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Aus:

Nerea VöingArbeit und MelancholieKulturgeschichte und Narrative in der Gegenwartsliteratur

August 2019, 380 S., kart., Dispersionsbindung39,99 € (DE), 978-3-8376-4816-4E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4816-8

Erschöpfung, Depression, Burnout: Folgeprobleme von Erwerbsarbeit werden in litera-rischen Auseinandersetzungen zunehmend zum Sujet. Wilhelm Genazinos Angestell-te, Karen Duves Taxifahrerin, Frédéric Beigbeders Werber, Terézia Moras Salesmanager – sie alle werden als erschöpfte bis verzweifelte Figuren gezeichnet und offenbaren darüber eine (implizite) Kritik an veränderten Anforderungen der Arbeitsgesellschaft. Auf der Basis kulturgeschichtlicher Überlegungen und anhand ausgewählter Texte der Gegenwartsliteratur zeichnet Nerea Vöings komparatistische Studie nach, wie ausge-rechnet die seit der Antike zur ›Feindin‹ der Arbeit stilisierte Melancholie zum Vehikel dieser kritischen Darstellung werden konnte.

Nerea Vöing, geb. 1985, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stabsstelle Bildungs-innovationen und Hochschuldidaktik an der Universität Paderborn. Hier studierte sie deutschsprachige Literatur, Geschichte und Komparatistik und promovierte 2017. Sie ist Mitglied im Netzwerk Frauen und Geschlechterforschung NRW sowie im Nachwuchs-forschernetzwerk Cultural and Literary Animal Studies (CLAS).

Weiteren Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4816-4

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Inhalt

1. Einleitung | 9

1.1 Arbeit und Melancholie: Eine Engführung I | 16

1.2 Motivgeschichtliche Überlegungen | 22

1.3 Die melancholische Geisteshaltung im Kontext von Rückzug

und Verweigerung | 26

1.4 Kriterien der Textauswahl | 30

2. Kulturgeschichtliche Überlegungen | 39 2.1 Von antiken Aristokraten und den Ursprüngen der Melancholie | 39

2.2 Arbeit versus Melancholie in der Acedia des Mittelalters | 42

2.3 Melancholischer Müßiggang in Spätmittelalter und Früher Neuzeit | 45

2.4 Der Melancholiker als ‚Geistesarbeiter‘ im Humanismus | 47

2.5 Arbeit und Melancholie in Albrecht Dürers Melencolia I | 48

2.6 Endemische Melancholie im Spannungsfeld zwischen Protestantismus

und Humanismus | 51

2.7 Das anti-melancholische Programm der Aufklärung | 54

2.8 Entfremdete Arbeit: Industria und Melancholie im langen 19. Jahrhundert | 57

2.9 ‚Arbeitslos‘ und melancholisch: Von Dandys und Flaneuren | 60

2.10 Moderne Acedia | 62

2.11 Spätmoderne ‚Melancholien‘ | 64

3. Gegenwartsliterarische Narrative | 67

3.1 Literarische ‚Arbeit‘ am Bildreservoir der Melancholie | 67

3.1.1 Allegorische Umschreibungen in Lars Gustafssons

Nachmittag eines Fliesenlegers (1991) | 67

Arbeit als ‚profane Basis‘ des Romans | 69 – Die allegorische

Dimension des Fliesenlegens | 71 – Existentielle Melancholie

bei Gustafsson | 75

3.1.2 Der Beamte als Philosoph: Heiko Michael Hartmanns

Unterm Bett (2000) | 80

Beamtentum als ‚Lebensform‘ | 80 – Die melancholische Dimension

des Beamtentums | 82 – Die conditio humana am Beispiel

der Amtsstube | 87

3.1.3 Melancholie des Abschieds in Ralf Rothmanns

Junges Licht (2004) | 89

Max von der Grüns ‚Arbeiterliteratur‘ | 94 – Rothmanns

milieugesättigte Melancholie | 99 – Arbeit und Melancholie bei

Anna Seghers, Allan Sillitoe und Ralf Rothmann | 102

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3.2 Der melancholische ‚Drift‘ | 105

3.2.1 Marion Poschmanns arbeitslose Melencolia:

Hundennovelle (2008) | 105

Zur Melancholie der arbeitsgesellschaftlichen Exklusion | 106 –

Der Hund als Gefährte und Todesbote | 111 – Die Transformation

der Protagonistin als ‚Tier-Werdung‘ | 113 – Das Ende der Novelle

zwischen Auflösung und ‚Heimkehr‘ | 115

3.2.2 Exkurs zum Motiv des Melancholiehundes | 117

Die emblematische Dimension des Hundemotivs | 121 –

Zu den ‚Hundstagen‘ | 124 – Die philosophische Melancholie

und der Hund | 127 – Dürers ‚Windspiel‘ | 131 – Zum Motiv

des schwarzen Hundes | 133 – Die Spiegelfunktion des Hundemotivs

in Literatur und Kunst | 136 – Melancholiehunde in ausgewählten

literarischen Beispielen | 141

3.2.3 Die Müdigkeit der Taxifahrerin: Karen Duves Taxi (2008) | 147

Taxifahren als Beruf jenseits der Berufung | 148 – Eine kurze

Geschichte der Müdigkeit | 153 – Vom ‚erschöpften Selbst‘ über die

Müdigkeitsgesellschaft zur Melancholie | 156 – Zum Verhältnis von

Melancholie und Depression | 159

3.2.4 ‚Wehe Hemmungen‘: Wilhelm Genazinos

Angestellte (2009/2011) | 162

Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie und Martin Walsers

‚Arbeitstexte‘ | 163 – Ein melancholischer Angestellter: Das Glück

in glücksfernen Zeiten | 168 – Die Melancholie des ‚gedehnten

Blicks‘ | 172 – Die Klinik als Ort der Exklusion und des

Auswegs | 174 – Zur gesellschaftlichen Dimension der Warlich’schen

Melancholie | 178 – Die melancholische Leerstelle | 183 – Ein

melancholischer Selbstständiger: Wenn wir Tiere wären | 184 –

Tiermetaphern im Kontext von Freiheit und Gefangenschaft | 187 –

Melancholische Haltungen von Walser bis Genazino | 188

3.2.5 Melancholie 2.0: Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent

und Das Ungeheuer (2009/2013) | 192

Vereinzelung in der New Economy | 193 – Der ‚Drift‘ des Darius

Kopp | 197 – Melancholie 2.0 | 200 – Vom ‚einzigen Mann‘ zum

Ungeheuer: Der Weg aus der und in die Krise | 206

3.3 Ennui und Entfremdung | 214

3.3.1 Zwischen Ennui und Destruktion: Frédéric Beigbeders

39,90 (2000) | 214

Zur kreativen Arbeit | 216 – Der Ennui des Erfolgs | 219 –

Zur Unmöglichkeit einer Utopie | 222 – Michel Houellebecqs

Ausweitung der Kampfzone | 224 – Ennui und Arbeit bei

Houellebecq und Beigbeder | 228

3.3.2 Die Suche nach einem Ausweg in Joachim Bessings

Wir Maschine (2001) | 231

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Von anfänglichem Enthusiasmus und folgender Resignation | 233 –

Terror wider den melancholischen ‚Zeitgeist‘ | 239 – Auswege in

die oder aus der Wir Maschine | 242 – Christian Krachts 1979:

Das Glück des Dandys im Gulag | 247 – Zu einem Ennui der Freiheit

bei Bessing und Kracht | 252

3.3.3 Beschleunigung und Entfremdung:

Don DeLillos Cosmopolis (2003) | 256

Arbeit bei DeLillo: Von Americana bis Cosmopolis | 257 – DeLillos

Protagonisten zwischen Melancholie und Ennui | 262 –

Beschleunigung und Entfremdung | 265 – Mögliche Auswege

zwischen Flucht und Auflösung | 267 – Kein Ausweg in Sicht: Bret

Easton Ellis’ American Psycho | 271 – Die Melancholie des M-(C)-

M’ | 281 – Affirmation statt Verweigerung bei DeLillo und

Ellis | 286

4. Fazit | 293

4.1 Arbeit und Melancholie: Eine Engführung II | 298

4.2 Die Protagonisten zwischen Verweigerung und Anpassung | 303

4.3 Arbeit und Melancholie: (K)ein Ausweg in Sicht | 306

4.4 Die Kritik der literarischen Melancholie | 314

4.5 Das abwesende Objekt melancholischer Trauer | 318

4.6 Ausblick | 325

Literatur | 329

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1. Einleitung

„In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von

Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches

Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des

Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle

Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, […] um dann völlig ‚beruhigt‘

desto besser und reibungsloser ‚funktionieren‘ zu können. […] Es ist durchaus denkbar, daß die

Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller

menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten

Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.“1

Diese Diagnose traf Hannah Arendt bereits im Jahr 1958 angesichts der ökonomisie-

renden Tendenzen der Neuzeit, im Zuge derer ‚Arbeit‘ zur vorrangigen Tätigkeit des

Menschen erklärt und der moderne Mensch damit, so Arendt, zum animal laborans

wurde. Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen scheint die Konstitution dieses animal

laborans – also des sich über Arbeit definierenden sowie in soziale Gruppen und

Gemeinschaften inkludierenden Menschen – jedoch zunehmend problematisch zu

werden. Prekäre Beschäftigungen weiten sich aus2, die Arbeitslosigkeit ist hoch

3 und

1 Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper 22003 [1958], S.

410-411.

2 Vgl. Günther Schmid: „Arbeitsplätze der Zukunft: Von standardisierten zu variablen Ar-

beitsverhältnissen.“ In: Jürgen Kocka u. Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Ar-

beit. Frankfurt/M.: Campus 2000, S. 269-292: 273 sowie Martin Baethge: „Subjektivität

als Ideologie. Von der Entfremdung in der Arbeit zur Entfremdung auf dem (Arbeits-)

Markt?“ In: Gert Schmidt (Hg.): Kein Ende der Arbeitsgesellschaft. Arbeit, Gesellschaft

und Subjekt im Globalisierungsprozeß. Berlin: Edition Sigma 1999, S. 29-44: 31-32. Für

den wissenschaftlichen Diskurs prägend ist die Arbeit Claus Offes, der sich bereits 1984

der Zunahme von prekären Beschäftigungsformen gewidmet hat, vgl. Claus Offe (Hg.):

‚Arbeitsgesellschaft‘. Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven. Frankfurt/M. u.a.: Cam-

pus 1984.

3 Hierbei zeigt sich in allen OECD-Staaten eine ähnliche Entwicklung mit steigenden Ar-

beitslosenzahlen ab den 1970er Jahren, die schließlich auf einem vergleichsweisen hohen

Level stagnieren und auch in Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs nur unwesentlich

sinken, vgl. Reinhard Weber: Persistente Arbeitslosigkeit. Marburg: Metropolis 2003, S.

13, 18-31.

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10 | Arbeit und Melancholie

die Arbeitsrealität wartet, im Zuge von Digitalisierung, Globalisierung sowie allge-

meiner Beschleunigung, mit immer neuen Anforderungen auf.

Zeichnete sich zuvor die − das ‚westliche‘ Bild von Erwerbsarbeit dominierende −

Arbeitsorganisation des ‚Fordismus‘ u.a. durch arbeitsteilige, rationalisierte Massen-

produktion, eine relative Lohnhöhe, lange Betriebszugehörigkeit sowie Maßnahmen

zur sozialen Absicherung aus4, bekommt Arbeit ab den 1970er Jahren in einigen Kon-

texten ein ‚neues Gesicht‘. Für eine ‚postfordistisch‘ organisierte Arbeit, welche Ar-

beitsplätze der sogenannten New Economy oder auch des New Capitalism vornehmlich

prägt, wird eine Verlagerung von Verantwortlichkeiten zum konstitutiven Aspekt.5

Eigeninitiative sowie ein hohes Maß an Identifikation mit der Arbeit – dies sind u.a. die

Ideale der „postfordistische[n] Rhetorik, die gegen die mechanische Routine und für

den organischen Flow argumentiert.“6 Susanne Heimburger wählt in ihrer Deutung

dieser Entwicklung einen Ansatz, der weniger auf eine gewandelte Arbeitsorganisation

als auf ein neues Arbeitsverständnis abhebt, aus welchem wiederum neue Ansprüche

resultieren: „Der gegenwärtige Arbeitsbegriff strebt eine Synthese von (aktiver) Muße

und Arbeit“ an, und „[d]amit verbunden ist der Anspruch, dass Arbeit nicht mehr der

menschlichen Selbstverwirklichung entgegensteht […], sondern dass im Gegenteil der

Mensch in der Arbeit ganz zu sich selbst findet.“7 Heimburgers Ausführungen zufolge

sind die Imperative totalitär, sie zielen auf den ganzen Menschen.8 Das Konstrukt eines

‚Selbst‘ rückt als „Selbst-Organisation, Selbst-Sozialisation, Selbst-Bildung, Selbst-

Motivation […] Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisie-

rung“9, in den Fokus der Aufmerksamkeit sowie der, die westlichen Arbeitsgesellschaf-

4 Vgl. Stefan Kühl: Arbeits- und Industriesoziologie. Bielefeld: transcript 2004, S. 28-33, 63-

66.

5 Vgl. Hans J. Pongratz u. G. Günter Voß: „Erwerbstätige als ‚Arbeitskraftunternehmer‘.“

In: Sozialwissenschaftliche Informationen 30/4 (2001), S. 42-52: 44. Ausf. zum Begriff des

Postfordismus sowie zu den durchaus unterschiedlichen Erklärungsmodellen des wirt-

schaftlichen Wandels, die sich dahinter verbergen, vgl. Igor Pribac: „Post-Fordism – a

Contextualisation.“ In: Gal Kirn (Hg.): Post-Fordism and Its Discontents. Maastricht: Jan

van Eyck Academie 2010, S. 21-39. Ausf. zum Begriff der New Economy, der darin umge-

setzten postfordistischen Arbeitsorganisation und deren Potential sowie zum Einfluss des

Finanzkapitalismus vgl. Roger Alcaly: The New Economy. And What It Means for Ameri-

ca’s Future. New York, NY: Farrar, Straus and Giroux 2004 [2003].

6 Kai von Eikels: „Nichtarbeitskämpfe.“ In: Jörn Etzold u. Martin Jörg Schäfer (Hg.): Nicht-

Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken. Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar

2011, S. 17-39: 33 sowie vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Ge-

sellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 19.

7 Susanne Heimburger: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in

deutschsprachigen Gegenwartstexten. München: edition text+kritik 2010, S. 13.

8 Vgl. dazu auch Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjekti-

vierungsform. Frankfurt/M.: Suhrkamp 52013 [2007], S. 283.

9 Karin Gottschall u. G. Günter Voß: „Entgrenzung von Arbeit und Leben – Zur Einleitung.“

In: Dies. (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Er-

werbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag. Mering, München: Rainer Hampp 2003, S. 11-

33: 15.

