archithese 2.14 - Bündnis / Alliance / Association

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archithese Das italienische Netzwerk der zeitgenössischen Architektur Allianzen junger spanischer Architekten EASA: Eigeninitiative im studentischen Kollektiv Max Bill und die Politik der kleinen Schritte Le Corbusier and the Occult Texas Strangers, Texas Rangers Esther McCoy und die Traumfabrik Die Affäre Barragán Stadt als Beute: ECE Fabricate: Neue Werkzeuge, neue Allianzen Angela Deuber Architektin Schulhaus in Thal Peter Kulka Architektur Neubau des Landtags in Potsdam 10/21: Wandel am Departement Architektur der ETH Zürich Bündnisse im Verband: Niklaus Reinhard im Gespräch Neue Vertragswerke: das Projektbündnis 2.2014 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Bündnis – Alliance – Association

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architheseDas italienische Netzwerk der zeitgenössischen Architektur

Allianzen junger spanischer Architekten

EASA: Eigeninitiative im studentischen Kollektiv

Max Bill und die Politik der kleinen Schritte

Le Corbusier and the Occult

Texas Strangers, Texas Rangers

Esther McCoy und die Traumfabrik

Die Affäre Barragán

Stadt als Beute: ECE

Fabricate: Neue Werkzeuge, neue Allianzen

Angela Deuber Architektin Schulhaus in Thal

Peter Kulka Architektur Neubau des Landtags in Potsdam

10/21: Wandel am Departement Architektur der ETH Zürich

Bündnisse im Verband: Niklaus Reinhard im Gespräch

Neue Vertragswerke: das Projektbündnis

2.2014

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Bündnis – Alliance – Association

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4 archithese 2.2014

E D I T O R I A L

Bündnis – Alliance – Association

Die Architekturentwicklung des 20. Jahrhunderts kann als eine Geschichte von Bündnissen

gelesen werden. Vereinigungen wie der Werkbund, CIAM, Team 10 oder die Texas Rangers

agierten als Reformbewegung mit politischer oder pädagogischer Agenda, um ihre Ideen in

kollektiver Stärke zu verbreiten und schliesslich auch durchzusetzen. In unserem jungen

Jahrtausend erleben wir momentan eine Renaissance des gemeinschaftlichen Gedankens

und die Bildung neuartiger Netzwerke, die durch die Digitalisierung und Globalisierung

erstmals ermöglicht und beschleunigt werden. Können die herkömmlichen Strukturen dabei

noch mithalten? In welchem Rahmen bewegen sich die neuen Kollektive – zwischen offener

Gemeinschaft, Geheimbund oder Lobbyismus? Zeit, einen Blick unter die Oberfläche zu

werfen und nach den Mechanismen dieser Zusammenschlüsse zu fragen. Wie funktionieren

sie, was verbindet sie und was treibt sie an?

Erlebt der Berufsstand nun seit einigen Jahren durch die Krisensituation eine Erschütte-

rung seiner wirtschaftlichen und beruflichen Existenz, mag dies eine Parallele zum letzten

Jahrhundert darstellen. Ist es also die Verunsicherung, die den Architekten als grossen In-

dividualisten in den Chor des Kollektivs zurückführt? Dienen Allianzen nicht meist dem

Schutz? – aber vor wem?

Die vorliegende Ausgabe untersucht auf verschiedenen Ebenen diese Hintergrundstruk-

turen der Architektur. Architekten wie Max Bill, Le Corbusier oder Esther McCoy entwickel-

ten ihre eigenen Strategien der Zielerfüllung und agierten aus ihren Netzwerken heraus.

Während Bill sich als Politiker ins Parlament wagte, um seine Idee der Umweltgestaltung

direkt in den politischen Diskurs einzubringen – ein Engagement, das bis heute unter Ge-

staltern eine Seltenheit darstellt –, wirkte Le Corbusiers Sozialisierung im Umfeld der Frei-

maurer als Beschleuniger seiner Karriere. Manch eine Architektenlaufbahn wäre auch heute

noch ohne Förderung kaum denkbar, siehe SuperDutch oder New Wave Denmark. So verdan-

ken rückblickend viele Heroen der amerikanischen Szene ihren Mythos der Architektin und

Schriftstellerin Esther McCoy, die trotz ihrer Verdienste von der Architekturgeschichts-

schreibung vergessen wurde.

