst im Anschluss einer Kritik ander aristotelisch-neoplatonischen Philosophie (besonders derEmanationslehre) zu, um ihr das »Offenbarungswissen« seinesIslamverständnisses gegenüberzustellen. Damit gelangt noch-mals sehr viel Philosophisches in die Theologie. Doch die Ver-mischung von Philosophie und Theologie bei ar-Razi ver-wischte auch die Unterschiede und führte zu diffusen Positio-nen, die letztlich philosophische Begrifflichkeit und Konse-quenz wiederum schwächten. Zugleich war ar-Razi in seinenGrundeinstellungen noch konservativer als al-Ghazali, unddiese Verbindung zwischen philosophischer Methodik undkonservativem Grundverständnis prägte zukünftig die Rich-tung der islamischen Theologie. Von ihrem philosophischenGehalt blieb so wenig mehr übrig als Grundbestände aristoteli-scher Logik, die sich bis ins 19. Jahrhundert, vor allem als Teilder Ausbildung in der Madrasa, der einer Moschee angeglie-derten Lehranstalt, erhielten.

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6 Die Philosophie im arabischenSpanien (al-Andalus)

Spanien (das al-Andalus der Araber) gehörte seit 711 zur islami-schen Welt, seit der aus dem Yemen stammende Feldherr Tariqibn Zaid in Gibraltar (Djabal Tariq) gelandet war. Zu Beginnwar die arabische Invasion wenig mehr als ein Beutezug. Erstdie Schwäche des Westgotenreiches animierte zur tatsächlichenBesetzung; schon in kürzester Zeit hatte eine relativ kleineArmee alle größeren Städte erobert und drang bis nach Süd-frankreich vor. Zur Mitte des 8. Jahrhunderts gelangten dieBeutezüge an ihre Grenzen; die fälschlich als »welthistorisch«bezeichnete Niederlage eines arabischen Beutezuges bei Toursund Poitiers gegen Karl Martell (732) kennzeichnete die äu-ßerste Grenze, bis zu der sich noch Raubzüge lohnten. DieseNiederlage beendete die arabische Präsenz in Südfrankreichkeineswegs und tat dem Aufstieg und der Blüte des arabischenSpanien keinen Abbruch. Dort hatte zunächst ein Statthalterdes fernen Umayyaden-Kalifats in Damaskus geherrscht. Als750 das Kalifat an die Abbasiden überging und diese ihre Resi-denz nach Bagdad verlagerten, verlor das Kalifat seinen letztenEinfluss auf Spanien. Die dortigen Muslime machten den ein-zigen Umayyaden-Prinzen, der das Massaker an der Familieüberlebt hatte, zum Herrscher über Spanien. Spanien gehörtedamit nicht mehr zum arabisch-islamischen Kalifat, sondernwurde ein eigenständiger arabischer Staat.

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Sowohl ökonomisch als auch technisch-zivilisatorischund wissenschaftlich gehörte al-Andalus zur islamischenWelt und befand sich mit ihr in einem regen Austausch.Das arabische Spanien wurde niemals zwangsweise isla-misiert, vielmehr koexistierten Muslime, Christen undJuden unter arabischer Herrschaft weitgehend friedlichmiteinander. Dadurch entstand eine ganz neue Gruppeder Bevölkerung, nämlich die Arabisch sprechenden unddie arabischen Lebensgewohnheiten übernehmendenChristen (»Mozaraber«). Auch die große jüdische Ge-meinde in Spanien genoss weitgehende Toleranz und par-tizipierte gleichzeitig an der Arabisierung der Lebensweltund Kultur. Aus ihr gingen so bedeutende Philosophenwie Salomo ibn Gabirol (lat. Avicebron, 1020–1058) undMaimonides (Musa ibn Maimun, 1135–1204) hervor. IhrDenken stand nicht nur in den Traditionen des Juden-tums, sondern griff sowohl die islamische Antikenrezep-tion als auch die Philosophie der Muslime auf. Manchesdavon wurde durch ihre Philosophie an das lateinischeMittealter weitervermittelt.

Den Höhepunkt an Macht und Wohlstand erreichte das islami-sche Spanien in der Regierungszeit von Abd ar-Rahman III.(912–961). Danach kam eine Zeit, in der die so genannte »Re-conquista«, oft als »Rückeroberung Spaniens von den Mau-ren« bezeichnet, an Dynamik gewann. Hintergrund dafür warweniger ein Glaubenskrieg zwischen Muslimen und Christenals vielmehr die Zerrissenheit von al-Andalus, das nach demTod des letzten Umayyadenfürsten 1008 in über dreißig unab-hängige lokale Kleinfürstentümer zerfiel. Dazu waren auchchristliche zu rechnen, die bis dahin die Umayyaden als Lehns-herren anerkannt hatten. Die Kleinstaaten führten untereinan-

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der erbitterte Kämpfe um die Vorherrschaft, die von wechseln-den Koalitionen zwischen christlichen und islamischen Herr-schern geprägt waren; erst im weiteren Verlauf der »Recon-quista« gewann das religiöse Motiv an Bedeutung. Die Streitig-keiten innerhalb Spaniens führten auch zu neuen Invasionenaus Nordafrika und spalteten das Land weiter. Das Entstehenchristlicher Königreiche beschleunigte den Zerfall des arabi-schen Spanien. Schon 1085 wurde Toledo erobert, 1236 Cor-doba und 1248 Sevilla. Nur noch Granada blieb bis 1492 ara-bisch, dann wurde es von den vereinigten Königreichen Aragonund Kastilien erobert. Dem Untergang des arabischen Spaniensfolgte eine lange Phase der religiösen Intoleranz und der Geist-feindlichkeit. Mehr als drei Millionen Muslime, Juden undauch viele arabisierte Christen mussten fliehen; im erobertenGranada flammten kurz nach der Machtübernahme durch diekatholischen Könige die Scheiterhaufen auf. Zunächst warenes die Bücher der Araber und Juden, die in Flammen aufgingenund das Erbe eine der reichsten Kulturen des Abendlandes ver-nichteten. Doch »das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bü-cher/Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen«, wieHeinrich Heine in seiner Granada-Tragödie Almansor schrieb.

6.1 Ibn Badjdja und Ibn Tufayl

Zur kulturellen Blüte von al-Andalus gehörte auch die Philoso-phie. Allerdings tritt sie hier erst seit dem 12. Jahrhundertdurch bedeutende Einzelpersönlichkeiten hervor. Dafür kannman zwei Gründe anführen: Während im Osten der islami-schen Welt die Philosophie vor allem mit der Tätigkeit derÜbersetzer antiker Texte beginnt, fehlte eine solche Phase in al-Andalus. Hier hatten sich nach dem Zerfall der antiken Weltund der Völkerwanderung weniger klassische Texte erhalten;

99Ibn Badjdja und Ibn Tufayl

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zudem fehlte die Gruppe der syrischsprechenden christlichenGelehrten, die im Osten eine wichtige Vermittlerposition ein-nahmen. Außerdem galt die Philosophie im umayyadischen al-Andalus als diskreditiert, weil sie im Osten von den abbasidi-schen Feinden gefördert wurde. Erst im Zuge des regen Kultur-austausches zwischen al-Andalus und der übrigen islamischenWelt gelangte neben den anderen Wissenschaften auch philoso-phische Literatur vermehrt nach al-Andalus.

Der erste große Philosoph des arabischen Spaniens war AbuBakr ibn Yahya al-Sa’igh, bekannt als Ibn Badjdja (der Avem-pace des lateinischen Mittelalters). Er wurde am Ende des11. Jahrhunderts in Saragossa geboren, wo er auch den größtenTeil seines Lebens verbrachte. Hier spielte er im politischenLeben der Stadt eine zeitweise bedeutende Rolle, war mehrereMale Minister und bezahlte für seine politische Karriere mitmehrmaligen Gefängnisaufenthalten. Er verließ die Stadt, kurzbevor sie von christlichen Heeren erobert wurde, und übersie-delte nach Nordafrika, wo er 1138 in Fes starb. Seine Philoso-phie war vor allem orientiert an al-Farabi, dessen Schriften erkannte, während er wohl von Ibn Sina keine und von al-Gha-zali nur geringe Kenntnisse hatte. Entsprechend war eine an al-Farabi orientierte aristotelisch-neoplatonische Philosophiesein Ausgangspunkt, im Mittelpunkt stand das farabianischeThema einer Staatstheorie. Dabei unterschied sich die Emanati-onslehre und die damit verbundene Epistemologie nicht we-sentlich von der al-Farabis, wurde von Ibn Badjdja aber in zweiwichtigen Punkten ergänzt. Die Verbindung des menschlichenIntellekts mit dem aktiven Intellekt war für al-Farabi ein dasjeweilige Subjekt betreffender Vorgang, der dieses in den Zu-stand der Erleuchtung heben konnte. Für Ibn Badjdja dagegenwandelte sich diese numerische Vielheit der einzelnen Intellekteauf der höchsten Stufe zu einem einzigen Intellekt, dem nun alleEinzelwesen angehörten, zumindest im Zustand nach dem Tod,wenn sich die unsterblichen Seelen von den Körpern getrennt

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hatten. Hier bestand der aktuelle Intellekt der Menschen alsnumerisch einer fort, als eine Einheit des Intellekts. DieserGedanke beeinflusste später Ibn Ruschd in seiner Theorie vonder Einheit des Intellekts, der deshalb so revolutionär war, weiler die Unsterblichkeit der Seele als einem imaginären, transzen-denten Zustand in einen realen, historischen verwandelte: indie Unsterblichkeit des einheitlichen Intellekts der Menschheitals Erkenntnisfortschritt. Der zweite epistemologische Unter-schied zu al-Farabi war die Betonung der Rolle des Intellektsbei der Erlangung des Zustandes von Glückseligkeit. Ibn Bad-jdja verweist in diesem Zusammenhang auf al-Ghazali und des-sen Behauptung, die Vereinigung mit Gott komme, etwa imSufismus, nicht durch die Aktualisierung des Intellekts zu-stande, sondern durch eine mystische Erfahrung. Dagegen istfür Ibn Badjdja die Vereinigung des menschlichen Geistes mitdem aktiven Intellekt in jedem Falle selbst ein intellektuellerVorgang, hat also Philosophie und Wissenschaft zur Vorbedin-gung. Die Glückseligkeit der Gottesschau ist notwendig anphilosophisch-rationale Erkenntnis gebunden und eben keinErgebnis mystischer Erfahrung. Auch darin folgte ihm IbnRuschd.

Ibn Badjdjas Staatstheorie ist weitgehend an al-Farabi ange-lehnt, aber auch hier gibt es interessante Unterschiede. So wer-tet er etwa den Einfluss der Philosophen anders als sein Vorbildal-Farabi. Für diesen waren die tugendhaften Menschen imUnrechtsstaat dazu verdammt, entweder ihre Tugendhaftigkeitzu verlieren oder das Gemeinwesen zu verlassen und sich einenbesseren Staat zu suchen. Sollte sich ein solcher nicht finden las-sen, dann sei der Tod für den Philosophen besser als ein Verlustder Tugend. Zugleich war es ein Charakteristikum eines jedenStaates, auch des Idealstaates, dass es in ihm störende Elementegeben könne, die al-Farabi in der madina »Unkraut« nennt. IbnBadjdja stellt nun eine interessante Analogie zwischen den aso-zialen Elementen, dem »Unkraut«, und den Philosophen her.

101Ibn Badjdja und Ibn Tufayl

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Auch diese können in den Augen einer Mehrheit im Unrechts-staat, die keine Tugend besitzt, zum »Unkraut« werden. Undmehr noch: Die Philosophen sollten diese Rolle annehmen unddurch ihr Wirken eine Art »Therapie des Gemeinwesens«1

1 Arab. »tibb al-mu’asharat«, vgl. Ibn Badjdja 1991, 43ff.

betreiben. In einem Tugendstaat hingegen sind solche Formendes Gemeinschaftssinns unnötig, ja auch Richter und Beamte,selbst Ärzte sind hier nicht vonnöten, denn der ideale Staatkenne keine Störungen, die solche »Experten« erfordern. IbnBadjdja übernimmt hier statt al-Farabis pessimistischer Sichtdie idealistische aus Platons Politeia. Allerdings wird geradedadurch der »ideale«, tugendhafte Staat zu einer kaum reali-sierbaren Hoffnung. So kommen zwei entgegengesetzte Ak-zente in Ibn Badjdjas Staatstheorie: Sie ist prinzipiell hoff-nungsloser als die al-Farabis und zugleich verhalten optimisti-scher, denn die Rolle tugendhafter Menschen als Verbessererund Therapeuten des Gemeinwesens verspricht wenigstenseine allmähliche Verbesserung der bestehenden Unrechtsstaa-ten. Zwar ist das Entstehen eines Idealstaates genau wie in Pla-tons und al-Farabis Utopien letztlich an die Fähigkeit der In-dividuen zur Verbindung mit dem aktiven Intellekt und damitzur Tugendhaftigkeit geknüpft, aber indem Ibn Badjdja dentugendhaften Gesellschaftsmitgliedern eine »therapeutische«Aufgabe zuweist, eröffnet er eine Reflexionsebene über diesozialen Bedingungen der Möglichkeit von Moralität inner-halb eines Gemeinwesens. Außerdem gelangt mit der Gleich-setzung der philosophierenden Minderheit mit dem marginali-sierten, unerwünschten »Unkraut« der Gesellschaft ein subver-siver Ton in seine Staatstheorie. Konsequent weiter gedacht,führt dies direkt zu der Frage, inwieweit moralische Maßstäbedas Produkt von Selbst- und Fremdzuschreibungen einer Ge-sellschaftsmehrheit gegenüber Minderheiten sind, ohne wirk-lich rationale Gründe dafür vorbringen zu können. Freilich

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sind beide Denkansätze weder bei Ibn Badjdja noch in der spä-teren arabisch-islamischen Philosophie weiter verfolgt worden.

Abu Bakr ibn Tufayl (lat. Abubacer, 1105–1185) war derzweite bedeutende Philosoph im arabischen Spanien. Er wurdein der Nähe von Granada geboren. Unter den Almohadenherr-schern wirkte er als Arzt, Astronom und Philosoph auf zahlrei-chen hohen Verwaltungsposten. Er soll viele philosophischeund naturwissenschaftliche Werke geschrieben haben, vondenen aber nur eine einzige Schrift erhalten blieb. Dieses kleineWerk, eine Art philosophischer Entwicklungsroman, war aller-dings sehr folgenreich: Er lieferte das Vorbild für eines derberühmtesten und meistgelesensten Werke der europäischenLiteratur: den Robinson Crusoe (1719) des Daniel Defoe. IbnTufayl beginnt seine philosophische Erzählung mit einem Vor-wort, das den Eindruck erweckt, die Antwort auf die Frageeines Freundes zu sein, der ihn gebeten hatte, ihm die Geheim-nisse von Ibn Sinas Philosophie zu erklären. Ibn Tufayl nutztdie Einleitung zu einer Kritik der bisherigen Philosophie: Erschließt darin sowohl die griechischen Klassiker als auch diearabisch-islamische Philosophie ein. Er verweist auf innere Wi-dersprüche in den Darstellungen al-Farabis und Ibn Badjdjas,und kritisiert schließlich auch al-Ghazali für dessen indiffe-rente Haltungen in seinen verschiedenen Darstellungen derPhilosophie. Lediglich Ibn Sina hat seiner Ansicht nach denWahrheitssuchenden den richtigen Weg gewiesen: Nicht alleinder rationale Weg der Erkenntnis führt letztlich zum Heil desMenschen und zur Vollkommenheit, sondern die mystischeEinsicht, die »ekstatische Schau« in die Gottesordnung. VonIbn Sina übernimmt er auch den Titel für seinen Roman: Hayyibn Yaqzan – Der Lebende, Sohn des Wachenden. Ibn Tufaylaber verfasste einen philosophischen Roman, der weit über IbnSinas Vorlage hinausgeht.

103Ibn Badjdja und Ibn Tufayl

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Der philosophische Roman Hayy ibn Yaqzan

Die Geschichte beginnt auf einer tropischen Insel, auf der einSäugling ausgesetzt wurde und nun von einer Gazelle aufgezo-gen wird. Durch die Kraft seines eigenen Denkens lernt Hayy,sich zu kleiden, zu bewaffnen und zu jagen. Als schließlich seineZiehmutter, die Gazelle, stirbt, versucht er verzweifelt, an derLeiche eine mechanische Ursache für den Tod zu finden, underkennt dabei, dass die Ursache des Lebens etwas Immateriel-les, nämlich der Geist ist. Von jetzt an ist sein Reifungsprozessnicht mehr nur auf das Überleben gerichtet, sondern erhält einephilosophische Richtung. Er untersucht die Natur und gelangtzu den Prinzipien klassischer Metaphysik: die Unterscheidun-gen zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Akzidenz undSubstanz, die Notwendigkeit der natürlichen Wirkursachen,und so gelangt er logischerweise zur ersten Ursache undschließlich zur Möglichkeit der Einsicht in die Notwendigkeiteines Schöpfers alles Seienden. Nachdem er so Gott rationalerkannt hat, will er sich ihm durch Kontemplation, durchAskese und spirituelle Übungen nähern. So erreicht er denZustand der Glückseligkeit, erkennt in einer Vision die emana-tive kosmische Ordnung und den höchsten Grad menschlichenBewusstseins, der nicht mehr rational ist:

»Er ließ nicht nach in seinem Bemühen, zur Vernichtung des Bewusst-seins seiner selbst zu gelangen, zum vollständigen Aufgehen in der rei-nen Schau des Wahren Wesens; und schließlich gelang es ihm: Allesverschwand aus seinem Gedächtnis und seinen Gedanken, alle geisti-gen Formen, alle körperlichen Vermögen [. . .] Es blieb nur der einzige,der Wahre, das ewige Wesen [. . .]« (Tufayl 1987, 130f.)

Dieser Geschichte eines sich aus sich selbst entwickelnden Wei-sen lässt Ibn Tufayl einen zweiten Teil folgen, der vielleicht dernoch interessantere ist. Auf einer Nachbarinsel nämlich lebt einVolk, dem von einem alten Philosophen eben die philosophi-schen Einsichten in symbolischer, bildhafter Form geoffenbart

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wurden, die Hayy kraft seines Verstandes selbst entdeckt hatte.Doch dieses Volk nimmt die Bilder und Symbole dieser Religionwörtlich. Nur der Denker Absal will hinter die Bedeutung derbildhaften Sprache vordringen und verlässt, als ihm dies in derGemeinschaft nicht möglich ist, schließlich seine Insel. Er lan-det just auf dem Eiland, auf dem Hayy lebt. Absal lehrt Hayydie Sprache und entdeckt seinerseits, dass Hayy ohne die Sym-bolik einer Religion zu den tiefsten Wahrheiten vorgedrungenist, nach denen Absal seinerseits gesucht hat. Sie kehren beideauf Absals Insel zurück, und Hayy beginnt, den Menschen dieBedeutung der Symbole und Bilder der Religion zu erklären,um ihnen den Weg zur ekstatischen Vereinigung mit Gott zuermöglichen: »Was ihn so denken ließ, war die Vorstellung,dass alle Menschen über einen vortrefflichen Charakter, einendurchdringenden Geist, eine standhafte Seele verfügen. Erwusste nicht, wie träge und schwach ihr Geist, wie falsch ihrUrteil ist, kannte nicht ihren Wankelmut.« (Ebd., 160) Alsomuss er bald einsehen, dass ihn die Menschen nicht verstehenund sich durch seine Weisheit eher bedroht fühlen: »JedeErmahnung bleibt ohne Wirkung bei ihnen, guter Zuspruchbewirkt kein Handeln, Debatte führt bei ihnen nur zu Halsstar-rigkeit; und die Weisheit, kein Weg steht ihnen zu ihr offen, undsie haben keinen Teil an ihr.« (Ebd., 163f.) Resigniert zieht sichHayy zusammen mit Absal wieder auf die einsame Inselzurück, nicht ohne die Menschen ermahnt zu haben, sich lieberan den Wortsinn der Symbole der Religion und an die Traditio-nen zu halten, als durch eigenes Denken in Häresien zu verfal-len. Denn »er und sein Freund Absal hatten erkannt, dass es fürdiese Art Mensch, schafsgleich und machtlos, nur diesen einenWeg gibt zum Heil. Lenkt man sie davon ab, um sie auf dieHöhen der Spekulation zu entführen, so lässt ihr Zustand sienur in umso tiefere Verirrungen geraten.« (Ebd., 166)

Dieser zutiefst pessimistische Schluss scheint in der Tradi-tion von al-Farabi und Ibn Badjdja zu stehen. Zunächst ist

105Ibn Badjdja und Ibn Tufayl

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Hayys rationale wie mystische Weltdurchdringung gespiegeltin den symbolischen Formen der Religion. Dahinter steht diebekannte These, dass Philosophie und Religion letztlich die-selbe Wahrheit enthalten. Aber während die philosophischeErkenntnis wenigen zur Weisheit Begabten vorbehalten bleibt,muss die Mehrheit der Menschen strikt und buchstabengläubigder geoffenbarten Religion folgen, weil ihr Verstand und auchihr Charakter nicht ausreicht, um Philosophie zu begreifen unddas Leben eines »Weisen« zu führen. Daraus ergibt sich der Sta-tus des Philosophen in der Gesellschaft. Er muss seine Weisheitdurch Weltabgewandtheit erkaufen. Der Philosoph hat alsokeine andere Funktion für die Entwicklung einer Gesellschaft,als sie durch sein Denken der tiefsten Wahrheiten singulär,nämlich durch seine vereinzelte Existenz, ein winziges Stückbesser zu machen. Es besteht keine Chance, seine Erkenntnisseseinen Mitmenschen mitzuteilen und dadurch die Gesellschaftzu verbessern, denn die Menschen können ihn nicht verstehenund brauchen stattdessen die patriarchalische Leitung durchdie strikten Gebote und die symbolischen Erzählungen derReligion. Umso erstaunlicher ist es nun, dass Ibn Tufayls Buchausgerechnet in der europäischen Aufklärung große Aufmerk-samkeit erfuhr. 1671 übersetzte Edward Pococke den arabi-schen Text ins Lateinische, 1708 folgte eine englische Überset-zung aus dem Arabischen durch Simon Ockley. Auf diesenberuhten die deutschen Ausgaben von Pritius (1726) und Eich-horn (1783). Die Titel, die Pococke und Pritius ihren Überset-zungen gaben, bringt uns auf die Spur des Defoeschen Robin-son: Philosophus autodidactus oder Der von sich selbstgelehrte Weltweise. Defoes Buch wie überhaupt die frühe Auf-klärung ist geprägt von der Überzeugung, dass der Mensch mit-tels seiner Vernunft nicht nur zu jeder Überlebensleistung fähigist, sondern dazu auch keiner Unterrichtung durch eine höhere,etwa transzendente Instanz bedarf. Ganz »aus sich selbst« seider Mensch in Lage, die Geheimnisse der physischen Welt zu

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enträtseln und dabei auch den humanistischen Kern der Reli-gionen, etwa als Sittengesetz, aus der eigenen Vernunft abzu-leiten. Dies findet etwa in Lessings Erziehung des Menschenge-schlechts (1780) seinen idealen Ausdruck, der übrigens ge-nau wie Moses Mendelssohn Ibn Tufayls Roman kannte undschätzte. Dabei lassen sich die Interpreten der Aufklärung nichtvom pessimistischen Fazit des Romans abschrecken, nämlichdass die Masse der Menschen zur Einsicht nur mittels der sym-bolischen Formen des Religiösen gelangen, der Philosoph hin-gegen durch die begriffliche Vernunft.