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Einleitung | 11

ten prägenden, leistungsgesellschaftlichen Anforderungen.10

Es entspinnt sich ein Kon-

flikt zwischen imaginierter Selbstentfaltung und real möglicher resp. ‚wahrscheinliche-

rer‘ Selbstentfremdung. Ein Scheitern bei der Arbeit bzw. in der Arbeitslosigkeit wird

entsprechend, so lauten bisweilen die soziologischen Diagnosen, als Scheitern des

‚Selbst‘ wahrgenommen11

, Konflikte werden inkorporiert.12

10 Lässt sich der Begriff der ‚Leistung‘ kaum eindeutig definieren (vgl. Frank Schlie: „Die

Vielfalt der Leistungsbegriffe.“ In: Karl Otto Hondrich et al. (Hg.): Krise der Leistungsge-

sellschaft. Empirische Analysen zum Engagement in Arbeit, Familie und Politik. Opladen:

Westdeutscher Verlag 1988, S. 50-67), so verhält es sich mit der ‚Leistungsgesellschaft‘

ganz ähnlich, und dennoch wird sie, Umfragen zufolge, als „treffende[r] Begriff zur Be-

schreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ wahrgenommen (Horst W. Opaschowski:

Feierabend? Von der Zukunft ohne Arbeit zur Arbeit mit Zukunft! Opladen: Leske + Bude-

rich 1998, S. 37). Die leistungsgesellschaftlichen Wurzeln reichen zurück bis ins 17. oder

sogar bis ins 16. Jahrhundert, in die Zeit des sich herausbildenen Kapitalismus und der von

Max Weber so nachhaltig beschriebenen protestantischen Ethik (vgl. Klaus Arzberger:

„Über die Ursprünge und Entwicklungsbedingungen der Leistungsgesellschaft.“ In: Hon-

drich et al. (1988): Krise der Leistungsgesellschaft, S. 27-28). Ich folge Frank Schlies De-

finition, der schreibt: „Die moderne Gesellschaft ist in dem Maße Leistungsgesellschaft,

wie sie uns nahelegt, in unserem Handeln zwischen Leistung und Nicht-Leistung zu unter-

scheiden und wie sie, merklich oder unmerklich, den Bereich des Leistungshandeln auf

Kosten des übrigen Handelns auszuweiten trachtet.“ (Schlie (1988): Die Vielfalt der Leis-

tungsbegriffe, S. 66, Herv. i.O.). Eine Leistungsgesellschaft stellt ihre Akteure folglich vor

die Herausforderung, in eben solchen Kategorien zu denken und nach ihren Prämissen zu

handeln. Und Leistungsbereitschaft ist durchaus auch im wachsenden Maße vorhanden,

wie eine Umfrage aus dem Jahr 2010 zeigt, in der „Fleiß und Ehrgeiz“ im Vergleich zu

Umfragen aus den Jahren 1989 und 2001 an Bedeutung gewinnen (Silke Eilers u. Jutta

Rump: Die jüngere Generation in einer alternden Arbeitswelt. Baby Boomer versus Gene-

ration Y. Sternenfels: Wissenschaft & Praxis 2013, S. 113). In diesem Verständnis wird der

Mensch zu einem Leistungssubjekt, das sich qua Arbeit in die Gesellschaft inkludiert. Das

zentrales Distinktionsmerkmal der aus dieser Logik resultierenden Gesellschaftsform der

Arbeitsgesellschaft ist, dass Arbeit den Status des einzelnen Mitglieds bedingt, nicht anders

herum, wie es zum Beispiel in dem feudalistischen System der drei Stände der Fall war

(vgl. Sebastian Conrad, Elisio Macamo u. Bénédicte Zimmermann: „Die Kodifizierung der

Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation.“ In: Kocka/Offe (2000): Geschichte und Zukunft

der Arbeit, S. 449-475: 454). Arbeit wird hier zur Spinne im gesellschaftlichen wie sozia-

len Netz (vgl. Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der

Gesellschaft. Berlin: Aufbau 2005, S. 51), was für den Einzelnen bedeutet, dass sich An-2

erkennung oder auch „Respektabilität“ eng verknüpft zeigt mit „Erwerbsarbeit und Leis-

tung“, wie Hansjürgen Daheim und Günther Schönbauer konstatieren, Hansjürgen Daheim

u. Günther Schönbauer: Soziologie der Arbeitsgesellschaft. Grundzüge und Wandlungsten-

denzen der Erwerbsarbeit. München, Weinheim: Juventa 1993, S. 17.

11 Vgl. Richard Sennett: „Die Arbeit und ihre Erzählung.“ In: Daniel Libeskind et al. (Hg.):

Alles Kunst? Wie arbeitet der Mensch im neuen Jahrtausend, und was tut er in der übrigen

Zeit? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 11-35: 21-23.

12 Vgl. Klaus Peters: „Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung. Abhängig

Beschäftigte vor unternehmerischen Herausforderungen.“ In: Karin Kaudelka u. Gerhard

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12 | Arbeit und Melancholie

Im Sektor der Literatur schlägt sich der hier skizzierte Diskurs um eine zuneh-

mend prekäre Einbettung in leistungs- und arbeitsgesellschaftliche Zusammenhänge

im zahlreichen Auftreten „seltsam leerer Romanfiguren“13

nieder, deren Häufung den

Anstoß zur Themenfindung dieser Arbeit gab. Die Protagonisten14

der entsprechen-

den Texte drohen sich – wie Susanna Reckermann es beschreibt, wobei sie deutliche

Parallelen zu Arendts eingangs zitierter Diagnose zeigt – „in einer befremdenden, der

produktiven Aneignung entzogenen Lebenswelt“ zu verlieren und werden von den

Bedingungen der Arbeitswelt in eine „essentielle Passivität“ gedrängt.15

Diese Art

der Darstellung hatte Theodor W. Adorno bereits in ‚fordistischen‘ Zeiten von der

Literatur gefordert16

, doch erst spezifische postindustrielle Arbeitskontexte der Spät-

moderne – wie aktuelle Formen der Selbstständigkeit oder die New Economy mit

ihren multiplen Flexibilisierungen und Entgrenzungen17

sowie ihrem zunehmend den

ganzen Menschen fordernden Leistungsimperativ – führen zu zahlreichen, entspre-

chend kritischen Darstellungen. In deren Zentrum steht, wie Reckermann hervorhebt,

zumeist die Kluft zwischen leistungsgesellschaftlichem Ideal und Realität; produkti-

ves Handeln in der Arbeit sowie erfolgreiche „Identitätsstiftung“ über sie werden im

Rahmen der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft zwar verlangt, aber gleichzeitig ver-

unmöglicht18

; ein Versinken in passive Zustände ist die Folge.

In ihrem ästhetischen Zugriff auf diese ‚essentielle Passivität‘ erweisen sich die

literarischen Texte jedoch keineswegs als Depressions-Narrative oder Ästhetiken des

Depressiven, vielmehr tragen sie deutlich melancholische Züge. Die Melancholie hat,

davon legen vielfältige kulturelle Artefakte Zeugnis ab, ihre Hochzeiten an gesell-

schaftlichen Wendepunkten erfahren – in Zeiten großer Veränderung wurde und wird

Klinger (Hg.): Eigenverantwortlich und leistungsfähig. Das selbstständige Individuum in

der sich wandelnden Arbeitswelt. Bielefeld: transcript 2013, S. 31-40: 39.

13 Susanna Reckermann: „‚Vita passiva‘ – zur literarischen Reflexion heutiger Arbeitsrealität

und ihren Auswirkungen auf das [post]moderne Subjekt.“ In: Felix Heidenreich, Jean-

Claude Monod u. Angela Oster (Hg.): Arbeit neu denken. Repenser le travail. Berlin: LIT

2009, S. 127-147: 127.

14 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht

anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

15 Reckermann (2009): ‚Vita passiva‘, S. 127 und 132.

16 Adorno kritisiert in seinem „Offenen Brief an Rolf Hochhuth“, die Menschen werden

„nach den Produktionsmethoden gemodelt […], anstatt über diese zu gebieten“, und fordert

eine diesem Umstand Rechnung tragende Literatur, wie er sie u.a. im absurden Theater er-

kennt (Theodor W. Adorno: „Offener Brief an Rolf Hochhuth.“ In: Ders. (Hg.): Noten zur

Literatur Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 [1967], S. 137-146: 139). Heimburger

schlussfolgert aus dieser Aussage Adornos: „Im Zeitalter der Massenproduktion sei der

Mensch nicht mehr als Individuum und aktives Subjekt darstellbar.“ Heimburger (2010):

Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 358.

17 Hinter diesen Stichworten verbirgt sich eine Vielzahl von Veränderungen auf organisatori-

scher und struktureller Ebene, im Zuge derer sich u.a. die im 19. und 20. Jahrhundert erst

vollzogene Trennung von Arbeits- und Freizeit, unter dem Einfluss der neuen technischen

Möglichkeiten, zunehmend wieder auflöst. Vgl. ausf. Gottschall/Voß (2003): Entgrenzung

von Arbeit und Leben.

18 Reckermann (2009): ‚Vita passiva‘, S. 128 und vgl. S. 127.

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Einleitung | 13

sie (auch wenn sie nicht immer namentlich genannt wird) fortwährend zum Gestus

einer überforderten conditio humana.19

Dabei fungiert sie als ‚Vehikel‘, um Verlust-

gefühle, diffuse Ängste, Orientierungs- und Hilflosigkeit angesichts einer sich verän-

dernden Welt auszudrücken. Und als solche kann die Arbeitswelt des 20. und 21.

Jahrhunderts fraglos bezeichnet werden.

„Je mehr ich darüber las, desto mehr schwand mir der Gegenstand“20

, berichtet

die Schriftstellerin Marion Titze über ihre Erfahrungen mit der Melancholie, über

welche in ihrer rund 2500 Jahre umfassenden Begriffsgeschichte sehr viel gesagt und

auch geschrieben wurde. Die unterschiedlichsten Disziplinen nahmen sich ihrer an;

die Herangehensweisen und auch die Instrumentalisierungen sind zahlreich. Tatsäch-

lich kann die Auseinandersetzung mit der Melancholie deshalb nur interdisziplinär

geschehen. Eine klare Definition entsteht daraus nicht, eine Geschichte der Begriffs-

verständnisse und der damit verbundenen Werthaltungen schon, und diese wurde

bereits häufig nachgezeichnet.21

Galt in der Antike noch ein gestörtes Verhältnis der

19 Vielzitierte Beispiele sind hierbei die Popularität der Melancholie in Folge des durch die

Aufklärung hervorgebrachten Metaphysikverlusts und die erneute Aktualität, welche die

melancholische Stimmung in der deutschen Literatur nach 1989 erhielt (vgl. Martina Wag-

ner-Egelhaaf: Die Melancholie in der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration.

Stuttgart, Weimar: Metzler 1997, S. 43). Vor allem in Folge der Zäsur von 1989 erweist die

Melancholie ihren besonderen Gegenwartsbezug (vgl. Wolf Lepenies im Gespräch mit An-

dré Hatting: „‚Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem‘. Soziologe Lepe-

nies für mehr Phantasie im Umgang mit Arbeitslosigkeit.“ Beitrag im Deutschlandfunk

vom 16.02.2006. Sendung Radio Feuilleton: Kulturinterview. Auf: http://www.deutschland

radiokultur.de/melancholie-ist-ein-aktuelles-gesell-schaftliches-problem.945.de.html?dram

:article_id=132209, zuletzt gesehen am 01.11.2015). So zeigt sich mit Blick auf die Ausei-

nandersetzung in den deutschsprachigen Sozial- und Geisteswissenschaften ab dem Ende

der 1980er Jahre eine enorm gesteigerte Aufmerksamkeit. Folgende Texte kamen auf den

Markt: 1989 Hartmut Böhmes vielbeachtete Dürerinterpretation Albrecht Dürer. Melenco-

lia I. Im Labyrinth der Deutung sowie Dieter Lenzens Buch Melancholie als Lebensform,

1990 die deutsche Übersetzung von Raymond Klibanskys, Erwin Panofskys und Fritz

Saxls Saturn and Melancholy, 1991 die deutsche Neuübersetzung von Robert Burtons Ana-

tomy of Melancholy und Volker Friedrichs Essay Melancholie als Haltung und 1992 Ulrich

Horstmanns Lesebuch Die Stillen Brüter. In Frankreich kam ebenfalls 1991 mit Pascal

Bruckners Die demokratische Melancholie ein Text auf den Markt, der eine ‚Melancholie

der Erfüllung‘ in Folge des beendeten Kalten Krieges beschreibt (vgl. Pascal Bruckner: Die

demokratische Melancholie. Hamburg: Junius 1991). Der Soziologe und Psychologe Ernst

von Kardroff konstatiert, es handele sich dabei um das „Wiederaufleben eines kulturellen

und philosophisch-ästhetischen Diskurses“, in dem die Melancholie „als kultureller Reflex

auf die Befindlichkeit des Menschen in der Welt“ erscheine, Ernst von Kardorff: „Anmer-

kungen zum neuerwachten Melancholie-Diskurs.“ In: Fragmente. Schriftenreihe zur Psy-

choanalyse 44/45/07 (1994): „Melancholie und Trauer“, S. 265-279: 265.

20 Marion Titze: „Die Stirnen schattenhaft vergittert. Mutmaßungen über Melancholie.“ In:

Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 45/5 (1993), S. 754-777: 764.

21 Als Standardwerk zur Melancholie ist Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl:

Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der

Religion und der Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 in jedem Fall einschlägig. Aller-

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14 | Arbeit und Melancholie

im Körper vermuteten humoralpathologischen ‚Säfte‘22

und im Mittelalter die teufli-

sche Versuchung als Auslöser für Melancholie, so ist es in der Moderne das Sein

selbst.23

Diese existentielle Melancholie wird, vor dem Hintergrund einer zunehmend

als entzaubert und entleert wahrgenommenen Lebenswelt, zum Epochensignum der

ausgehenden Moderne24

und sie erhält im 20. Jahrhundert noch in verstärktem Maße

Einzug in den Kontext von solcherlei Entfremdungsgefühlen und Zeitkritik. Vor dem

Hintergrund der Annahme, dass das (in Teilen) zuversichtlich gestimmte, technik-

wie fortschrittsgläubige Projekt ‚Moderne‘ gescheitert sei, und mit dem Ende der

UdSSR auch das ‚Ende der Utopien‘ sowie der „Triumph des Kapitalismus“ über

alternative Gesellschaftsmodelle verkündet wurde25

, bleibt Melancholie ein Vehikel

der Zeitkritik. Sie entfaltet ihre kritische Dimension verstärkt vor dem Hintergrund

der „realen Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft“26

sowie den immer

noch aktuellen Forderungen nach Zweckrationalismus und Effizienz.27

In ihr kommt

die subjektive Entfremdung der spätmodern, postindustriellen Lebenswelt ebenso

zum Ausdruck28

, wie sie generell Kritik an den (zuweilen als erschöpfend beschrie-

dings endet deren Betrachtung mit der Frühen Neuzeit. Des Weiteren möchte ich an dieser

Stelle auf einige ausgewählte Publikationen verweisen: Rainer Jehl u. Wolfgang E. J. We-

ber (Hg.): Melancholie. Epochenstimmung – Krankheit – Lebenskunst. Stuttgart u.a.: Kohl-

hammer 2000, Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

1998 [1969], Ludger Heidbrink (Hg.): Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der

Moderne. München, Wien: Hanser 1997, Roland Lambrecht: Der Geist der Melancholie.

Eine Herausforderung philosophischer Reflexion. München: Fink 1996, Brigitte Schulte:

Melancholie. Von der Entstehung des Begriffs bis zu Dürers Melencolia I. Würzburg: Er-

gon 1996, Anette Schwarz: Melancholie. Figuren und Orte einer Stimmung. Wien: Passa-

gen-Verlag 1996, Ludger Heidbrink: Melancholie und Moderne. Zur Kritik der histori-

schen Verzweiflung. München: Fink 1994, Volker Friedrich: Melancholie als Haltung. Ber-

lin: Gatza 1991, Dieter Lenzen: Melancholie als Lebensform. Über den Umgang mit kultu-

rellen Verlusten. Berlin: Reimer 1989, Ulrich Horstmann: Der lange Schatten der Melan-

cholie. Versuch über ein angeschwärztes Gefühl. Essen: Die Blaue Eule 1985, Gabriele Ri-

cke: Schwarze Phantasie. Melancholie im 18. Jahrhundert. Hildesheim: Gerstenberg 1981.

22 Die humoralpathologische Lehre schrieb der menschlichen Anatomie zunächst drei, später

dann vier Säfte (Blut, Phlegma, gelbe und schwarze Galle) zu, deren Verhältnis u.a. über

Krankheit oder Gesundheit ‚entscheidet‘.

23 Vgl. Leonhard Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur

seit 1800. München: Fink 2008, S. 88-89 und Michael Theunissen: Vorentwürfe von Mo-

derne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin, New York, NY: De

Gruyter 1996, S. 28-29.

24 Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, u.a. S. 30, 52.

25 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XXV sowie vgl. S. XI-XII. Vgl. auch

Frithjof Bergmann: Neue Arbeit, neue Kultur. Freiamt im Schwarzwald: Arbor 2004, S. 36-

38.

26 Vgl. Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 58.

27 Vgl. Wolfgang E. J. Weber: „Melancholie und Moderne.“ In: Ders./Jehl (2000): Melancho-

lie, S. 135-142: 138-139.