Ein ähnliches Schicksal, das gegenwärtig jener jungen Generation an Architekten in Süd-

europa widerfährt, die bereits als «verlorene Generation» bezeichnet wird. Die dramatischen

Einbrüche im spanischen oder auch im italienischen Bausektor zwingen vor allem junge

Architekten, das tradierte Rollenbild des egomanischen Künstlerarchitekten zu hinterfragen

und nach neuen Definitionen als Agent der Gesellschaft mit sozialer Kompetenz und Sinn für

Gemeinschaft zu suchen. Dabei entdecken sie längst vergessene Potenziale und Gebiete für

sich wieder und wissen sich auf kreative Weise mittels der Möglichkeiten des 21. Jahrhun-

derts digital zu vernetzen und für gemeinsame Projekte zu organisieren. Wie reagiert aber

die Politik auf diese neue Situation? Vertraten die Architektenkammern bislang stets die

Interessen ihrer Mitglieder, so bekommen sie nun in Ländern wie Dänemark oder Spanien

mit der Gründung von Architektengewerkschaften zum ersten Mal in der Geschichte grosse

Konkurrenz. Sah die Berufsgruppe ihre Belange nicht mehr gut vertreten? Sind die Kammern

zum Werkzeug von Bauindustrie und Wirtschaft geworden?

Ein Musterbeispiel für erfolgreichen Lobbyismus stellt die strategische Arbeitsweise

des Hamburger Konzerns ECE mit seiner Stiftung Lebendige Stadt für das Grossprojekt

MILANEO auf dem Areal von Stuttgart 21 dar. Die Verquickung von Wirtschaft und Politik

erzeugt dort eine Unschärfe. So dominiert wirtschaftliches Renditestreben über das von der

Politik zu schützende Gemeinwohl und lässt die Stadt zur Beute werden. Heute ist der

Lobbyismus kein Schmuddelkind mehr; er gehört inzwischen zum Establishment. Unlängst

haben sich auf dem Gebiet von Urheberrechtsfragen bei neuen Vertragsmodellen, wie der

Project Alliance aus Australien oder durch die Vereinnahmung von Archivnachlässen, wie

im Fall Barragán, bereits neuartige Abhängigkeiten gebildet. Wie also steht es um das

Metier? Es ist Zeit für neue Allianzen.

Die Redaktion

Als der Mensch mit dem Aufkommen des Ackerbaus vor einigen tausend Jahren sesshaft geworden war, begann er feste Unterkünfte zu bauen. Holz war das Material der Wahl. Diese Bautätigkeit führte zur Entwicklung von ersten Holzverbindungen.

In einer Holzverbindung werden zwei Holzteile ohne weitere Hilfsmittel zusammen-gefügt. Beispiel: Die Schwalbenschwanzverbindung (siehe grosses Bild). In zwei Holzteile ist je eine Form eingearbeitet, die sich in ihrer Gestalt ergänzen und eine Formschlüssigkeit von hoher statischer Qualität ergeben.

Holzverbindungen wurden jahrhundertelang von Hand – mit Beilen, Sägen, Meisseln – hergestellt, was extrem zeitaufwendig war. Darum wurden sie mit der Etablierung industrieller Bautechniken ab dem 19. Jahrh. immer mehr durch Stahl- oder Eisen-verbindungen ersetzt. Vom Holznagel zur Stahlschraube, vom Schwalbenschwanz zum Nagelverbinder aus Eisen.

Aber die klassischen Holzverbindungen erleben seit den Nullerjahren eine famose Renaissance. Seit 2003 stellen wir sie mit CNC-gesteuerten fünfachsigen Fräsen wieder in grosser Zahl her. Neben Schwalbenschwänzen auch Zapfverbindungen, Überblat-tungen, Verkämmungen, Nut-Falze, etc. Eine Schwalbenschwanzverbindung entsteht in weniger als einer Minute. Ein EFH bauen wir heute wieder mit gegen 90% Holzver-bindungen. Bei Grossbauten sind es über 70%.

Die Vorteile von klassischen Holzverbindungen sind im modernen Ingenieurholzbau enorm. Eine Schwalbenschwanzverbindung ist schneller verbaut als eine Stahlver-bindung. Einrasten und gut ist. Kein Stahlteil, keine Schrauben, kein überflüssiger Mon-tageaufwand. Und: Weniger graue Energie, weniger Kältebrücken, bessere Ökobilanz.