Für die Aufklärer zählt, dass Ibn Tufayl seinen Hayy denWeg der Vernunft gehen lässt, um zu den Geheimnissender Religion vorzudringen. Dies wird gedeutet als dasBekenntnis zur Überlegenheit der philosophischen Ver-nunft gegenüber den heiligen Texten und religiösenBelehrungen. So zeigt sich nicht nur, wozu das vernünf-tige Subjekt aus sich selbst heraus fähig ist, sondern prin-zipiell den Triumph der Philosophie gegenüber Religionund Dogmatismus. Dadurch lässt sich Ibn Tufayls philo-sophischer Roman als Dokument einer Aufklärungstra-dition einordnen, die zu allen Zeiten und durch alle Kul-turen hindurch die Autonomie des vernünftigen Subjektspropagiert.

Es soll freilich nicht verschwiegen werden, dass eine solcheInterpretation von Ibn Tufayl bei zeitgenössischen Interpreten,besonders aus den Islamwissenschaften, auf Skepsis stößt. Hierwird der Hayy ibn Yaqzan gerade als Beleg für einen resignativ-pessimistischen Rückzug der Philosophie in einer zunehmendvon der religiösen Orthodoxie dominierten islamischen Kulturgesehen.

107Ibn Badjdja und Ibn Tufayl

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6.2 Ibn Ruschd (Averroes)

Noch stärker, als Ibn Tufayls Roman im europäischen 17. und18. Jahrhundert Beachtung fand, war das europäische Mittelal-ter beeinflusst durch den arabischen Philosophen Ibn Ruschdaus Cordoba. Noch Dante erwähnte ihn in seiner GöttlichenKomödie als »Averroes, der den großen Kommentar gemacht«(Inf IV, 144). Es ist ein besonderes Phänomen der Geistesge-schichte, dass Ibn Ruschds Philosophie ihre größte Wirkung imeuropäisch-christlichen Denken erzielte und nicht im arabisch-islamischen. Hier setzt eine breit angelegte Rezeption und Dis-kussion erst im Gefolge der Moderne ein, besonders in den letz-ten dreißig Jahren. Auch dies scheint erstaunlich: Was könnteein Philosoph des Mittelalters einer Welt der Moderne mitihren völlig anderen geistigen Paradigmen und gesellschaftli-chen Problemen zu sagen haben? Sehr viel mehr als irgendeinanderer arabisch-islamischer Philosoph gilt Ibn Ruschd inner-halb der arabischen Welt heute als Denker einer autochthonen,also eigenständigen und von Europa unabhängigen Traditionder Aufklärung innerhalb der islamischen Kultur. So wird dieeinerseits geringe Wirkung innerhalb dieser Kultur im Umkreisseines Lebens und andererseits seine Bedeutung für den Gegen-wartsdiskurs erklärt: Während sein Denken zu seiner Zeit aufein wenig bereites gesellschaftliches wie geistiges Umfeld stieß,liegt die Attraktivität seiner Philosophie in der Gegenwart beiseiner kritischen Analyse des Verhältnisses von Vernunft undGlauben, also bei einem Thema, das für den Gegenwartsdis-kurs im Islam von zentraler Bedeutung ist.

Abu al-Walid Muhammad ibn Ahmad ibn Ruschd, in dereuropäischen Philosophie als Averroes bekannt, wurde 1126 ineiner Familie von politisch einflussreichen Richtern in Cordobageboren. Er durchlief ein umfassendes Studium, zu dem nichtnur Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften gehör-ten, sondern auch eine Ausbildung als Arzt und als Richter, und

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in diesem Zusammenhang in islamischer Theologie. Als 1169der Almohadenherrscher in Marrakesch (Marokko), AbuYaqub Yusuf, einen Kommentator suchte, der ihm Aristotelesverständlich machen sollten, empfahl der damalige Hofarzt IbnTufayl den jungen Ibn Ruschd für diese Aufgabe. Es kann ver-mutet werden, dass Ibn Tufayl im Folgenden der Lehrer undFörderer von Ibn Ruschd war. Dieser übte ab 1171 das Amt desOberrichters von Cordoba aus und folgte 1182 Ibn Tufayl imAmt des Hofarztes nach. Lange Jahre wirkte er in verschiede-nen Ämtern für die Almohaden, bis er in Ungnade fiel. SeineBücher wurden öffentlich verbrannt, und er musste ins Exilgehen. Dafür war wahrscheinlich der Druck konservativerReligionsgelehrter auf den Fürsten verantwortlich; schließlichtrat Ibn Ruschd durch einige markante Thesen zum Verhältnisvon Glaube und Vernunft hervor. Doch muss sein Einfluss aufden Almohadenfürsten so groß und sein öffentlicher Ruf so gutgewesen sein, dass seine Verbannung nur kurze Zeit dauerteund er nach seiner Rückkehr bis zu seinem Tod wieder offizielleFunktionen an Hof des Herrschers ausüben konnte.

Metaphysik

Es ist bezeichnend, dass Ibn Ruschds »Karriere« als Philosophmit einem Kommentar zu Aristoteles begann. Denn er wardurch und durch Aristoteliker, und das europäische Mittelalternannte ihn schlicht »den Kommentator«, nämlich des Aristote-les. Gelegentlich ist diese Anlehnung so groß, dass er etwa aris-totelische Gedanken zur Naturphilosophie und Physik gegendie neueren Erkenntnisse arabisch-islamischer Forscher vertei-digt, auch wenn diese die Fragen eindeutig besser beantwortethatten als der antike Meister. Diese Rigidität hat ihm den Vor-wurf eingebracht, nur ein Epigone des Griechen zu sein. Tat-sächlich geht seine Philosophie weit über Aristoteles hinaus,zumal neben den Aristoteleskommentaren auch Erläuterungen

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zu anderen antiken Philosophen, etwa zu Platons Politeia (die-ses Werk ist nur in einer hebräischen Übersetzung überliefert),Porphyrios’ Isagoge oder Ptolemäus’ Almagest entstanden.Gegenüber Ibn Sina nimmt Ibn Ruschd eine zwiespältige Hal-tung ein. In seinem Hauptwerk, dem Tahafut, verteidigt er IbnSina gegen al-Ghazalis Angriffe, aber zugleich setzt er sich sehrkritisch mit ihm auseinander und widerlegt einige seiner zen-tralen Thesen. Dies gilt vor allem der platonischen Ideenlehre,die im Mittelalter als Universalienrealismus bezeichnet wurde.Für den Universalienrealismus sind nicht die der Erfahrungzugänglichen, sinnlich wahrnehmbaren Dinge die Realität,sondern quasi »hinter« ihnen verbergen sich abgetrennte Sub-stanzen in Gestalt der »Ideen« oder »Universalien«. IbnRuschd dagegen sieht in den Universalien die Wirkung des akti-ven Intellekts auf die menschlichen Seelen und spricht ihnenaußerhalb der Seelen keine eigene Existenz zu. Der Verstandselbst bildet die Universalbegriffe, indem er die Formen vonden einzelnen Dingen der Erfahrung abtrennt. Die Formen sinddas den stofflichen Dingen immanente Element der intelligib-len Welt. Dadurch vertritt Ibn Ruschd eine gemäßigt nomina-listische Position, nämlich dass die Universalien eigentlichBegriffsschöpfungen des Verstandes sind. Weil aber die Formendas Allgemeine, »Ideenhafte« in den Einzeldingen selbst sind,bedarf nicht nur der Verstand der Anschauung der konkretenEinzeldinge, um zur »Idee« der Formen zu gelangen. Auch dieintelligible Welt der reinen Formen selbst bedarf der konkretenDinge, um sich zu verwirklichen. Dies kann man, wie Bloch esgetan hat, als ein materialistisches Denken begreifen. Tatsäch-lich geht es Ibn Ruschd aber eher darum, dass die geistigeErkenntnis immer das Erfassen des realen Allgemeinen ist, alsodas Sein der Dinge in den Dingen der sinnlichen Erfahrungselbst entdeckt werden kann, ohne dass man mit Platon eineVerdoppelung der Dinge in Erscheinung und Wesen annehmenmuss. Diese Gedanken werden in der europäischen Philosophie

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des Mittelalters im gemäßigten Nominalismus wieder auftau-chen und stärken hier die Position des Aristotelismus.

Die Werke, in denen Ibn Ruschd eigenes Denken am deut-lichsten wird und die heute von größtem Interesse sind, warenweitgehend Auseinandersetzungen mit den Angriffen der The-ologen auf die Philosophie, etwa der Tahafut von al-Ghazali.Zu ihm verfasste Ibn Ruschd eine große Kommentierung, inder er al-Ghazalis Argumente zunächst getreulich referiert, umsie anschließend systematisch zu widerlegen. Dieses Tahafut at-Tahafut (Destructio destructionis, Die Inkohärenz der Inkohä-renz) gilt als das Hauptwerk von Ibn Ruschd. Hier ist auchseine Auseinandersetzung mit dem Kausalitätsbegriff al-Gha-zalis zu finden. Er greift dessen Beispiel von dem Stück Baum-wolle auf, das ins Feuer gerät und von dem Al-Ghazali be-merkt, man könne einen Zusammenhang zwischen Feuer undBrennen nur post hoc, aber nie propter hoc annehmen. Ent-sprechend sieht er das Feuer nur als »metaphorische« Ursachedes Brennens an. Lakonisch fragt Ibn Ruschd zurück, ob dannein Mensch, der zufällig in ein Feuer fällt, auch nur metapho-risch verbrennen würde. Für ihn ist evident, dass alle Dingeeben auch Eigenschaften besitzen, die sie überhaupt erst zu demmachen, was sie sind. Beim Feuer ist dies etwa das Verbrennenvon dem, was mit ihm in Berührung gerät, und entsprechendmuss das Feuer auch jeweils als Ursache begriffen werden.Sonst wäre es weder möglich, von den Dingen selbst etwas aus-zusagen, noch über eine Weltordnung, und damit würde auchdie Möglichkeit entfallen, Gott als erste Ursache zu begreifenund damit zu beweisen. Neben dem Tahafut entstanden einigekleinere Schriften zum Verhältnis von Vernunft und Glaube:das Fasl al-Maqal (Die entscheidende Abhandlung) und das al-Kaschf ’an Manahidj al-Adilla (Untersuchung der Beweise hin-sichtlich der Glaubensvorstellungen); sie sind in einer deut-schen Übersetzung von 1875 unter dem Titel Philosophie undTheologie von Averroes zusammengefasst.

111Ibn Ruschd (Averroes)

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Glaube und Vernunft

Im Fasl, genau wie in seinem Tahafut, versucht Ibn Ruschd denVorwurf des Abfalls vom Glauben, den al-Ghazali den Philoso-phen und besonders al-Farabi und Ibn Sina gemacht hatte, zuentkräften. Dabei folgt er jenem Prinzip, dass auch seine Vor-gänger vertreten hatten: Die Wahrheiten von Religion und Phi-losophie widersprechen sich nicht.

»Da diese religiösen Gesetze Wahrheit sind und zu der Spekulationauffordern, welche zur Erkenntnis der Wahrheit führt, so wissen wirMuslime positiv, dass die demonstrative Spekulation nicht zu einemWiderspruch zu dem geoffenbarten Gesetz führt. Denn die Wahrheitkann der Wahrheit nicht widersprechen; im Gegenteil, sie stimmt mitihr überein und legt Zeugnis von ihr ab. [. . .] Wenn aber die Religions-quelle davon spricht, so wird der äußerliche Wortlaut mit dem, wozudie Demonstration in diesem Betreff führt, übereinstimmen odernicht. Stimmt er überein, so ist weiter nichts zu sagen. Ist er im Wider-spruch, so wird eine Interpretation gesucht. Die Bedeutung der Inter-pretation aber ist, den Sinn des Wortes aus seinem eigentlichen Sinn ineinen figürlichen herauszuführen, ohne dass dadurch der Sprachge-brauch beeinträchtigt wird.« (Ibn Ruschd 1991, 7)

Der Widerspruch zwischen einer bewiesenen philosophischenWahrheit und dem wörtlichen Sinn eines religiösen Textesbesteht also nur scheinbar und löst sich auf, indem man denreligiösen Text metaphorisch versteht. Dies heißt aber auch,dass die Philosophen auf einer intellektuellen Stufe mit den»religiösen Gesetzgebern« stehen und die Philosophie mit dergeoffenbarten Religion, wie Ibn Ruschd in seinem Politeia-Kommentar ausführt: Die Absicht der Prophetie »ist dabei ansich die Art und Absicht wie die der Philosophie« (Ibn Ruschd1996, 93). So eindeutig aber die »Wahrheit der Wahrheit nichtwidersprechen kann«, so uneindeutig ist die Fähigkeit derMenschen, diese Wahrheit überhaupt zu erkennen. Weil näm-lich »nicht alle Menschen vermöge ihrer Naturanlagen derDemonstration fähig sind, auch nicht der dialektischen Sätze,

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geschweige der demonstrativen«, und da umgekehrt »die Reli-gion allein zum Zweck hat, alle insgesamt zu unterrichten, soist notwendig, dass die Religion alle Arten von Methoden desFürwahrhaltens und die Arten der Methoden des Begreifens insich enthalte« (Ibn Ruschd 1991, 20). Deren größter Teil richtetsich in symbolischen Formen und Sprachbildern an die Masseder Gläubigen, und nur ein kleiner Teil folgt der 59. Koransure,Vers 2, die Ibn Ruschd zitiert: »Denkt nach, ihr alle die ihr Ein-sicht habt!« Die Wahrheiten der spekulativen Philosophie sindalso nur wenigen Gelehrten vorbehalten. Diese Betonung derExklusivität der Philosophie hat bei europäischen Interpretender Gegenwart zu dem Vorwurf geführt, Ibn Ruschds Plädoyerfür die Freiheit des Geistes sei eben nur eine elitäre Attitüde, beider Wissen und philosophische Einsicht kein Mittel zur Befrei-ung der Menschen sei. Diese Bewertung zeugt von wenig Ein-fühlungsvermögen in die Situation eines Intellektuellen in dervon orthodoxer Religiosität und despotischer Herrschaftdominierten mittelalterlichen Kultur.

Gerade Ibn Ruschd findet deutliche Worte für die politi-schen Zustände seiner Zeit. Im Kommentar zur Politeia stellt erdie Beziehung zwischen politischer Herrschaft und religiösenLegitimationsgebern her: Im »tyrannischen« Staat verfolgen»die Herren mit der Masse keine andere Absicht als ihre eigeneallein. Darum führt die Ähnlichkeit zwischen den priesterli-chen und den tyrannischen Staaten oft dazu, dass die priesterli-chen Teile, die sich in jenem Staat finden, sich in die tyranni-schen verwandeln und den verächtlich machen, dessen Absichtpriesterlich ist, wie es mit den priesterlichen Teilen der Fall ist,die sich in den in unserer Zeit existierenden Staaten finden.«Diese an Deutlichkeit kaum zu überbietende Kritik der Religi-onsgelehrten im Islam fügt Ibn Ruschd schließlich noch dieKonkretisierung hinzu: »Ein Beispiel dafür ist die Herrschaft,die sich in unserem Land, in Cordoba, findet.« (Ibn Ruschd1996, 119ff.) Den bestehenden Verhältnissen stellt Ibn Ruschd

113Ibn Ruschd (Averroes)

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in seinem Platon-Kommentar die These entgegen, dass die reli-giösen Gesetze immer nach ihrer Übereinstimmung mit denvom Menschen gemachten Gesetzen bewertet werden müssen.Die Parameter dafür sind die Regeln, die definieren, welche(politische) Ordnung der Bestimmung des Menschen gemäßist, und zwar wie sie von der Philosophie als Vernunftwissen-schaft vorgenommen werden. Die Superiorität der Philosophieist also nicht zuerst ein elitärer Gestus, sondern beharrt auf demVorrang der vernünftigen Begründung von Gesetzen und politi-schen Ordnungen gegenüber der Behauptung, die menschli-chen Gesetze müssten sich immer nach den religiösen richten.

Es ist die Überlegenheit des Denkens gegenüber demGlauben, der Ibn Ruschd das Wort redet, und für ihn ist es»das Geschäft der Philosophie, die Religion vor dem Ver-stand der Fortgeschrittenen zu überprüfen, mithin: stattEingebung den Beweis sprechen zu lassen«, wie Blochrichtig interpretiert (Bloch 1972, 484) Also bleibt »in derReligion kein offenbart-übervernünftiger Rest, vor demder Verstand agnostisch zu kapitulieren hätte« (ebd.),und genau dies ist die Wirkung, die Ibn Ruschd auf diePhilosophie des ausgehenden Mittelalters in Europa hatteund die heute erneut in der arabisch-islamischen Gegen-wartsphilosophie zu beobachten ist. Zudem setzt IbnRuschd dem Vernunftpessimismus des al-Ghazali einenausgesprochenen Erkenntnisoptimismus entgegen.

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Der unsterbliche Intellekt

Dieser Erkenntnisoptimismus kommt auch in Ibn RuschdsIntellekttheorie zum tragen. Sie war ein Hauptgrund für diegegen ihn gerichtete Polemik in der islamischen und christli-chen Philosophie. Aristoteles hatte den Menschen als das Lebe-wesen definiert, das sich von allen anderen durch seinen Intel-lekt unterscheidet und in der Lage ist, allgemeine und unver-gängliche Formen zu erfassen. Das führt zu dem Problem, dassnun geklärt werden muss, wie der Intellekt eines Menscheneinerseits die allgemeinen, unvergänglichen und überindividu-ellen Formen erfassen, aber andererseits der konkrete Intellekteines einzelnen Menschen sein soll. Aristoteles unterschieddafür zwischen dem passiven Intellekt, der vergänglich undsterblich ist und damit die Vorstellungskraft der jeweiligenIndividuen meint, und dem aktiven Intellekt, der die intelligib-len, ewigen Formen von den Bildern der Vorstellungskraft abs-trahiert. Der aktive Intellekt ist vom konkreten Körper abge-trennt und unvergänglich. Aber er bedarf, um die Vorstellun-gen des passiven Intellekts aktualisieren zu können, der Ver-mittlung durch den intellectus possibilis. Dieser ist die bloßeErkenntnisfähigkeit des Menschen und inhaltlich nichts ohnedie Einwirkung durch den aktiven Intellekt. Damit aber wardas Problem, wie sich die sterbliche, begrenzte Vorstellungs-welt einzelner Menschen zur intelligiblen Welt des aktivenIntellekts verhält, nicht gelöst, sondern nur verlagert. IbnRuschd begriff den intellectus possibilis ebenfalls als unver-gänglich. Er nennt ihn den »materiellen Intellekt« und argu-mentiert, dass dieser zwar Teil habe an den intelligiblen For-men, indem er sie dem passiven Intellekt vermittelt, aberzugleich angewiesen sei auf den konkreten Intellekt eines Men-schen, also auf den passiven Intellekt mit seinen subjektivenVorstellungen und Bildern von der Welt. Daraus erklärt sich derbesondere Status des materiellen Intellekts. Der aktive Intellekt

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ist außerhalb des Menschen und umfasst die intelligiblen For-men. Der passive Intellekt ist Teil der Verbindung von Leib undSeele und wie diese vergänglich. Stirbt aber ein Mensch, dannvergeht zwar die Einheit von Leib und Seele und mit ihr der pas-sive Intellekt, aber nicht der materielle Intellekt. Er gehört nichtals Vielheit zu den einzelnen Menschen, sondern als Einheit zurmenschlichen Gattung. Sofern also der menschliche Verstanddurch den materiellen Intellekt die intelligiblen Formen, alsodie ewigen Wahrheiten, erkannt hat, nimmt er einen universa-len Charakter an.