28 Tatsächlich ist der Aspekt der Entfremdung bereits in den pseudo-aristotelischen Ausfüh-

rungen zur Melancholie angelegt, wozu Michael Theunissen vermerkt: „Die Melancholiker

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Einleitung | 15

benen) Anforderungen der Leistungsgesellschaft transportiert und den „Überdruss im

Überfluss“29

markiert. Hartmut Böhme schreibt entsprechend 2009 in einem Aufsatz

über die Rolle der Literatur in der Wirtschaftskrise:

„Vielleicht sind die Reservoirs der westlichen Kulturen erschöpft. Der Motor des Fortschritts

und der Ausdifferenzierung scheint ein Auslaufmodell zu sein. […] Zwar läuft alles auf hohem

Niveau weiter, doch scheint es keine substanziellen Ziele mehr zu geben, sondern es gilt, Kri-

sen zu managen, Misserfolge zu vermeiden, Konflikte stillzustellen, Geld zu verdienen und

sich irgendwie zu amüsieren (sofern all das noch gelingt). Dies ist ein Zustand latenter Melan-

cholie […]. Zu besichtigen ist eine eigentümliche Ermüdung von Handlungsschwung inmitten

eines historisch exorbitanten Niveaus von Potenzialität.“30

Es kann demnach, wie von Arendt und auch Reckermann konstatiert, aufgrund von

Entfremdungsgefühlen und einem existentielle ‚Zuwenig‘ an Handlungsspielraum zu

melancholischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft kommen, aber ebenso ursäch-

lich kann, und hierfür spricht Böhme sich aus, ein ‚Zuviel‘ – im Sinne des Zusam-

menstoßes von scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten auf der einen und individuel-

len Grenzerfahrungen auf der anderen Seite – zu einer Handlungshemmung ganz im

Stile der Melancholie führen. Und diese ‚Formen‘ der Melancholie als Ausdruck

einer spätmodernen Entfremdung, aber auch Erschöpfung, sowie ihre kritischen

‚Qualitäten‘ über die mediale Funktion hinaus werden zum Gegenstand der vorlie-

genden Arbeit. Es geht um die Verbindung einer sich wandelnden Arbeitsrealität der

Spätmoderne mit der Melancholie resp. einer melancholischen Ästhetik in der Litera-

tur; eine Verbindung, hergestellt von Texten, die sich auf eine jeweils eigene Weise

in den, durchaus sehr unterschiedlich ausgestalteten, melancholischen Kontext einfü-

gen bzw. über die Melancholie zu einer jeweils eigenen Kritik an subjektiv als defizi-

tär wahrgenommenen Zuständen kommen und in ihr etwas zum Ausdruck bringen,

was womöglich nur so, in der Literatur und über die Melancholie, ausgedrückt wer-

den kann.

Wenn Ulrich Beck mit Blick auf die von ihm als ‚krisenhaft‘ beschriebene Ar-

beitsgesellschaft vermerkt, die aktuelle conditio humana zeichne sich in erster Linie

durch „‚Ambivalenz‘, ‚Unschärfe‘, [und] ‚Widerspruch‘“ aus und eine gewisse „Rat-

losigkeit“ mache sich breit31

, dann erweist sich die Melancholie aufgrund ihrer Be-

griffsgeschichte als passendes Paradigma32

, um eben dies zum Ausdruck zu bringen

sind erstens ungleich mit anderen; sie sind zweitens ungleich mit sich; und ungleich mit

sich selbst ist drittens die mélaina cholé, die schwarze Galle, nach der sie heißen […]. Hie-

rin kündigt sich die moderne Erfahrung der Selbstentzweiung an.“ Theunissen (1996):

Vorentwürfe von Moderne, S. 12-13, Herv. i.O.

29 Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 226.

30 Hartmut Böhme: „Hilft das Lesen in der Not? Warum unsere Wirtschaftskrise eine Krise

der Moderne ist.“ In: Zeit Literatur Nr. 12, 12.03.2009, S. 28-35: 30.

31 Ulrich Beck „Modell Bürgerarbeit.“ In: Ders. (Hg.): Schöne neue Arbeitswelt. Vision:

Weltbürgergesellschaft. Frankfurt/M., New York, NY: Campus 21999, S. 7-189: 27.

32 So konstatiert Wagner-Egelhaaf, bei der Melancholie handele es sich nicht um ein „Motiv

der Literatur wie andere, zum Beispiel der Wald oder die Liebe, auch nicht [um] eine in der

Literatur zum ‚Ausdruck‘ gebrachte Befindlichkeit des Autors“; stattdessen sei die Melan-

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16 | Arbeit und Melancholie

und darüber Kritik zu äußern. Entsprechend nennt René Derveaux sie ein „Medium

der Interpretation postmoderner Zersetzungsprobleme“.33

Und wenn Roland Lamb-

recht schreibt, die Melancholie bleibe aufgrund ihrer Unbestimmtheit „ein defizitärer

Begriff der Conditio humana“34

, so erwidere ich entsprechend: Die Melancholie ist

und bleibt der Begriff einer defizitären conditio humana.

1.1 ARBEIT UND MELANCHOLIE: EINE ENGFÜHRUNG I

Ein erster Blick auf die zentralen Begriffe meiner Forschung – Melancholie auf der

einen und Arbeit auf der anderen Seite – offenbart ein asymmetrisches Verhältnis. So

ist ‚Arbeit‘ vorrangig als eine Praktik zu verstehen, wobei ihre Geschichte zahlreiche,

zum Teil recht unterschiedliche Konzepte bereithält, die kulturell konstruiert sind35

;

Melancholie hingegen lässt sich als eine ‚Geisteshaltung‘ bezeichnen, die einen spe-

zifischen Zugang zur Welt prägt. Wenn man diese beiden Begriffe nun zusammen-

nimmt, ergibt sich zunächst ein oppositionelles Verhältnis, ist doch das Verständnis

von Arbeit mit Begriffen wie „Produktivität und Tätigkeit“, Handeln, Aktivität, Ge-

schäftigkeit und vita activa verbunden – Melancholie wird hingegen mit „deren Ab-

cholie ein „Paradigma“, also eine Denkweise, Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie

in der Literatur, S. 4-5.

33 René Derveaux: Melancholie im Kontext der Postmoderne. Anthropologische Implikatio-

nen der Postmoderne unter besonderer Berücksichtigung der Melancholieproblematik.

Berlin: wvb 2002, S. 12.

34 Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 32, Herv. N.V.

35 Michael Aßländer zeichnet in seiner Schrift Von der vita activa zur industriellen Wert-

schöpfung aus wirtschaftssoziologischer Perspektive nach, wie die Arbeit zunächst als

‚Wirtschaften‘ um des Überlebens willen ein „Naturphänomen“ darstellte, ehe sie, im Zuge

der Neuzeit durch den Einfluss kulturell bedingter Zuschreibungen und Werthaltungen, ei-

ne Existenz jenseits der bloßen Existenzsicherung erhielt, also zu einem ‚Kulturphänomen‘

wurde (Michael Aßländer: Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Eine Sozi-

al- und Wirtschaftsgeschichte menschlicher Arbeit. Marburg: Metropolis 2005, S. 255.

Vgl. auch Claudia Lillge: Arbeit. Eine Literatur- und Mediengeschichte Großbritanniens.

Paderborn: Fink 2016, S. 17-22). Ausf. zum Arbeitsbegriff vgl. zudem Andrea Komlosy:

Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert. Wien: promedia 2014.

Vgl. des Weiteren Carolin Freier: „Zeitreise durch die Arbeitswelt. Kulturen der Arbeit im

Wandel.“ In: Susanna Brogi et al. (Hg.): Repräsentationen von Arbeit. Transdisziplinäre

Analysen und künstlerische Produktionen. Bielefeld: transcript 2013, S. 35-58, John W.

Budd: The Thought of Work. Ithaca, NY, London: Cornell University Press 2011, Manfred

Füllsack: Arbeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2009, Dirk Baecker (Hg.): Archäologie der

Arbeit. Berlin: Kadmos 2002, Angelika Krebs: Arbeit und Liebe. Die philosophischen

Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, Jan Kruse: Geschichte

der Arbeit und Arbeit als Geschichte. Münster: LIT 2002, Josef Ehmer: „Zur Geschichte

der Arbeit. Begriffe – Problemlagen – Perspektiven.“ In: Sozialwissenschaftliche Informa-

tionen 30/4 (2001), S. 12-21 sowie Rainer Hank: Arbeit – Die Religion des 20. Jahrhun-

derts. Frankfurt/M.: Eichborn 1995.

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Einleitung | 17

wesenheit“ konnotiert.36

Vereint ‚Arbeit‘ damit die im heutigen Werteverständnis

positiv besetzten Begriffe auf sich37

, ergeben sich aus der langen Historie der Melan-

cholie vornehmlich ambivalente bis negative Zuschreibungen: „Weltschmerz,

Schwermut, Trauer, Tristesse, Wehmut, Schwarzgalligkeit, Niedergeschlagenheit,

Traurigkeit, Betrübnis, Langeweile, Trübsinn, Gram, Depression, Hypochondrie,

Pessimismus, Nihilismus, Defätismus, Schwarzseherei, Verzagtheit, Freudlosigkeit,

Bedrückung, Grübelzwang, Manie.“38

Diese Begriffe listet Volker Friedrich in sei-

nem einschlägigen Buch Melancholie als Haltung auf, wobei es noch Verzweiflung,

Zaudern, Acedia, Trägheit, Faulheit, Müdigkeit, Fatigue, Ennui, Nostalgie und auch

‚Drift‘ sowie Burnout zu ergänzen gilt. Aber auch die Konnotationen Muße, Müßig-

gang und vita contemplativa rechtfertigt die Begriffsgeschichte.

Die Sichtung des Forschungsstands zeigt, dass zwar zu beiden Begriffen umfas-

sende Forschungsarbeit vorliegt und auch die Beziehungen zu ‚verwandten‘ Begrif-

fen bereits verhandelt wurden39

, der Blick sich dabei jedoch nicht wesentlich auf ihr

36 Jörn Etzold u. Martin Jörg Schäfer: „Zum Geleit: Politiken, Konzepte, Ästhetiken von

‚Nicht-Arbeit‘.“ In: Dies. (2011): Nicht-Arbeit, S. 8.

37 Vgl. Brian Vickers: „Introduction.“ In: Ders. (Hg.): Arbeit. Musse. Meditation. Betrach-

tungen zur Vita activa und Vita contemplativa. Zürich: Verlag der Fachvereine 1985, S. 1-

19: 1.

38 Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 14.

39 So finden sich zahlreiche Publikationen zum Verhältnis von Melancholie und Depression

oder zu weiteren pathologischen Zuständen, wie zum Beispiel Hypochondrie oder ‚Wahn-

sinn‘, vgl. Johann Glatzel: „Melancholie – Literarischer Topos und psychiatrischer Krank-

heitsbegriff.“ In: Lutz Walther (Hg.): Melancholie. Leipzig: Reclam 1999, S. 200-215,

Stanley W. Jackson: Melancholia and Depression. From Hippocratic Times to Modern

Times. London, New Haven, CT: Yale University Press 1986 sowie Michael Schmidt-

Degenhard: Melancholie und Depression. Zur Problemgeschichte der depressiven Erkran-

kungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1983. Auch der Band

von Christoph Mundt et al. (Hg.): Depressionskonzepte heute: Psychopathologie oder Pa-

thopsychologie? Berlin u.a.: Springer 1991 versammelt zahlreiche Beiträge, die sich des

Begriffes der ‚Melancholie‘ bedienen. Den Zusammenhang von Melancholie und Lange-

weile beschreiben Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 43-75, 101-158, Láz-

ló F. Földényi: Melancholie. München: Matthes & Seitz 1988 [1984], S. 198-203, Annette

Weber-Möckl: „Langeweile als Adelsprivileg. Melancholie in der höfischen Gesellschaft.“

In: Journal für Geschichte 1 (1987), S. 31-73, Ludwig Völker: Langeweile. Untersuchung

zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs. München: Fink 1975, S. 47-49, 128-135 und

Walter Rehm: Gontscharow und Jacobsen oder Langeweile und Schwermut. Göttingen:

Vandenhoeck & Ruprecht 1963. Zum Verhältnis von Melancholie und Ennui vgl. Peter

Bürger: „Der Ursprung der ästhetischen Moderne aus dem ennui.“ In: Heidbrink (1997):

Entzauberte Zeit, S. 101-143, Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 216-217,

Henning Mehnert: Melancholie und Inspiration. Begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche

Untersuchung zur poetischen „Psychologie“ Baudelaires, Flauberts und Mallarmés. Hei-

delberg: Carl Winter Universitätsverlag 1978, S. 135-156 sowie Völker (1975): Langewei-

le, S. 44, 66-67, 85, 121-123, 135-146. Zum Verhältnis von Faulheit und Melancholie vgl.

Földényi (1988): Melancholie, S. 203-205. Darüber hinaus gibt es umfangreiche For-

schung, die an die philosophische Tradition der Melancholie anknüpft und sie im Kontext

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18 | Arbeit und Melancholie

spezifisches Verhältnis zueinander richtet40

– und dieser Ansatz ist nicht ohne Be-

rechtigung. Bereits im Mittelalter wurde die Acedia, eine ‚monastische‘ Form der

Melancholie, dezidiert als Nicht-Arbeit illustriert41

, und Arbeit gilt seit der Frühzeit

der Melancholie als deren „Antidot“42,

als ein Heilmittel gegen die melancholische

Verzweiflung. Entsprechende Ratschläge lassen sich u.a. bei Robert Burton, Martin

Luther oder Thomas Carlyle finden.43

Eindrückliche Beispiele liefern auch die von

künstlerischer Tätigkeit, Kreativität und Inspiration verhandelt, vgl. u.a. Gisela Dischner:

„Melancholie und Müßiggang – Eine Zustandsbeschreibung.“ In: Mirko Gemmel u. Clau-

dia Löschner (Hg.): Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Litera-

tur. Berlin: Ripperger & Kremers 2014, S. 7-16, Gisela Dischner: Wörterbuch des Müssig-

gängers. Basel, Bielefeld: Edition Sirius 2009, S. 192-197 zum Verhältnis von Melancho-

lie und Müßiggang, Barbara Smitmans-Vajda: Melancholie, Eros und Muße. Das Frauen-

bild in Nietzsches Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999 zu Melancholie

und Muße sowie Mehnert (1978): Melancholie und Inspiration.

40 Das Verhältnis von Arbeit und Melancholie betrachten u.a. Lepenies (1998): Melancholie

und Gesellschaft sowie Antje Wittstock: „Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei

Bartholomäus Sastrow.“ In: Corinna Laude u. Gilbert Heß (Hg.): Konzepte der Produktivi-

tät im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Eine Einleitung. Berlin: Akademie

Verlag 2008, S. 119-140. Die Forschungsliteratur zu Marsilio Ficino und zu Albrecht Dü-

rers Melencolia I enthält ebenfalls entsprechende Angaben, behandelt die Engführung der

beiden Begriffe jedoch als einen Aspekt unter vielen, allen voran Klibansky/Panofsky/Saxl

(1992): Saturn und Melancholie. Eine Betrachtung der Melancholie vor einem ökonomi-

schen Hintergrund liefern u.a. Lars Distelhorst: Leistung. Das Endstadium der Ideologie.

Bielefeld: transcript 2014 sowie Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne.

41 Vgl. Kap. 2.2.

42 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 233.

43 Robert Burton schreibt in seiner Anatomy of Melancholy (1621): „I write of Melancholy,

by being busie to avoid Melancholy. There is no greater cause of Melancholy then idleness,

no better cure than businesse, as Rhasis holds: and howbeit, stultus labor est ineptiarum, to

be busied in toyes is to small purpose, yet heare that divine Seneca, better aliud agere

quám nihil, better doe to no end then nothing. I writ therefore, & busied my selfe in this

playing labor, otiosâque diligentiâ ut vitarem torporum feriandi with Vectius in Macrobius,

atque otium in utile verterem negotium.“ (Robert Burton: The Anatomy of Melancholy Bd.

1. Hg. v. Thomas C. Faulkner, Nicolas K. Kiessling u. Rhonda L. Blair. Oxford: Clarendon

Press 2005 [1621], S. 6-7, Herv. i.O.). In ganz ähnlicher Weise gilt für Martin Luther, der

protestantischen Ethik entsprechend, „‚vil[] arbeit‘“ als ein bewährtes Heilmittel gegen die

Melancholie (Martin Luther: „Predigt über die sieben Todsünden.“ In: Ders.: Martin Lu-

thers Dekalogpredigten. Übers. v. Sebastian Münster. Hg. v. Michael Basse. Köln, Wei-

mar, Wien: Böhlau 2011 [1518], S. 174-182: 179. Vgl. dazu Christine Göttler u. Anette

Schaffer: „Die Kunst der Sünde: die Wüste, der Teufel, der Maler, die Frau, die Imaginati-

on.“ In: Fabienne Eggelhöfer, Claudine Metzger u. Samuel Vitali (Hg.): Lust und Laster.

