Arbeit und Gerechtigkeit - GPA-djp Bildungsabteilung · Die Mehrheit der Befragten erwartet und...

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Arbeit und Gerechtigkeit Welche Ansprüche stellen Dienstleistungsbeschäftigten im und an den Betrieb? GPA Wien, 5./6.4.2017

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Arbeit und Gerechtigkeit Welche Ansprüche stellen Dienstleistungsbeschäftigten im und an den Betrieb?

GPA Wien, 5./6.4.2017

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Forschungsprojekt „Brüchige Legitimationen – neue Handlungsorientierungen? Gerechtigkeitsansprüche und Interessenorientierungen in Arbeit und Betrieb vor dem Hintergrund von Krisenerfahrungen“

gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung 2012-2015

Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München (Wolfgang Menz, Sarah Nies, Nick Kratzer)

Soziologisches Forschungsinstitut der Universität Göttingen – SOFI (Harald Wolf, Knut Tullius)

Kratzer/Menz/Tullius/Wolf (2015): Legitimationsprobleme in der Erwerbsarbeit

Schwerpunktheft WSI-Mitteilungen 7/2016: „Gerechtigkeitsansprüche und Arbeitnehmerbewusstsein heute - neue Ansätze, neue Befunde“

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Leitfragen der Untersuchung - und Auswahl für heute

Welche Ansprüche stellen Beschäftigte heute an Arbeit und Betrieb? (1)

Auf welche „normative Grundprinzipien“ (Anspruchsmuster) beziehen sich die Beschäftigten dabei?

(in welchen Kontexten werden welche Ansprüche formuliert?)

Welche Ansprüche führen zur kollektiven interessenpolitischen Mobilisierung? (2)

Auf Basis welcher Anspruchsverletzungen entsteht Protest und gewerkschaftspolitische Aktivität?

Exkurs: Einschätzungen zu Gewerkschaften und Politik (3)

Ausblick (4)

Folie 3

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WEN HABEN WIR BEFRAGT?

Folie 4

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Befragte 207 Einzelinterviews und 19 Gruppendiskussionen mit insgesamt

320 Beschäftigten, 71 Experteninterviews (Gewerkschafts-, Betriebsrats- und Managementvertreter)

26 Unternehmen aus 10 Branchen: Industrie (SOFI), Dienstleistungen (ISF), Bauindustrie (ISF)

Erhebungszeitraum August 2012 - Januar 2014

Folie 5

Untersuchungs-

felder

Beschäftigten-

interviews

Gruppen-

diskussionen

Experteninterviews

(betrieblich)

Experteninterviews

(überbetrieblich)

Industrie 101 12 34 7

Bau 18 2 2 2

Dienstleistung 88 5 16 9

Gesamt 207 19 53 18

Weiblich Männlich Gesamt

Industrie 22 79 101

Bau 5 13 18

Dienstleistungen 44 44 88

Gesamt 71 136 207

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Befragte

Folie 6

Beschäftigungsverhältnis Legitimationsprobleme

N=207 DGB-Index 2010

N=1979

Unbefristet beschäftigt 85% 83%

Befristet beschäftigt 1% 8%

Geringfügig oder in Teilzeit beschäftigt

8% 8%

In Zeitarbeit beschäftigt 5% 2%

Ohne abgeschlossene

Berufsausbildung

Abgeschlossenen Lehre/Ausbildung

Studium an Universität/

Fachhochschule k.A. Gesamt

Industrie 2 69 25 5 101

Bau - 10 7 1 18

Dienstleistungen 1 49 38 - 88

Gesamt 3 128 70 6 207

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(1)ANSPRÜCHE AN ARBEIT UND BETRIEB

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Konzeptionelle Vorbemerkungen

„Wünsche“ / „Ansprüche“(Hürtgen/Voswinkel 2014)