Nun gehört allerdings die Überzeugung von der Unsterblich-keit der Einzelseele zu den Grunddogmen sowohl des Islam wiedes Christentums. Indem Ibn Ruschd die individuellen Einzel-seelen für sterblich hält und nur den materiellen Intellekt alseine Art »Gattungsseele« für unsterblich, gerät seine Philoso-phie in Konflikt mit den religiösen Dogmen. Entsprechendfeindselig war die Reaktion der religiösen Orthodoxie in bei-den Religionen. In Paris etwa verurteilte 1270 der Bischof drei-zehn philosophische Thesen, zu denen auch die averroistischeSeelenlehre gezählt wurde. Thomas von Aquin verfasste dieStreitschrift Über die Einheit des Intellekts gegen die Averrois-ten (De unitate intellectus contra Averroistas), die sich aller-dings weniger direkt auf Ibn Ruschd als vielmehr auf den Philo-sophen Siger von Brabant bezieht, der sich deutlich zu IbnRuschds Intellekttheorie bekannte. Das Echo der averroisti-schen Lehre ist noch in Dantes De Monarchia (1313) zu finden.Aus Ibn Ruschds Auffassung vom unsterblichen Gattungsintel-lekt und seinem ständigen Fortschreiten in Wissensvermehrungund Reflexionsvermögen folgert Dante Alighieri die Notwen-digkeit einer politischen Ordnung, die einen solchen Reifungs-prozess ermöglicht und von ihm profitiert. Dadurch aber ist diesittliche Ordnung der menschlichen Gesellschaft eben letztlichkein Ergebnis einer verkündeten Gottesordnung, sondern Pro-dukt der menschlichen Vernunft und auch nur durch diese zu

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rechtfertigen. In ähnlichem Kontext taucht Ibn Ruschds Theseauch im Gefolge der europäischen Aufklärung auf. In seinenIdeen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/91)greift Herder sie an: »Auf diesen Weg der Averroistischen Phi-losophie, nach der das ganze Menschengeschlecht nur Eine,und zwar eine sehr niedrige Seele besitzet, die sich dem einzel-nen Menschen nur teilweise mitteilet, auf ihm soll unsere Philo-sophie der Geschichte nicht wandern.« (Herder 1989, 338)Diese auf den ersten Blick gegen Lessings Erziehung des Men-schengeschlechts gerichtete Spitze ist wohl eher direkt gegenKant gerichtet. Hatte dieser doch in seiner Idee zu einer all-gemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) ge-schrieben: »Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Ge-schöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die aufden Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gat-tung, nicht aber im Individuum völlig entwickeln.« (Kant1968, VIII 18) Es ist eine interessante Spekulation, ob Kant hiertatsächlich »averroistisch« argumentiert und ob man nun um-gekehrt schließen kann, dass Ibn Ruschd einen ähnlichenGedankengang beabsichtigt hatte. Schließlich geht es Kantnicht um eine Figur der klassischen aristotelischen Seelenlehreund damit um die Frage der Unsterblichkeit der individuellenSeele, sondern vielmehr um den Charakter der Geschichte alsRechtsfortschritt: Indem die Menschen als Vernunftwesen dieVerbesserung ihrer Verhältnisse selbst in die Hand nehmen, tra-gen sie als Gattungswesen dazu bei, dass im historischen Pro-zess die Bedingungen für die Möglichkeit der Entfaltung vonVernunft und Sittlichkeit im Einzelmenschen verbessert werdenund schließlich vollständig zur Entfaltung kommen.

Bei Ibn Ruschd ist die Vernunft als eine Einheit des Intel-lekts im Menschengeschlecht definiert, und dies hat weni-

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ger eine theoretische als vielmehr eine praktisch-morali-sche Bedeutung. Denn die allgemeine Gattungsvernunftist nun die Grundlage der Sittengesetze, und nicht mehrdie überlieferte Religion. Dies schließt an Ibn RuschdsAuffassung von der Überlegenheit der Philosophie alsVernunftwissenschaft gegenüber den Glaubensdogmenan.

Doch die Autonomie, die Ibn Ruschd hier für den vernünftigenMenschen reklamiert, darf nicht mit dem kantischen Autono-miegedanken verwechselt werden: Ibn Ruschd hält an derGrundüberzeugung des ontologischen Paradigmas, dass Wahr-heit die Erkenntnis des wahrhaft Seienden sei, unverändert fest.Die Autonomie des Subjekts bei Kant geht aber davon aus, dasseine solche Wahrheit für den Menschen nicht erkennbar ist,und darin liegt gerade der Grund seiner Autonomie, auch dersittlichen. Für Kant ist damit die Vernunft die uneingeschränkteRichterinstanz, die auch ihre Grenzen nur selbst bestimmenkann; für Ibn Ruschd bleibt Vernunft das Medium der Teilhabean einer Seinsordnung, die selbst außerhalb der begrenztenmenschlichen Vernunft steht. So ist der Averroismus-VorwurfHerders gegen Kant ein Missverständnis, aber er zeigt auch,wie weit dieser mittelalterliche Philosoph in das Denken derModerne vordringt und so mit die Fundamente für den Para-digmenwechsel zur neuzeitlichen Philosophie legt. Dies ge-schah freilich nur in der europäischen Philosophie. In der ara-bisch-islamischen Welt wurde Ibn Ruschds Philosophie zwarwahrgenommen, aber in sehr viel geringerem Maße und auchweitgehend nur ablehnend.

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7 Gewandelte Kontexte:Religionsgelehrte und Mystiker

Seit dem 11. Jahrhundert verschärfte sich die Krise der ara-bisch-islamischen Welt. Im Inneren existierte das arabischeAbbasidenkalifat längst nur noch formal und war in zahlreicheselbständige Königreiche und Sultanate zerfallen. Von außenwurde es bedroht und destabilisiert durch die Wanderungsbe-wegungen der Turkvölker, durch die Kreuzzüge in Palästinaund die Reconquista in Spanien, schließlich durch die mongoli-sche Invasion, die 1258 zur Eroberung Bagdads und damit zumEnde des Kalifats führte; der letzte Kalif al-Musta’sim fand beider Belagerung den Tod. Damit endete auch das Kalifat alszumindest noch theoretisch existierende Leitung der Umma,der Gemeinschaft der Gläubigen. Damit war die Verbindungzwischen der geistlichen Leitung der Gemeinde durch den cha-lifa rasul allah, den Nachfolger des Propheten, und der weltli-chen politischen Führung des Staates zerbrochen. Zwar habenalle späteren Herrscher und Dynastien sich weiterhin auf einesolche Verbindung berufen, aber die charismatische Führungder Gemeinschaft, die bei aller Schwäche des Kalifats Jahrhun-derte lang verhindert hatte, dass es beseitigt wurde, war fürimmer verloren. Die Agonie des Kalifats beendete die kulturelleBlüte jedoch nicht, sondern störte sie nur lokal. So morsch dieMacht geworden war, das Wirtschaftsleben blieb rege, undmaterieller Reichtum und technologischer Fortschritt blieben

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die Grundlage für Wissenschaften, Philosophie und Dichtung.Das Arabische blieb die Wissenssprache dieser Welt, auchwenn im Osten zunehmend das Persische hinzukam. Das be-deutete für die Geistesgeschichte das Fortdauern der kulturel-len Blüte mit ihrem regen Wissensaustausch, und zugleichbeförderten die gewandelten politischen und sozialen Bedin-gungen das Aufkommen vielfältiger geistiger Strömungen. Dasmacht es schwer, die »geistige Situation der Zeit« einheitlichdarzustellen, ohne sie unzulässig zu uniformieren und damit zuverfälschen.

Die Rolle der Religionsgelehrten in der Gesellschaft

Die Krise der arabisch-islamischen Welt begünstigte das Auf-kommen eines orthodoxen Islamverständnisses. Schließlichwar der Kampf um die politische Nachfolge immer auch eineFrage der religiösen Autorität gewesen, denn jeder weltlicheHerrscher bezog seine Legitimation vor allem aus dem Nach-weis, Verteidiger und Bewahrer der Rechtgläubigkeit zu sein.Während die Schiiten die Autorität den Imamen zuschrieben,die in direkter Linie von Muhammads Schwiegersohn Aliabstammten, war für die sunnitische Mehrheit der Wille Gottesgeoffenbart im Koran und in der Sunna, der Lebensweise desPropheten und seiner Weggefährten, wie ihn die Hadithe nie-derlegten. Dies machte aber eine Auslegung der Heiligen Textenotwendig, und dies führte unmittelbar zum Entstehen einereigenen Gruppe von Schrift- und Rechtsgelehrten, der Ulama.Zu Beginn des 11. Jahrhunderts hatten sich verschiedene Inter-pretationen der Offenbarungstexte herausgebildet, die wie-derum die Grundlage für eine bestimmte Rechtspraxis bilde-ten: die madhahib, die »Schulen« der Sitten- und Rechtsausle-gung. Am weitesten verbreitet und am langlebigsten waren dieSchulen der Schafiiten, Lalikiten, Hanafiten und der Hanbali-ten. Bei den Unterschieden zwischen ihnen ging es um die

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genaue Definition der Prinzipien der Rechtswissenschaft (arab.usul al-fiqh), die schließlich zur Abfassung von maßgeblichenBüchern zur islamischen Pflichtenlehre, dem fiqh, führten. DasErgebnis dieser Pflichtenlehre, die Scharia, war als »islami-sches« Gesetz die normative Richtschnur für alles menschlicheTun. Viele dieser Bestimmungen waren rein theoretisch undhatten so gut wie keine Auswirkungen auf die Rechtspraxis.Andere, vor allem im Personenrecht (etwa bei Verträgen, Ehe-schließungen und Scheidungen, Erbschaften, wirtschaftlichenUnternehmungen, aber auch dem Strafrecht), wurden ange-wendet. Allerdings bleib die Notwendigkeit bestehen, anhandvon Koran und Sunna jeweils zu diskutieren, wie eine neu auf-tauchende Rechtsfrage aufgrund »islamischer« Normen ent-schieden werden sollte. Dafür bediente man sich des Analogie-schlusses, der, von den Gelehrten diskutiert, zu einem Konsensunter ihnen führen sollte. Das ganze Verfahren trug den Namendes idjtihad, was soviel wie »freie Erörterung« bedeutet. Diesist ein zentraler Punkt für das Verständnis der islamischen Geis-tes- und Realgeschichte. In europäischen Darstellungen istnämlich oft zu lesen, die Herausbildung der Rechtsschulen unddie dabei erfolgte Festlegung der Pflichtenlehre in der Schariahätten zum Ende des idjtihad geführt. Diese vielzitierte »Schlie-ßung des Tores zum Idjtihad« wäre nun verantwortlich für dasEnde einer freien Geisteskultur im Islam und damit auch für dieMarginalisierung der Philosophie in ihr. Durch die »Schließungdes Tores« – so die These – stagnierte die islamische Kultur, ver-lor jede Dynamik und wurde endgültig von einer religiösenOrthodoxie dominiert. Tatsächlich kann von einer »Schlie-ßung des Tores« keine Rede sein. In der Praxis wurde der Idjti-had in jeder Rechtsschule angewandt, auch wenn es lokal undzeitlich begrenzt zur Dominanz einer einzigen Auslegung kom-men konnte. Vor allem aber fand die Scharia, und damit dieInterpretationshoheit der Ulama, ihre Grenze in der jeweiligenMacht des Herrschers und der daraus resultierenden tatsächli-

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chen Rechtspraxis. Dazu muss man sich klarmachen, dass dieUlama, die sunnitischen Korangelehrten, keineswegs eine Ein-heit bildeten. Ihre theologischen Positionen konnten Herr-schaft legitimieren, aber auch als puristische Moraltheologieradikale Opposition bedeuten. Die Herrscher ihrerseits berie-fen sich immer auf den Islam als Legitimationsgrund von Herr-schaft.

Religion wurde instrumentalisiert zur Rechtfertigung po-litischer Macht. Aber kein Herrscher war an der Macht,weil er sich als Bewahrer religiöser Gebote oder Vollstre-cker des Gotteswillens beweisen wollte, sondern weil ersich durch die Behauptung, dies zu tun, der einzig zur Ver-fügung stehenden Quelle bediente, die ihn von der Legiti-mation durch die Beherrschten unabhängig machte. DieSultane und Könige herrschten, weil sie »Herren zu eige-nem, nicht von der Anerkennung der Beherrschten ab-hängigen, Recht« (Weber 1922, 144) waren. Einen »isla-mischen Staat« hat es dementsprechend nie gegeben, son-dern nur die politische Instrumentalisierung des Islam.

Die Legitimationsgeber, die Korangelehrten und Theologen,achteten nicht zuletzt deshalb streng auf die religiöse Legitima-tion jeglicher Form politischer Macht, weil sie damit ihreeigene Stellung als alleinige Interpreten und Bewahrer der Reli-gion festigten. Streng genommen gibt es im Islam keine reli-giöse Klasse von Priestern oder Schriftgelehrten, vielmehr stehtdie Kompetenz zur Auslegung der heiligen Texte jedem Muslimqua Zugehörigkeit zur Umma und qua Bildung zu. Je komple-xer aber die Auslegung der heiligen Texte (Koran und Hadithe)wurde, umso unentbehrlicher machten sich die Korangelehr-ten. Sie bildeten damit, wie der arabische Gegenwartsphilo-

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soph Fuad Zakariya anmerkt, durchaus eine den christlichenGeistlichen vergleichbare religiöse Kaste. Über die Interpreta-tion von Koran und Sunna das alleinige Ausübungsrecht zuhaben, war Ziel der Religionsgelehrten. Sie erreichten es aufzweierlei Weise: einmal durch ihre Nähe zur politischen Macht,also durch die Rolle als Sachwalter und Vollstrecker der Herr-schenden, sodann durch die schiere Komplexität der Materie:Wenn alles menschliche Handeln sich auf die Offenbarungs-schriften berufen musste, dann stand jeder Bereich des Lebensim Zugriff religiöser Bevormundung. Dadurch wurde nicht nurdie Kompetenz der Menschen zu autonomem Handeln negiertoder enorm eingeschränkt, die Vormundschaft der Gelehrtenförderte auch den Traditionalismus der Lebenswelt, der man-chen Interessen der Menschen durchaus entgegenkam. Patriar-chalismus und Chauvinismus sind auch deshalb so zählebig inislamischen Kulturen, weil sie sich religiös legitimiert haben,und dies geschah nicht zuletzt aufgrund der Rolle der Religi-onsgelehrten, die sich zu alleinigen Interpreten der Religionaufschwangen. So wurde religiöse Legitimation »veralltäg-licht« (Max Weber), indem sie in die Hände von »Wissensver-waltern« gelegt wurde, die sich ihrerseits eben dadurch für dieGläubigen wie für ihre Herrscher letztlich unentbehrlich ge-macht haben. Die so geschaffene Verbindung von »Staat« imSinne des politischen Gemeinwesens und »Religion« im Sinnevon Glaubenspraxis, die für »den Islam« oft als charakteris-tisch beschrieben wird, resultiert also weniger aus dem Wesender Religion selbst, sondern ist vielmehr das Ergebnis sozio-ökonomischer und politischer Bedingungen. Diese haben sichfreilich in der Geschichte der arabisch-islamischen Länder soverfestigt, dass sie bis heute wirkmächtig geblieben sind.

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Die Ulama und die Philosophie

Andererseits ist es falsch, der Ulama eine einheitliche Theologieoder auch nur Position zur Philosophie zu unterstellen. Es istbemerkenswert, dass bis zum 13. Jahrhundert die Mehrzahl derTheologen und Juristen die aristotelische Logik als methodi-sche Grundlage akzeptierten, während sie der Philosophie zu-mindest skeptisch gegenüber standen. Ersteres hing mit derEntwicklung der Madrasa zusammen, in deren Unterrichtspro-grammen Logik zum Stoff gehörte. In diesem Zusammenhanggelangte auch die aristotelische Metaphysik und Physik inden Lehrstoff und hat sich hier lange Zeit behauptet. Hinzukommt, dass gerade die schärfsten Kritiker der von den griechi-schen Klassikern ausgehenden Philosophie sich ihrerseits derenlogischer und rhetorischer Grundlagen bedienten. Schon imfrühen 9. Jahrhundert hatte der aus Bagdad stammende Koran-gelehrte Ahmad ibn Hanbal (780–855) die Mu’tazila kritisiertund sich dabei besonders gegen die Thesen der Willensfreiheitund der Erschaffenheit des Koran gewandt. Der Theologe Has-san al-Asch’ari (873–935) verband solche hanbalistische Dog-matik methodologisch mit der Philosophie, etwa der aristoteli-schen Logik, und in der Folge auch inhaltlichen mit philosophi-schen Fragestellungen. Er kann also als der Begründer einerrationalistischen Theologie im »Hauptstrom« des orthodoxenSunnismus gelten, und manche Wissenschaftler sprechen des-halb von diesem Hauptstrom als »asch’aritischer Theologie«.Daneben freilich existierte die hanbalitische Schule weiter, diemit seinen Argumentationen nichts zu tun haben wollte, und sodauerte der Streit zwischen den Interpretationen im Islam an.Ihren Abschluss findet diese Entwicklung mit dem TheologenIbn Taimiyya (1263–1328). Er kritisierte nicht nur das Gottes-bild der neoplatonischen Philosophie, sondern wandte sichauch gegen die korrumpierte und selbstsüchtige Ulama. Statt-dessen forderte er die Rückkehr zur Strenggläubigkeit und

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Moralität, wie er sie in der islamischen Frühzeit bei den Pro-phetengefährten verwirklicht zu sehen glaubte. Die Aufgabedes Gläubigen sah er in der strikten Befolgung der Gebote, wiesie in Koran und Sunna ausgesprochen waren, und in einerLebenspraxis, deren Grundlage die Befolgung der Vorschriftender Scharia sein sollte. Allein der Gehorsam gegenüber Gottund seinen Geboten stehe den Menschen als Weg zum Heiloffen. Dies implizierte einen moralischen Rigorismus, dereinerseits auf dem historischen Vorbild der frühen Gemeindeund der Prophetengefährten beruhte, andererseits nur die Aus-richtung an den heiligen Texten kannte. Mit Ibn Taimiyya wer-den im sunnitischen »Hauptstrom« des Islam jene beiden Inter-pretationen nochmals betont, die schon seit der islamischenFrühzeit virulent waren: einmal die »Enthistorisierung« desIslam durch die Behauptung einer ursprünglich reinen, mora-lisch wie lebensweltlich einheitsstiftenden islamischen Früh-zeit, zweitens die Behauptung des Primats der heiligen Texte,die Koran und Sunna nicht nur aus dem Entstehungszusam-menhang löste und zur absoluten Quelle der Wahrheit machte,sondern überdies auch der willkürlichsten und absurdestenInterpretation Tür und Tor öffnete, solange sie nur behauptete,sie wäre »buchstabengetreu«. Ibn Taimiyya spielte bei der For-mulierung dieses Islamverständnisses eine entscheidende Rolle,wenngleich sie erst im 18. Jahrhundert auch politisch umfas-sender zum Durchbruch gelangte. Davon ist die Bewegung derWahabiten der arabischen Halbinsel nur die langlebigste; nochheute beherrscht die wahabitische Doktrin das KönigreichSaudi-Arabien.