Die 7 Todsünden von Dürer bis Naumann. Ostfildern: Hatje Cantz 2010, S. 42-61: 46).

Thomas Carlyle – für den das gesamte Universum ein einziges „Workhouse“ darstellt –

konstatiert in seinem 1843 erschienenen Buch Past and Present „[a]ll work, even cotton-

spinning, is noble; work is alone noble [...]“; wogegen „a life of ease is not for any man,

nor for any good.“ Und er fordert von seinen Zeitgenossen, in Fehldeutung eines Goethe-

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Einleitung | 19

Lepenies analysierten archistischen Utopien, deren Autoren das für ihre Entwürfe so

zentrale Arbeitsdiktum mit einem „Melancholieverbot“44

verschränken. Als weiteres

Exempel für ein oppositionelles Verhältnis von Arbeit und Melancholie nennt Lepe-

nies die Melancholie des Adels am französischen Hof des 17. Jahrhunderts, der, von

jeglicher Arbeit befreit, in der ihm zugedachten melancholierenden Langeweile

schwelgte.45

Arbeit als Heilmittel ist dem gelangweilten Adel selbstverständlich

verwehrt und wird erst dem Bürgertum des 18. Jahrhunderts wieder zunehmend

empfohlen: „Der entlastete Adel dokumentiert seine Langeweile. Das Bürgertum

bekämpft eben diese“, und dies vor allem durch „das einfache Tun in seiner ganzen

Banalität und platten Wirksamkeit“.46

Im Bann eines oppositionellen Verständnisses

zeigt sich auch die Psychiatrie sowie die Psychoanalyse des beginnenden 20. Jahr-

hunderts, die bei den von Melancholie Betroffenen eine Unfähigkeit zur Arbeit, eine

„[A]rbeitsscheu[e]“, oder auch -unlust verzeichnet.47

Zweifelsohne wird in diesen Kontexten die Melancholie als eine gesellschaftliche

Anomie gesehen, deren Ursachen zwar sehr unterschiedlicher Natur sein können, der

aber in jedem Fall beizukommen ist. Die positive Wirkkraft zur Gesundung wird nur

der Arbeit zugeschrieben, und diese Art der Gegenüberstellung zeigt ihren Einfluss

bis hinein in aktuelle Ratgeber zur Therapie von Depressionen. Lepenies vermerkt

entsprechend, es handele sich um einen

„Topos in der Melancholiegeschichte. Man soll etwas tun, man soll arbeiten, um seiner Melan-

cholie Herr zu werden. Das hängt natürlich damit zusammen, dass der Mensch, anthropolo-

gisch gesehen, definiert wird – völlig zu Recht – als das handelnde Wesen. Der Mensch muss

handeln. Der Mensch muss etwas tun, was übrigens nicht heißt, er muss arbeiten. Arbeit ist

nicht Handeln. Aber Arbeit ist eine wichtige Unterform des Handelns, und im 19. Jahrhundert

ging man in der Tat davon aus, dass Arbeit ein Gegenmittel gegen die Melancholie sei, ist

übrigens ein Teil auch immer der Therapie gewesen bei der Depression.“48

Diesen Topos schreibt Lepenies selbst weiter, wenn er in dem 1998 publizierten

neuen Vorwort seiner Promotionsschrift Melancholie und Gesellschaft prognosti-

ziert: „Das heute drohende Verschwinden der Erwerbsarbeit wird [...] massenhaft

melancholische Dispositionen freisetzen [...]. In der Nichtarbeitergesellschaft der

Zukunft wird damit zugleich die Melancholie ihr Signum als Temperament der Elite

verlieren und zum Allgemeinbefinden herabsinken.“49

In diesem Verständnis er-

scheinen Arbeit und Melancholie ebenfalls als zwei konträre Seiten im Rahmen von

umfassenden Lebensentwürfen und die Melancholie resultiert aus einem ‚Zuwenig‘

(an Arbeit), statt, wie etwa bei Böhme, aus einem ‚Zuviel‘ (an Möglichkeiten).

Zitats: „Work, and despair not.“ Thomas Carlyle: Past and Present. Hg. v. H. D. Traill.

London: Oxford University Press 1965 [1843], S. 141, 158, 139.

44 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XXI. Vgl. ausf. Kap. 2.6.

45 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 69.

46 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 203, 188 und vgl. S. 70.

47 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 210 und vgl. 209-211.

48 Lepenies im Interview mit Hatting (2006): ‚Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches

Problem‘.

49 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XX.

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20 | Arbeit und Melancholie

Dort, wo Arbeit als „Arznei gegen die konstitutionelle Depression“ oder als „Pallia-

tiv gegen Melancholie“ gilt, wird sie zumeist mit Handeln gleichgesetzt und zum Teil

sogar auf körperliche Tätigkeit begrenzt.50

In den postfordistischen Arbeitsformen des

Dienstleistungssektors und der New Economy – in denen eine flexibilisierte und ent-

grenzte Arbeit zunehmend ihre Kontur verliert, körperliche durch geistige Tätigkeit

abgelöst wird, welche zusätzlich oftmals sitzend und nur mit minimalem Bewegungs-

aufwand stattfindet – stellt sich die Frage, inwiefern Arbeit ihrer Rolle als ‚Antidot‘

noch gerecht werden kann, oder ob sie nicht vielmehr selbst Melancholie evoziert.

Dabei ist es ein zentraler Aspekt des Selbstverständnisses der kapitalistisch geprägten

Arbeitsgesellschaft mit ihrer Forderung einer alternativlosen vita activa, jeglichem

melancholischen Zweifel entgegenzuwirken.51

So verbindet sich mit dem Freiheits- und

Demokratieverständnis der westlichen Arbeitsnationen der Gedanke, den Menschen ein

Leben in relativer Sicherheit zu ermöglichen und damit die Voraussetzung für ein

‚glückliches Leben‘ zu erschaffen, das rasch in eine ‚Norm‘ oder gar in eine „Pflicht“

umschlagen kann, wie Wilhelm Schmid in seinem schmalen Band Unglücklich sein.

Eine Ermutigung kritisiert.52

Die Melancholie wurde aber gerade dann zum „europäi-

schen topos“, so Lepenies, als der Kapitalismus sich durchzusetzen vermochte und die

vita activa damit zur einzig möglichen Lebensform wurde, während die vita contempla-

tiva zunehmend unter „Rechtfertigungszwang“ geriet.53

Wie diese kurzen Ausführungen zur spätmodernen Melancholie sowie zur condi-

tio der aktuellen Arbeits- und Leistungsgesellschaft zeigen, erschöpft sich das Ver-

hältnis von Arbeit und Melancholie keineswegs in einer Opposition und in der Fest-

stellung, es handele sich um „kontrastive Konzepte“.54

Vielmehr wird ein wechselsei-

tiger Zusammenhang offenbar, den Jörn Etzold und Martin Jörg Schäfer auf den

Punkt bringen:

„Das ‚andere‘ der Arbeit kann (zumindest unter den Bedingungen der westlichen Moderne)

ohne irgendeinen Bezug auf die ‚Arbeit‘ wohl nicht gedacht werden. Ob die ‚Freizeit‘, der

‚Müßiggang‘ oder die ‚Faulheit‘ […]: In allen Begriffen oder Konzepten, die gegen (und gegen

welche ihrerseits) die ‚Arbeit‘ seit dem 18. Jahrhundert ins Spiel gebracht wurden, findet sich

50 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 233, 208. und vgl. S. 188-189.

51 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XIX.

52 Wilhelm Schmid: Unglücklich sein. Eine Ermutigung. Berlin: Insel 2012, S. 7.

53 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XIX, Herv. i.O. Lepenies bezieht sich

hierbei auf die Selbstbenennung der europäischen ‚Intelligenz‘, des „homo europaeus intel-

lectualis“ (S. XVIII, Herv. i.O.). Er schreibt: „Die Melancholie ist die Stimmung alter Zivili-

sationen […]“; sie gehöre „zur europäischen Identität ebenso sehr […] wie ursprünglich der

vor Gesundheit strotzende Wille zur Welteroberung, der heute eher den homo americanus

prägt.“ (S. XVIII-XIV, Herv. i.O.). Die Melancholie habe mit dem „welterschließenden Zwei-

fel der europäischen Moderne“ begonnen und sich schließlich in eine „weltabgewandte Me-

lancholie“ zugespitzt (S. XIX). Jean Clair und Peter-Klaus Schuster sprechen übereinstim-

mend von der „Geburt der Melancholie aus dem Geist und der Krise der europäischen Kul-

tur.“ Jean Clair u. Peter-Klaus Schuster: „Vorworte II.“ In: Jean Clair (Hg.): Melancholie.

Genie und Wahnsinn in der Kunst. Ostfildern: Hatje Cantz 2005, S. 12-13: 12.

54 Wittstock (2008): Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow, S.

121.

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Einleitung | 21

[…] stets ein Rückbezug auf die ‚Arbeit‘. Sie erscheinen oft als Spiegelbilder der bekämpften

‚Arbeit‘ oder zumindest als unauflöslich mit ihr verschränkt.“55

In ähnlicher Weise, wie es Etzold und Schäfer hier beschreiben, hat sich die Melancho-

lie in ihrer langen Historie wiederholt als ein solches „Komplementärphänomen“56

erwiesen; ein Umstand, den auch Ulrich Horstmann vermerkt: „Melancholie war ihnen

immer schon das ganz andere ihrer selbst, den Gläubigen die gottlose Verzweiflung,

den Heilenden das chronische Siechtum, den Geistreichen der Ungeist, der wider Ver-

nunft, Fortschritt, Freiheit löckt, den Pragmatikern die Tatenlosigkeit, den Planern die

Obstruktion.“57

Beschreibt Horstmann Fremdzuschreibungen, welche gleichsam von

‚außen‘ an die Melancholie herangetragen werden, so erfolgt die komplementäre Posi-

tionierung durchaus auch im Sinne einer Selbstzuschreibung, in Folge derer die melan-

cholische Haltung eine skeptische bis intervenierende Rolle einnimmt.

Mein Ansatz ist nun, das reziproke Verhältnis der beiden Begriffe in den Fokus

der wissenschaftlichen Betrachtung zu rücken und dabei zunächst eine kurze Kultur-

geschichte von ‚Arbeit und Melancholie‘ nachzuzeichnen, welche die wechselvolle

Geschichte der melancholischen Haltung gegenüber dem, was in der jeweiligen Epo-

che als Arbeit benannt wurde, nachzeichnet und darüber hinaus auch das Melancho-

lieverständnis der jeweiligen ‚Arbeitsapologeten‘ in den Blick nimmt. Ausgehend

von der Antike als Ursprung des Melancholiebegriffes (Kap. 2.1) wird der Weg

führen über: die Acedia des Mittelalters mit ihrer einflussreichen Bildtradition (Kap.

2.2); die protestantische Trägheit und den hochmittelalterlichen wie frühneuzeitli-

chen Müßiggang (Kap. 2.3), die beide die arbeitsfeindliche Dimension der Acedia

übernehmen; die Aufwertung der Melancholie im Genie-Begriff der Renaissance-

Humanisten (Kap. 2.4), deren Engführung von Arbeit und Melancholie sich u.a. in

Albrecht Dürers Meisterstich Melencolia I (Kap. 2.5) sowie in den Selbstdarstellun-

gen humanistischer Gelehrter wiederfindet (Kap. 2.6); die Melancholiefeindlichkeit

der Aufklärer (Kap. 2.7), die ihren Einfluss auf den Emanzipationsprozess des Bür-

gertums zeigt, das zwischen melancholischer Selbstbenennung und Arbeitsethos

schwankt, sowie das ‚Arbeitslob‘ zu Zeiten der Industrialisierung, das Formen der

Nicht-Arbeit rigoros exkludiert, woraufhin die Melancholie in die Bereiche der Kunst

‚abwandert‘ (Kap. 2.8); die entsprechende Verweigerung der Dandys und Flaneure

(Kap. 2.9); die sich zunehmend passiv gerierende Melancholie in der Literatur der

Moderne (Kap. 2.10); bis hin zur Auseinandersetzung mit spätmodernen Formen der

Melancholie (Kap. 2.11). Dieser Weg macht deutlich, dass der melancholischen

Geisteshaltung dabei nicht nur die von ‚außen‘ zugeschriebene Rolle eines Gegenbil-

des, sondern auch die selbstgewählte Aufgabe einer kritischen Gegenposition zu-

kommt und sie sich immer dann besonders endemisch erweist, wenn das Arbeitsge-

bot allzu emphatisch oder rigoros verkündet wird.

Die zentralen Texte und Werke der Kulturgeschichte der Melancholie lassen sich

dabei oftmals auch als Reflexion über das Verhältnis von Arbeit und Melancholie

lesen, wie es bei Robert Burton, aber auch Marsilio Ficino und Albrecht Dürer der Fall

55 Etzold/Schäfer (2011): Zum Geleit, S. 7.

56 Wolfgang Kramer: Technokratie als Entmaterialisierung der Welt. Zur Aktualität der

Philosophien von Günther Anders und Jean Baudrillard. Münster: Waxmann 1998, S. 109.

57 Horstmann (1985): Der lange Schatten der Melancholie, S. 203.

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22 | Arbeit und Melancholie

ist; ein Umstand, der den engführenden Ansatz zusätzlich bestätigt. Einen Anspruch auf

Vollständigkeit erhebt das kulturgeschichtliche Kapitel keineswegs; aber sie stellt den

in der Arbeitsforschung bereits mehrfach geschriebenen „Meistererzählung[en]“58

eine

differenzierende Perspektive gegenüber, die den Diskurs um Arbeit durch die ‚Hinzu-

nahme‘ der Melancholie analytisch schärft und gleichzeitig perspektivisch erweitert.

Die Kulturgeschichte dient schließlich als Referenzrahmen für die Textanalysen des

dritten Kapitels, in welchem Romane des 20. und 21. Jahrhunderts und damit der ästhe-

tische Zugriff auf den skizzierten Diskurs in das Zentrum der Betrachtung rückt. Zeigen

sich ausgehend von der Antike bis zur Gegenwart immer wieder wechselseitige Bezug-

nahmen, so erhält die Verbindung von Arbeit und Melancholie mit der Häufung von

passiven Protagonisten gerade in literarischen Texten, die sich mit der scheinbar zu-

nehmend problematisch werdenden Verortung des Menschen in der Arbeitswelt ausei-

nandersetzen, eine neue Dimension, welche – jenseits eines linearen Determinismus –

im Hinblick auf die zeitdiagnostische Qualität der Melancholie zu bewerten ist.

1.2 MOTIVGESCHICHTLICHE ÜBERLEGUNGEN

Zur Affinität, resp. zur Abneigung, mit welcher die Schriftsteller der Gegenwartslite-

ratur dem Arbeits-Sujet begegnen, ist bereits vieles geschrieben worden.59

An dieser

Stelle soll lediglich konstatiert werden, dass sich, literaturgeschichtlich gesehen, ab

58 Komlosy (2014): Arbeit, S. 12.

59 Vgl. ausf. Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 16-50 zur

angeblichen „Arbeitsscheu“ der Literatur (S. 16), den Gründen dafür sowie den unterschiedli-

chen ‚Phasen‘ innerhalb der literarischen Auseinandersetzung mit dem Sujet. Einen Überblick

liefert auch Hans-Martin Plessker: Beruf und Arbeit in deutschsprachiger Prosa seit 1945.

Ein bibliografisches Lexikon. Stuttgart: Anton Hiersemann 1997. Vgl. auch Thorsten Unger:

„Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur. Texte dreier Jahrhundertwenden.“ In: Brogi et al.