Wenn Sie mehr wissen möchten über unser Holzbau-Geheimnis Nr. 1, dann besuchen Sie unser Webspecial unter www.hector-egger.ch.

Ihre Fragen beantworten wir gerne persönlich: 062 919 07 07HECTOR EGGER HOLZBAU:• Industriebauten• Öffentliche Bauten• Wohnbauten (MFH /EFH /

Überbauungen)• Aufstockungen• GU-Services

BilderLinks Jede Holzverbindung (hier Schwalben-schwanzverbindungen für den Wylerpark Bern) wird bei uns beschriftet und codiert, damit sie auch korrekt verbaut wird.Mitte Dank Hightech wieder im Einsatz: Klassische Holzverbindungen. Von oben: Schwalbenschwanzverbindung, Stirnversatz mit Zapfen, Schräge Hackenblattung.Rechts Mit unseren fünfachsigen Fräsen ent-steht eine Schwalbenschwanzverbindung in weniger als einer Minute. Live zu sehen unter: www.hector-egger.ch > Webcam

WERK IWERK II

Unser Holzbau-Geheimnis Nr. 1

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HECTOR EGGER HOLZBAU AG | Steinackerweg 18 | CH-4901 Langenthal | www.hector-egger.ch

Denken. Planen. Bauen.

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SCHULHAUS VON ANGELA DEUBER

ARCHITEKTIN IN THAL, SG

Ein kleines Schulhaus im Kanton St. Gallen

beweisst, dass es nach wie vor Wege gibt, im

Boom der kleinen Schulhäuser eigenständige

Lösungen zu entwickeln, welche die Aufgabe

nicht als energieoptimierte Serviceleistung

verstehen, sondern als architektonische

Entwurfsleistung.

Autor: Hannes Mayer

Das Projekt hat eine Vorgeschichte. Dabei ist es

keineswegs wie so viele andere öffentliche Bauten

in der Schweiz über das Votum der Wähler gestol-

pert. Das kleine Primarschulhaus mit integriertem

Kindergarten, welches als Ersatz für ein bestehen-

des Gebäude auf demselben Gelände errichtet

wurde, hat man sich in der kleinen Gemeinde Thal

bei Rorschach, oberhalb des Bodensees, ge-

wünscht und gut geheissen. Nein, das Erstwerk

der jungen Architektin aus Chur hat eine publizisti-

sche Vorgeschichte, die ein warnender Finger für

die allzu schnell Urteilenden sein kann, und die

stets notwendige Durchsetzungskraft des Unge-

wohnten bezeugt. Das Projekt ist zunächst nicht

am öffentlichen, sondern am redaktionellen Votum

gescheitert. «Irgendwie ja, aber Verdacht auf for-

male […] mit esoterischem Unterbau», so der un-

vollständige Gedankengang. Auf Basis des Bild-

und Planmaterials liess sich kein finales Verdikt

sprechen, die Uneinigkeit verhinderte eine Publika-

tion in der letzten «Swiss Performance»-Ausgabe.

Skeptisch und doch neugierig gestimmt wurde eine

Besichtigung vereinbart.

Volumen oder Struktur

Das neue Schulhaus steht im Dorfzentrum von

Buechen, einer Teilgemeinde von Thal. Im Kontext

der Gemeinde – die mit ihren lose verteilten Bauten

auf fast durchgehend grünem Grund als eine für

die Schweiz nicht untypische Wiesengemeinde be-

zeichnet werden könnte – entstand jenseits seines

quadratischen Grundrisses ein ausserordentliches

Gebäude.

Mit seiner scharfkantigen und flächig geschal-

ten Sichtbetonkonstruktion bedient es sich der ar-

chetypischen Materialerscheinung des neueren

Schweizer Bauens und doch entzieht sich die äus-

sere Erscheinung eines eindeutigen Ausdrucks von

Tragen und Lasten. Das Gebäude strahlt Massivität

aus, drängt keineswegs zur Leichtigkeit, jedoch

wirken die dünnen Stützen, welche die umlaufen-

den, an die Struktur angehängten Balkone tragen,

fragil – oszilliert die Umhüllung des Körpers zwi-

schen Zierrat und Struktur und erinnert mit den

auskragenden spitzwinkligen Brüstungen an einen

Scherenschnitt, dessen mehrgeschossige Mittel-

1

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Eigenwillig willensstarker Solitär