Mystik und Philosophie

Zum gesellschaftlichen Wandel gehört neben dem Erstarkender Orthodoxie aber auch eine Gegenbewegung zur ihr: diereligiöse Mystik. Von der Mystik her ist die Verbindung zur

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Philosophie evident: Die Spekulation über die Ordnung desKosmos, über die Stellung Gottes in ihr und seine Stellunggegenüber dem Menschen befördert die Verknüpfung eines sys-tematisch-philosophischen Denkens mit der »Rede« von Gottund der Vereinigung der menschlichen Seele mit dem Transzen-denten. Schon im Neoplatonismus, vor allem aber bei Ibn Sina,ist diese Verbindung schon angesprochen worden. Außerdemhinterlässt jede etablierte Religion einen Rest an Sehnsuchtnach der ganz persönlichen Aufhebung im Transzendenten,nach der individuellen Gotteserfahrung. Dies beginnt schon im8. Jahrhundert und wird aus vielfältigen Wurzeln gespeist:durch die christlich-syrischen Mönche und Asketen, durch diespäten mystischen Hadithe, durch gnostische und manichäi-sche Einflüsse und sicherlich auch durch Anteile der vom Islamverdrängten und unterdrückten altorientalisch-hellenistischenKulte. Die islamische Mystik kurz unter dem Sufismus zu sub-sumieren birgt die Gefahr, entweder das Sufitum bis zurUnkenntlichkeit auszuweiten oder die Vielschichtigkeit derislamischen Mystik zu ignorieren, gerade auch in ihren Bezie-hungen zur Philosophie. Im Islam förderte eine starke »Schrift-gläubigkeit«, ein die Gotteserfahrung und das Alltagslebenstark reglementierendes Primat der Heiligen Texte, eine reli-giöse Mystik, die immer in enger Beziehung zur Philosophie alsder anderen, nämlich wissenschaftlich-rationalen »Konkur-renz« zur religiösen Weltinterpretation stand. Entgegen der»Vereinheitlichung« durch die Schriftinterpretation und diereligiöse Lebenspraxis meldeten Muslime ihren Anspruch aufihre ganz persönliche Gottessuche und Gottesschau an.Dadurch setzt die Suche nach Gott im jeweiligen Subjekt undseinem Bewusstsein an, im Ergebnis führt dies zur EntdeckungGottes im Ich, und damit zur Vereinigung des menschlichen Ichmit dem transzendenten göttlichen Ich.

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Der Skandal mystischer Religiosität lag für die Orthodo-xie darin, dass epistemologisch der Primat der Offenba-rungstexte relativiert wurde: Der Weg des Gottsuchendenführt nicht in erster Linie über die rituelle Befolgung derGebote aus Koran und Sunna, sondern über die individu-elle Gewissheit des Glaubens. Das Ziel der individuellenGottesschau negiert außerdem die Autorität der Ulamaund der Schrift-Orthodoxie. Ähnlich wie das neoplatoni-sche Ur-Eine ist der mystisch erfahrene Gott dem inter-pretatorischen Zugriff der Theologie entzogen. Dadurchwird die Mystik, wie Bloch so schön sagt, ein »Erwachen,wenn nicht aus dem Trancezustand, so aus dem religiösenKnechtzustand« (Bloch 1972, 486).

Allerdings konnten die mystischen Bewegungen auch leicht zurKanalisation gesellschaftlicher Unzufriedenheit benutzt wer-den und damit immer auch bestehende Systeme und ihre Unge-rechtigkeiten stabilisierten. Dabei war die Mystik ein Ventil,das zugleich von anderen Formen gesellschaftlichen Diskursesablenken konnten. So zeigte die Philosophie nicht nur Gemein-samkeiten mit der Mystik auf, sondern konnte auch über dieBetonung der offensichtlichen Unterschiede diskriminiert undals Gegenbewegung zur religiösen Orthodoxie marginalisiertwerden. Die Mystik war tendenziell leichter in den »Haupt-strom« eines traditionellen Islamverständnisses zu integrierenals die Philosophie.

al-Halladj und as-Suhrawardi

Der Charakter der Mystik im Islam ist vor allem individualis-tisch. Der Wunsch nach einer vereinigenden Begegnung desGläubigen mit Gott setzt bei der Erforschung des eigenen Selbst

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an und reflektiert deshalb zunächst auf das eigene Bewusst-sein und die eigene Lebensweise. So erklärt sich, warum dergroße Mystiker al-Halladj (eigentlich Hussain ibn Mansur,858–922) den Satz »ana al-haqq« – »Ich bin die (schöpferi-sche) Wahrheit« – in das Zentrum seiner Gottessuche stellt. Al-Halladj hat diese »Ketzerei« mit dem Leben bezahlt: Nachdemer zuvor acht Jahre eingekerkert war, wurde er 922 in Bagdadöffentlich zu Tode gefoltert. Auch Schihab ad-Din Yahya al-Maqtul as-Suhrawardi (1154–1191), im nordwestlichen Per-sien geboren und ausgebildet, gilt besonders in der arabischenPhilosophiegeschichtsschreibung der Gegenwart als »Märty-rer« der Philosophie im Islam. Kein anderer als der in der euro-päischen Literatur als besonders tolerant gerühmte Sultan Sala-din (Salah-ad-Din, 1138–1193) ließ ihn wegen Ketzerei hin-richten. Suhrawardi vertrat eine Illuminationsphilosophie, diesich nicht nur aus philosophischen, sondern auch aus ganzanderen Quellen speiste: Hier begegnen uns die Vorstellungender schiitischen Isma’iliten wieder, vermischt mit sufistischenund altpersischen Vorstellungen der zarathustrischen Tradi-tion. In ihr ist Gott das absolute Licht, und alles, was existiert,ist Teil dieses Lichtes. So ist auch Erkenntnis ein Akt von »Er-leuchtung«, denn das Erkenntnisobjekt besteht als Teil des Sei-enden aus Licht. Die Diskussion darüber, ob Suhrawardi tat-sächlich noch Philosophie betreibt oder ausschließlich Mystik,ist in der Fachliteratur bis heute nicht beendet.

Ibn Arabi

Einflussreicher als Suhrawardi war die Theosophie des Muhyiad-Din ibn-al-’Arabi (1165–1240). Er stammte aus dem arabi-schen Spanien. Seine Bedeutung für die arabisch-islamischeGeistesgeschichte wird etwa in der Verehrung deutlich, die seinGrabmahl in Damaskus noch heute erfährt. In Ibn-al-’ArabisTheosophie vereinen sich Elemente des Neoplatonismus, des

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Sufismus und des Illuminismus. Auch er spricht vom »Licht«Gottes, das in seiner Philosophie für das Überfließen der göttli-chen Liebe steht, das den Strom der Existenzen im Universumauslöst. Der privilegierte Status des Menschen als einem erken-nenden Wesen kommt durch den Bund zustande, den Gott beider Erschaffung der Welt mit den Menschen geschlossen hat.Bemerkenswert an Ibn-al-’Arabis Theosophie ist vor allem dieVerbindung eines ursprünglich philosophischen Gedankensund der daraus vorgenommenen Schlussfolgerung für die reli-giöse Praxis. Er geht von der berühmt gewordenen These der»Einheit des Seins« (wahdat al-wudjud) aus, die eine unaufheb-bare Verbindung zwischen dem Sein Gottes und seiner Schöp-fung annimmt. Dabei bezieht er sich auf Ibn Sinas These, dassdas kontingente Sein sich auf ein notwendiges Sein bezieht,nämlich auf Gott, aus dem alles andere Sein emaniert. Ibn-al-’Arabi folgert daraus aber auch die Einheit aller göttlichenOffenbarung: Wenn nichts außer Gott existiert, ist auch alleRede vom Göttlichen Ausfluss oder Spiegel seiner selbst. Des-halb betrachtet er die Religionen als gleichwertig und schreibt:

»Mein Herz ist für jede Form des Glaubens aufnahmefähig geworden.Es ist daher ein Weideplatz für indische Weisheit, ein Kloster christli-cher Mönche. Ein Tempel für Götzen, eine Ka’ba für einen muslimi-schen Pilger, die Gesetzestafel der Thora und die Buchrolle des Koran.Ich hänge der Religion mit mystischer Liebe an. [. . .] Dieses ist meineReligion und mein Glaube!« (In: Horten 1912, 6f.)

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8 Wissenschaften, Philosophieund ihr Einfluss aufdas europäische Mittelalter

Neben den mindestens 71 Werken, die Gerhard von Cremona(1114–1187) in Toledo aus dem Arabischen ins Lateinischeübertrug oder von jüdischen Gelehrten, die arabisch sprachenund schrieben, übertragen ließ, findet sich auch eine kurzeBeschreibung seines Lebens. Darin heißt es, dass er von Jugendan in vielen Orten studiert habe, aber in der lateinischen Weltnur auf unzulängliches Wissen stieß. Und dass er schließlich»aus der Liebe zum Almagest, den er nirgendwo unter denLateinern finden konnte, nach Toledo ging; dort, angesichts derÜberfülle an arabischen Büchern über alle möglichen Themen,lernte er, die Armut der Lateiner in diesen Dingen bedauernd,die arabische Sprache . . .« (zitiert nach Wilderotter 1989, 143).Der Almagest war nichts anderes als die arabische Übersetzungdes Hauptwerkes des Mathematikers und Astronomen Clau-dius Ptolemäus aus dem 2. Jahrhundert, nach dem die Erde eineKugel im Mittelpunkt der Welt sei, um die sich Himmelssphä-ren drehen. Diese Kosmologie war eine wichtige Grundlageder neoplatonisch-aristotelischen Systeme der arabisch-islami-schen Philosophie gewesen, und das Buch des Ptolemäus alsihrer Grundlage war im lateinischen Europa nur gerüchteweisebekannt. Die Übersetzung des Gerhard von Cremona bedeu-tete also nicht nur die Erschließung einer wichtigen antikenQuelle, sondern auch einen Zugang zum philosophischen Den-

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ken der Muslime. Beides ist ein Beispiel für die sich anbahnendeWandlung von Weltbild und Wissenschaften im lateinischenMittelalter. Diese ist ohne den Einfluss der arabisch-islami-schen Wissenschaften und Philosophie kaum denkbar.

Das naturwissenschaftliche Denken des Mittelalterssuchte ein System rationaler Erklärungen der erfahrbarenWirklichkeit, das sich zwingend aus den Prämissen desontologischen Weltbildes ergab. Insofern ist das Mittelal-ter eben nicht – wie oft dargestellt – die Epoche des unauf-hebbaren Gegensatzes zwischen Glauben und Vernunft,sondern vielmehr ein »Zeitalter der extremen Rationali-sierung« (de Libra in: Flasch 1997, 111), aber innerhalbeiner ontologischen Welterklärung.

Alles wissenschaftliche Bemühen um das Verständnis der Phä-nomene der Natur einschließlich des menschlichen Körpersging also von einer ideellen Ordnung aus, nämlich von derAnnahme eines ontologischen Grundes aller äußeren Erschei-nungen. Wer als Wissenschaftler bei diesen Erscheinungenansetzte, suchte das Wesen der Dinge hinter ihnen: ihr »Sein«.Dementsprechend unterschied sich alles wissenschaftlicheErkennen, auch wenn es mit empirischen Untersuchungenbegann, grundsätzlich vom neuzeitlichen Wissenschaftsbild.Für den ontologisch denkenden Forscher des Mittelalters kon-struierte sich die Welt von dem her, was das Wesen der Dingewar, also von ihrer Quiddität (Washeit). Dem gegenüber warendie äußeren Phänomene, die der Sinneswahrnehmung zugäng-lich waren, nur Attribute, also Zuschreibungen zum Wesen derSache selbst. Für den nach Erkenntnis strebenden Wissen-schaftler bedeutete dies, dass er vom Zufälligen, durch dieSinne Erfahrbaren entweder gerade absah und es als bloße

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Äußerlichkeit bewertete, oder dass er von der Erscheinungeines Dinges her versuchte, auf sein Wesen, auf das Sein derSache, zu schließen. Für den Wissenserwerb bedeutete diesesWeltbild, dass die wahre Erkenntnis einer Sache mit derErkenntnis ihres Wesens begann und sich die Erfahrungen derWirklichkeit (als bloß Attributives) dem Wissen um das Wesenunterzuordnen hatte. So konnte der mittelalterliche Naturfor-scher von der Existenz von Einhörnern ausgehen, weil ihreEssentialität, ihr Wesen, durch die alten Autoren verbürgterschien und sie zugleich ein spirituelles Wesenhaftes bezeich-neten, das in der Gottesordnung seinen Ort hatte (nämlich alsSymbol des Reinen und Unbefleckten). Dieser Ausgangspunktvon einer festen Weltordnung, in der das Essentielle, die Ideenoder Universalien, das eigentlich Wahre sind, verführt uns oftdazu, die mittelalterlichen Denker für bloß autoritätsgläubigund sogar irrational zu halten. Aber sie konstruierten die Welt,ausgehend von der Prämisse des absoluten Wahren, völlig rati-onal und in bestechender Logik und Konsequenz. Dies giltsowohl für den Kontext der christlich-abendländischen alsauch der arabisch-islamischen Kultur.

Wissenschaften und Wissenskultur im Islam

Der arabisch-islamischen Kultur kam dabei bis ins Hochmittel-alter eine führende Rolle zu, weil sie sich griechisch-orientali-scher Wurzeln leichter bedienen konnte, mit dem Arabischenüber eine Universalsprache verfügte, die zugleich eine lebendeSprache war, und mit dem Islam über eine kulturell-religiösesBindeglied, das die Wissensvermittlung zwischen den unter-schiedlichen Völkern und ihren spezifischen Traditionenerleichterte. Der fast allen Denkern gemeinsame ontologischeAnsatz hatte zur Folge, dass die Suche nach der Substanz, derQuiddität der dinglichen Erscheinungen, umfassend seinmusste. Aristotelisch war dabei der Gedanke, dass jeder nach

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Erkenntnis Strebende bei den Erscheinungen anzusetzen habe,um durch die rationale Systematisierung des Erfahrungswis-sens zum Wesen der Dinge vorzustoßen. Gerade dadurchwurde zunächst im Kontext der arabisch-islamischen Kulturempirische Wissenschaft möglich. Ihre große Leistung lagdarin, auf der Grundlage eines ontologischen Weltbildes undder Interpretationen der antiken Vorläufer die wissenschaftli-che Erschließung der Phänomenwelt weiter vorangetrieben zuhaben. Dadurch addierte sich zu den antiken Quellen, die vonden arabisch-islamischen Forschern erschlossen wurden, eineenorme Anzahl an zusätzlichen Erkenntnissen und theoreti-schen Reflexionen. Dem ontologischen Paradigma verpflich-tet, begriffen sich die Wissenschaftler als Universalgelehrte, dieden gesamten Kanon des bekannten Wissens zu durchdringensuchten. Entsprechend können wir davon ausgehen, dass dieüberwältigende Mehrzahl der Naturwissenschaftler und Den-ker den größten Teil des Wissens »ihrer Zeit« beherrschten undihm in unterschiedlichsten Gebieten neues Wissen hinzufügenversuchten.

Die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Philoso-phie wurden in der islamischen Kultur »Wissenschaften derAlten« genannt. Damit wurde ein deutlicher Bezug zu den anti-ken Quellen geschaffen und zugleich eine Abgrenzung gegen-über den »neuen«, islamischen Wissenszweigen betont: Theo-logie, Rechtswissenschaft, Geschichtsschreibung und Philolo-gie. Die profanen Wissenschaften wurden im Umkreis der städ-tischen Machtzentren gepflegt und entwickelt und fanden ihreVerbreitung auch beim »Bürgertum«, den Händlern, Kaufleu-ten und Beamten. Auch die alten Übersetzerschulen und dieLehranstalten der Krankenhäuser trugen zur Verbreitung derWissenschaften bei, während an der Madrasa die »Wissen-schaften der Alten« im Laufe der Jahrhunderte zunehmend ver-drängt und unterdrückt wurden. Trotzdem blieben bis weit ins14. Jahrhundert und lokal noch darüber hinaus die Wissen-

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schaften in der islamischen Kultur lebendig und wurden weiter-entwickelt. In diesem Zusammenhang bewahrte sich auch diePhilosophie, denn nach den Wissens- und Bildungsidealenbestand ein innerer Zusammenhang zwischen allen Wissensge-bieten, so dass sich der Naturwissenschaftler immer zugleichals Philosoph und umgekehrt der Philosoph immer zugleich alsInterpret von Naturphänomen begriff. Dies blieb auch inEuropa bis ins 18. Jahrhundert hinein so.

Der Einfluss auf Europa

Die Übernahme von Wissen und kulturellen Fertigkeiten istkein außergewöhnlicher Vorgang, vor allem wenn eine Kultur,die über höhere wissenschaftliche, technologische und zivilisa-torische Standards verfügt, mit einer anderen in Kontaktkommt. Wissen, Technologie und Handelsgüter aus dem »Ori-ent« veränderten die europäische Kultur des Hoch- und Spät-mittelalters enorm. Ihren Niederschlag findet das etwa im Ein-dringen arabischer und persischer Worte in die europäischenSprachen1

1 Amüsant und informativ führt dazu kurz ein: Erdmute Heller, Ara-besken und Talismane – Geschichte und Geschichten des Morgen-landes in der Kultur des Abendlandes, München 1992

: hinter der Übernahme von Begriffen wie »Zucker«(arab. sukr), »Tasse« (arab.-pers. tasa) oder »Alkohol« (arab.al-kuhl) verbergen sich nicht nur Handelsgüter, die im Mittelal-ter zunehmend nach Europa kommen, sondern auch Techni-ken: Die Raffinerie, der Emailledekor, die Kachellasur und derKristallschliff gelangen nach Europa durch die Vermittlung derarabisch-islamischen Kultur. Wissenschaftliche Begriffe wieAstrolab, Algebra, Algorithmus, Ziffer und Chiffre (um nureinige zu nennen) gehen direkt auf arabische Wissenschaftenund Wissenschaftler zurück. Der Wissenstransfer vollzog sicheinmal im Gefolge des Handels. So wichtig dieser für die Euro-

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päer war, so randständig war er umgekehrt für die Muslime.Für sie war der Handel die wichtigste ökonomische Grundlageihrer Kultur, aber er vollzog sich vor allem im eigenen Kultur-raum und in den asiatischen und afrikanischen Nachbargebie-ten. Während für die Europäer die Naturprodukte (z.B. Ge-würze) und Handelswaren aus dem Orient hoch begehrt wa-ren, hatten sie selbst den Muslimen wenig zu bieten. So hatteder Handel zwischen beiden Ähnlichkeit mit dem Kolonialhan-del des 19. und 20. Jahrhunderts, nur dass die Europäer in die-sem Verhältnis selbst »Kolonie« waren: Während sie vielfältigeVerbrauchsgüter bezogen, exportierten sie Rohstoffe (Holz,Eisen) und Sklaven. Erst die Bekehrung der slawischen Völker(daher stammt unser Wort »Sklave«) zum Christentum im11. Jahrhundert beendete diesen Handel.

Vor allem war es der direkte Kontakt zwischen Christen undMuslimen, der zum Wissenstransfer führte. Hier spielten diearabischen Besitzungen in Spanien und Sizilien die größte Rolle,auch nach dem Ende der arabischen Präsenz. In Sizilien etwabemühten sich die normannischen Herrscher um den Wissen-stransfer; der Stauferkaiser Friedrich II. ist dafür nur das be-rühmteste Beispiel. Selbst die Kreuzzüge waren für den Einflusswichtig. Insgesamt lernten die Europäer nicht nur die »Kunstdes angenehmen Lebens« (Watt) in den zivilisatorisch sehr vielweiter entwickelten arabischen Gesellschaften kennen, sondernauch das hohe Maß an wissenschaftlichen Standards. ErsteKontakte reichen bis ins 10. Jahrhundert zurück, aber sie be-schränken sich vor allem auf Astronomie, Mathematik undMedizin. Die große Zeit der Übersetzungen begann im Hoch-mittelalter, etwa ab dem 12. Jahrhundert, in einer Atmosphäreveränderter gesellschaftlich-kultureller Bedingungen in Europa.

Dies betraf die Gründung von Universitäten als Stätten vonForschung und der Verbreitung von Wissen durch die akademi-sche Lehre. Aber auch die politischen und sozialen Kontextewandelten sich: Nationalstaaten wie Frankreich entstanden,

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und das alte Feudalsystem transformierte sich in ein neues, dasenorme ökonomische Ressourcen freisetzte. Dies führte zur flä-chendeckenden Besiedlung Zentraleuropas, zur Entwicklungeiner städtischen Kultur und zu einer Bevölkerungsexplosion,aber gleichzeitig auch zu ersten Phänomen von Massenarmutund dadurch ausgelösten Wanderungsbewegungen. All diesveränderte den Charakter der mittelalterlichen Gesellschaftund damit auch das Verständnis von Welt, Mensch und Gott.Vereinfachend kann man von einer Entsakralisierung der latei-nischen Welt sprechen, die im 12. Jahrhundert einsetzte und dienun verstärkt wurde durch das neue Wissen, das aus der ara-bisch-islamischen Kultur nach Europa kam. Die symbolischenund allegorischen Erklärungen der Welt durch ein von Augusti-nus geprägtes Weltverständnis verschwanden zwar nicht, abersie wichen zunehmend einem Aristotelismus, der die Natur unddie Gesellschaft nicht nur als mystischen Ausfluss des Gottes-willens begriff, sondern rational zu durchdringen suchte. Zu-dem war der Vorsprung der Naturwissenschaften der grie-chisch-arabischen Tradition unübersehbar, und er ermöglichteder nichtchristlichen Kultur eine bessere Beherrschung undAusbeutung der Natur und ein angenehmeres Leben. Vor allemdurch jüdische Übersetzer in Spanien wurden die arabischenÜbersetzungen griechischer Klassiker ins Lateinische angefer-tigt: die Elemente des Euklid, Ptolemaios’ Almagest, die arabi-schen Weiterentwicklungen der Mathematik (wie al-Chwaris-mis Algebra) und der Medizin (hier vor allem die Werke von ar-Razi und Ibn Sina), die Optik des Ibn Haitham, um nur einigezu nennen.