(2013): Repräsentationen von Arbeit, S. 57-86, Viviana Chilese: „Menschen im Büro: Zur

Arbeitswelt in der deutschen Gegenwartsliteratur.“ In: Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und

Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neu-

mann 2008, S. 293-303, Walter Fähnders: „Arbeit in der Literatur. Einführung.“ In: Dagmar

Kift u. Hanneliese Palm (Hg.): Arbeit – Kultur – Identität. Zur Transformation von Arbeits-

landschaften in der Literatur. Essen: Klartext 2007, S. 33-35 und Harro Segeberg (Hg.): Vom

Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen

Literatur. Tübingen: Niemeyer 1991. Zum Verhältnis von Literatur und Ökonomie, welches

automatisch mitverhandelt wird, sobald der literaturwissenschaftliche Blick auf das Sujet ‚Ar-

beit‘ fällt, vgl. Annemarie Matthies u. Alexander Preisinger: „Literarische Welten der Öko-

nomisierung. Gouvernementale Schreibweisen im Gegenwartsroman.“ In: Torsten Erdbrüg-

ger, Ilse Nagelschmidt u. Inga Probst (Hg.): Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Ar-

beitskulturen in medialer Reflexion. Berlin: Frank & Timme 2013, S. 137-150, Dirk Hempel

u. Christine Künzel (Hg.): Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirt-

schaft. Frankfurt/M.: Campus 2011 und Dies. (Hg.): „Denn wovon lebt der Mensch?“ Litera-

tur und Wirtschaft. Berlin u.a.: Peter Lang 2009. Letztere liefern zudem einen guten Über-

blick über den Forschungsstand.

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Einleitung | 23

der industriellen Moderne eine Häufung der künstlerischen Auseinandersetzung mit

gesellschaftlichen Arbeitswelten zeigt.60

In Analogie dazu regt auch der aktuelle

Wandel der Arbeitswelt die Auseinandersetzung mit der ökonomischen Sphäre an.61

Dass dabei ein reziprokes Verhältnis existiert, beschreibt Claudia Lillge in ihrer

Betrachtung des Arbeits-Sujets wie folgt:

„Mediale Artefakte stellen besondere Archive von Arbeitskulturen dar. Sie zeigen, wie zeithis-

torische Deutungen, Wertungen und Politiken von Arbeit entstehen oder auch programmatisch

etabliert werden, sie verweisen auf deren Brüche und Widersprüche, erzeugen kulturelle Beun-

ruhigungen und Irritationen und eignen sich – im Sinne eines ‚kulturellen Imaginären‘, das

dynamisierend oder verändernd auf das kulturelle Feld rückwirken kann – als Artikulationsort

von noch nicht kulturfähigen Vorstellungen und Fantasiebeständen.“62

Neben dem Sujet der Arbeit erweist auch die Melancholie in gewissem Maße ihre

Aktualität, wie eine Reihe von ‚Lesebüchern‘ zeigen, die in den letzten Jahren er-

schienen sind bzw. erneut aufgelegt wurden.63

In ihnen bildet sich ab, dass die Me-

lancholie nicht zu erschließen ist, ohne ihre literarische Darstellung über die Jahr-

hunderte hinweg zu betrachten. Martina Wagner-Egelhaaf hebt in ihrer motivge-

schichtlichen Betrachtung entsprechend die „Geschlossenheit des sich seiner eigenen

Traditionalität bewußten Melancholie-Paradigmas“ hervor und beschreibt: „Noch

wer sich im 20. Jahrhundert melancholisch dünkt, wird nicht versäumen, auf den

pseudo-aristotelischen Proto-Satz aller Melancholietheorie [...] zu verweisen noch

vergessen, an Dürers Melencolia I zu erinnern.“64

60 Vgl. Gerd Stein: „Vorwort.“ In: Ders. (Hg.): Verrat und Solidarität. Kulturfiguren und

Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts Bd. 1: „Lumpenproletarier – Bonze – Held

der Arbeit.“ Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1985, S. 9-19: 9-10.

61 Vgl. Heimburger (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik, S. 69-83 sowie

Susanna Brogi et al.: „Arbeit und ihre Repräsentation.“ In: Dies. (2013): Repräsentationen

von Arbeit, S. 9-31: 11-12. Ausf. auch Annemarie Matthies: „Defizitmeldungen, Desillusi-

onierungen und Dekonstruktionen. Der kritische Blick auf die Arbeitswelt der Gegenwarts-

literatur.“ In: Brogi et al. (2013): Repräsentationen von Arbeit, S. 331-346 und Hubert

Winkels: „Die Literatur und die Entgrenzung der Erwerbsarbeit.“ In: Walter Gödden (Hg.):

Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung Bd. 9. Bielefeld: Aisthesis 2009, S. 405-

416.

62 Lillge (2016): Arbeit, S. 23.

63 Vgl. Ulrich Horstmann (Hg.): Die Untröstlichen. Ein Melancholie-Lesebuch. Darmstadt:

Lambert Schneider 2011, Walther (1999): Melancholie und Peter Sillem (Hg.): Melancho-

lie oder Vom Glück, unglücklich zu sein. Ein Lesebuch. München: dtv 32006 [1997].

64 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 10. So breit das Spektrum

der in meiner Arbeit verhandelten Jahrhunderte, Disziplinen und Autoren auch ist, eint sie

doch ein bewusster oder unbewusster Rückgriff auf die Topoi der Melancholie, mit ihrer

im kulturellen Bildgedächtnis tief verankerten Metaphorik. Ein aktuelles Beispiel zeigt sich

in der Bildenden Kunst. Es handelt sich um die Videoinstallation REALE RESTE (2007) der

Berliner Formation bankleer, die den „Versuch“ darstellt, Slavoj Žižeks Schrift Die Tücke

des Subjekts auf „aktuelle Tendenzen des Arbeitsmarktes anzuwenden“ (Justin Hoffmann:

„Die Ausstellung Work Fiction.“ In: Ders. (Hg.): Work Fiction. Visionen der Arbeit in

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24 | Arbeit und Melancholie

Doch was macht einen Text melancholisch bzw. wie kommt es dazu, dass ein li-

terarisches Werk „melancholier[t]“?65

Diese Frage führt zu den zentralen Topoi, den

‚Melancholiemarkern‘, die einen Text melancholisch erscheinen lassen, und damit

auch zu den Kriterien der Textauswahl. Ein ganz zentraler Topos ist die Handlungs-

hemmung, welche in der ‚legendären‘ Melancholikerpose (hockend, das Kinn auf die

Faust oder die Hand gestützt, der Blick in die Ferne schweifend) gerinnt.66

Diese

beinhaltet die grüblerische Versunkenheit, die sowohl den Reflexionszwang ein-

schließt als auch die existentielle Dimension des Grübelns, sowie die Zurückgezo-

genheit und Einsamkeit bis hin zur gesellschaftlichen Exklusion bzw. bis zur selbst-

erwählten Abkehr von der Welt. Flankiert wird der Melancholiker dabei bisweilen,

um einen weiteren Topos zu benennen, von einem Hund, der spätestens mit dem

Humanismus zum einschlägigen melancholischen „Begleittier“67

wurde. Im Zuge

seiner (selbstgewählten) gesellschaftlichen Exklusion erhebt der Melancholiker für

sich den Anspruch, gerade durch seine Distanz zur Gesellschaft deren Dilemmata

besonders gut erkennen zu können. Die sich hierbei entfaltende „Außen-Innen-

Dialektik“68

kann dabei gesellschaftlich, aber auch psychisch verstanden werden,

etwa im Sinne Sigmund Freuds, der die Melancholie als einen inkorporierten Verlust

definiert.69

Eine weitere Dichotomie, zu der sich die Melancholie in Bezug setzt, ist

jene von Ordnung und Unordnung, in der das humoralpathologische Verständnis von

Harmonie und Disharmonie, Eukrasie und Dyskrasie aufgeht.70

Damit ist die Melan-

Kunst, Film und Populärkultur. Heidelberg: Kehrer 2007, S. 23-25: 23). Sie besteht aus ei-

nem Video, das den vom Arbeitsmarkt exkludierten Menschen als ‚realen Rest‘ in der Fi-

gur des Zombies abbildet und das darüber hinaus eine von einem Riss durchzogene Wand

zeigt, aus der eine „schwarze Flüssigkeit [dringt]“. Flankiert wird die Videoinstallation von

einer Skulptur, aus deren Helm ebenfalls eine „dunkle zähe Masse“ quillt (Hoffmann

(2007): Die Ausstellung Work Fiction, S. 23), welche deutliche Züge der schwarzen Galle

trägt.

65 Klibansky/Panofsky/Saxl (1992): Saturn und Melancholie, S. 322. Es handelt sich hierbei

um ein im Barock verbreitetes Verb.

66 Wolf Lepenies hat sich in seiner Schrift Melancholie und Gesellschaft ausführlich der

Handlungshemmung gewidmet und beschreibt eine wechselseitige Bedingtheit: „Die me-

lancholische Reflexion entsteht aus der Handlungshemmung und zugleich hemmt sie wei-

teres Tun.“ (Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. XVIII, vgl. auch S. 212).

Die dem Melancholiker vor allem in der philosophischen Tradition zugeschriebenen geisti-

gen Fähigkeiten ermöglichen ihm die Reflexion, seine oftmals von Resignation geprägte

Phantasie eilt der Handlung jedoch voraus und macht sie damit obsolet (vgl. S. 187). Zum

Melancholie evozierenden Denken, Grübeln, Sitzen vgl. auch S. 188-189 sowie zum Zu-

sammenhang von Reflexion und Handlungshemmung vgl. S. 207-213.

67 Hartmut Böhme: Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt/M.:

Fischer Taschenbuch 1989, S. 15. Ausf. hergeleitet wird dieser Topos in Kap. 3.2.2.

68 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 17.

69 Vgl. Sigmund Freud: „Das Ich und das Es.“ In: Ders: Studienausgabe Bd. 3: „Psychologie

des Unbewußten.“ Hg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt/M.: Fischer 1997 [1923], S. 8

273-330: 297.

70 Vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 40-41, 117, 132 sowie

Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 33.

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Einleitung | 25

cholie dazu prädestiniert, zum Vehikel für die Beschreibung gesellschaftlicher Miss-

stände, von Anomien, sprich: von Unordnungen zu werden.71

Sie kann dabei selbst

als ‚Unordnung‘ in einem nonkonformistischen Sinne gelten, der melancholische

Blick auf die Welt ist aber zugleich – und für diese Janusköpfigkeit ist Robert Bur-

tons Anatomy of Melancholy das vermutlich einschlägigste Beispiel – die psychische

Disposition, die ‚Brille‘, durch welche die Unordnung überhaupt erst sichtbar wird.

Neben dieser zeitdiagnostischen Dimension richtet sich die Reflexion des Melan-

cholikers auf eine existentielle Ebene. Er beschäftigt sich in seinen Grübeleien sehr

bewusst und zentral mit dem Vergehen von Zeit, dem Füllen von Zeit, der Unmög-

lichkeit, sie zurückzudrehen; kurzum, es besteht, um es mit Ludger Heidbrinks Wor-

ten zu sagen, ein „Zusammenhang von melancholischer Verstimmung und Zeiterfah-

rung“.72

Dass die vergehende und somit vergängliche Zeit und damit zusammenhän-

gend auch die Frage nach dem Sinn des Lebens den Melancholiker so beständig

beschäftigen, lässt sich aus der ihm – in der Humoralpathologie – zugeschriebenen,

ausgeprägt pathologischen Physis herleiten, die ihn „unter den bleibenden Bedingun-

gen ihrer [der Melancholie] prämorbiden Existenz“73

auf die Welt blicken lässt, was

wiederum zum Topos des Memento mori führt.74

Wurden zuvor mit Langeweile, Verzweiflung und Trauer Begriffe genannt, wel-

che die vermeintlich negative Seite melancholischer Gestimmtheit beschreiben, so ist

die Melancholie durchaus ein Zustand, der auch genossen werden kann. Sie ist ent-

sprechend ambivalent, ja diffus – und diese Diffusität, die die Melancholie durch ihre

Überdeterminiertheit75

selbst in sich trägt, lässt sich ebenfalls als Topos herleiten. So

ist der Melancholiker selbst in einer diffusen Stimmung und vice versa melancholiert

ihn die Diffusität, wie Friedrich bildhaft beschreibt:

71 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 17-75.

72 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 40. Ausf. vgl. auch Toshiaki Kobayashi:

Melancholie und Zeit. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1998 sowie Michael Theunissen:

„Melancholische Zeiterfahrung und psychotische Angst.“ In: Hinrich Fink-Eitel u. Georg

Lohmann (Hg.): Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 [1993], S. 2

334-344, insb. 336.

73 Theunissen (1996): Vorentwürfe von Moderne, S. 21.

74 Vgl. Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 1, 90 sowie Heidbrink

(1994): Melancholie und Moderne, S. 44-48.

75 Wagner-Egelhaaf nennt die Melancholie eine „Universalmetapher“ (Wagner-Egelhaaf

(1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 135) und auch Lambrecht beschreibt diesen Um-

stand sehr anschaulich: „[I]n ihrer substratlosen, zu ‚bodenloser‘ Begriffsakrobatik und poeti-

sierender Spekulation geradezu einladenden metamorphen Metaphorik, in ihrer Ungreifbar-

keit, ja Unbegreifbarkeit aufgrund der Grundlosigkeit jener Bezeichnung […] liegt parado-

xerweise ihre Stärke. [...] Alle theoretisch-konzeptionellen Ausbesserungsversuche der Philo-

sophen, Psychologen, Psychiater haben an diesem grundlegenden Defizit ihrer krankheitssig-

nifikanten Generierung letztlich nie etwas zu ändern vermocht […]. Und genau darin beruht

wohl ihre eigentümliche intellektuelle Faszinationskraft: Die ‚/Schwarz-

galligkeit‘ ist gewissermaßen das ‚Schwarze Loch‘ im Universum der menschlichen Selbster-

kundung und Selbsterkenntnis.“ Lambrecht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 32.

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26 | Arbeit und Melancholie

„Der Blick in die Ferne an einem verhangenen Tag verliert sich in einer Art Bläue, manchmal

in einem Flimmern, jedenfalls in Diffusität. Ein ähnlicher Eindruck entsteht bei der Betrach-

tung eines Computerbildschirms aus ein paar Metern Entfernung. Die Stunden vor dem Com-

puter können, bei aller Arbeitsamkeit, die mit ihnen verbunden sein mag, auch etwas Melan-

cholisches vermitteln. Und das Flimmern der Fernsehschirme, das dem nächtlichen Spazier-

gänger durch ein Wohnviertel aus den Fenstern der guten Stuben entgegenleuchtet, stimmt in

seiner Unwirklichkeit seltsam traurig.“76

Die diffus-melancholische Gestimmtheit wird ergänzt durch das Gefühl der ‚Angst‘,

entspringt das Konstrukt der schwarzen Galle ja dem Versuch, „psychische Zustände

wie Angst, Traurigkeit, geistige Verwirrung […] auf natürliche Ursachen zurückzu-

führen.“77

Diese Angst ist, zumindest ab der Moderne, mit einem ausgeprägten „Fata-

lismus“78

sowie einem entsprechenden Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefert-Seins

an eine unwirtliche Welt wie unveränderliche Zukunft verbunden. Statt ‚Fatalismus‘

erscheint hier der Begriff der ‚Kontingenz‘ treffender, den Hartmut Böhme wie folgt

definiert: „Kontingenz meint, dass Angst und Gefahr, Katastrophe und Unglück,

Biografie und Lebensformen, Erfolg und Zufriedenheit nicht mehr durch unverfügba-

re Ordnungen gerahmt sind.“79

Der Melancholiker sieht sich diesem Ordnungsverlust

ausgeliefert, mit dem Gefühl, nicht mehr ordnend, nicht mehr wirklich als Akteur

eingreifen zu können, sondern vielmehr den Entwicklungen ausgesetzt zu sein.

Dieser Verlust an Handlungsmacht korrespondiert mit dem Gefühl, der Welt auch

sprachlich nicht mehr ‚Herr‘ werden zu können und darüber hinaus sich selbst, als

fühlendes Individuum, sprachlich nicht adäquat vermitteln zu können. Dieser

‚Sprachverlust‘ – ein weiterer Topos – verschärft die subjektiv empfundene Einsam-

keit und auch die Fremdheit des Melancholikers.80

1.3 DIE MELANCHOLISCHE GEISTESHALTUNG

IM KONTEXT VON RÜCKZUG UND VERWEIGERUNG

Basierend auf den bisherigen Ausführungen zur Melancholie – vor allem zu ihrem

modernen und spätmodernen Verständnis sowie der Definition als Geisteshaltung –

möchte ich sie mit Blick auf die Literatur als eine ‚Haltung‘ beschreiben, als eine

„Entscheidung, die der Mensch fällt. [...] [E]in Sich-Verhalten-zur-Welt, das nicht

rein zufällig entsteht“81

, um Friedrichs Definition zu zitieren. Diese Haltung kann die

Literatur über die Verwendung der genannten Topoi einnehmen, die sich im Wesent-

lichen auf zweierlei Art offenbaren: Zum einen können es die Progatonisten sein,

welche als ‚melancholische Subjekte‘ gezeigt werden; zum anderen kann aber auch

das Narrativ als Ganzes in der Darstellungstradition der Melancholie stehen, ohne

76 Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 32.