Ansprüche: verallgemeinerbar, Anrechte, Rückgriff auf bestehende Normen

Wünsche: nicht verallgemeinerbar und politisierbar, aber nicht weniger drängend

Ansprüche werden zumeist negativ formuliert: als Kritikprinzipien (Ungerechtigkeitserfahrungen)

Ansprüche und ihre Erfüllung

Ansprüche können auch dann formuliert werden, wenn nicht erwartet wird, dass sie eingelöst werden

insgesamt aber: Beschäftigte als „normative Realisten“

Vergleichshorizonte & Adressaten

Ansprüche sind relational: bezogen auf bestimmte Adressaten, gemessen an Vergleichsmaßstäben/-gruppen

Folie 8

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Normative Ansprüche der Beschäftigten - Überblick

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Gerechtigkeitsansprüche („moralische“ Ansprüche)

Leistungsgerechtigkeit

Selbstverwirklichung

Beteiligung

Würde

Fürsorge

Rationalitätsansprüche („pragmatische“ Ansprüche)

Technisch-funktionale Rationalität

Ökonomische Rationalität

Bürokratische Rationalität

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Folie 10

Leistungsgerechtigkeit In der Soziologie oft totgesagt:

”bürgerliches Prinzip” (Bewusstseinsstudien 1970er)

mangelnde Zurechenbarkeit von Leistung in großen, arbeitsteiligen Organisationen (Claus Offe)

Erfahrung der ständigen Verletzung (z.B. Hartmann)

Erfolg ersetzt Leistung, die aus dem ”moralischen Horizont der Gesellschaft” verschwindet (S. Neckel)

Empirisches Ergebnis: Leistungsgerechtigkeit bleibt das zentrale normative Prinzip im Feld der Arbeit

strittig ist nicht das Prinzip, sondern wie es ausbuchstabiert wird

Aufwandsbezug, aber: was ist das? Anstrengung? formale Qualifikation? Verantwortung?

Ambivalenz des Leistungsprinzips

Begründung von Ansprüchen (z.B. Entgelt) ”nach oben”: Kritiprinzip

peer pressure, Leistung als horizontaler sozialmoralischer Anspruch

”kleinformative” Anwendung von Leistungsgerechtigkeit

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Selbstverwirklichung

Soziologische Diagnosen:

Prinzip einer bestimmten Generation?

”Wertewandel” – heute (wieder) Sicherheit?

Verwirklicht aufgrund größerer Vielfalt in der Arbeit (neue Managementstrategien)?

Vom Managementdiskurs okkupiert (Boltanski/Chiapello)?

Empirisches Ergebnis: Selbstverwirklichung ist auch heute zentrales Prinzip (z.B. Anspruch auf Autonomie in der Arbeit), hat aber eher den Charakter eines Wunsches als eines Anspruchs

eher die Frage der (individuellen) Berufswahl, denn kollektiven Interessenhandelns

Bedeutung sehr unterschiedlich nach Beschäftigtensegment

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Beteiligung

unterschiedliche Erfahrungen mit Veränderungen der Beteiligungsmöglichkeiten

”post-partivipative” Industriearbeit

Selbstverständlichkeit der Nicht-Beteiligung mit stillschweigender Nutzung von Subjektivität (Teil der DL-Arbeit, z.B. Einzelhandel)

Beteiligung als integrativer Bestandteil professineller Arbeit, aber sinkende Reichweite (hochqualifizierte Wissensarbeiter)

Beteiligungsansprüche überwiegend höchst relevant, aber:

Beschränkung auf den Arbeitsplatz/Umgebung

kaum Betrieb, Unternehmen, Ökonomie insgesamt (keine Forderungen nach Wirtschaftsdemokratie)

output-orientierte Beteiligungsansprüche: bei Unzufriedenheit mit dem Ergebnis

keine Tendenz zu wachsenden auf Demokratisierung ”von unten”

aber: Kritik an Verantwortlichkeit ohne Ressourcen

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„Was das

Betriebliche insgesamt anbelangt, puh, das ist schwer zu

sagen. Ich habe da jetzt nicht unbedingt so den Einfluss,

glaube ich, drauf und ich glaube auch nicht, dass ich den

haben möchte. Mich da zu sehr beteiligen, ich glaube, ich

würde das gar nicht wollen. Im gewissen Maße ja, was jetzt

unbedingt meinen Arbeitsplatz, beziehungsweise die

Kollegen oder meine direkte Abteilung anbelangt, wohl,

aber über das andere Betriebliche würde ich das, glaube

ich, gar nicht wollen.“

(Bauplaner)