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stütze mit einer Handbewegung aus der Eingangs-

achse gezogen wurde. Willkommen. Leichter Witz

in schwerer Ausführung. Ein Lebenszeichen der

Entwerferin zum Empfang, das hätte auch einem

dünnstützigen und preisgekröhnten Tempelchen

wie dem Eingangsgebäude zum Literaturarchiv

Marbach von David Chipperfield gut getan. Auch in

der zweiten Lage der durch die Balkone geschütz-

ten Fassade entzieht sich das Schulhaus den Kon-

ventionen. Gleichzeitig sucht es hier die archaische

Kraft des Notwendigen und leistet sich Ausflüge ins

Symbolische. Eine Spannung, welche das gesamte

Gebäude durchzieht. Die massiven Sichtbetondrei-

ecke, auf welche die Hauptstruktur neben wenigen

aussteifenden Scheiben im Inneren reduziert ist,

übertragen die Lasten auf einen niedrigen Stützen-

stumpf, der wiederum auf seiner formalen Eigen-

ständigkeit beharren darf, indem er etwas einge-

rückt ist und somit eine durchgehende Fensterrah-

menkonstruktion in der Fassade erlaubt. Es ist im

besten Sinne eine schräge Konstruktion, eine,

welche von den abzutragenden Lasten eine zwin-

gende Gebäudestruktur ableitet, um dann durch

bewusste Entwurfsakte eine Aussenwirkung zu

komponieren, die – so die Erscheinung – massige

Betondreiecke auf dünne Fensterrahmenprofile

stellt. In einem Jahrzehnt universal-globaler Gitter-

raster- und wohlproportionierter Lochfassaden

wählt Angela Deuber den Weg der intensiven Inte-

gration von Gestaltung und Tragwerk und formu-

liert mit einem tief gestaffelten Aufbau der Umhül-

lung eine Alternative zum derzeitigen Trend. Dabei

scheint das Konzept des Gebäudes den von Heino

Engel zusammengetragenen und grafisch verein-

fachten Tragsystemen näher als der zeichenhaft-

skulptural aufgeladenen Schule in Grono des eben-

falls jungen Churer Kollegen Raphael Zuber (vgl.

archithese 1.2012); bei beiden Werken lässt sich

jedoch eine Verbeugung vor dem Werk Louis

Kahns erkennen.1

Zickzack auf und ab

Die innere Organisation des Schulgebäudes ist zu-

nächst einfach. In der Mittelachse liegt auf jedem

der drei Geschosse ein Korridor, jeweils über eine

ebenfalls mittig angeordnete einläufige steile Be-

tontreppe vertikal miteinander verbunden. Links

und rechts davon sind die Klassenzimmer, Lehrer-

und Besprechungszimmer sowie ein grösserer

Mehrzweckraum im ersten Obergeschoss ange-

siedelt. Die Materialisierung ist ergänzt um die

weiss geschlämmten, nicht tragenden Wände aus

Mauerwerk, die sich in ihrer Stärke deutlich von

den aussteifenden Sichtbetonscheiben unterschei-

den. Der geschliffene Boden hingegen ist nicht hin-

zugefügt, ist kein eingezogener Estrich, sondern

die geschliffene, tragende Betonplatte. Das er-

1 Nordostfassade mit Eingangsbereich (Fotos: © Schaub Stierli Fotografie)

2 Frontalaxonometrie

3 Lageplan

2

3

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NEUE NETZWERKE, NEUE DYNAMIKEN Anmerkungen zu aktuellen Allianzen unter jungen spanischen Architekten Die Finanzkrise in Spanien hat den

Bausektor und die Architektenschaft nicht nur in eine wirtschaftliche, sondern auch in eine beruflich-existenzielle Krise

geführt. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit unter den Architekten ist die Berufsgruppe erstmals nach Jahren der Boomzeit

gezwungen, sich gemeinschaftlich zu organisieren und zu definieren. Dabei spielen die Gründung einer Gewerkschaft

sowie die digitalen Plattformen eine zunehmend wichtige Rolle in der Organisation neuer Netzwerke.