77 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 17.

78 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 48.

79 Böhme (2009): Hilft das Lesen in der Not?, S. 35.

80 Vgl. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 93.

81 Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 145.

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Einleitung | 27

dass die jeweiligen Protagonisten als genuine Melancholiker erscheinen. In beiden

Fällen findet über die Verwendung melancholischer Topoi auf der Ebene der Textin-

tention eine Selbstzuschreibung mit einem bewussten Impetus statt. Und um dieser

melancholischen Haltung – ihren Gründen und ihren ‚Folgen‘ – weiter nachzuspüren,

ist es aufschlussreich, die Melancholie als ein „sozial bedingtes Phänomen“, als eine

„Form der bewussten und z. T. erzwungenen Weltflucht“82

im Sinne Lepenies zu

betrachten.

Lepenies selbst bezieht sich dabei auf die Ausführungen des Soziologen Robert

King Merton, der in seinem Werk Social Theory and Social Structure (1949) fünf

Typen oder Stufen der „individuelle[n] Anpassung“83

beschreibt. Demnach kann der

Mensch, in „Verklammerung […] mit der Gesellschaft“ fünf verschiedene Rollen

einnehmen, die jeweils durch ihren Grad an Akzeptanz oder Ablehnung kulturell-

gesellschaftlicher Ziele sowie der zur Erreichung dieser Ziele genutzten „Mittel“

gebildet werden: In der Rolle der (1.) „Konformität werden Ziele und Mittel […]

akzeptiert“, in (2.) der „Innovation“ werden „Ziele akzeptiert und Mittel abgelehnt“,

im (3.) „Ritualismus“ werden „Ziele abgelehnt und Mittel akzeptiert“, im (4.) „Rück-

zugsverhalten“, welches bei Merton „retreatism“ heißt, werden „Ziele und Mittel

abgelehnt“ und schließlich in der (5.) „Rebellion geschieht das gleiche, nur werden

hier die abgelehnten Mittel und Ziele sofort durch neue ersetzt.“84

Für Lepenies ist

das ‚Rückzugsverhalten‘ von besonderem Interesse, denn es steht „im schärfsten

Gegensatz zur Konformität und Rebellion, zu Verhaltensweisen also, die sich im

Vergleich zueinander auf den Enden eines Kontinuums anordnen lassen“85

, und es

erhält dadurch eine Sonderstellung. Lepenies folgt Mertons Ausführungen weiter und

beschreibt die Menschen, die eben jenes Rückzugsverhalten an den Tag legen, als

„Anomie Praktizierende“, welche sich außerhalb der Gesellschaft positionieren,

deren Teil sie dennoch bleiben, denn ihr „Abweichen beruht auf purer Passivität“ und

führt zur Einsamkeit; zu einem „private[n] und singuläre[n] Dasein.“86

Die Nähe zur

Melancholie, zum melancholischen Rückzug und zur melancholischen Verweigerung

ist damit unverkennbar87

, wobei der ‚retreatism‘ ein apolitisches Verständnis dieser

melancholischen Verweigerung impliziert, erscheint er doch als Rückzug in die Pri-

vatheit, wie ihn auch Helmuth Plessner im Sinn hat, wenn er die „Fluchtwege“ der

Melancholie „in die Hohlräume der Innerlichkeit“ als Gegenentwurf zur „revolutio-

nären Aktion“ definiert.88

Einen anderen Ansatz einer in soziale Zusammenhänge integrierten Melancholie

liefert Heidbrink. Er beschreibt die Melancholie – welche er zu einer „Grundsignatur

der Gegenwart erklärt“, begründet in der „desolaten Verfassung der spätkapitalisti-

82 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. II (Vorsatz).

83 Zit. n. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 9.

84 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 9-10.

85 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 10, Herv. i.O.

86 Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 10-11.

87 Vgl. Lepenies (1998): Melancholie und Gesellschaft, S. 12-15.

88 Helmuth Plessner: „Immer noch Philosophische Anthropologie?“ In: Max Horkheimer

(Hg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum sechzigsten Geburtstag. Frankfurt/M.: Europäi-

sche Verlagsanstalt 1963, S. 65-73: 66. Vgl. dazu Lepenies (1998): Melancholie und Ge-

sellschaft, S. 97-101.

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28 | Arbeit und Melancholie

schen Gesellschaft, ihrer Todeslogik und Überkomplexität“ – als „soziale Stim-

mung“, die „als individuelle Erlebnisform ihre kritische Wirksamkeit entfaltet.“89

In

seinem Sinne ist der melancholische Rückzug folglich keine Flucht in eine apoliti-

sche Passivität, sondern vielmehr selbst politisch. Auch wenn die Melancholie eine

Art des Rückzugs, der passiven Verweigerung jenseits von Rebellion bezeichnet, so

ist sie dennoch eine Form des Widerstands, und der Melancholiker ist, wie Leonhard

Fuest es formuliert, der „Widerständige. Er ist ein unruhiger Geist, er begnügt sich

nicht.“90

Gerade in einer auf das Funktionieren seiner Mitglieder ausgerichteten

Gesellschaft wie der Leistungsgesellschaft entfaltet die Verweigerung ihr subversives

Potential. Werden „Vergessen, Verspätung oder Krankheit“ noch akzeptiert, gelte

dieses für die Verweigerung keinesfalls, konstatiert Stefan Kühl, da sie „das Grund-

prinzip ‚Organisation‘ in Frage“ stelle.91

Und so erscheinen auch gegenwärtige, be-

wusste Formen der Nicht-Arbeit, denen die Leistungsmentalität der Gegenwart keine

eigene „Sphäre“ mehr zuerkennt, immer als „Störungen“ der Arbeit und der Arbeits-

gesellschaft92

; als Anomien.

Für eine entsprechende Melancholie der Verweigerung finden sich mit Blick auf

die Kulturgeschichte zahlreiche Beispiele. So erweist sich Dürers Melencolia I als

eine Arbeitsvermeiderin93

, der romantische Rückzug verweigert sich dem bürgerli-

chen Zweckrationalismus seiner Zeit94

, der Flaneur der Moderne erscheint in einem

ähnlichen Licht95

und auch die Kritische Theorie sieht in der melancholischen Di-

mension ihrer Philosophie eine „edle[] Verweigerung“, die „einzig mögliche Lebens-

form in einer unwirtlichen Zeit.“96

In jedem Fall ist die melancholische Geisteshal-

tung, versteht man sie nun politisch oder apolitisch, als eine Form des ‚Absentismus‘

zu sehen, da sie sich den Anforderungen der sie jeweils umgebenden Gesellschaft

verweigert, ja ihnen entflieht.97

89 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 18-19.

90 Leonhard Fuest im Gespräch mit Maximilian Probst: „‚Werdet Zwerge!‘ Der Hamburger

Literaturwissenschaftler Leonhard Fuest schreibt über die dunklen Seiten des Lebens. Ein

Gespräch über das tägliche Grauen, Trauerarbeit und das Heilmittel der Literatur.“ In:

Die Tageszeitung 29.05.2011. Auf: http://www.taz.de/!5119677/, zuletzt gesehen am

10.11.2015. Ausf. zu den Spielarten der passiven Verweigerung in der Literatur vgl.

Wolfgang Müller-Funk: „Tu nix. Ein kleines Panorama der Arbeitsverweigerung.“ In:

Erdbrügger/Nagelschmidt/Probst (2013): Omnia vincit labor?, S. 427-440 sowie Fuest

(2008): Poetik des Nicht(s)tuns.

91 Kühl (2004): Arbeits- und Industriesoziologie, S. 86.

92 Etzold/Schäfer (2011): Zum Geleit, S. 11.

93 Vgl. Kap. 2.5.

94 Vgl. Kap. 2.7 sowie 2.8.

95 Vgl. Kap. 2.9.

96 Peter-Klaus Schuster: Melencolia I. Dürers Denkbild Bd. 1. Berlin: Gebr. Mann Verlag

1991 [1975], S. 398-399. Ausf. zur Melancholie der Frankfurter Schule vgl. auch Lamb-

recht (1996): Der Geist der Melancholie, S. 156-167.

97 Daheim/Schönbauer beschreiben den Absentismus neben der ‚Affirmation‘ als eine von

zwei Möglichkeiten, sich gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber zu verhalten (vgl.

Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft, S. 90). Ein etwas konkre-

teres Beispiel für einen Absentismus liefert die sogenannte ‚Generation Y‘, die sich zu-

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Einleitung | 29

Dieses Verständnis von Melancholie betont ihre „reaktive Seite“98

in soziologi-

scher Hinsicht. Die psychoanalytische Lesart der Melancholie, vor allem in Folge der

Freud’schen Auseinandersetzung mit ihr, betont diese reaktive Seite auch, definiert

sie aber anders. Hier reagiert die Melancholie auf einen Verlust, der nicht benannt

und dadurch auch nicht ‚verarbeitet‘ werden kann, da der Objektverlust dem Be-

wusstsein entzogen bleibt – etwa, weil er zum Teil eher „ideeller Natur“99

war –

woraufhin das Subjekt das Verlorengeglaubte inkorporiert.

Catriona Mortimer-Sandilands greift dieses Verständnis auf und beschreibt, wie

in der spätmodernen Melancholie durchaus ein realer Verlust betrauert wird, welcher

jedoch seitens der Gesellschaft als „‚ungrievable‘“ tabuisiert ist, da sie – die Gesell-

schaft – die Trauer um „nonhuman beings, natural environments, and ecological

processes“ als unangemessen verweigert.100

Dieses Moment des Nicht-genau-

Benennen-Könnens, was das Objekt bzw. Subjekt der melancholischen Trauer ist,

stellt einen weiteren Topos sowie einen zentralen Bestandteil auch der melancholi-

schen Haltung dar und ist im Hinblick auf die Textanalysen in Kapitel 3 von wesent-

licher Bedeutung. Darüber hinaus korrespondiert es mit der Unmöglichkeit, genau zu

definieren, was die Melancholie selbst eigentlich ist. Lepenies sagt dazu:

„Das Entscheidende ist: Wir wissen es nicht genau, es gibt etwas, was sich unseren Erklä-

rungsversuchen entzieht. Die Melancholie flieht vor uns, wenn wir sie erklären wollen, und ich

glaube, es gibt hier eine Nähe zur Kunst. Das Entscheidende der Kunst, oder jedenfalls der

großen, gelingenden Kunst ist das, was man im Französischen nennt, dieses ‚Je ne sais quoi.‘:

Ich weiß nicht genau, was es ist. Ich glaube, es ist diese Unbestimmtheit, die dann auch Melan-

cholie und Kunst verbindet. Es gibt einen Kern, es gibt ein Geheimnis, und die entziehen sich

uns, und das macht es so attraktiv.“101

In dem Verständnis der Melancholie als einer Geisteshaltung im Allgemeinen sowie

einer Haltung auf Ebene der Textintention im Speziellen verbindet sich die politische

nehmend den arbeits- und konsumgesellschaftlichen ‚Normen‘ entzieht. Als Affirmation

ist hingegen eine Entwicklung zu deuten, die sich u.a. in Ulrich Bröcklings Beschreibung

des ‚unternehmerischen Selbst‘ oder auch in G. Günther Voß’ und Hans J. Pongratz’ ‚Ar-

beitskraftunternehmer‘ manifestiert, und die eine Form der Überanpassung darstellt: Der

entsprechend agierende Mensch inkorporiert die Leistungsideale und verhält sich damit

affirmativ gegenüber den Anforderungen, welche die Gesellschaft an ihn als Leistungs-

subjekt richtet. Vgl. Bröckling (2013): Das unternehmerische Selbst sowie Hans J. Pong-

ratz u. G. Günter Voß: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten

Arbeitsformen. Berlin: Edition Sigma 22004 [2003].

98 Heidbrink (1994): Melancholie und Moderne, S. 40.

99 Sigmund Freud: „Trauer und Melancholie.“ In: Ders.: Gesammelte Werke, chronologisch

geordnet Bd. 10: „Werke aus den Jahren 1913-1917.“ Hg. v. Anna Freud. Frankfurt/M.:

Fischer 81991 [1917], S. 428-446: 431.

100 Catriona Mortimer-Sandilands: „Melancholy Natures, Queer Ecologies.“ In: Dies. u.

Bruce Erickson (Hg.): Queer Ecologies. Sex, Nature, Politics, Desire. Bloomington, Indi-

anapolis, IN: Indiana University Press 2010, S. 331-358: 333.

101 Lepenies im Interview mit Hatting (2006): ‚Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftli-

ches Problem‘.

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30 | Arbeit und Melancholie

mit der psychoanalytischen Lesart der Melancholie, und diese Verbindung legt fol-

gende Zusammenhänge frei: Hinter der literarisch geäußerten Kritik verbirgt sich ein

Verlust. Dieser jedoch bleibt zunächst im Bereich des Unbewussten verhaftet und

wird lediglich durch die Melancholie selbst angedeutet. In Anlehnung an Mortimer-

Sandilands wird hier etwas betrauert, was gleichzeitig nicht betrauert werden darf

oder auch kann. Und der Ort, an dem diese Trauer offenbar wird, ist, so konstatiert

Lepenies, die Kunst.

Bei der Suche nach diesen versteckten Orten, ja ‚Refugien‘ spielt die Literatur als

Objekt der wissenschaftlichen Betrachtung eine besondere Rolle. Wagner-Egelhaaf

folgend lässt sie sich als eine „zweite, eine imaginäre Welt“ verstehen, „in der anth-

ropologische Themen durchgespielt und neu perspektiviert werden“102

, wobei der

literarischen Melancholie eine ganz besondere Position zukommt, als „liminales

Phänomen der Umcodierung anthropologischer in literarische Repräsentation“.103

Aus der ‚Lebenswelt‘ wird ‚Literatur‘ über die Melancholie. Anders gewendet: Die

Melancholie wird zum spezifisch literarischen Verfahren der Produktion von Er-

kenntnis, mit den oben bereits angedeuteten Qualitäten.104

1.4 KRITERIEN DER TEXTAUSWAHL

Sind der Diskurs, in dem sich die vorliegende Arbeit verortet, skizziert sowie die

zentralen Begriffe eingeführt, gilt es nun, den Untersuchungsgegenstand zu konturie-

ren. Nach einem, in Bezug auf die Quellenauswahl, breit angelegten kulturgeschicht-

lichen Teil (Kap. 2), erfolgt im dritten Kapitel die Einengung des Fokus auf gegen-

wartsliterarische Narrative, welche ‚Arbeit‘ zu ihrem Sujet machen. Es kann sich

dabei um die Arbeit von Angestellten oder Selbstständigen, um Voll- oder Teilzeit,

um körperliche oder geistige Arbeit handeln, sie muss allerdings, dieses wird zur

Voraussetzung für die Aufnahme in das Textkorpus, in „besonderen Arrange-

ments“105

stattfinden, die sie als ‚Arbeit‘ ausweisen und somit von anderen Bereichen

des Lebens separieren. Das Objekt der komparatistischen Betrachtung ist hingegen

keine ‚Arbeiterliteratur‘; es wird des Weiteren nicht bloß „Arbeit im Vollzug“106

in

den Fokus genommen, „denn“, wie Lillge beschreibt, „Arbeit als literarisches, foto-

grafisches, filmisches und televisuelles Sujet manifestiert sich auf ungleich vielfälti-

102 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 5.

103 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 6.

104 Die Eingrenzung des Themas auf das Medium der Literatur folgt zum einen zwar prag-

matischen Gründen, zum anderen erweist sich die Literatur aber auch als das Medium der

von mir genauer zu betrachtenden Verschränkung. Die Fotografie und auch der Film ver-

fügen über jeweils eigene Abbildungstraditionen in Bezug auf die Melancholie, die zwar

durchaus Parallelen zur literarischen Melancholie zeigen, aber jeweils in Abhängigkeit zu

den Rahmenbedingungen des Mediums stehen, vgl. Friedrich (1991): Melancholie als

Haltung, S. 36-44 sowie Hoffmann (2007): Work Fiction.

105 Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft, S. 10.

106 Gisela Ecker u. Claudia Lillge: „Einleitung.“ In: Dies. (Hg.): Kulturen der Arbeit. Mün-

chen: Fink 2011, S. 7-11: 8.