Freilich war das naturwissenschaftliche Denken sowohlder »Alten« wie der arabisch-islamischen Gelehrten nicht ver-ständlich ohne Aristoteles und die durch ihn geschaffenenlogisch-systematischen Standards. Dies beschleunigte seine Re-zeption, die vorher eher eine Angelegenheit weniger Philoso-phen ohne umfassende Kenntnisse der Originaltexte gewesen

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war, und führte dazu, dass bis zur Mitte des 13. Jahrhundertsfast alle Werke des Griechen entweder aus arabischen Überset-zungen oder griechischen Vorlagen ins Lateinische übertragenwurden. Dabei halfen wiederum die umfangreichen Kommen-tierungen durch arabische Philosophen, so dass viele europäi-sche Gelehrte »ihren« Aristoteles überhaupt erst durch denBlick ihrer arabisch-islamischen Kollegen kennen lernten. Vonhier aus nimmt die europäische Philosophiegeschichte eineeigenständige Entwicklung, und es ist durchaus richtig, dieGeistesgeschichte des abendländischen Mittelalters in einePeriode vor und eine nach der Rezeption der arabischen Philo-sophie und Wissenschaft und des Aristoteles zu gliedern.

In den Naturwissenschaften veränderten die umfangreichenKenntnisse der Muslime und die Systematik des Aristoteles denCharakter der wissenschaftlichen Erkenntnis. Nicht mehr aus-schließlich als Deduktion aus einem religiösen Weltbild, son-dern induktiv und durch »Erfahrungsnähe« (Kurt Flasch)sollte die Welt erschlossen werden, und dies bedeutete auch,wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr durch theologischeBetrachtungen zu unterbrechen oder gar zu unterbinden. Die-ser Weg wurde von der europäischen Wissenschaft immer kon-sequenter beschritten und führte letztlich zur Emanzipation derNaturwissenschaften. In der Philosophie bewirkte die Rezep-tion des Aristoteles und dann vor allem des Ibn Ruschd (Aver-roes), dass sie genau die Argumente an die Hand bekam, umihre Emanzipation von der Theologie zu betreiben. Es warnicht erst die Neuzeit, sondern die Scholastik des Mittelalters,die zur Eigenständigkeit der Philosophie als Wissenschaftführte, und dies war nur möglich im Gefolge der arabisch-isla-mischen Philosophie. Die zentrale Rolle des Ibn Ruschd zeigtsich auch im Entstehen einer regelrechten Schule des Averrois-mus, deren Zentren die Universitäten in Paris und Paduawaren. Allerdings wird hier auch die unterschiedliche Entwick-lung zwischen der arabisch-islamischen und der europäisch-

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christlichen Philosophie deutlich. Der lateinische Averroismushat zu einer noch schärferen Trennungslinie zwischen denWahrheiten von Philosophie und Religion geführt. Thomas vonAquins Versuch, als Antwort auf Ibn Ruschd nun Aristotelesund die Philosophie in den Dienst der Theologie zu stellen,wurde von den lateinischen Averroisten beantwortet mit derBetonung nicht nur der methodischen Eigenständigkeit derPhilosophie, sondern mit einem Rückschluss von den Metho-den auf die Inhalte: Während der Gegenstand der Philosophiedie Wahrheit selbst ist, befasst sich die Theologie als Wissen-schaft des Religiösen nur mit der Leitung der Völker durchbildhafte Reden und Symbole. Freilich hat erst der spätereAverroismus in Verbindung mit dem Nominalismus diese radi-kale Auffassung vertreten, während der frühe Averroismus desausgehenden 13. Jahrhunderts (etwa bei Siger von Brabant, um1235–1286) versuchte, durch die Betonung empirischer For-schung und eines konsequenten Aristotelismus ein neuesMethodenbewusstsein überhaupt erst zu schaffen. Die Averro-isten erreichten an manchen Universitäten einen Diskussions-freiraum, der die eigenständige und dynamische Entwicklungvon Naturwissenschaften und Philosophie in Europa förderte.

Ob die sich vollziehende Trennung der Philosophie undNaturwissenschaft von der Theologie in der Konsequenz undder Absicht des Ibn Ruschd lag, ist bis heute umstritten.Unzweifelhaft aber ist, dass er die Entwicklung zur Subjektphi-losophie und damit zum großen Paradigmenwechsel der Neu-zeit mit angestoßen hat. Der Einfluss der arabisch-islamischenPhilosophie und Wissenschaft auf Europa nahm in dem Maßeab, in dem der Kontakt zwischen beiden Kulturen geringerwurde und sich zugleich die europäischen Wissenschafteneigenständig weiterentwickelten. Zwar gibt es den Averrois-mus an europäischen Universitäten noch bis in die ausgehendeRenaissance hinein, zwar beziehen sich Wissenschaftler wieKopernikus und Kepler auf arabische Quellen, und auch der

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Renaissancehumanismus verweist explizit auf arabisch-islami-sche Denker (etwa bei Pico della Mirandola), aber insgesamtüberwiegt seit der beginnenden Neuzeit die abwertende Igno-ranz gegenüber dieser wichtigen Wurzel der europäischen Geis-tes- und Kulturgeschichte.

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9 Der Übergang vom Mittelalterzur Neuzeit

Selbst detaillierte Darstellungen wie Majid Fahkrys History ofIslamic Philosophy widmen der Zeit zwischen dem 14. und19. Jahrhundert nur wenig Raum. So gewinnt man den Ein-druck, die Geistesgeschichte der arabisch-islamischen Weltgleiche hier einer »inhaltsleeren Zeit«, wie der Islamwissen-schaftler Reinhard Schulze einmal ironisch formuliert hat. Tat-sächlich steht den vielen bedeutenden Denkern des islamischen»Mittelalters« in den folgenden Jahrhunderten eine verhältnis-mäßig geringe Zahl erwähnenswerter Nachfolger gegenüber.Der arabisch-islamischen Philosophie scheint es an Originalitätund Substanz zu fehlen. Dieser Eindruck hängt sicher auch mitdem Fehlen einer systematischen Erforschung dieser Epochezusammen. Er ist aber insofern mehr als eine lückenhafte Wahr-nehmung, als tatsächlich die gesamte Geschichte der arabisch-islamischen Welt in dieser Zeit ihren Charakter veränderte.Zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert nehmen die Wande-rungsbewegungen von Stämmen und Völkerschaften aus Zen-tralasien in die islamische Welt, aber auch innerhalb dieser zu.Die Historiker sprechen von einer »Nomadisierung«, durch diedie Städte und ihre Kultur zu bedrohten Inseln wurden. DieWanderung von Turkvölkern, aus denen die Dynastie der Seld-schuken hervorging, oder die spätere Invasion der Mongolenführten zu sozialen Umwälzungen, zu neuen Formen politi-

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scher Ordnung und auch zu religiösen Neuorientierungen.Davon waren zunächst vor allem Kleinasien (Türkei) und derIrak betroffen. Die mongolische Invasion veränderte schließ-lich den Raum vom fernen Osten bis zum Balkan. Gerade fürdas alte Kulturland Irak bedeutete die mongolische Invasiondas gewaltsame Ende einer eigenständigen Entwicklung. DieEroberung und Zerstörung Bagdads durch die Mongolen 1258und der Tod des letzten Abbasidenkalifen stellt eine historischeZäsur dar, nicht nur weil damit die alte Kulturhauptstadt desarabischen Islam mit all ihren Kulturschätzen, ihrer riesigenBibliothek und ihrem Geistesleben vernichtet wurde. Auchjahrhundertealte gesellschaftliche und ökonomische Entwick-lungslinien brechen unwiderruflich ab.

In der Folge der Invasionen aus dem Osten und den innerenZerfallserscheinungen entstanden neue Reiche. Im 14. Jahr-hundert hatte der Aufstieg des Osmanenreiches in Westanato-lien begonnen, das durch die Eroberung von Byzanz (Konstan-tinopel) 1453 bis auf den Balkan ausgreift und zu Beginn des16. Jahrhunderts auch den Großteil der arabischen Weltumfasst. Lediglich Marokko nahm eine eigenständige Ent-wicklung. Auch im Iran bildet sich unter den Safawiden einestabile Dynastie heraus, die im ständiger Konkurrenz zumOsmanenstaat stand. Im nordwestlichen Indien bildeten diepolitischen Erben der Mongolen als »Mogul-Kaiser« zwischendem 16. und 19. Jahrhundert eine eigenständige, indo-islami-sche Kultur und politische Ordnung. Die dazugehörige Philo-sophie ist leider kaum erforscht, so dass sich zu ihr wenig mehrsagen lässt, als dass viele Entwicklungslinien der hier behandel-ten arabisch-islamischen »Klassiker«, besonders etwa Ibn Sina,in ihr fortgeführt werden. Dabei gehört es zu den faszinieren-den Details von Geschichte, dass in diesem Kontext die frem-den siegreichen Invasoren schon nach relativ kurzer Zeit dieReligion der Besiegten, also den Islam, annahmen und sich vieleihrer kulturellen Traditionen zu eigen machten. So traten schon

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die ersten mongolischen Herrscher, die neue Dynastien bilde-ten, als Mäzene der Wissenschaften auf, und dazu gehört aucheine gewisse Wertschätzung der Philosophie.

Aber die Umwälzungen dieser Zeit hatten vor allem die städ-tische Kultur geschwächt und damit auch die Infrastruktur desWissens, die Bildungsanstalten, Bibliotheken und den Wissens-austausch zwischen den Gelehrten. So entwickelten sich dieWissenschaften, zu denen auch die Philosophie gehörte, zuneh-mend nur noch lokal und blieben isoliert. Außerdem tradierendie Gelehrten oft nur noch die vorhandenen, aus all den Zerstö-rungen übrig gebliebenen Texte ihrer Vorgänger, und darauserklärt sich zum Teil die mangelnde Originalität ihres Philoso-phierens. Auch spielte hier von Anfang an die religiöse Ortho-doxie eine größere Rolle, vor allem als Legitimationsgeber derneuen Dynastien, die sich nicht auf die traditionellen Legitimie-rungen von Herrschaft im Islam, etwa als Nachfolger des Pro-pheten, beziehen konnten, und deshalb eine Scheinlegitimitätals Wahrer des rechten Glaubens suchten. Dies ging zu Lastender Geistesfreiheit und schränkte den Bildungskanon innerhalbder islamischen Kultur ein. Andererseits ist es falsch, wenn derEindruck erweckt wird, die osmanische Kultur oder die derSafawiden im Iran sei vor allem oberflächlich und nur aufRepräsentation ausgerichtet gewesen. Solch pauschale Beurtei-lung vor allem der osmanischen Zeit findet sich nicht nur inwestlichen Darstellungen, sondern vielfach auch bei arabi-schen Historikern. Seit dem 19. Jahrhundert wird die osmani-sche Herrschaft über die arabische Welt als Fremdherrschaftgewertet und durch ihren angeblichen kulturellen Stillstandals mit ursächlich für den verpassten »eigenen Weg« in dieModerne. Tatsächlich tradierte die osmanische Kultur vorge-fundene Philosophien weiter. Hier ist zuallererst Ibn Sina zunennen, aber auch die illuministische Philosophie und die phi-losophische Mystik. Auch originelle Neuansätze im Umkreisder Philosophie gab es, wie das Beispiel des »Mystikers«

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Scheich Bedreddin zeigt, der zur Zeit des »Interregnums«(1403–1413) und des Sultans Mehmed I. (1413–1421) wirkte.Seine Verbindung von mystischer Gottesschau und striktemHumanismus hatte vor allem eine politische Komponente, diesich gegen den osmanischen Obrigkeitsstaat richtete und dengeistigen Hintergrund für eine Reihe von sozialrevolutionärenBewegungen bildete.

9.1 Ibn Khalduns Geschichtsphilosophie

Noch bevor sich das osmanische Reich herausbildete, zur Zeitdes »Mongolensturms«, wirkte in Westarabien ein andererDenker, der sich mit der Wechselwirkung von Denken und Kul-tur mit der politischen und sozialen Wirklichkeit beschäftigte.Er wird manchmal emphatisch, aber nicht ganz zu unrecht, alsder »Erfinder« der Soziologie bezeichnet: Abu Zaid Abd ar-Rahman Ibn Muhammad Ibn Khaldun (Ibn Chaldun). Gebo-ren wurde er 1332 in Tunis. Seine Familie hatte in Sevilla bis zurEroberung durch die Christen 1248 eine führende politischeRolle gespielt und gehörte zu den wohlhabenden Landbesit-zern. Nach Nordafrika vertrieben, setzte sie diese Rolle unterden dortigen Dynastien fort. Der junge Ibn Khaldun bekameine umfassende Ausbildung und bekleidete eine Reihe vonÄmtern bei lokalen Herrschern. Auch er war, wie viele Ge-lehrte, die sich politisch betätigten, in Palastrevolten und Ver-schwörungen verwickelt und saß einige Male im Gefängnis.Seine wechselnden Dienste führten ihn schließlich bis nachKairo und Aleppo, wo er die Übergabe der Stadt an den mongo-lischen Eroberer Timur-i-lang aushandelte, was diese letztlichaber nicht vor der Plünderung und Zerstörung bewahrte. Nacheinem bewegten Leben starb Ibn Khaldun 1406 als Kadi (Rich-ter) in Kairo. Dass Ibn Khaldun neben diesem bewegtem Leben

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auch noch ein wissenschaftliches Werk und einige autobiogra-phische Bücher verfasste, zeigt die ungebrochene Bedeutung,die die Wissenschaften in der Alltagswelt dieser Zeit hatten.Dabei hätte sich Ibn Khaldun selbst nie als Philosophen be-zeichnet, stand er doch der Philosophie eher skeptisch, ja ableh-nend gegenüber, auch wenn er sie, besonders die Denker ausal-Andalus, gut kannte. Sein Ansatz jedoch unterschied sichgrundlegend von allen neoplatonischen, aristotelischen odersonst von antiker Philosophie beeinflussten Richtungen.

Ibn Khalduns Ruhm beruht auf der dreibändigen Einleitung(arab. Muqaddima, lat. Prolegomena) zu einem umfassen-deren Geschichtsbuch. In diesem Werk handelt Ibn Khaldundie geschichtsphilosophischen, soziologischen und politischenGrundthesen des geplanten Geschichtsbuches ab. Die Faszina-tion geht dabei von der Art aus, mit der er die Funktionsweisenhistorischer Prozesse erklärt. Sie stellen einen Bruch mit traditi-onellen Geschichtsbildern dar, obwohl Ibn Khaldun im Detailselber völlig den Traditionen verhaftet bleibt.

Ibn Khaldun erklärt die Entwicklung von Gesellschaftenund Staaten nicht mehr aus metaphysischer Spekulationheraus, sondern als Wechselwirkung realer Interessenund Fähigkeiten mit ebenso realen ökonomischen, sozia-len, politischen und geographisch-klimatischen Kontex-ten. Dadurch ergibt sich ein völlig neues Geschichtsbild,das die Entstehung von Völkern und Zivilisationen nichtmehr zum Ergebnis einer Heilsgeschichte stilisiert, son-dern auf die natürliche Bedürfnisbefriedigung innerhalbsozialer Gemeinschaften zurückführt. Es ist diese Moder-nität seiner soziologisch begründeten Geschichtsphiloso-phie, die seine Attraktivität für den Gegenwartsdiskursausmacht.

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In der arabischen Welt ist Ibn Khaldun seit über einem Jahrhun-dert einer der meistdiskutierten »Klassiker«, auf den sich libe-rale oder marxistische Autoren ebenso berufen wie arabischeNationalisten, Faschisten und inzwischen auch islamistischeTheoretiker. Dabei ist sein Werk in der arabisch-islamischenWelt erst im ausgehenden 19. Jahrhundert wiederentdeckt undin größerem Umfang erst im 20. Jahrhundert rezipiert worden,auch wenn es schon der Staatsbürokratie der Osmanen alsLehrbuch galt. Für die europäische Wahrnehmung kam IbnKhaldun »zu spät«; die Spätscholastik und die beginnendeRenaissancephilosophie nahm kaum noch Übersetzungen ausdem Arabischen vor. Erst die Islamwissenschaften des 19. und20. Jahrhunderts begannen sich für Ibn Khaldun zu interessie-ren, und eine marxistische Geschichtsphilosophie versuchtesich sein Denken als »Vorläufer« eines historischen Materialis-mus anzueignen.

In seiner Muqaddima will Ibn Khaldun Entstehung, Aufbauund Verfall der Kulturen erklären und damit »eine selbständigeWissenschaft« schaffen. Den Gegenstand dieser Wissenschaftnennt er »Umran«, die »menschliche Kultur« (Ibn Khaldun1992, 53). Er bestreitet, dass die Philosophen sich tatsächlichmit dem Staat und der Kultur als realen Phänomen beschäftigthaben, indem sie »die Prophetie rational zu beweisen und sieals natürliche Eigenschaft des Menschen zu belegen« (ebd. 54)trachteten. Dabei übersehen sie, dass »sich das Dasein und dasLeben der Menschen auch ohne dies vollziehen können« (ebd.),wie die Existenz großer Reiche und Kulturen bei Völkern be-weist, die über keine monotheistische Offenbarungsreligionverfügen. Daraus schließt Ibn Khaldun zweierlei: Erstens istweder der Sinn noch das Entwicklungsprinzip von Geschichtedurch Religion geoffenbart, wodurch die Religion selbst nichtzum Anlass von menschlicher Kultur wird (etwa durch denWillen Gottes), sondern zu deren Produkt. Zweitens muss eseine andere Antriebskraft geben, die Kulturen sich entwickeln

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lässt. Der erste Punkt ist schon erstaunlich genug, denn damitweist Ibn Khaldun der Religion eine funktionale Rolle inner-halb eines sozialen Kontextes zu und antizipiert damit Gedan-ken, die in der europäischen Philosophie erst Jahrhunderte spä-ter auftauchen werden. Der zweite Punkt bringt uns zum Kernseiner Geschichtsphilosophie.

Ibn Khaldun stellt die Geschichte der Kulturen als evolutio-nären Entwicklungsprozess analog zum biologischen Lebendar: Sie entstehen, wachsen, reifen, altern und verfallen schließ-lich. Da es keinen metaphysischen Zweck dafür gibt, also keineUrsache, die außerhalb der Kulturen selbst liegt, muss derGrund dafür in ihrem Inneren gesucht werden. Ibn Khaldunentdeckt ihn in der Asabiya. Dieser arabische Begriff ist kaumadäquat zu übersetzen. Er meint zunächst die Stammessolida-rität und das Ehrgefühl der vorislamischen Beduinen und da-raus abgeleitet den »Gemeinsinn« und das »Zusammengehö-rigkeitsgefühl«, das allen Formen von Vergesellschaftung zu-grunde liegt. Dabei geht Ibn Khaldun durchaus traditionellvon der aristotelischen Auffassung vom zoon politikon aus:Vergesellschaftung entsteht, weil Menschen natürlicherweisegezwungen sind, sich mit anderen Menschen zusammen zu tun,um überleben zu können. Die Asabiya ist sozusagen der »Kitt«,der diese Verbindung zusammenhält und sie wachsen lässt. Jestärker die Solidarität und das Verantwortungsgefühl der Men-schen untereinander ist, desto mehr wächst und gedeiht auchdie Gemeinschaft als Ganzes. In der frühen Phase von Kultur-entwicklung bezieht sich die Asabiya immer auf die natürlichenGemeinschaften von Familie, Clan und Stamm. In dieser Über-sichtlichkeit sind keine eindeutigen Herrschaftsstrukturen undkein organisierter Staat notwendig. Ibn Khaldun sieht als Bei-spiel die vor- und frühislamische Beduinengesellschaft. DieseGemeinschaften sind besonders dynamisch und nach außen hinkriegerisch. Dadurch streben sie zu größerer kultureller Entfal-tung. Die Ur-Asabiya der Blutsverwandtschaft wandelt sich

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durch Eroberung und Kontakt zu Fremden in eine Asabiya derSchutz- und Bündnisverhältnisse, und die menschliche Kulturstrebt der nächsten Stufe zu, der städtischen Gesellschaft. Hierkommen wichtige Faktoren zur ursprünglichen Asabiya hinzu,die die Bildung von Staaten mit komplexen Herrschaftsverhält-nissen begünstigen. Zunächst spielt die Tatsache eine Rolle,dass der Mensch nicht nur zoon politikon ist, sondern zugleichauch ein am Eigennutz orientiertes Wesen. Haben die Men-schen eine gewisse Entwicklung von Kultur erreicht, »so bedür-fen sie unbedingt eines zügelnden Elements, das sie voneinan-der fernhält, da in ihrer animalischen Natur Feindschaft undTyrannei liegen.« Dieses »zügelnde Element« muss »einer vonihnen sein, der ihnen überlegen ist, Autorität und eine starkeHand besitzt, so dass keiner den anderen angreifen kann. Dasist der Sinn des Wortes mulk – Herrschaft« (ebd. 53).