„Mehr mitentscheiden, ja. Das ist, das fehlt hier so ein

bisschen. Also einerseits wird den Mitarbeitern viel

Verantwortung zugestanden, was die Aufgabenlösung angeht,

aber die Mittel dahin, die bleiben aus Büro beschränkt“

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Würde

Würde als normatives Basisprinzip

kein trade-off mit anderen Ansprüchen oder Wünschen

”unmenschliche” Arbeitsbedingungen am unteren Ende des Beschäftigungsspektrums

Leiharbeit als ”Sklaverei”

Entgelt nahe oder unterhalb des Existenzminimums

Menschenunwürdiger Umgang z.B. bei Entlassungen

Würdeverletzungen als Angriff auf die persönliche Integrität

Beleidigungen und Belästigungen (auch durch Kunden!), auch Erfahrung von geschlechterbezogenen Würdeverletzungen, z.B. Sexismus

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„Ich denke, für jeden von uns ist das wichtig, dass man als Mensch angesehen wird und dass man als Mensch behandelt wird. [...] Jeder Mensch hat verdient, mit Respekt behandelt zu werden.“ (Montagearbeiterin)

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Fürsorge Fürsorge = Berücksichtigung ”der Besonderheiten und Kontingenzen

des Lebens” (B. Aulenbacher)

z.B. Bedürfnisbezug, Berücksichtigung von lebensphasenbezogenen Differenzen, Krankheit

verschiedene Ebenen und Adressaten des Fürsorgebegriffs

Unternehmen: z.B. betriebliche Sozialpolitik

Selbst: Arbeitsinhaltlicher Anspruch (Sorge-Arbeit)

Kollegen: Rücksichtnahme z.B. auf Leistungsgeminderte

Abkehr vom ”fürsorglichen Unternehmen” als verbreitete Erfahrung

wird kritisiert, gilt aber als unwiederbringlich

Kollegialität (personenbezogene Rücksichtnahme unter KollegInnen) stabil – t.w. unter schwierigen Bedingungen

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„Jeder schuldet letztlich nur, so viel er leisten kann. Und es können nicht alle gleich viel leisten. OK, Mitarbeiter A war früher 110 Prozent, kann jetzt aber nur noch 80. Das liegt nicht daran, dass er nicht will, sondern er kann es einfach nicht mehr.“ (Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst)

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Rationalitätsansprüche

Effizienz und Rationalität als Prinzipien des ”gesellschaftlichen Teilsystems” Wirtschaft: die Unternehmen sollen marktgerecht, sachgerecht und regelgerecht agieren (Nützlichkeitsfragen)

Rationalitätsprinzipien spielen auch in der (dt.) gewerkschaftlichen Argumentation wichtige Rolle: z.B. Nachfragestärkung, ”besser-statt-billiger”

Empir. Ergebnis: hohe Bedeutung von Rationalitätsansprüchen

nicht nur Gerechtigkeit als Kritikquelle, durchaus Politisierungspotenzial

verbreitet: Kritik an ”irrationalen” Managemententscheidungen

Technisch-organisationale, ökonomische und bürokratische Rationalität

technisch-organisationale Rat. hat das stärkste normative Fundament – häufiger Konflikt mit ökon. Rat.

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„Man muss es klar trennen: Ist das

sinnvoll, was die Firma macht? Würde

ich sagen, so ist es nicht so toll. Verhält

sich die Firma unfair gegenüber

Arbeitnehmern? Muss ich sagen, nein,

eigentlich nicht.“

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”normative Brennpunkte”:An welchen Themen entstehen Anspruchsverletzungen?