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Einleitung | 31

gere Weise“.107

In den ausgewählten Romanen findet sich das Thema ‚Arbeit‘ durch-

aus divers verhandelt, allen gemein ist aber, dass sie „von der Ökonomie geprägte

Lebensformen“ abbilden.108

Die Literatur offenbart dabei ihre Möglichkeiten, gesell-

schaftliche Diskurse aufzunehmen, spielerisch-inszenatorisch mit ihnen zu verfahren

und darüber zu Darstellungen zu kommen, welche die ‚Dilemmata‘ der spätmoder-

nen Arbeitsgesellschaft zu psychischen Zusammenbrüchen, Selbstauflösungen und

identitären Transformationen auf der einen sowie destruktiven Tendenzen auf der

anderen Seite zuspitzen.

Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Texte liegt die räumliche Fokussierung

auf die Literaturen der sogenannten westlichen Arbeitsgesellschaften nahe. Diese

Eingrenzung ergab sich wiederum aus der Lektüre im Zuge der Recherche. So ver-

sammelt das Korpus neben Texten aus Deutschland auch US-amerikanische, franzö-

sische und schwedische Romane.109

Der zeitliche Rahmen erstreckt sich – die Refe-

renztexte innerhalb der Einzeltextanalysen miteinbezogen – von den 1970er Jahren

107 Lillge (2016): Arbeit, S. 25.

108 Rainer Schlossig u. Hubert Winkels: „Arbeitswelt und Gegenwartsprosa.“ Beitrag im

Deutschlandfunk vom 27.01.2006. Sendung Kultur heute. Auf: http://www.zfl-berlin.org/

veranstaltungen-detail/items/literarische-kritik-der-oekonomischen-kultur-zur-rueckkehr-

der-a.html, zuletzt gesehen am 11.11.2015.

109 Ein Aspekt wie ‚Arbeit‘ kann, da in globalisierten wie digitalisierten Zeiten Ländergren-

zen zunehmend obsolet werden, nicht mit Blick auf nur eine Nation und Philologie be-

trachtet werden. Darüber hinaus sind die für den Kontext dieser Arbeit zentralen Phäno-

mene wie Arbeitslosigkeit, steigende Prekarität sowie der Wunsch nach einer ‚guten‘ und

sinnvollen Arbeit globaler Natur. Da die Werthaltungen in Bezug auf Arbeit dennoch ei-

ne deutliche kulturelle Prägung zeigen, bewege ich mich auf dem schon von Max Weber

(nicht nur) gedanklich beschrittenen „Boden des Okzidents“ (Max Weber: „Vorbemer-

kung zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie.“ In: Ders.: Soziologie. Uni-

versalgeschichtliche Analysen und Politik. Hg. v. Johannes Winckelmann. Stuttgart:

Kröner 51973 [1920], S. 340-356: 340). Dabei sind die Länder Westeuropas und die USA

in ihren Werthaltungen sowie in ihren ökonomischen Gegebenheiten zwar ähnlich, aber

nicht ‚deckungsgleich‘. Das Spektrum entfaltet sich zwischen dem rough capitalism der

USA am einen Ende, und dem ‚Rheinischen‘ Kapitalismus sowie dem schwedischen

‚Wohlfahrtsstaat‘ am anderen. Und auch das US-amerikanische Selbstverständnis des

Exceptionalism, das eine Vergleichbarkeit durchaus infrage stellt, wird Thema der kom-

paratistischen Analyse sein. Es erfolgt damit eine Berücksichtigung der nationalen Spezi-

fika, sowohl im Hinblick auf das Arbeitsverständnis als auch mit Blick auf die nationalen

Unterschiede und Gemeinsamkeiten in puncto Melancholie. Ist diese bereits als Teil der

europäischen Kultur ausgewiesen worden, so zeigt sich der US-amerikanische Zugang

zur Melancholie durchaus beeinflusst durch das in der Unabhängigkeitserklärung fest

verankerte ‚pursuit of Happiness‘, welches einer melancholischen Selbstbenennung

durchaus im Weg steht. Und auch wenn eine Abgrenzung nationaler Melancholien weder

machbar noch sinnvoll ist (vgl. Friedrich (1991): Melancholie als Haltung, S. 118), so

wird der vergleichende Blick auf die Romane des dritten Kapitels dennoch Unterschiede

zwischen den europäischen und den amerikanischen Texten zu Tage fördern, welche sich

in einer unterschiedlichen Bezugsnahme auf die Kulturgeschichte der Melancholie be-

gründen lassen.

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32 | Arbeit und Melancholie

bis zur Gegenwart und er entspringt zwei wesentlichen Entwicklungen: einer wirt-

schaftshistorischen und einer literaturgeschichtlichen. Auf wirtschaftshistorischer

Seite zeigen sich das Ende des Bretton-Woods-Abkommens im Jahr 1971 sowie die

Ölpreiskrise 1973/74 als Wendepunkte in Sachen Arbeitsorganisation und Arbeitslo-

sigkeit110

und damit als wesentlicher Anstoß für die Formierung eines neuen Arbeits-

verständnisses. Haben sich neben der Arbeitsrealität seit den 1970er Jahren auch die

individuellen Ansprüche an die Arbeit gewandelt111

, und diese Entwicklungen wer-

den von der Literatur aufgegriffen. Die Vorstellung, Arbeit könne in Zeiten von

wachsender Erwerbslosigkeit und Prekarität der Selbstverwirklichung dienen, wird

innerhalb dieser literarischen Auseinandersetzung oftmals als irreal thematisiert. Es

tritt das ‚Selbst‘ des Leistungssubjekts – wie anfangs beschrieben – in den Fokus der

Betrachtung und erweist sich, zahlreiche literarische Beispiele illustrieren dies, ver-

stärkt als problematische Kategorie. Das Subjekt, welches sich erst auf der Schwelle

von der Vormoderne zur Moderne zu einem solchen entwickelt hat112

, zeigt sich in

Zeiten von zunehmender Freiheit sowie Unsicherheit und nachlassender Verbind-

lichkeit brüchig, fragmentiert, zerrissen, fluide, taumelnd, gespalten oder, positiv

gewendet, flexibel, anpassungsfähig und modulierbar.113

Die Prekarität des spätmo-

110 Zum Bretton-Woods-Abkommen vgl. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich:

diaphanes 2010/2011, S. 44-46 und Robert Castel: 3 Die Krise der Arbeit. Neue Unsi-

cherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg: Hamburger Edition 2011 [2009],

S. 9-53, 57-97, zum Wandel der Arbeit ab den 1960er Jahren durch die Krise des Berg-

baus und die in Folge schrumpfende Montanindustrie vgl. Klaus Tenfelde: „Von der In-

dustrie zur Dienstleistung – Strukturwandel der Arbeit im 20. Jahrhundert.“ In: Haus der

Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Hauptsache Arbeit. Wandel der Ar-

beitswelt nach 1945. Bielefeld: Kerber 2009, S. 17-29: 20 sowie zur Bedeutung der Öl-

krise Rolf Peter Sieferle: „Gesellschaft im Übergang.“ In: Baecker (2002): Archäologie

der Arbeit, S. 117-151: 122-123.

111 Martina und Peter Bubeck zeichnen nach, wie seit den 1950er Jahren bis zur Mitte der

1990er Jahre ein Wertewandel stattgefunden hat, von der Überzeugung, das Leben sei ei-

ne „Aufgabe“, hin zu einer den Genuss betonenden Lebensauffassung (Martina u. Peter

Bubeck: „Die Erwerbsarbeit – und was wir von ihr erwarten.“ In: Sozialwissenschaftliche

Informationen 30/4 (2001), S. 72-77: 74-75). Galt Arbeit zunächst noch als eine nicht zu

hinterfragende ‚Pflicht‘, wird ab den 1970er Jahren der Ruf nach einer „Selbstverwirkli-

chung“ in der Arbeit laut, Daheim/Schönbauer (1993): Soziologie der Arbeitsgesellschaft,

S. 142.

112 Vgl. Dirk Padeken: „Das böse Ende der Moderne: William Faulkner, Cormac McCarthy,

Bret Easton Ellis.“ In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 48/3 (2000), S. 235-

253: 235-236.

113 Vgl. zum Subjektbegriff ab Descartes Stefan Bronner: Vom taumelnden Ich zum wahren

Übermenschen: Das abgründige Subjekt in Christian Krachts Romanen Faserland, 1979

und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Tübingen: Francke 2012, S. 9-

14, 25. „Die postmoderne Identität ist beweglich, wählt aus, kombiniert. Der postmoder-

ne Mensch schafft sich eine Existenzform aus vielen verschiedenen“, schreibt Thomas

Andre: Kriegskinder und Wohlstandskinder. Die Gegenwartsliteratur als Antwort auf die

Literatur der 68er. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 248. Ausf. zum Sub-

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Einleitung | 33

dernen ‚Selbst‘ und die damit verbundene Frage nach der Identität, aber auch die

Betonung von Subjektivität und Individualität, wird in das Zentrum der literarischen

Aufmerksamkeit gerückt.

Entsprechend gelten in allen in Kapitel 3 betrachteten Nationalliteraturen die

1970er Jahre auch in literaturgeschichtlicher Hinsicht als Zäsur.114

Hierfür – wie

natürlich auch für die wechselseitigen Blicke der Melancholie auf die Arbeit und vice

versa – liefert das Textkorpus zahlreiche Beispiele. Es versammelt zehn Autoren mit

zwölf Texten115

, die auf durchaus unterschiedliche Weise die krisenhafte Verortung

jektbegriff vgl. auch Gernot Böhme: Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts. Mün-

chen: Fink 2012.

114 Vgl. zu den ‚subjektiven Strömungen‘ in der deutschen Literatur ab den 1970er Jahren

Ralf Schnell: „Die Literatur der Bundesrepublik.“ In: Wolfgang Beutin et al. (Hg.): Deut-

sche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar: Metz-

ler 2013, S. 585-668: 641-651 sowie Heinz-B. Heller8 : „Literatur in der Bundesrepublik:

Literatur im Zeichen der Rezession, Neuen Linken und ‚Tendenzwende‘.“ In: Jan Berg et

al. (Hg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart. Frank-

furt/M.: Fischer 1981, S. 645-765: 753. In den USA wurde ab den 1970ern eine „allge-

meine[] Krisen- und Aufbruchsstimmung“ zur Wiege der ‚Postmodernen Literatur‘ (Mar-

tin Schulze: Geschichte der amerikanischen Literatur. Von den Anfängen bis heute. Ber-

lin: Propyläen 1999, S. 559. S. 171-172. Ausf. auch Ursula K. Heise: „Postmodern No-

vels.“ In: Leonard Cassuto, Clare Virginia Eby u. Benjamin Reiss (Hg.): The Cambridge

History of the American Novel. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2011, S.

964-985: 964-968 sowie Heinz Ickstadt: Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert.

Transformation des Mimetischen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998).

Und auch in Teilen der skandinavischen Literaturgeschichtsschreibung werden die

1970er Jahre als Zäsur gedeutet, wobei neben dem epischen Erzählen auch psychologi-

sche Auseinandersetzungen ins Zentrum der literarischen Texte rücken (vgl. Antje

Wischmann: „Gegenwart (1980-2000).“ und Bernhard Glienke: „Dänische Literatur im

20. Jahrhundert.“ Beide in: Jürg Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte.

Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 332-389: 332-333 sowie S. 215-260: 242, 258). Die

französische Literatur hingegen – die grundsätzlich eine starke sozialrealistische Traditi-

on, im Sinne einer „littérature engagée“, aufweist – erfuhr Ende der 1970er Jahre eine zu-

sätzliche Politisierung, wobei ein tatsächlicher ‚Bruch‘, im Sinne eines Wandels in der

Auseinandersetzung mit der lebensweltlichen Realität, eher in den 1980er Jahren mit der

Machtübernahme François Mitterrands zu beobachten ist (Jürgen Grimm u. Susanne

Hartwig (Hg.): Französische Literaturgeschichte. Stuttgart, Weimar: Metzler 2014, S.

351-352 und vgl. S. 380-387). Im Zuge des erstarkenden Neoliberalismus erwacht ein

„neues Interesse an der außerliterarischen Realität“, wie es sich bei Michel Houellebecq

und Frédéric Beigbeder zeigt, Grimm/Hartwig (2014): Französische Literaturgeschichte,

S. 397 und vgl. S. 430.

115 Die relativ hohe Zahl an Primärtexten dient dazu, die Aktualität, aber auch die Bandbreite

der Engführung von Arbeit und Melancholie in der Gegenwartsliteratur abzubilden. Die

hier kurz beschriebene Textauswahl erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Voll-

ständigkeit; vielmehr wirft sie Schlaglichter auf den literarischen Beitrag zur krisenhaften

Verortung des Leistungssubjekts und kann entsprechend zur weiteren Auseinanderset-

zung anregen.

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34 | Arbeit und Melancholie

des Leistungssubjekts in den sich wandelnden Umständen thematisieren, wobei der

Bezug zu aktuellen Diskursen, etwa um die Entgrenzung von Arbeit, die wachsende

Prekarität oder aber die subjektive Entfremdung, unterschiedlich ausfällt. Mal wird

Melancholie dabei eindeutig benannt, mal taucht sie nur indirekt in den beschriebe-

nen Melancholiemarkern auf; in jedem Fall bedienen die Texte sich aus dem im

„kulturellen Gedächtnis eingeprägte[n] Formel- und Bilderreservoir“116

, welches die

Melancholie bereithält, und operieren dabei jenseits konventionalisierter Darstellun-

gen. Sie nehmen so eine melancholische Haltung ein, um, so ist es zumindest bei der

Mehrzahl der verhandelten Texte der Fall, zu einer Kritik an gegenwärtigen Entwick-

lungen und Zuständen im Kontext der Arbeitsgesellschaft zu gelangen.

Mit Blick auf die Gesamtheit der Einzeltextanalysen ergeben sich drei themati-

sche Ballungen, deren Spektrum sich auffaltet zwischen Texten, die existentielle

Fragestellungen thematisieren, welche über eine (arbeits-)gesellschaftliche Verortung

innerhalb postindustrieller Kontexte hinausgehen, und jenen, die einen deutlichen

Bezug zum Diskurs der prekären Verortung in der spätmodernen Arbeitsgesellschaft

aufweisen. Die in Kapitel 3.1 „Literarische ‚Arbeit‘ am Bildreservoir der Melancho-

lie“ versammelten Romane haben zwar ‚Arbeit‘ zum Sujet, diese ‚steht‘ aber letztlich

für etwas anderes. Dafür finden sich deutliche Bezugnahmen auf das Bildreservoir

der Melancholie, und diese Verbindung von (allegorisch beschriebener) Arbeit und

Melancholie bringt hochpoetische Texte hervor, wie etwa Lars Gustafssons 1991

erschienener Roman Nachmittag eines Fliesenlegers (Kap. 3.1.1). Gustafsson ‚hebt‘

die handwerkliche Arbeit seines Protagonisten von einer profanen auf eine allego-

risch-philosophische Ebene und gelangt über den Einsatz melancholischer Topoi zu

existentiellen Fragestellungen. Heiko Michael Hartmann beschreibt in seinem Debüt

Unterm Bett aus dem Jahr 2000 (Kap. 3.1.2), wie die melancholische Disposition

seines Protagonisten – eines Beamten – dessen Berufswahl bedingt. Dieser manöv-

riert sich am titelgebenden Ort in einen Zustand fast vollständiger Bewegungslosig-

keit, in welchem er über die Grenze zwischen der pflichtgemäßen Ausübung eines

Berufs und der dazu gehörigen inneren Veranlagung sinniert. Und Ralf Rothmann

verbindet in seinem Roman Junges Licht (2004) (Kap. 3.1.3) die zaghafte, weil frag-

würdige Nostalgie des Rückblicks in die Kindheit des Protagonisten mit jener in

Bezug auf die Veränderungen der Arbeitsrealität, wobei, wie auch schon bei Gutafs-

son, dem Aspekt der ‚Erinnerungsarbeit‘ eine zentrale Bedeutung zukommt.