Interessant ist, dass Ibn Khaldun sowohl das Hobbesschehomo homini lupus (»Der Mensch ist dem Menschen einWolf«) vorwegnimmt als auch die Legitimität von Herrschaftwie Machiavelli an die Fähigkeit des Herrschenden bindet, fürdas Gedeihen und den Bestand der Gemeinschaft zu sorgen.Der Staat hat also die Funktion, für das Wohl der Gemeinschaftzu sorgen, und ist keinesfalls zu höheren Ehre Gottes entstan-den. Dementsprechend lehnt Ibn Khaldun auch jedes theokra-tische Staatsmodell ab und verweist auf den eigentlichen Sinnder Religion: die Asabiya, das Gemeinschafts- und Verantwor-tungsgefühl in der Gesellschaft, zu stärken. Für die Entwick-lung der städtischen Kultur hält Ibn Khaldun die ökonomi-schen Kontexte für entscheidend. Die städtische Gesellschaftist auf Warenproduktion und Handel ausgerichtet. Dabei ent-stehen nicht nur mehr Waren, als die Gemeinschaft selbst ver-brauchen kann, sondern auch Produkte, deren Wert den derEntlohnung weit übersteigt. Durch beides entsteht großerReichtum bei einer kleinen Gruppe von Menschen. Dies unddie Tendenz von Herrschaft, ihre Funktion zum Erhalt der

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Gemeinschaft zugunsten von Eigennutz, Ruhmsucht und Wohl-leben zu vernachlässigen, führt dann zum Verfall der städti-schen Kultur. Die Asabiya verliert zunehmend ihre Funktion alsZusammenhalt der Gemeinschaft, Teile der Gesellschaft ver-sinken in Dekadenz, und der Staat wird durch verantwortungs-lose Herrscher ruiniert. So folgt unausweichlich auf den Nie-dergang der Untergang der Kultur, entweder durch eine »jun-ge«, dynamische Kultur von außen oder durch Bürgerkrieg undZerfall. Diese Entwicklung lässt sich nicht verhindern, sondernhöchstens zeitweise aufhalten, etwa durch die normgebendeKraft der Religion. Die biologistische Analogie von Lebens-altern mit der Gesellschafts- und Kulturgeschichte mündet alsoin einem letztlich pessimistischen Befund.

Bewertet man Ibn Khalduns Muqaddima aus dem Kontextseiner Zeit, dann liegt eine Analyse gesellschaftlicher Entwick-lungsprozesse vor, die erstaunlich »modern« an realen sozia-len, ökonomischen und sozialpsychologischen Faktoren orien-tiert ist. Seine Geschichts- und Kulturphilosophie verzichtetbewusst auf eine metaphysische Erklärung für das Entstehenund die Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Dadurchgewinnt man zurecht den Eindruck einer »modernen« Philoso-phie: Es sind der Analyse zugängliche Faktoren realer Kon-texte, die in der Muqaddima »Kultur« und »Politik« bestim-men. Dennoch bleibt auch Ibn Khaldun einem ontologischenDenken verhaftet. An die Stelle einer Gottesordnung oder Kos-mologie, die über die Art und Weise und die Möglichkeitengesellschaftlicher Praxis entscheiden, tritt bei ihm ein biologis-tisches Prinzip. Der Lebenslinie von Kulturen als Entstehen,Blüte und Untergang kann sich der denkende und handelndeMensch ebenso wenig entziehen wie irgendeiner kosmologi-schen Gottesordnung der alten Metaphysiker. So ist Ibn Khal-dun ein Philosoph des Übergangs, dessen Denken genug Stofffür eine Philosophie in der Moderne bietet, ohne sie insgesamtbereits zu antizipieren. Die Attraktivität Ibn Khalduns für den

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Gegenwartsdiskurs der arabisch-islamischen Philosophie liegtnicht nur in der Modernität seiner Grundthesen, sondern in derMöglichkeit, diese selektiv in den Kontexten von Gegenwarts-analysen und Ideologien nutzbar machen zu können. So hat derarabische Nationalismus seit al-Afghani im 19. Jahrhundertaus dem Modell des Kulturverfalls auf die Unausweichlichkeitdes Aufstiegs der arabischen Kultur und des Verfalls der euro-päisch-westlichen geschlossen. Sowohl dieser Nationalismusals auch seine islamistische Variante verweisen zudem auf dieÜberlegenheit der Asabiya in der arabisch-islamischen Kulturgegenüber dem subjektzentrierten Rationalismus des Westensund seinem lebensweltlichen Individualismus. So dienen dievon Ibn Khaldun angeführten Gründe für Aufstieg und Verfalleiner Kultur heute der Abwehr unerwünschter Modernität.Man kann etwa den Import technischer Innovationen aus demWesten als Beitrag zur Entwicklung der eigenen Kultur begrü-ßen, aber zugleich die Übernahme von individueller Selbstbe-stimmung und Pluralität als Schädigung der Asabiya ablehnen.Der selektiven Ideologisierung des Klassikers Ibn Khaldun sindin der kruden Logik von Nationalismus, Pseudomarxismusund Islamismus keine Grenzen gesetzt.

9.2 Neoplatonische und illuministischeTraditionslinien

Es ist interessant, dass einige europäische Autoren Ibn Khaldunnicht als arabischen Philosophen akzeptieren, und zwar geradeweil er sich von den »klassischen« metaphysischen Fragestel-lungen und Begriffen zu lösen beginnt. Für diese Sichtweisesetzt sich die arabisch-islamische Philosophie viel eher in derTradierung bekannter Autoren fort, statt sich der Möglichkei-ten bewusst zu werden, die in Ibn Khalduns Denken für eine

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kritische Gesellschaftsanalyse liegen – die doch wahrlich eineder wichtigsten Aufgaben der Philosophie ist. Dabei ist esdurchaus zutreffend, dass sich die Philosophie in der arabisch-islamischen Kultur zunächst weiter entlang der Traditionsli-nien bewegte. Vor allem Ibn Sina ist hier als Orientierungs-punkt zu nennen. Der Angriff al-Ghazalis auf ihn wurde in derosmanischen Philosophie breit diskutiert und später in der ira-nischen Philosophie wieder aufgegriffen. Hier ist vor allemSadr ad-Din asch-Schirazi, genannt Mulla Sadra, zu nennen.

Mulla Sadra

Mulla Sadra wurde 1572 in Schiraz im südlichen Iran geboren.Er lehrte an einer Madrasa in Isfahan, möglicherweise spätererneut in seiner Geburtsstadt, und starb 1641 auf dem Rück-weg von seiner siebten Pilgerreise nach Mekka. Neben vielentheologischen Werken verfasste er Kommentare zur Philoso-phie, und mit dem Buch Die vier geistigen Reisen (nämlichMetaphysik, Physik, Theologie und Anthropologie bzw. Psy-chologie) sein eigenes philosophisches Hauptwerk. Darinerweist sich Mulla Sadra sowohl als Interpret des Neoplatonis-mus von Ibn Sina als auch der illuministischen Philosophie inder Nachfolge Suhrawardis. Bereits die Tendenz dieser Philoso-phien war auf eine Überwindung des Gegensatzes zwischenrationalem Erkennen und intuitivem Schauen gerichtet. Mul-lah Sadra arbeitet diese Synthese weiter aus, in dem er zunächstin Gott das reine, absolute Sein sieht, dessen Schöpfungsakt derWelt im Ausströmen des reinen Seins besteht. Damit befindetsich Mulla Sadra noch in der neoplatonischen Tradition, diehier den Ersten Intellekt ansiedelt. Aber die Neoplatoniker lie-ßen dann die Emanationen des Göttlichen in Stufenfolgen biszur materiellen Welt absteigen und erklärten so die Unvollkom-menheit der leiblichen Existenz. Für Mulla Sadra dagegen istdas von Gott hervorgebrachte reine Sein in den Dingen anwe-

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send und passt sich dabei ihrem jeweiligen Wesen an. Dadurcherscheint in der Substanz, im Wesen der Dinge jeweils das gött-liche Sein. Dies, so Mulla Sadra, ist letztlich auch mit den Attri-buten Gottes gemeint, die in den theologisch-philosophischenDiskussionen so viel Streit hervorgerufen hatten. Sie sind dieplatonischen Ideen, die als Substanzen den einzelnen Dingenzugrunde liegen. So ist im Sein des Einzelnen, so kontingent esimmer sein mag, doch jeweils das absolute Sein Gottes anwe-send, das »Gesicht Gottes«. In der materiellen Welt ist es dieSeele, die das Bindeglied zwischen der dunklen, geistlosen Seiteder Materie und dem substantiellen Sein Gottes herstellt: Siestrebt immer der größten möglichen Nähe Gottes zu. So erhältMulla Sadras Ontologie eine dynamische Note. Die Individuenkönne dem »Licht Gottes« folgen und durch ein auf das Geis-tige gerichtetes Streben an göttlichem »Sein« gewinnen.

Die Verbindung vertrauter neoplatonischer Begrifflichkeitmit der Lichtmetaphorik und Mystik in der Tradition Suhra-wardis übte auf viele Zeitgenossen und Nachfolger eine großeAttraktivität aus. Deshalb entstand eine regelrechte Schule inder Tradition Mulla Sadras, die bis ins 19. Jahrhundert reichte.Gerade in der jüngeren Vergangenheit hat es vor allem im Iraneine Sadra-Renaissance gegeben, die auch aus den Bedürfnis-sen in den politischen Kontexten des Iran verständlich wird.Schließlich bietet Mulla Sadras Denken die Möglichkeit, unterWahrung islamischer »Rechtgläubigkeit« einen individuellenWeg der »Erleuchtung« zu gehen. Zugleich grenzt sich diesePhilosophie epistemologisch sowohl gegen eine autoritätsgläu-bige, traditionsfixierte Islamauslegung ab, weil sie auf ratio-nale Argumente nicht verzichtet, als auch gegen die Verkürzungdes Erkenntnisbegriffes auf einen strengen Rationalismus, wieer mit der westlichen Denktradition gleichgesetzt wird. Damitmündet auch die Philosophie Mulla Sadras in den Gegenwarts-diskurs ein. Mit ihm lässt sich die Eigenständigkeit der autoch-thonen Kulturtradition gegenüber der westlichen Moderne be-

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tonen, um zugleich die eigenen Entwicklungspotentiale heraus-zuarbeiten. Die Debatte um die Möglichkeit und Form eineseigenen Weges in die Moderne ist deshalb auch das zentraleThema des philosophischen Diskurses in der arabisch-islami-schen Welt seit dem 19. Jahrhundert.

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10 Philosophie in der Moderne

Am Beginn der arabisch-islamischen Moderne stehen Kolonia-lismus und Unterdrückung. Diesen Erfahrungshorizont sollten»westliche« Betrachter nicht vergessen, denn er macht nichtnur die historisch-politischen Entwicklungen bis zur Gegen-wart nachvollziehbarer, sondern erklärt auch die Eigenart derphilosophischen Diskurse dieser Moderne. Nicht eine unter-entwickelte, auf ihrem Traditionalismus beharrende Kulturstand gegen das Angebot einer Moderne als Aufklärung undBefreiung, sondern eine eigenständige Kultur mit ihrer spezifi-schen Geschichte sah sich konfrontiert mit militärischer, tech-nologisch-wissenschaftlicher und ökonomischer Überlegen-heit, die gnadenlos zur Durchsetzung von Eigeninteressen ein-gesetzt wurde. Zugleich verknüpfte die westliche Selbstwahr-nehmung ihr Tun mit der Behauptung, nicht nur die fortschritt-lichere, »bessere« Kultur zu sein, sondern ihre Moderne desKolonialismus, Imperialismus und der ökonomischen Ausbeu-tung den anderen Kulturen als segensreiches Angebot zu unter-breiten. Als entsprechend diskreditiert gilt die »westliche«Moderne bei ihren Opfern, und entsprechend schwer ist es fürdie arabisch-islamische Kultur, eine eigenständige Moderne zuentwickeln.

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10.1 Moderne als Krise und Aufbruch

Die ambivalente Haltung zur Moderne drückt sich in der ara-bisch-islamischen Philosophie seit dem 19. Jahrhundert in einerAttitüde von gleichzeitiger Aneignung und Abwehr aus. Daszentrale Anliegen ihrer Debatten war die Bewertung der vomWesten herangetragenen oder aufgezwungenen Moderne undihrer geistigen Grundlagen. In der Folge entwickelte sich eineintensive Auseinandersetzung über die Bewertung des eigenengeistig-kulturellen und damit auch des philosophischen Erbes,sowie um die Möglichkeit und Notwendigkeit, eine autoch-thone Moderne zu entwickeln. Diese Diskurse werden zusam-menfassend »Turath-Debatte« genannt. Turath ist der arabi-sche Begriff für das (kulturelle) Erbe, aber er meint über dieEntdeckung der eigenen Traditionen hinaus vor allem die Fragenach der Gestaltung des Zukünftigen, nach der eigenen Mo-derne. Zunächst aber mussten die eigenen Traditionen erst frei-gelegt werden, um einen solchen alternativen Modernebegriffentwickeln zu können. Dies schloss die Kritik an der eigenenGeschichte und den autochthonen Traditionen mit ein. So spot-tete Djamal ad-Din al-Afghani (1839–1897), einer der einfluss-reichsten Stichwortgeber der frühen Modernedebatte: »Es isterstaunlich, dass unsere Ulama Mulla Sadra [. . .] liest und sichselbst großsprecherisch weise nennt, und dies, obwohl sie ihrerechte von ihrer linken Hand nicht unterscheiden kann undnicht fragt: Wer sind wir, und was ist richtig und gut für uns?«(al-Afghani 1968, 106) Für ihn lag die Unterlegenheit der isla-mischen Kultur nicht in ihrem Wesen, dem Islam, begründet,sondern weil in ihr eine geistfeindliche Ulama vereint mit kor-rupten Eliten alle geistige Freiheit erstickt hatte. Aber zugleichwendet sich al-Afghani gegen die vom Westen propagierteÜberlegenheit der europäischen Kultur. Die einseitige Stärkungdes Subjekts in der westlichen Moderne habe zu einer materia-listischen Lebensauffassung, zu Egoismus und im Ergebnis zur

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Inhumanität, zu »Libertinismus und Kommunismus« geführt.Dies beruhe nicht zuletzt auf dem einseitigen Verständnis dereuropäischen Philosophie von Wahrheit als Ergebnis rationalerDiskurse, wohingegen eine richtig verstandene Weisheit eineEinheit von spiritueller und wissenschaftlicher Erkenntnis seinmüsse. Diese glaubt al-Afghani in den Grundlagen des Islamwiederzufinden: »Weil ich sicher bin, dass die Absolute Wahr-heit die wahre Religion und richtige Scharia nicht zerstörenwird, bin ich mehr als andere davon überzeugt, dass dasBewusstsein und die Seele der Muslime bald aufgeklärt und ver-bessert werden wird durch die Weisheit.« (Ebd., 125) Es ist alsodie Hinwendung zu den Wurzeln des Islam, die der arabisch-islamischen Kultur ihren autochthonen Zugang zur Moderneermöglichen wird und damit auch eine eigene naturwissen-schaftlich-technische Revolution, materiellen Wohlstand undfriedliches Zusammenleben. Dieser Interpretationslinie folgtenmehr oder weniger die meisten seine Schüler und Epigonen,so Muhammad Abduh (1849–1905) und Raschid Rida(1888–1966). Al-Afghani hatte idealtypisch die Punkte vorge-tragen, die seitdem die einflussreiche Richtung der »Re-Islami-sierung« im Modernediskurs bestimmen.

Hier ist nicht das Subjekt der Träger des Erkenntnispro-zesses, sondern die Kultur in ihrer Gesamtheit. DerenKern ist die Religion, also der Islam; er stellt die Verbin-dung zwischen der realen Welt und der absoluten Wahr-heit Gottes her. Geht das Bewusstsein dieses Zusammen-hangs verloren, verfällt auch die Kultur und damit dieMöglichkeit, die von Gott geschenkten Geisteskräfte pro-duktiv für ihre Entwicklung einzusetzen. Die Rückkehrzu den Wurzeln der Religion dagegen ermöglicht die Ver-bindung von spirituell erfahrener Leitung durch die gött-

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lichen Wahrheiten mit der menschlichen Fähigkeit zurationaler Erkenntnis und Wissenschaft. Insofern warauch die Geschichte des Islam ein Irrweg, weil sie diesenTeil der göttlichen Botschaft an die Menschen zu wenigBeachtung geschenkt hat.

All die Bewegungen und Richtungen, die sich innerhalb des ara-bisch-islamischen Modernediskurses für eine Revitalisierungder eigenen Kultur im Sinne ihrer religiösen Wurzeln ausspre-chen, folgen mehr oder weniger diesen Gedanken. Dies gilt fürdie Bewegung der Nahda (Wiedergeburt), die zunächst einenstärker liberalen und weltoffenen Charakter hatte und sich vorallem der Modernisierung des Bildungssystems zuwandte, ge-nau wie für die konservative Salafiyya (Bewegung der frommenVorfahren), bis zu entsprechenden Richtungen in der Gegen-wart vor allem in Umkreis des politischen Islamismus. Parallelzu dieser Richtung vertraten Denker aber auch gänzlich andereAnsichten, obwohl auch sie zur Salafiyya gerechnet werden. Sosah etwa Ali Abd ar-Raziq (1888–1966) die Ursache von Unter-entwicklung und Unfreiheit gerade in der Dominanz des Reli-giösen in der arabisch-islamischen Kultur und plädierte ent-sprechend für eine scharfe Trennung von Staat und Religion.Dem Islam und seinem Propheten Muhammad sprach er dasAnliegen ab, überhaupt eine politische Absicht gehabt zuhaben. Dementsprechend sei der Islam eine moralische und spi-rituelle Orientierung für die Individuen und keine Grundlagefür die politische Praxis der Gesellschaft. Diese Grundtheseeines »liberalen« Islamverständnisses bestimmte auch andereRichtungen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausbil-deten, etwa den arabischen Nationalismus, wie er von Sati’Husri (1880–1969) und Michel Aflaq (1910–1989) vertretenwurde. Gerade in diesen Kreisen kam es seit dem ausgehenden

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19. Jahrhundert auch zu einer verstärkten Rezeption der euro-päischen Philosophie. Dabei spielten »Klassiker« wie Descartes,Kant und Hegel die größte Rolle, aber zunehmend wurden auchdie aktuellen Denker des Westens wahrgenommen: Nietzscheund Heidegger, der Positivismus und der Neomarxismus oderdie Postmoderne in der Gegenwart. Heute gehört sowohl dieeigene Philosophiegeschichte als auch die westliche zum Kanonder akademischen Lehre in der arabisch-islamischen Welt.

10.2 Diskurslinien in der Gegenwart

Die Debatten um die Moderne vollzogen sich auch in der ara-bisch-islamischen Welt vor dem Hintergrund realer politischerund sozialer Krisen. Dem Kolonialismus und der Auflösungtraditioneller Herrschaftsverhältnisse folgte die Bildung vonNationalstaaten, deren Grenzen sich oft nach der völlig will-kürlichen Ziehung durch die ehemaligen Kolonialherren rich-teten. Die postkolonialen Staaten durchliefen Phasen unter-schiedlichster ideologischer Orientierung und waren zudemimmer eingebunden in das Machtkalkül des Westens, seinergeostrategischen und ökonomischen Interessen, und in denOst-West-Konflikt. Die Regime suchten ihre Legitimation inIdeologien: Republikanismus und Panarabismus, Nationalis-mus und Führerkult, Sozialismus und Demokratie, bis hin zutraditionalistischen Monarchien. Keine dieser »Systeme« hatteviel mit den Namen zu tun, die sie trugen; sie protegierten alteund neue Eliten, verteidigten ihre Macht mit diktatorischenMitteln und führten zu sozialer Desintegration und Unterent-wicklung. Zugleich aber – und dies wird in den westlichen Ana-lysen gerne unterschlagen – nahm auch die arabisch-islamischeWelt Teil an Modernisierungsprozessen, die die Gesellschaftender Region massiv veränderten und alle Bevölkerungsschichten

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erfassten. Nur standen dieser Veränderung der sozialen Wirk-lichkeit keine politischen Mechanismen zu ihrer Bewältigunggegenüber. Die Reaktion darauf ist ihrerseits »modern«, näm-lich die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe am politi-schen und sozialen Leben, die von religiösen Fundamentalistenaufgegriffen wird, die ihre eigenen, ganz anderen Ziele haben.Die Debatte um die Formen der Teilhabe spiegelt sich im philo-sophischen Diskurs um eine Moderne auf der Grundlage deseigenen »kulturellen Erbes« (Turath), das sich bewusst von den»importierten« westlichen Ideologien abzugrenzen sucht.