(1) Anerkennung und Wertschätzung der Arbeitsleistung

materiell wie immateriell

immer stärkere Verletzung im Blick, z.B. ’Gleicher Lohn für gleiche Leistung’ in fragmentierten Wertschöpfungsketten verletzt

(2) Leistungsanforderungen, Belastungen, Gesundheit

durchgängig Erfahrung ”am eigenen Leib” (oder der eigenen Seele) oder im unmittelbaren Umfeld

etwas stärker in sozialen Dienstleistungen thematisiert

steigende Leistungsanforderungen als ”natürliche” Entwicklung

Kritik eher als Wunsch, denn als Anspruch

individualistische Auseinandersetzung herrscht vor, wird wenig in den Betrieben politisiert

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ff. ”normative Brennpunkte”:An welchen Themen entstehen Anspruchsverletzungen?

(3) Arbeitszeitlänge und -lage, Work-Life-Balance

zentrales Thema, aber auch hier eher Wunsch als Anspruch

(4) Reorganisation, Stellenabbau, Betriebsschließungen

sehr unterschiedliche Bedeutung

Thema mit sehr hohen Empörungspotenzial, wo die Betroffenheit hoch ist

sowohl Gerechtigkeits- als auch Rationalitätskritik

bleibt in der Regel fallbezogen

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Der schleichende Erosion von Vergleichsordnungen

Ansprüche werden in Relation zu vergleichbaren Ordnungen formuliert, z.B. in zeitlicher und räumlicher Hinsicht

früher, andere Branchen, andere Regionen etc.

diese Vergleichsordnungen zerfallen tendenziell

Zeitlich: generelle Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen als Hintergrund

steigende soziale Ungleichheit

jüngere KollegInnen haben schlechtere Bedingungen

(stillschweigendes) Ende des Fortschritts- und Ausstiegsversprechens: den Kindern wird es schlechter gehen

Räumlich: Deutschland geht es vergleichsweise gut

Blick auf Südeuropa

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Wirtschaftskrise 2007ff.:

branchenspezifisch unterschiedliche Betroffenheit – insgesamt eher geringe eigene Betroffenheit

die eigene Situation wird – relativ betrachtet - noch als positiv eingeschätzt

Viele sehen sich als relative Gewinner unter allgemein verschlechterten Bedingungen

Absenkung des Anspruchsniveaus

Häufige ”Vergleiche nach unten” (aber Ausnahmen!)

„Wir sitzen ja noch auf einer Insel, wo es uns gut geht.“

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(2)ANSPRÜCHE UND INTERESSENPOLITISCHE MOBILISIERUNG

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Rückkehr des Protestes?

„Krise ohne Konflikt“ (Detje et al 2011) – und nach der Krise...?

kein übergreifendes interessenpolitisches Großthema

kein genereller Trend zur Aktivierung und Konfliktorientierung

aber massive Auseinandersetzungen, die sich an einzelnen betrieblichen Fällen oder Branchen entzünden (Lokalität von Konflikten und Aktivierung)

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„Fallbezogene“ Aktivierung

Aktivierung entzündet sich am konkreten Fall

Aktivierung auf Basis von Anspruchsverletzung, nicht auf Basis von individueller Betroffenheit/ Interessenverletzungen

auch wer persönlich sicher ist, protestiert

Verletzte Ansprüche als Ausgangspunkt für Aktivierung, aber nicht als hinreichende Bedingung

Rückstellung der Ansprüche aus pragmatischen Gründen

Beteiligungsorientierte Gewerkschaftspolitik wichtig

Aktivierung muss aus Akteursperspektive einen „Sinn“ haben, aber...

keine reine Zweck-Mittel-Kalkulation, keine eng gefasste Erfolgsorientierung

Sinn neben „materiellen“ Erfolg auch im Öffentlich-machen der eigenen Ungerechtigkeitserfahrungen

Welche Anspruchsverletzungen führen zur Mobilisierung? – Vielfalt!