Kapitel 3.2 „Der melancholische ‚Drift‘“ versammelt Texte, die einen konkrete-

ren Bezug auf arbeits- und leistungsgesellschaftliche Gegebenheiten sowie die ent-

sprechenden Diskurse – etwa die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit, die Auswir-

kungen der Digitalisierung, die Debatte um Prekarität – nehmen. Marion Poschmann

knüpft dabei an die philosophische Tradition der Melancholie an und macht ihre

kurze Hundenovelle (2008) (Kap. 3.2.1) zu einem dichten Netz aus intertextuellen,

sich dem melancholischen Bild- sowie Textreservoir bedienenden Verweisen. Sie

transferiert dabei Dürers Melencolia I in die Neuzeit, wo diese sich als Erwerbslose

Prozessen arbeitsgesellschaftlicher Exklusion ausgesetzt sieht. Der titelgebende

Hund wird dabei zu einem zentralen, die Handlung vorantreibenden Motiv sowie zur

Spiegelfigur. Da das Motiv des ‚Melancholiehundes‘ bisher in der Forschung noch

nicht zusammenhängend betrachtet wurde, wird dies in Form eines Exkurses (Kap.

116 Wagner-Egelhaaf (1997): Die Melancholie in der Literatur, S. 528.

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Einleitung | 35

3.2.2) nachgeholt. Karen Duve scheint in ihrem Roman Taxi (2008) (Kap. 3.2.3)

zunächst an die pathologische Tradition der Melancholie anzuknüpfen und vor dem

Hintergrund einer Tätigkeit im Dienstleistungssektor zu verhandeln; zentrales Thema

ist aber das Moment der Verweigerung, welches sich in der ausgeprägten Hand-

lungshemmung der Protagonistin manifestiert, wobei es, in Umkehrung der Hart-

mann’schen Darstellung, die berufliche Wahl der Protagonistin ist, welche ihre psy-

chische Disposition bis hin zur fast vollständigen Passivität zuspitzt. Im Zentrum von

Wilhelm Genazinos Romanen Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) und Wenn

wir Tiere wären (2011) (Kap. 3.2.4) steht hingegen die philosophische Melancholie,

die durch ihre Fokussierung eine Fürsprache erhält, wohingegen Strategien der Stig-

matisierung bis hin zur Pathologisierung von Melancholie kritisiert werden. ‚Drif-

tend‘ bis erschöpft zeigt sich auch der Protagonist von Terézia Moras Romanen Der

einzige Mann auf dem Kontinent (2009) und Das Ungeheuer (2013) (Kap. 3.2.5), der

in einer digitalen ‚Melancholie 2.0‘ versinkt, wohingegen seine Ehefrau, nach einer

Reihe von Ablehnungen, den Selbstmord als Ausweg aus leistungsgesellschaftlichen

Zusammenhängen und Zwängen wählt.

Das Kapitel 3.3 „Ennui und Entfremdung“ versammelt drei Romane, in denen die

Melancholie vornehmlich als Ennui anzutreffen ist, welcher wiederum als Reaktion

auf entfremdete sowie beschleunigte Arbeitsumstände innerhalb der New Economy

inszeniert wird. Mit Frédéric Beigbeders 39,90 (2000) steht in Kapitel 3.3.1 ein fran-

zösischer Roman im Zentrum der Aufmerksamkeit, dessen Protagonist in der Werbe-

branche tätig ist und der von einem leistungsgesellschaftlich evozierten Ennui ge-

plagt wird, welcher letztlich in die (Selbst-)Destruktion führt. Eine Spirale der Dest-

ruktivität beschreibt auch Joachim Bessings Roman Wir Maschine (2001, Kap.

3.3.2), dessen Figuren ebenfalls im Ennui versinken, wobei Bessing die Unmöglich-

keit eines Auswegs beschreibt, die er zusätzlich als phantastisch anmutende Leerstel-

le markiert. Abschließend tritt mit Don DeLillo ein Autor ins Zentrum der Textanaly-

se, der sich wiederholt der amerikanischen Wirtschaftskultur widmet und dabei in

seinem Roman Cosmopolis (2003) (Kap. 3.3.3) die Folge der multiplen Entgrenzun-

gen thematisiert und das Bild einer „exhausted culture“117

US-amerikanischer Aus-

prägung zeichnet. Die dabei entworfene Spirale aus Entfremdung, Erschöpfung und

Destruktivität beschreibt DeLillo ebenfalls in seinen Romanen Americana (1971) und

Players (1977), welche deshalb als Referenztexte der Analyse von Cosmopolis die-

nen werden. Flankiert werden die Einzeltextanalysen dieser drei Unterkapitel darüber

hinaus von Ausführungen zu weiteren Referenztexten anderer Autoren, wie Martin

Walser, Michel Houellebecq, Christian Kracht oder auch Bret Easton Ellis.

Erweist sich das Spektrum der in den Texten verhandelten Berufe sowie Melan-

cholien als durchaus breit, so tritt das Arsenal der Protagonisten dennoch erstaunlich

geschlossen als eine „Acedia Squad“118

auf, anhand derer zum einen die Krisenhaf-

tigkeit der conditio humana in der Arbeitsgesellschaft abgebildet wird, zum anderen

zukünftige Entwicklungen, Alternativen und Auswege getestet werden, die also im

117 Peter Boxall: Don DeLillo. The Possibility of Fiction. New York, NY: Routledge 2006, S.

35.

118 Thomas Pynchon: „The Deadly Sins/Sloth; Nearer, My Couch, to Thee.“ In: The New

York Times 06.06.1993. Auf: https://www.nytimes.com/books/97/05/18/reviews/pynchon-

sloth.html, zuletzt gesehen am 02.11.2015.

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36 | Arbeit und Melancholie

besten Sinne als „Versuchsperson für die Wirkungen des Lebens“119

fungieren. Dass

es sich dabei zumeist jedoch um ambivalente Figuren handelt, dass also ein „melan-

cholischer Held“ zwar zum Vehikel für Erkenntnis werden kann, er aber in seiner

trübsinnigen wie handlungsgehemmten Natur durchaus auch eine problematische

Identifikationsfigur darstellt120

, wird im Fazit (Kap. 4) eingehender betrachtet. Hier

sollen schließlich auch die Textanalysen zusammengeführt und im Hinblick auf

Gemeinsamkeiten und Unterschiede nebeneinandergestellt werden.

Dass im Kontext der hier verhandelten literarischen Zugriffe Stimmungen, Be-

findlichkeiten und auch Kritik zum Ausdruck kommen, die längst im sogenannten

‚öffentlichen Bewusstsein‘ angekommen sind, offenbaren die den Textanalysen

vorangestellten Motti. Sie alle entstammen dem Bereich der Pop-Musik121

, und damit

einem Genre, das relativ unmittelbar auf zeitgeschichtliche und gesellschaftliche

Gegebenheiten und Entwicklungen reagiert, ohne dabei allzu sehr auf etwaige theore-

tische Auseinandersetzungen und Hintergrunde zu rekurrieren; vielmehr werden

aktuelle Bilder, Ideen, Stimmungen und Gefühle aufgenommen und ‚gespeichert‘.122

In den, durch die nun angedeuteten Motti ‚eingeleiteten‘, Einzeltextanalysen wird

der ausgewählten Primärliteratur im Kontext des entworfenen Diskurses begegnet.

Die den Analysen zugrundeliegenden Forschungsfragen richten sich dabei auf einer

ersten Ebene auf das beschriebene Sujet: Welche Form von Arbeit wird abgebildet

und wie nimmt der Text dabei Bezug zu dem in der Einleitung entworfenen Kontext?

Auf der Basis der maßgebenden Annahme, dass die Melancholie in der Literatur

oftmals als Vehikel für Kritik und als Überforderungs-Gestus fungiert, gilt es, den

kritischen Standpunkt der Romane und der Novelle herauszustellen. So unterschied-

lich die analysierten Texte u.a. in Bezug auf Veröffentlichungsjahr, Herkunftsland

und Handlung auch sind, beziehen sich doch letztlich alle auf die (dynamischen)

Rahmenbedingungen der Leistungs- und Arbeitsgesellschaft. Erwartet wird dabei

eine Auseinandersetzung, die jenseits von pathologisierenden Strategien – welche

eine Affirmation der gegenwärtigen Depressions- und Burnout-Diskussionen voraus-

setzen würden – mit spezifisch literarischen Mitteln operiert, was zu der nächsten

zentralen Forschungsfrage führt: Welche Rolle spielt die Melancholie in dem jewei-

ligen Text? In welcher Form taucht sie auf und wofür ‚steht‘ sie darüber hinaus? Sind

Arbeitssujet und Melancholiemarker hinreichend beschrieben, richtet sich das Au-

genmerk darauf, die Engführung offenzulegen: In welcher Relation stehen melancho-

lische Geisteshaltung und die jeweils abgebildete Arbeit und welche Art der Darstel-

lung resultiert daraus? Und ganz zentral: Was wird im Text mit dem ‚Einsatz‘ der

119 Marcel Reich-Ranicki: „Keine Wörter für Liebe. Martin Walsers neuer Roman Das

Einhorn.“ In: Die Zeit 02.09.1966, k.A.

120 Walter Delabar: Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik. Opladen u.a.: West-

deutscher Verlag 1999, S. 91.

121 Ausf. zu diesem Begriff, auch in Abgrenzung zu jenem der ‚populären Musik‘, vgl.

Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. XI-XV.

122 Vgl. Diedrichsen (1994): Über Pop-Musik, S. XI. Diedrichsen beschreibt den kritischen

Standpunkt der Pop-Musik mit den Worten: „Ich-Sagen und Allein-Sein reichen schon,

um den Schnabel ganz weit aufzureißen und sich zum Außen der Gesellschaft […] zu er-

klären“ (S. XVII), und offenbart damit eine Analogie zwischen einer melancholischen

Haltung und dem Selbstverständnis einiger Pop-Musiker.

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Einleitung | 37

Melancholie betrauert? Welche Auswege aus dem beschriebenen sowie literarisch

inszenierten ‚Dilemma‘ werden beschrieben. Eine Verbindung von fiktionaler Bin-

nenebene und lebensweltlicher Realität erscheint reizvoll – im Sinne von Böhmes

Antwort auf die selbstformulierte Frage „Hilft das Lesen in der Not?“:

„Es ist unwahrscheinlich, dass Antworten auf die beschriebenen Problemzonen nur politolo-

gisch, soziologisch und ökonomisch gefunden werden können. Gefragt sind ebenso historische,

auch kultur- und religionshistorische Forschungen, welche die Tiefendimensionen der

[D]ilemmata der Moderne erforschen. Dies könnte auch ein Beitrag zur Unvermeidlichkeit der

Geisteswissenschaften sein.“123

Und Reckermann engt diesen Ansatz auf die Literaturwissenschaft ein, wenn sie über

die „mögliche[] Analogiebildung zwischen lebensweltlicher Erfahrung und literari-

scher Fiktion“ schreibt, dass „gerade die Subjektivität literarischer Wirklichkeitsdar-

stellung die Einsicht in die kulturelle, historische und diskursive Konstruiertheit von

Wirklichkeitsmodellen“ transportiere.124

Die spezifische ‚Qualität‘ der Literatur als Medium von ‚Erkenntnis‘, welche

Böhme und Reckermann konstatieren, ist bereits vielfach beschrieben und auch in

der vorliegenden Einleitung schon angedeutet worden. In ihr können Szenarien ent-

worfen, Um-, Zu- und Missstände in Szene gesetzt, Irritationen, Kritik und Sehn-

süchte geäußert, Lösungen durchgespielt, aber auch Leerstellen gelassen, markiert

und benannt werden. Demnach hat die Literatur ihre eigenen Möglichkeiten, poeti-

schen Mittel und narrativen Wege, Einsichten, Perspektiven und Deutungen zu for-

mulieren.125

Die komparatistische Analyse fußt dabei auf einem weiten Literaturbe-

griff, dem die Annahme zugrunde liegt, dass sich sowohl in Prosa, aber auch in nicht-

prosaischen, wie etwa soziologischen und philosophischen Texten, eine literarisie-

rende Art der Darstellung nachweisen sowie eine „am Wissen von der Literatur ori-

entierte Herangehensweise“126

beobachten lassen. Im Hinblick auf dieses Literatur-

verständnis, die kulturwissenschaftliche Ausrichtung meiner Forschung sowie den

starken Einbezug des diskursiven Kontextes, sind bereits einige methodische Aspekte

angeklungen, die deutlich machen, dass die folgenden Analysen vor dem Hinter-

grund eines kulturpoetischen Ansatzes stattfinden. Die zugrundeliegende Definition

von Literatur als Teil des kulturellen „texte général“127

basiert dabei u.a. auf Clifford

123 Böhme (2009): Hilft das Lesen in der Not?, S. 35.

124 Reckermann (2009): ‚Vita passiva‘, S. 128.

125 Vgl. Wolfgang Riedel: „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung.“ In: Wolfgang

Braungart, Klaus Ridder u. Friedmar Apel (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspekti-

ven einer Literaturanthropologie. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 337-366: 361-363.

126 Martin Jörg Schäfer: Die Gewalt der Muße. Wechselverhältnisse von Arbeit, Nichtarbeit

und Ästhetik. Berlin, Zürich: Diaphanes 2013, S. 23. So ist es bei Richard Sennett der

Fall, der seine Thesen anhand halbfiktiver Fallgeschichten herleitet. Vgl. Richard Sen-

nett: The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capi-

talism. London, New York, NY: Norton 1999 [1998].

127 Anton Kaes: „New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?“

(1990) In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Basel, Tübingen: Francke 22001

[1995], S. 251-267: 255.

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38 | Arbeit und Melancholie

Geertz’ semiotischem Kulturbegriff128

, dessen Ansatz einer ‚dichten Beschreibung‘

bei der Analyse der literarischen Zeugnisse sowie deren Kontextualisierung in Kapi-

tel 3 implizit Beachtung findet. Mit Stephen Greenblatt wird die Literatur des weite-

ren als ein Medium verstanden, das auf die „Restriktionen“ der Kultur reagiert, ihnen

„durch Lob und Tadel Geltung“ verschafft und dadurch als „Vehikel der Übertragung

von Kultur“ fungiert.129

Entsprechend gilt eine ‚kontextsensitive‘ „immanente Lektü-

re“130

als angebracht, in der sowohl der kontextualisierende Zugriff von Geertz als

auch der historisierende Blick Greenblatts, wenn auch in unterschiedlicher Gewich-

tung, zum Klingen gebracht werden.131

Ergänzt und verdichtet wird diese Lektüre durch ausgewählte Forschungsliteratur

zu den jeweiligen Autoren und Romanen, wobei der Forschungsstand sehr unter-

schiedlich ausfällt. So hat sich u.a. bei Lars Gustafsson, Marion Poschmann, Karen

Duve, Terézia Mora und Joachim Bessing vorrangig das Feuilleton und die Litera-

turkritik der melancholischen Geisteshaltung der Texte gewidmet und diese vor dem

Hintergrund des Arbeitssujets verhandelt, wohingegen die Literaturwissenschaft

(bisher) eher zurückhaltend agiert.

Mit dem Fokus auf die Melancholie setze ich etwas um, was Annegret Heitmann

die für die Kulturpoetik charakteristische Verschiebung des Blicks „von dem Was?

auf das Wie?“132

nennt. Stellt die krisenhafte Verortung des Leistungssubjekts in der

spätmodernen Arbeitsgesellschaft das ‚Was?‘ meiner Forschung dar, so ist das Para-

digma der Literatur – in meinem Fall die Melancholie – jenes ‚Wie?‘.

128 Vgl. die beiden Aufsätze von Clifford Geertz: „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu

einer deutenden Theorie von Kultur.“ (1973) sowie „‚Deep Play‘. Der balinesische Hah-

nenkampf.“ Beide in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller

Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 [1983], S. 7-43: u.a. 9, 16-17 und S. 202-260:

253-260.

129 Stephen Greenblatt: „Kultur.“ (1990) In: Baßler (2001): New Historicism, S. 48-59: 51,

49. Zur spezifischen Verbindung von den Cultural Studies und der Auseinandersetzung

mit dem Arbeits-Sujet, resp. genauer: der „working class culture“, siehe Lillge (2016):

Arbeit, S. 23-24.

130 Greenblatt (2001): Kultur, S. 50.

131 Zum Verhältnis des Geertz’schen Ansatzes mit dem New Historcism vgl. Thomas Fech-

ner-Smarsly: „Clifford Geertz’ ‚Dichte Beschreibung‘ – ein Modell für die Literaturwis-

senschaft als Kulturwissenschaft?“ In: Jürg Glauser u. Annegret Heitmann (Hg.): Ver-

handlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissen-

schaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 81-101.

132 Annegret Heitmann: „Einleitung.“ In: Dies./Glauser (1999): Verhandlungen mit dem New

Historicism, S. 9-20: 16.