Die vielfältigen Richtungen und ihre Vertreter können hiernicht umfassend behandelt werden (vgl. dazu Hendrich 2004),aber zumindest sei auf einige Grundelemente des Diskurseshingewiesen. Dabei bildete das Verhältnis zur westlichenModerne einen doppelten Referenzrahmen für die eigenenModernekonzeptionen. Der Westen war einmal erfahren wor-den als Kolonialmacht und später als vollmundiger Verkünderder »westlichen Werte« von Demokratie, gesellschaftlicher undökonomischer Liberalität und Menschenrechten, was im ekla-tanten Missverhältnis stand zur realen Politik des Westens, sei-ner Kumpanei auch mit den brutalsten Diktaturen, seinerBereitschaft, alle »Werte« zugunsten der eigenen ökonomi-schen und machtpolitischen Interessen zu vergessen. Die west-lichen Gesellschaften erscheinen nicht nur islamistischen Tra-ditionalisten als krank und verlogen. Zugleich aber war derWesten ein Leitbild hinsichtlich seiner ökonomischen und tech-nologisch-wissenschaftlichen Entwicklung und für viele Intel-lektuelle auch ein Hort persönlicher Freiheit und Pluralität,Garant bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit, die sie in ihren eige-nen Gesellschaften schmerzlich vermissen. »Der nicht-westli-che Mensch entdeckte seine Rückständigkeit im Spiegel deshoch entwickelten Westens«, schreibt der 1945 geborene syri-sche Schriftsteller und Philosoph George Tarabischi (zitiertnach Heller/Mosbahi 1998, 73). Zugleich mussten die Mus-

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lime sich eingestehen, dass von der Überlegenheit ihrer Kulturgegenüber dem Westen, die bis ins 14. Jahrhundert geherrschthatte, nichts mehr übrig geblieben war. Diese Erkenntnissenennt Tarabischi die »anthropologische Wunde« – eine Krän-kung, die das »defensive Bedürfnis, sich selbst zu erhöhen undden Anderen in seine Grenzen zu verweisen« hervor gerufenhat (ebd., 74). Solange nun die Hoffnung auf eine Modernisie-rung aus eigener Kraft bestand, wie in Zeiten der Unabhängig-keitsbewegungen vom Kolonialismus und danach, war diegrundsätzliche Haltung gegenüber der westlichen Moderneeher positiv und auf Übernahme von Wissen und politischenModellen ausgerichtet. Das Scheitern der Modernisierung im20. Jahrhundert aber rief die fundamentalistische Gegenreak-tion hervor, die sich auf die Revitalisierung jenes Teils der eige-nen Geschichte und Kultur beruft, der der westlichen Modernevöllig entgegengesetzt ist: dem orthodoxen, geistfeindlichenIslamverständnis. Dieses aber bedeutet für Tarabischi »nichtsanderes als eine Rückkehr zu dem, was den Niedergang desIslam bewirkt hat, nicht zu dem, was seine große zivilisatori-sche Leistung war« (ebd., 83), nämlich die Künste, Wissen-schaften und Philosophie. Hier hebt Tarabischi besonders IbnRuschd als Vertreter einer frühen Aufklärung im Islam hervor.An der Haltung zu dem Klassiker Ibn Ruschd lässt sich dieBewertung des europäischen wie des eigenen »Erbes« ablesen.Die Rezeption Ibn Ruschds begann parallel zum Übergang derarabisch-islamischen Gesellschaften in die Moderne, und mitihr war auch ein umfassendes Interesse an der gesamten Philo-sophiegeschichte der eigenen Kultur verbunden. Über das his-torisch-philologische Interesse der akademischen Philosophiehinaus gilt Ibn Ruschd den Gegenwartsphilosophen je nachihrer Position zur Moderne als Wegbereiter einer »islami-schen« Aufklärung oder als Teil eines universellen »Projektsder Moderne« (Habermas), an dem auch die arabisch-islami-sche Welt Teil hat.

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Das kulturelle Erbe als Aufklärung

Philosophen wie Muhammad Arkoun (geb. 1928), Fuad Zaka-riya (geb. 1927) und Sadiq Djalal al-Azm (geb. 1934) sehen inIbn Ruschd einen Vorläufer jenes »Projekts« von Moderne undAufklärung, das sich einer kritischen und diskursiven Vernunftverpflichtet fühlt. Politisch impliziert es das Ziel einer weltwei-ten Durchsetzung säkularer, demokratisch verfasster Rechts-staaten und die Anerkennung der Menschenrechte. Für dieÜberwindung der Marginalisierung der arabisch-islamischenWelt spielt hier das Bewusstsein der eigenen Aufklärungstradi-tion eine wichtige Rolle. Der nostalgischen Rückbezug aufeinen Frühislam, der angeblich rein und konfliktfrei war, weilhier die Weisungen Gottes im Koran nach ihrem Wortsinnbefolgt wurden, führt dagegen zu einer »ahistorischen Wahr-nehmung der Vergangenheit« (Zakariya). So verstanden ist derTurath, das »kulturelle Erbe«, für die Blockade der eigenenGesellschaften mit verantwortlich und verfehlt die Einsicht,»dass die Befreiung von Dogma und autoritären Strukturen einuniversal gültiges Anliegen der Säkularisierung ist«, und »Rati-onalität, kritischer Geist, wissenschaftliche Konsequenz undintellektuelle Unabhängigkeit das kulturelle Erbe des Islam«(Zakariya in: Lüders 1992, 241) nicht bedrohen, sondern des-sen besten Kern ausmachen.

Arkoun, al-Azm und andere weisen darauf hin, dass dieBehauptung, Subjektphilosophie und philosophischer Ratio-nalismus gehörten ausschließlich zur westlichen Kultur, in eineVerfälschung der islamischen Kultur einmündet, nämlich in dasKonstrukt einer spezifisch »islamischen Vernunft«. Dieser Be-griff wird nicht nur von fundamentalistischen Theoretikernbenutzt, sondern taucht auch im Gefolge der Rezeption einermodernekritischen, postmodernistischen Kulturphilosophieauf. Arkoun sieht darin »die theologische Spekulation und dieideologische Konstruktion (besonders im Bereich des Rechts)

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sowie die scholastischen Tendenzen«, die in »allen ihren Varia-tionen« bis in die Gegenwart »Ausdruck politischer Machtver-hältnisse sind« (Arkoun in: ebd., 272), und keineswegs iden-tisch mit der Reichhaltigkeit der philosophischen Traditionenin der islamischen Kultur. Al-Azm weist in diesem Zusammen-hang auf die »Affinität zwischen einigen irrationalistischen,romantisch-mystifikatorischen postmodernen Strömungenund Tendenzen im europäischen Denken« (al-Azm in: ebd.,258) und »mittelalterlichen Denkstrukturen« im Kontext derislamischen Gegenwartskultur hin. Gemeinsam lehnt dieserIrrationalismus die Vernunfttradition der Aufklärung als sub-jektzentriert, logozentrisch und eurozentrisch ab und sieht inihr den Verhinderer jeder autochthonen Kulturentwicklung,etwa im Islam. Gerade dadurch aber, so al-Azm, verfehlen sieden Charakter der Aufklärung und stärken die gesellschaftlicheGegenaufklärung. Denn aufklärerische Vernunft geht von derNotwendigkeit diskursiven Ermittlung und der Vorläufigkeitmenschlicher Urteile aus und richtet sich damit gegen jede Artfundamentalistischer Ansprüche auf absolute Wahrheiten.Insofern ist die Behauptung einer kulturspezifischen Form vonVernunft immer auf die Verhinderung von Vernunft angelegt,»weil sie die Souveränität des Menschen und seine freie Lebens-gestaltung ablehnt zugunsten der Restauration göttlicher Sou-veränität« (al-Azm in: ebd., 259), über deren Auswirkungenfür eine gesellschaftliche Praxis dann wieder nur eine kleineElite von Auserwählten entscheiden darf. Dadurch wird »derMensch als universale Kategorie [. . .] geopfert zugunsten einerProfilierung des islamischen Menschen« (ebd.), und der Rekursauf die angeblichen Kräfte der autochthonen Kultur spaltet dieWelt nicht nur in »westliche« und »islamische« Menschen, son-dern die islamische Kultur selbst in »falsche« Muslime, die sichder Vernunfttradition eines Ibn Ruschd verpflichtet fühlen, und»richtige« Muslime, die an die Superiorität des Koran glauben.

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Al-Djabiri und Hanafi

Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass gerade in derBewertung der »eigenen« und der »fremden« Vernunfttradi-tion eine Konfliktlinie innerhalb des philosophischen Gegen-wartsdiskurses verläuft. Die Frage, was unter einer »Aufklä-rung« im Islam zu verstehen ist, bleibt höchst umstritten. Sobezieht sich der marokkanische Philosoph Muhammad Abidal-Djabiri (geb. 1936) ebenfalls auf Ibn Ruschd, aber nicht alsTeil eines universalen Aufklärungsethos, sondern als Wegberei-ter einer »arabischen Vernunft«. Diese, über Jahrhunderte ge-schwächt durch die einseitige Übernahme irrationalistischerPhilosophie aus dem islamischen Osten (etwa Ibn Sina), unddann von den eigenen Kulturtraditionen abgetrennt durch dieDominanz europäischen Denkens in der Moderne, müsse sichihrer eigenen rationalistischen Traditionen wieder bemächti-gen:

»Mit seiner östliche Philosophie segnete Avicenna einen spiritualisti-schen und gnostizistischen Trend ab, dessen Wirkung richtungswei-send war in der Regression des arabischen Denkens von einem offenenRationalismus, hauptsächlich vertreten durch die Mu’taziliten, danndurch al-Kindi und kulminiert bei al-Farabi, zu einem schädlichenIrrationalismus, der das ›verdunkelnde Denken‹ solcher Gelehrter wieal-Ghazali, Suhrawardi von Aleppo und anderer [. . .] vorwegnahm.«(Djabiri 1999, 58)

Gerade weil die Krise der Gegenwart vor allem eine Krise dereigenen Identität sei, müsse die arabisch-islamische Welt ihreKulturtradition einer »Dekonstruktion« unterziehen, wie sieinnerhalb der westlichen Postmoderne gegenüber der europäi-schen Geschichte stattgefunden hat. Nur so lasse sich ein nicht-deformiertes, unverfälschtes »kulturelles Ich« freilegen, dasGrundlage für eine autochthone, selbstbestimmte Modernesein könne. Dafür ist das »averroistische Projekt«, wie al-Dja-biri es nennt, wegweisend, weil Ibn Ruschd seiner Ansicht nach

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die autochthone Kulturtradition des Islam mit dem philosophi-schen Rationalismus versöhnt hat. Denn Ibn Ruschds Unter-scheidung zwischen der Sphäre des Religiösen und des Philoso-phischen weist beiden ihre Aufgaben und Möglichkeiten zu,ohne dass – wie in der einseitigen Befolgung der europäischenVernunfttradition und ihres säkularistischen Modells – der fürdie Gesellschaft wünschenswerte normative Gehalt des Reli-giösen verloren geht.

Die große Wirkung al-Djabiris beschreibt die SoziologinFatima Mernissi, berühmt für ihre kritische und kämpferischeAuseinandersetzung mit einem patriarchalischen und chauvi-nistischen Islamverständnis: Al-Djabiri habe »Millionen Ju-gendliche mit ihrer Modernität« in Einklang gebracht, weil siedurch ihn einen Islam kennen lernen, »in dem Offenheit undindividuelle Meinung integrativer Bestandteil der Traditionsind« (Mernissi 1992, 56). Umgekehrt hat seine kritische Hal-tung gegenüber der »Philosophie des Ostens« auch scharfeGegenkritik hervorgerufen. So lehnt sein ägyptischer KollegeHasan Hanafi (geb. 1935) nicht nur die pauschale Bewertungvon Mystik, Illuminismus und spiritueller Philosophie als »Ir-rationalismus« ab, sondern kritisiert auch al-Djabiris Orientie-rung an Methoden und Inhalten der französischen Postmo-derne, namentlich an Foucault. Hanafi hat seit den achtzigerJahren seinerseits ein System zur Freilegung des verschüttetenkulturellen »Ichs« erarbeitet, das mit der Kritik des »Ande-ren«, nämlich der europäischen Kultur ansetzt. In ironischerSpiegelung der europäischen Wissenschaft der Orientalistiknennt er sein Projekt »Okzidentalistik«. Die Kritik des Westenserschöpft sich dabei nicht nur in der Aufzählung von Kolonia-lismus, Imperialismus, Ausbeutung und kultureller Hegemo-nie, sondern will über die Wechselwirkung zwischen der westli-chen Kultur des »Zentrums« und den Kulturen der »Periphe-rie« aufklären, zu denen auch die islamische zählt.

Die Kultur des Zentrums »kolonisiert« das Bewusstsein der

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Peripheriekulturen und deformiert sie bis zur Unkenntlichkeit.Aber zugleich verliert auch das europäische Bewusstsein seine»Mitte« und steuert auf einen kulturellen Niedergang zu. Denndie Überbewertung der Autonomie der Subjekte und die damitverbundene Verabschiedung jedes verpflichtenden Wahrheits-begriffes führt zur »Selbstaufhebung der Aufklärung« in dereuropäischen Tradition. Die Hegemonie der zum Zweckratio-nalismus erstarrten europäischen Vernunft beraubt die Indivi-duen ihrer je eigenen Weise der Daseinsbewältigung. In dersäkularen Moderne des Westens wird aus »jedem a priori ein aposteriori« (Hanafi 1995, II 367), und so finden die Menschenkeinen Zugang mehr zu sittlichem Handeln: »Die menschlicheSeele hat ihre transzendentale Kraft verloren.« (Ebd., 370)Dagegen müssen die Peripheriekulturen ein eigenes Bewusst-sein entwickeln und dem europäischen Subjektbegriff, der nurdie Freiheit »von etwas« kennt, ein Ethos der »Freiheit füretwas« entgegensetzen. Innerhalb der islamischen Kultur ge-schieht dies durch die Freilegung der innovativen Kräfte derVolkskultur, und dies schließt für Hanafi philosophische Mys-tik, Volksfrömmigkeit und Islam zugleich mit den eigenen rati-onalistischen Traditionen ein. Turath ist für ihn eine Verbin-dung der Sehnsüchte der marginalisierten Völker nach einembesseren Leben mit ihrem spezifischen spirituellen und histori-schen Erbe, durch das sich die kulturelle Identität wiedergewin-nen lässt. Dieser von ihm so genannte »revolutionäre Islam«sucht keine Nähe zu den fundamentalistischen Islamisten, dieaus dem Staat eine Theokratie machen wollen und geradedadurch eine »Religion der Elite« vertreten. An diesem »linkenIslamismus« setzt wiederum die Kritik an. So verweist der syri-sche Philosoph Aziz al-Azmeh (geb. 1947) darauf, dass HanafisKonzept einen homo islamicus propagiert, der auf »irgendeinezutiefst geheimnisvolle Weise« und »in absoluter Missachtungder historischen und heutigen Realität als verwurzelt in selbst-los solidarischen Verhaltensweisen« erscheint (al-Azmeh 1996,

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144). Hanafis »revolutionärer« und »linker« Islam erweisesich dadurch nicht nur als politisch illusionistisch, sondernstehe in gefährlicher Nähe zu kulturalistischen Gedanken derGegenaufklärung. Wie immer man Hanfis Denken beurteilt,fällt an seinem Konzept der »Zentrum- und Peripheriekultu-ren« die Nähe dieser Kulturkritik der Moderne zu ähnlichenThesen innerhalb der aktuellen westlichen Postkolonialismus-Debatte auf.

In der Debatte um Turath und Moderne finden sich nocheine Reihe anderer Traditionslinien, die zum Teil seit dem19. Jahrhundert lebendig geblieben sind. Besonders im Bürger-tum und bei den Eliten sehr einflussreich ist eine Position, dieeine konservative Kulturkritik der Moderne mit der Bejahungder Moderne als technologisch-wissenschaftlichem Fortschrittverbindet. So hatte etwa der ägyptische Philosoph Zaki NadjibMahmud (1905–1993) in positivistischer Tradition die Moder-nisierung der arabisch-islamischen Gesellschaften gefordertund darunter vor allem den Bruch mit wissenschaftsfeindlichenKulturtraditionen und Lebensweisen verstanden. Dies alleinreiche aber nicht: Eine autochthone Moderne benötige einmodernes Staatswesen und eine adäquate Verwaltung, Mei-nungs- und Wissenschaftsfreiheit und die umfassende Reformdes Bildungswesens. Während aber »Vernunft und Erfahrung«der Ausgangspunkt einer Moderne in Wissenschaft und Tech-nik ist, folgt der kulturelle Kern der Gesellschaft einer »anderenLogik«. So findet sich auch in der islamischen Kultur ein Kanonvon Werten, der als ontologische Gewissheit die Grundlagefür praktische Ethik und Politik abgibt. Dieser authentische»Kern« der islamischen Kultur ist nicht hinterfragbar und stehtdamit auch nicht in der autonomen Verfügbarkeit der Subjekte.Während Rationalität und Kritik die Sphäre von Wissenschaf-ten und technologischem Fortschritt betreffen, soll der kultu-relle Kern der islamischen Gesellschaften traditionalistisch aneinen überlieferten Wertekanon gebunden bleiben, weil nur

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dieser den Zusammenhalt in einer pluralistischen Modernegarantiert und Ausdruck der kulturellen Identität aller Mus-lime ist.

Es verwundert nicht, dass sich Mahmud in Ethik und Kultur-theorie folgerichtig nicht an den »rationalistischen« Klassikernwie Ibn Ruschd orientiert, sondern an al-Ghazali und Ibn Tai-miyya. Ähnliche Positionen sind, jeweils mit unterschiedlichenAkzentuierungen, bei dem irakischen Philosophen MuhsinSayyid Mahdi (geb. 1926), bei Fazlur Rahman (1919–1988)und Muhammad Schachrur (geb. 1938) zu finden. Gemeinsamist ihnen die in der arabisch-islamischen Welt weit verbreiteteAuffassung, eine Moderne der Wissenschaften, Technologieund Wirtschaft sei ohne eine lebensweltliche und politischeModerne zu haben. Die der Moderne inhärente Tendenz zurIndividualisierung der Lebensstile, zur Säkularisierung undPluralisierung von Moralvorstellungen, die auch politisch zur»neuen Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas) der Gesell-schaft führt, stellt ein konservatives Denken die Hoffnung aufeine »versöhnte« Moderne gegenüber. Die Möglichkeit einereigenständigen Moderne in der arabisch-islamischen Welt wirdin einem konservativen Verständnis von Turath verknüpft mitder Bereitschaft der Individuen, in einer Kulturgemeinschaftaufzugehen, sich ihren »Werten« unterzuordnen und damiteine der wichtigsten Charakteristika modernen Selbstverständ-nisses aufzugeben: die Autonomie und Selbstbestimmung derSubjekte, aus der heraus die Legitimierung von politischerHerrschaft überhaupt nur möglich ist. Interessant darin ist,dass der Modernediskurs der arabisch-islamischen Welt hiernicht substantiell von dem der »westlichen« Moderne seit dem19. Jahrhundert verschieden ist. Auch der europäische Moder-nediskurs ist bestimmt von dem Versuch, das »Unbehagen inder Moderne« (al-Azm) mit dem Rekurs auf absolute Wahrhei-ten, kulturelle Einheit und religiös-normative Gewissheitenabzuwehren. Insofern stellt der Versuch einer Revitalisierung

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des Religiösen und Historischen als normativer Grundlage füreine »andere« Moderne keine Abwehr der Moderne dar, son-dern ist ein Phänomen innerhalb der modernen Kultur.

Insgesamt schien die philosophische Debatte um dieModerne in der arabisch-islamischen Welt vor etwa zehn Jah-ren eine neue Qualität anzunehmen. Weniger die Dichotomievon »fremder« Moderne und »eigener« Kultur begann sie zubestimmen, sondern eine kreative Rezeption europäischer Phi-losophie, die zur Neuinterpretation eigener sowohl philosophi-scher wie kultureller Traditionen genutzt wurde. Dafür stehtetwa der marokkanische Philosoph Taha Abd ar-Rahman, dervon der sprachanalytischen Philosophie her eine radikale Kri-tik der Geltungsansprüche philosophischen und religiösenDenkens entwickelte. Der Iraner Abdolkarim Soroush gingeinen anderen Weg: Ursprünglich ein Schüler des radikalenschiitischen Regimekritikers Ali Schariati (1933–1977), ver-bindet er dessen Synthese von Ideologiekritik, aufgeklärtemHumanismus und religiöser Schwärmerei mit der Forderungnach einem »pluralistischen Islam«. Moderne wird in seinemDenken als Faktum der Gegenwart begriffen, dem sich keineGesellschaft oder Kultur entziehen kann. Vernunft und Re-ligion stehen in der modernen Kultur nicht mehr gegeneinan-der, sondern existieren mit verschiedenen Geltungsbereichennebeneinander. Daraus soll ein pluralistisches Islamverständnisentstehen, das weder in einer gesellschaftlichen Marginalisie-rung noch in einen fundamentalistischen Dogmatismus mün-det. Zunehmend diskutierte die arabisch-islamische Philoso-phie in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeiten derpolitischen Einlösung dieses »pluralistischen« Islam, etwa alsrechtstaatliche Durchsetzung von Menschenrechten und de-mokratischen Institutionen. Es ist allerdings zu beobachten,dass nach dem 11. September 2001, dem anhaltenden israe-lisch-palästinensischen Konflikt und der Irak-Invasion derUSA der Diskurs wiederum zurückfällt in die unfruchtbare

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Gegeneinandersetzung von »westlicher Modernität« und »ara-bischer Authentizität«. Trotzdem zeigt der Blick auf die Gegen-wartsdiskussionen, dass die Philosophie der arabisch-islami-schen Welt auch heute lebendig und produktiv ist und als Teileines universalen Diskurses über Moderne begriffen werdenmuss.