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Fallbeispiel 1: Einzelhandel-Schließung

Standortschließung „über Nacht“, sofortige Freistellung, nachfolgende Kündigung

Würdeverletzung im Zentrum

„würdebasierte Aktivierung“ bei unklarem Adressaten:

Protest auf Öffentlichkeit gerichtet (Mahnwachen, vielfache Demos usw.)

Erfahrung eigener Wirkmächtigkeit im Protest – „alternative Würde“ herstellen

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„So geht man nicht miteinander um! Wir sind Menschen, wir haben da neun Jahre gearbeitet, da kann man doch nicht einfach dir den Tritt in den Hintern geben und dich vor die Tür setzen! Ohne ein vernünftiges Wort!“

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Fallbeispiel 2: Erzieherinnen

„Fürsorge“ im Zentrum der Ansprüche

als arbeitsinhaltlicher Anspruch „an sich selbst“

als Anspruch an die Organisation

Vom Aktivierungshemmnis zum -treiber

klassische Annahme: „Fürsorge“/Verantwortung für Klienten hemmt Aktivierung

Verknüpfung von Fürsorge mit Leistungsgerechtigkeit bewirkt Anspruchsdynamik: Anerkennung für professionelle Fürsorgearbeit

Folie 28

„Das war der Punkt, dass [wir] mal drauf aufmerk-

sam machen wollten, dass wir eben keine Basteltanten sind, sondern

eine gute pädagogische Arbeit leisten und dass es nicht sein kann, dass

wir immer so, also wirklich so am Rande bezahlt werden und dass sich

überhaupt nichts verändert, sondern immer nur

genommen wird.“

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„Fürsorgeleistung“ als Basis für Aktivierung

Verstärkung der Anspruchsdynamik

halbierte gesellschaftliche Aufwertung

Zusammenbruch ökonomischen Rationalitätsargumente des Arbeitgebers

Anhaltende interessenpolt. Aktivierung

Streiks 2006, 2009, 2015

Feminisierung von Protest – Care-Arbeit in Aktivierung?

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„Wenn es Geld für eine Bank gibt, dann gibt’s auch Geld für die Beschäftigten. (...) Dann ist Geld da offensichtlich. Und das Geld wollen wir jetzt auch mal sehen.“

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Fallbeispiel 3: IT-Dienstleistungen

Standortschließung wegen Zentralisierung der IT-Dienstleistungen

Rationalitätsansprüche im Zentrum

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„Wenn es Sinn fürs Unternehmen

macht, so eine

betriebswirtschaftliche

Entscheidung, dann hätte

ich auch keinerlei Gram“

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„rationalitätsbasierte“ Aktivierung

Auch Rationalitätsansprüche können Ausgangspunkt für Aktivierung sein

Verbindung mit Gerechtigkeitsansprüchen im zweiten Schritt

Mobilisierung ohne Interessengegensatz und „Klassenkampf“

Rationalitätsansprüche massiv normativ untermauert

Rationalitätsansprüche mehr als eine äußere Legitimierung eigener Ansprüche

Aktivierung gewerkschaftsferner Beschäftigte

Demos, Streik, Öffentlichkeitsarbeit

allerdings selektive Beteiligung

Folie 31

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(3)EXKURS:EINSCHÄTZUNGEN ZU POLITIK UND GEWERKSCHAFTEN

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Entkopplung von Politik und Arbeitsalltag

konkreten Arbeitserfahrungen und „große Politik“ sind getrennte Felder

Die Mehrheit der Befragten erwartet und sieht keinen spürbaren Einfluss von politischen Entscheidungen auf die eigene Arbeits- und Beschäftigungssituation

Die zentralen normativen Fragen, die die Beschäftigten in Arbeit und Betrieb umtreiben erscheinen von politischen Einflussmöglichkeiten oder politischem Regulationswillen entfernt

„Die Politik“ ist kaum Adressat für Gerechtigkeitsansprüche der Arbeitnehmer/innen

weder im positiven noch im negativen Sinne

Die Befragten betrachten Politik nicht in erster Linie aus ihrer Perspektive als Arbeitnehmer/innen

Ansprüche an Politik sind stark zurückgefahren – Ökonomie hat sich gegenüber der Politik „autonomisiert“

keine zentralen Differenzen zwischen den Parteien

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Folie 34

„Dieser zeitliche Schritt, den

ich noch auf diesem Erdenboden verbringen darf, da wird die

Politik nichts Großes bewegen können, da wird die Gesellschaft

nichts Großes bewegen können, sondern da wird die Wirtschaft

weiterhin Großes bewegen. (...) Geld, Geld, Geld schreit

die Welt.“ (IT-Spezialist)

„Ja, also letztendlich spielt es nahezu keine Rolle,

welche Partei man wählt. Weil die Zeiten, wo man tatsächlich Klientel-

Partei hatte, sowieso vorbei ist. Die machen das, was getan werden

muss. Da spielt es auch keine Rolle, wer es tut. Am Ende des Tages wird

es ohnehin getan. “ (hochqualifizierter Angestellter IT-Unternehmen)

„Ob es jetzt eine SPD oder CDU oder was auch immer für eine Regierung wird, ich glaube nicht dass der eine oder das andere Übel größer oder kleiner ist.“ (Angestellte Kommune)

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„Ich bin bekennender SPDler gewesen, aber dieses Mal ich glaube nicht.

Dieses Mal gibt es eine Protestwahl. (Interviewer: Aber wer eignet sich für

eine Protestwahl?) Keine. Ich würde sagen Die Linke, aber das ist ja auch

nicht das Wahre. Die Grünen gewinnen auch nicht, weil die wollen ja den

Mittelstand. Die Schwarzen habe ich noch nie mögen. FDP, die wissen es

eh nicht, was sie wollen. Sag mir mal gerade ein paar andere, Graue

Panther (lacht)“. (Facharbeiter

Bauwirtschaft)

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Ausnahmen

Branchen mit hohen Einfluss der öffentlichen Hand auf Finanzierung und Investitionen (Kommunen, Bau, Verkehr)

3 wichtige politische Themen: Rente(nalter), Leiharbeit, Mindestlohn

in bestimmten Tätigkeitsbereichen jeweils „normativer Brennpunkt“

Rente beim Bau, t.w. Industrieproduktion

Leiharbeit zentrales Thema in Industrieproduktion

Mindestlohn in unteren Entgeltbereichen (Industrie/DL) – allerdings inhaltlich umstritten

aber: diese Themen werden nicht zu Querschnittsthemen für alle Beschäftigten, die große Mehrheit sieht sich von den drei Themen persönlich nicht berührt

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Vertrauen in Gewerkschaften

leichte Anzeichen für eine ‚Revitalisierung der Gewerkschaften‘ – im Grundsatz positive Bewertungen der Gewerkschaften quer durch die Beschäftigtengruppen

erklärt sich nicht primär aus dem Erfolg des ‚Krisenkorporatismus‘

Die Gewerkschaften werden vielmehr gerade als alternative Institution zum klassischen politischen Institutionengefüge geschätzt.

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„Ich denke, die Gewerkschaften erfüllen eine wichtige

Rolle. Ich sehe das in Deutschland schon positiv, dass wir

Gewerkschaften haben, wie sie agieren.“ (hochqualifizierter

Angestellte)

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Beteiligungsorientierung oder „Stellvertreterpolitik“?