168 Philosophie in der Moderne

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Glossar

Bait al-hikma »Haus der Weisheit«, wissenschaftliche Einrichtung,Bibliothek mit Akademiecharakter, gegründet um 830 vom Abbasi-denkalifen al-Ma’mun; entwickelte sich zu einer bedeutenden Über-setzerschule.

Hadith »Bericht«, Sammlung von überlieferten Aussprüchen undTaten von Muhammad und seinen Weggefährten aus der Frühzeit desIslam. Es existieren mehrere anerkannte Hadithsammlungen, die alsQuelle für die islamische Jurisprudenz ( W Rechtsschule) gelten undzusammen mit dem Koran die W Sunna ausmachen.

Idjtihad »Bemühung«, eigene Meinungsbildung im islamischenRecht zu einem Problem von Lebensführung oder Rechtspraxis mit-tels Analogieschluss (arab. qiyas). In den sunnitischen W Rechtsschu-len wurde der Idjtihad immer mehr eingeschränkt, obwohl er nie ganzabbrach; im W schiitischen Islam wird er bis heute ausgeübt. In deraktuellen Debatte hat der Idjtihad heute wieder eine große Bedeutungals Versuch, den sunnitischen Islam für die Erfordernisse und Wand-lungen der Moderne zu öffnen.

Ismailiten politisch-religiöse Richtung im W schiitischen Islam.

Kalam »Rede« oder »Sprache«, scholastische Theologie des Islam.

Koran »Vortrag« oder »Lesung«, heiliges Buch des Islam, bestehendaus 114 Abschnitten (Suren). Die Niederschrift erfolgte unter demKalifen Uthman um 653; die sich aus der arabischen Schrift ergeben-den lexikalischen und grammatischen Mehrdeutigkeiten führte zu ver-

Page 175: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

schiedenen existierenden Lesarten, aber auch zu zwangsweiser Har-monisierung. Nach orthodoxem Islamverständnis enthält der KoranGottes Wort und ist damit ungeschaffen und uninterpretierbar.Andere Richtungen ( W Mu’tazila) betonten die Möglichkeit der Exe-gese, wie sie auch in der Gegenwartsdebatte immer häufiger vertretenwird.

Madrasa Schule islamischer Wissenschaften, vor allem Rechtswis-senschaft, oft einer Moschee angeschlossen.

Mu’tazila rationalistische theologische Richtung ab dem 8. Jahrhun-dert, vor allem innerhalb des sunnitischen Islam; wollte den Glaubenrational begründen und bediente sich dabei erstmals auch griechischerPhilosophie.

Rechtsschule arab. Madhhab, »Richtung«, Schule oder Ritus imislamischen Recht ( W Scharia), die eine bestimmte Lehrmeinung zupraktischen Fragen einnimmt, die nach eigenem Ermessen entschiedenwerden ( W Idjtihad). Mitte des 8. Jahrhunderts entstanden Rechts-schulen. Heute existieren noch vier große sunnitische Schulen und einebedeutende schiitische; für die Gläubigen ist ein Wechsel zwischen denRechtsschulen möglich.

Scharia »Weg zur Tränke«, im Koran der Weg zu spiritueller Vervoll-kommnung, später allgemein als terminus technicus die Pflichtenlehreund das religiös begründete Recht im Islam. Die Scharia stellt keinkodifiziertes Gesetzeswerk dar, sondern rechtliche Forderungen, die inden W Rechtsschulen unterschiedlich konkretisiert wurden.

Schiiten Anhänger der Schi’a (»Partei Alis«), politisch-religiöseRichtung im Islam, die nur Muhammads Schwiegersohn Ali (ca. 600 –661, 4. Kalif) und dessen Nachkommen als rechtmäßige Propheten-nachfolger anerkennt. Ursprünglich hatte die Schi’a einen rein politi-schen Charakter, der sich aber durch Sonderlehren auch theologischvom W sunnitischen Hauptstrom im Islam zu unterscheiden begann.Sie zerfällt heute in verschiedene Sekten und Gruppierungen.

Sufismus von Suf (»Wollgewand«), islamische Mystik unterschied-lichster Strömungen.

175Glossar

Page 176: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

Sunna/Sunniten »Brauch«/»Leute der Sunna«, im Islam Bezeich-nung für Muhammads Tun und Aussprüche, wie sie in W Koran undW Hadithen überliefert sind. Anhänger der Sunna lehnten die dynasti-

schen Machtansprüche von Ali ( W Schiiten) ab und entwickelte sichzum Hauptstrom des Islam. Heute sind über 80 Prozent der MuslimeSunniten.

Turath »Erbe«, Bezeichnung für das kulturelle Erbe innerhalb desmodernen arabisch-islamischen Denkens; zugleich Chiffre für eigen-ständige Modernekonzepte und eine jeweils kritische oder affirmativeAnalyse der eigenen Geschichte.

Ulama »Gelehrte«, Theologen und Rechtsgelehrte im Islam, alsAmtsträger (Lehrer, Richter) von großem Einfluss auf das öffentlicheLeben und die Politik der islamischen Länder.

Umma »Gemeinde«, die Gemeinschaft der Gläubigen im Islam.

176 Glossar

Page 177: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

Zeittafel

um 600 Politik ca. 570–632 Muhammad; 610 Muhammad tritt inMekka als Prophet des Islam auf; 622 Auszug (Hidschra)Muhammads von Mekka nach Yathrib (Medina); Grün-dung des ersten islamischen Gemeinwesens und Kämpfe mitMekka; 630 kampflose Eroberung Mekkas; 630–632 Un-terwerfung der Stämme der Arabischen HalbinselPhilosophie und Kultur christliche Medizinschulen inDjundischapur und Alexandria; philosophische Schulevon Harran

650 Politik 632–661 Zeit der orthodoxen (»rechtgeleiteten«)Kalifen Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali; Eroberung Sy-riens, Iraks, Ägyptens, Persiens und Teilen von Nord-afrika; 657 Streit um Kalifat zwischen dem UmayyadenMu’awiya und Ali; 661 Ermordung AlisPhilosophie und Kultur um 653 Kalif Uthman veranstal-tet offizielle Redaktion des Korantextes; um 660 theologi-sche »Sekten« der Charadjiten und Qadariten

700 Politik 661–750 Umayyaden-Dynastie in Damaskus;Spaltung der Glaubensgemeinschaft in Sunniten und Schii-ten; Bürgerkriege; 711 Eroberung Spaniens; Kämpfe gegendie Araber in Südfrankreich; 732 Karl Martell schlägteinen arabischen Raubzug bei Tours und Poitiers zurück;zunehmende Auseinandersetzungen im Kalifat, Bürger-krieg

Page 178: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

Philosophie und Kultur ab 705 Bau der Umayyaden-Mo-schee in Damaskus

750 Politik 750–1258 Dynastie der Abbasiden; 756–1031Fortbestehen der Umayyaden-Dynastie in Spanien (Kalifatvon Corduba)Philosophie und Kultur Entstehung der Mu’-tazila (speku-lativ-rationale Theologie); 751 Papierherstellung in Samar-kand; 762 Gründung Bagdads als neuer Kalifenresidenz;Zeitalter der Übersetzungen

800 Politik 786–809 Kalifat von Harun ar-Raschid; 800 isla-mische Kaufleute in China; 801 Karl der Große empfängteine Gesandtschaft Harun ar-Raschids; 813–833 Kalifatvon al-Ma’mun; 827 Eroberung Siziliens; 827 al-Ma’munerklärt die Lehre der Mu’tazila für verbindlichPhilosophie und Kultur 775–868 al-Djahiz, Dichter undMu’tazilit; 780–846 Mathematiker al-Chwarizmi; 800–873 al-Kindi, Philosoph; 808–873 Hunain ibn Ishaq, Arztund Philologe; um 830 al-Ma’mun richtet das »Haus derWeisheit« (Übersetzerschule) ein

850 Politik um 855 Kalif Mutawakkil beendet die Vorherr-schaft der mu’tazilitischen Lehre; antirationalistischeReaktion; allmählicher Zerfall des Großreiches; Entste-hung unabhängiger Dynastien z.B. in ÄgyptenPhilosophie und Kultur 843–901 Thabit ibn Qurra,Astronom und Mathematiker; 865–925/32 Zakariyya ar-Razi, Philosoph und Arzt

900 Politik religiöse und politische Unruhen beschleunigenden Zerfall des Kalifats; Dynastien in Persien; 912–961Kalifat von Abdarrahman III. von Corduba; Höhepunktan Macht und KulturPhilosophie und Kultur 870–950 al-Farabi, Philosoph;922 Kreuzigung des Mystikers al-Halladj in Bagdad; 936Tod des Theologen al-Ash’ari, Vertreter einer traditionalis-tischen Dogmatik

178 Zeittafel

Page 179: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

950 Politik 969 Fatimiden erobern Ägypten; ihre Dynastiewird Vormacht im östlichen MittelmeerPhilosophie und Kultur 973–1048 al-Biruni, persischerUniversalgelehrter; um 980 naturwissenschaftlich-phi-losophische Enzyklopädie der »Lauteren Brüder vonBasra«; 980–1037 Ibn Sina (Avicenna), Philosoph undArzt; 973–1058 al-Ma’arri, Dichter und Religionskritiker

1000–1100

Politik 1016 Seesieg Pisas und Genuas vertreibt die Araberaus dem Tyrrhenischen Meer; 1061–1091 Normannenerobern Sizilien; 1077–1327 Rum-Seldschuken mit Sitz inKonja; 1096–1291 Kreuzzüge; Spanien zerfällt in zahlrei-che Teilstaaten, Verschärfung der ReconquistaPhilosophie und Kultur 1058–1111 al-Ghazali, Philoso-phiekritiker; 1082–1138 Ibn Badjdja, spanisch-arabischerPhilosoph; 1086–1153 asch-Schahrastani, Theologe undHäresiograph

1100–1200

Politik 1171–1193 Herrschaft Saladins in Syrien undÄgypten; 1187 Rückeroberung Jerusalems; 1190 FriedrichI. Barbarossa ertrinkt während seines Kreuzzuges in Ana-tolienPhilosophie und Kultur 1110–1185 Ibn Tufayl, spanisch-arabischer Philosoph; 1126–1198 Ibn Ruschd (Averroes),spanisch-arabischer Philosoph; 1114–1187 Gerhard v.Cremona, Übersetzer aus dem Arabischen; 1149–1209Fachr-ad-din ar-Razi, Enzyklopädist und Theologe; 1154–1191 as-Suhrawardi, Mystiker und Philosoph; 1165–1240Ibn Arabi, Mystiker

1200–1300

Politik 1203–1227 Dschingis Khan begründet das mon-golische Reich; 1215–1250 Kaisertum Friedrich II.; 1236Eroberung von Corduba; 1248 Eroberung von Sevilla;1230–1492 Emirat von Granada (letztes islamisches Reichin Spanien); 1492 Eroberung Granadas durch die katho-lischen Könige, endgültige Vertreibung der Araber ausEuropa; 1258 Eroberung Bagdads durch die Mongolen;Ermordung des letzten Abbasidenkalifen; 1291 Akkon, der

179Zeittafel

Page 180: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

letzte europäische Stützpunkt in Palästina, wird von denMamluken erobert; Ende der KreuzzügePhilosophie und Kultur 1201–1274 at-Tusi, Universalge-lehrter und Philosoph der Schule Ibn Sinas; 1214–1291Roger Bacon; 1225–1274 Thomas v. Aquin; ab 1238 Bauder Alhambra; 1240–1282 Siger v. Brabant; 1263–1328Ibn Taimiyya, Hauptvertreter eines traditionalistisch-orthodoxen Islam

1300–1400

Politik 1300–1924 Osmanenreich; 1370–1400 Timur-i-leng, Eroberung Westpersiens und IraksPhilosophie und Kultur 1332–1406 Ibn Khaldun

1400–1500

Politik 1416 Sieg der Venezianer über die Osmanen in derSeeschlacht von Galipoli; 1451–1481 Mehmed II. setzt os-manische Herrschaft auf dem Balkan endgültig durch;1453 Eroberung Konstantinopels durch die OsmanenPhilosophie und Kultur 1429 Mongolenfürst Ulug-Bekerrichtet Observatorium in Samarkand; 1473–1543 Ko-pernicus

1500–1800

Politik 1502–1736 Safawidendynastie in Persien; 1529erste türkische Belagerung Wiens schlägt fehl; 1543–74Ausdehnung der türkischen Herrschaft auf Nordafrika;1567–1661 Beginn des Verfalls der türkischen Macht;1571 Seeschlacht von Lepanto bricht die Vorherrschaft dertürkischen Flotte; 1609–1614 Vertreibung der letztenMuslime aus Spanien; 1683 zweite Belagerung Wiensscheitert; Türken verlieren Ungarn und Teile SerbiensPhilosophie und Kultur 1540–1588 Sinan baut für die Os-manen Moscheen und Palastanlagen; 1572–1641 MullaSadra, persischer Philosoph; 1727 erste Druckerpresse inTürkei in Betrieb

1800–1900

Politik 1798–1801 Französische Invasion in Ägypten;1821–1829 griechischer Unabhängigkeitskrieg; 1830 Fran-zosen besetzen Algier; Beginn des Kolonialzeitalters; ledig-lich das osmanische Reich (Türkei), das saudische König-reich und Iran bleiben souverän; ab 1850 Entstehung vonReform- und Unabhängigkeitsbewegungen

180 Zeittafel

Page 181: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

Philosophie und Kultur 1828 erste arabische Zeitungerscheint; 1839–1897 al-Afghani, afghanisch-persischerDenker; 1849–1905 Muhammad Abduh und 1865–1935Raschid Rida, Hauptvertreter der Reformbewegung derSalafiyya; 1888–1966 Ali Abd ar-Raziq, Religionsgelehr-ter und säkularer Reformer

20. Jh. Politik antikolonialistische Befreiungskriege; Entstehungder Nationalstaaten; politische und soziale Instabilität dermeist diktatorischen Regime der RegionPhilosophie und Kultur Reformbewegungen mit breitangelegtem Modernediskurs; Aufkommen islamisch-fun-damentalistischer Bewegungen

181Zeittafel

Page 182: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

Personenregister

Abd ar-Rahman III. 98Abduh, Muhammad 155Abubacer, s. Ibn TufaylAbu Nuwas 57Abu Yaqub Yusuf 109al-Afghani, Djamal ad-Din

154f.Aflaq, Michel 156Ala ad-Daula 78Alexander von Aphrodisias 38Algazel, s. al-GhazaliAli 120Archimedes 32Aristoteles 28, 31, 34, 36f.,

38f., 41, 43, 45f., 51, 59, 65,68, 77f., 80f., 88, 109, 115,136ff.

Arkoun, Muhammad 160f.al-Asch’ari, Abu al-Hasan 124Avempace, s. Ibn BadjdjaAverroes, s. Ibn RuschdAvicenna, s. Ibn Sinaal-Azm, Sadiq Djalal 160f., 166al-Azmeh, Aziz 8, 164

Bacon, Roger 83f.

Bedreddin 143al-Biruni, Abu Raihan 49, 50,

56, 77f.Bloch, Ernst 82, 110, 114, 127

Al-Chwarismi 136Clemens von Alexandria 42

Dante Alighieri 108, 116Defoe, Daniel 103, 106Demokrit 50Descartes, Rene 8, 157al-Djabiri, Muhammad Abid

84, 162f.al-Djahiz 20al-Djuwayni 86

Eichhorn 106Epikur 50Euklid 32, 136

al-Farabi, Abu Nasr Muham-mad 10, 60, 61–72, 73f., 76,78, 80, 88ff., 94, 101ff., 105,112

Friedrich II. 55, 135

Page 183: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

Galen 48, 50, 53, 79Gerhard von Cremona 130al-Ghazali, Abu Hamid 10, 86–

96, 101f., 103, 111ff., 114,150, 166

Habermas, Jürgen 159, 166Hanafi, Hasan 85, 163ff.al-Halladj (Hussain ibn Man-

sur) 128Hegel, Georg Wilhelm Fried-

rich 157Heidegger, Martin 157Heine, Heinrich 99Herder, Johann Gottfried 117f.Hippokrates 79Hobbes, Thomas 147Hülägü 84Hume, David 92Husri, Sati’ 156

Ibn al-’Arabi, Muhyi ad-Din129f.

Ibn Badjdja, Yahya al-Sa’igh10, 99, 100–105

Ibn Chaldun, s. Ibn KhaldunIbn Djudjul 53Ibn Gabirol, Salomo 98Ibn Hailan, Yuhanna 61Ibn Haitham 136Ibn Hanbal, Ahmad 124Ibn Ishaq, Hunain 30Ibn Khaldun, ibn Muhammad

11, 143–150Ibn Luqa, Qusta 30f.Ibn Qurra, Thabit 30Ibn Na’ima al-Himsi 33Ibn ar-Rawandi 57

Ibn Ruschd, Muhammad ibnAhmad 10, 84f., 91, 101,108–118, 137f., 159f., 162,166

Ibn Sina, Abu Ali al-Husayn ibnAbdallah 10, 58f., 61, 75f.,77–84, 86ff., 95f., 100, 103,110, 112, 126, 129, 136,141f., 150, 162

Ibn Taimiyya, Ahmad 124f.,166

Ibn Tufayl, Abu Bakr 10, 83,103–107, 109

Ibn Yahya, Isa 30Ibn Yunis, Abu Bischr Matta 61Ichwan as-Safa’ 74f.

Jesus 55

Kant, Immanuel 8, 21, 46, 92,117f., 157

Karl Martell 97Kepler 138al-Kindi, Abu Yusuf ibn Ishaq

10, 33, 34ff., 44–47, 66, 162Kopernikus 138

Lautere Brüder von Basra, s.Ichwan

Lessing, Gotthold Ephraim107, 117

al-Ma’arri 57Machiavelli, Niccolo 147Mahdi, Muhsin Sayyid 166Mahmud, Zaki Nadjib 165f.Maimonides, Moses 98al-Ma’mun 29, 30, 36

183Personenregister

Page 184: Arabisch-Islamische Philosophie_Geschichte Und Gegenwart

Mendelssohn, Moses 107Mernissi, Fatima 163Moses 55Mu’ammar 20Muhammad 13, 15f., 19, 35,

55, 120Mulla Sadra 11, 150f., 154al-Mu’tasim 36al-Mutawakkil 36

an-Nadim 35Nietzsche, Friedrich 157

Ockley, Simon 106

Pico della Mirandola 139Platon 28, 31, 34, 37f., 40, 50,

51, 58, 70f., 88, 103, 110, 114Plinius 79Plotin 28, 31, 40, 42, 65f., 80Porphyrios 28, 31, 110Pococke, Edward 106Pritius 106Proklos 28, 31Pseudo-Plutarch 30Ptolemäus, Claudius 32, 110,

130, 136

ar-Rahman, Taha Abd 167Rahman, Fazlur 166ar-Raschid, Harun 7ar-Razi, Abu Bakr Muhammad

ibn Zakariyya 10, 48 – 56,58, 61, 79, 136

ar-Razi, Abu Hatim 52ar-Razi, Fachr ad-Din 84, 95f.ar-Raziq, Ali Abd 156Rhazes, s. ar-Razi, Abu BakrRida, Raschid 155

Sadr ad-Din asch-Schirazi, s.Mulla Sadra

Said, Edward 7Saif ad-Daula 62, 72Salah ad-Din (Saladin) 7, 128Schachrur, Muhammad 166Schahrastani, Muhammad ibn-

Abdulkarim 95Schariati, Ali 167as-Sidjistani, Abu Sulaiman 63Siger von Brabant 116, 138Sokrates 53, 88Soroush, Abdolkarim 167As-Suhrawardi, Yahya al-Maq-

tul 128, 150f.

Tarabischi, George 158f.Tariq Ibn Zaid 97At-Tauhidi, Abu Haiyan 63Tertullian 90Thomas von Aquin 84, 116,

138Timur-i-lang 143at-Tusi, Nasir ad-Din 84

Uthman (Osman) 28

Zakariya, Fuad 123, 160f.

184 Personenregister