Weiterhin hohes Vertrauen in Betriebsräte und Gewerkschaften als Institution – dort, wo sie schon immer stark waren (Großbetriebe, insbesondere Industrie)

hier keine Kritik an „Stellvertreterpolitik“

Aber auch hohe Zustimmung zu beteiligungsorientierten Gewerkschaftskonzepten (insbesondere in Krisen- und Konfliktfällen)

einerseits positiv bewertet: Möglichkeiten, eigene Ansprüche und Interessen einzubringen (z.B. Erzieherinnen) - > Demokratisierungsaspekt

andererseits aber auch Beteiligungsorientierung als Schwäche klassischer Stellvertreterpolitik -> pragmatischer Aspekt

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(4) ABSCHLUSSTHESEN

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Moralische Ökonomie ohne neoliberale Hegemonie

„moralischer Konservatismus“: keine „neoliberale Kultur“ (S. Hall) – jedenfalls nicht in Form von normativen Ansprüchen der Beschäftigten

Fortbestehen von „klassischen“ Ansprüchen Leistungsgerechtigkeit

aber: auch kein massives Infragestellen des Neoliberalismus in Gerechtgkeits- oder Rationalitätskriterien

normative Ansprüche werden teilweise zurückgenommen und relativiert

Vergleichsmaßstäbe erodieren

Tendenzen zu einer gesellschaftlichen Ent-Legitimierung statt De-Legitimierung

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Weiterlesen?

Menz, Wolfgang / Tullius, Knut (2015): Stellvertreterpolitik in der Legitimitätskrise? Bedingungen und Grenzen von Aktivierung und Mobilisierung. In: Arbeits- und Industriesoziologische Studien, Jg. 8, H. 2, S. 5-19 (online verfügbar)

Menz, Wolfgang (2014): Brüchige Legitimationen? Krisenerfahrungen als betriebliche und politische Legitimationsprobleme, in: Vedder, Günther u.a. (Hrsg.): Befristete Beziehungen. Menschengerechte Gestaltung von Arbeit in Zeiten der Unverbindlichkeit. München, Mering: Hampp S. 117-134.

Tullius, Knut/ Wolf, Harald (2012): Legitimationsprobleme im System industrieller Beziehungen: Krise oder Revitalisierung des sozialpartnerschaftlichen Geistes? In: Industrielle Beziehungen 19 (4), S. 367 - 386.

Tullius, Knut / Wolf, Harald (2015): Gerechtigkeitsansprüche und Kritik in Arbeit und Betrieb. In: Dammayr, Maria / Grass, Doris / Rothmüller, Barbara (Hrsg.): Legitimität. Gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Bruchlinien der Rechtfertigung. Bielefeld: transcript, S. 269 - 287.

Menz, Wolfgang; Nies, Sarah (2017) Doing Inequality at Work? Zur Deutung und Herstellung von Ungleichheiten in Arbeit und Betrieb. In: Laura Behrmann/ Falk Eckert/ Andreas Gefken/ Peter A. Berger (Hrsg.): ‘Doing Inequality‘ – Prozesse sozialer Ungleichheit im Blick qualitativer Sozialforschung. [SpringerVS], Wiesbaden [im Erscheinen]

Kratzer, Nick; Tullius, Knut (2016): Legitimitätsansprüche Hochqualifizierter. In: Haipeter, Thomas (Hg.): Angestellte Revisited. Wiesbaden.

Schwerpunktheft WSI-Mitteilungen 7/2016, darin z.B. Menz, Wolfgang / Nies, Sarah: Gerechtigkeit und Rationalität – Motive interessenpolitischer Aktivierung

Kratzer, Nick; Menz, Wolfgang; Tullius, Knut; Wolf, Harald (2016): Beschäftigte wollen Gerechtigkeit – und einen effektiv geführten Betrieb. Policy Brief der Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung, Februar 2016.

Menz, Wolfgang (2017): Das befremdliche Überleben der Leistungsgerechtigkeit. Über die Beharrlickeit eines totgesagten normativen Prinzips in: Aulenbacher, Brigitte et al. (Hg.): Leistung und Gerechtigkeit. Das umstrittene Versprechen des Kapitalismus, BelzJuventa

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Dr. Wolfgang Menz

ISF München

Jakob-Klar-Str. 9

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+49 (0) 89 272921-55

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