Autorin: Isabel Concheiro

Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Kotte

Dynamiken nach dem Platzen der Blase

Eines der grössten Probleme auf dem spanischen Arbeits-

markt ist das Missverhältnis zwischen Ausbildungsstand

und Stellenanforderungen: 31 Prozent der spanischen Bevöl-

kerung sind für ihre Stelle überqualifiziert, während es im

europäischen Durchschnitt nur 19 Prozent sind. Der starke

Anstieg der Zahl der Hochschulabsolventen in den letzten

Jahrzehnten – von 19 Prozent 1997 auf 30 Prozent im Jahr

2013 – war notwendig, um den OECD-Durchschnitt zu errei-

chen; das Problem ist also nicht so sehr das Überangebot an

Absolventen, sondern das Fehlen eines wettbewerbsfähigen

Wirtschaftsmodells, das qualifizierte Arbeitskräfte verlangt.

Im Architektur- und Bausektor wird dieses Grundsatzpro-

blem weiter verschärft durch das Marktungleichgewicht,

das sich durch die Spekulationsblase in den letzten zehn Jah-

ren entwickelt hat. Dieser Sektor ist daher mit am stärksten

von der gegenwärtigen Krise betroffen und verzeichnet eine

Arbeitslosenquote von 25 Prozent.

Zwischen 1998 und 2007 erlebte der Bausektor bislang

ungekannte Zuwachsraten und daraufhin einen entspre-

chenden Einbruch. Die Zahl der Projekte, die vom Architek-

tenverband genehmigt wurden, fiel von rund 900 000 auf

dem Höhepunkt der Immobilienblase 2006 auf weniger als

70 000 im Jahr 2012; beide Zahlen unterscheiden sich erheb-

lich von den durchschnittlich 300 000 in den Neunzigerjah-

ren. Dieses Wachstum lag zum einen an der Immobilien-

blase, zum anderen aber auch an der guten Konjunktur und

1 Online-Plattform Inteligencia Colectivas (Grafik: www.inteligencias-colectivas.org)

1

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den entsprechend hohen Investitionen in öffentliche und

private Bauprojekte. Dieser Boom im Bausektor ging mit

einer Explosion an neu eingerichteten Architekturhochschu-

len einher: 18 der 31 bestehenden Schulen wurden nach 1997

gegründet, sodass die Zahl der Architekten von 27 000 im

Jahr 1997 auf über 50 000 im Jahr 2013 stieg und mit 1,1 Ar-

chitekten pro 1000 Einwohner über dem EU-Durchschnitt

von 0,9 liegt. Bis heute kommen immer noch jedes Jahr 3000

neue Architekten hinzu.

Dieses Szenario stellt die Architekten gegenwärtig vor

grosse Schwierigkeiten und verheisst eine ungewisse Zu-

kunft. Andererseits macht es Spanien zu einer interessanten

Fallstudie, was die Entstehung neuer Dynamiken von Inte-

ressensgemeinschaften angeht, die die für den Berufsstand

so typische individualistische Logik überwinden und neue

Formen der Zusammenarbeit hervorbringen wollen. Archi-

tekten in Spanien sind überwiegend jung – 60 Prozent sind

jünger als 45 Jahre – und gerade in dieser jüngeren Genera-

tion zeigt sich der aktuelle Handlungsdrang sehr deutlich:

Erstens gehen sie neue Allianzen ein, um die Probleme der

konventionellen Praxisausübung zu umgehen, denn den tra-

ditionellen Institutionen ist es bislang nicht gelungen, diese

Probleme anzugehen. Zweitens erweitern sie die Grenzen

der Berufspraxis und definieren die Rolle des Architekten

neu in Bezug auf das, was sie tun und wie sie es tun. Und

drittens sind sie daran interessiert, ungewohnte Instru-

mente und digitale Netzwerke in der beruflichen Praxis zu

erkunden.

Gestärkte Mitarbeiter und kollektive Strukturen

Noch im Jahr 2007 war statistisch gesehen einer von vier

Architekten als Mitarbeiter in einem Architektenbüro be-

schäftigt. 70 Prozent von ihnen waren unter 35 Jahren. Die

Architektenbüros in Spanien sind im Allgemeinen Kleinun-

ternehmen mit durchschnittlich 3,8 Angestellten und einer

wenig ausgeprägten Unternehmenskultur. Zu Zeiten der

Immobilienblase entwickelte sich eine Arbeitsrealität, die

bereits in den Neunzigerjahren verbreitet war und darin

bestand, Mitarbeiter, die sich in einer prekären Lage befan-

den, als sogenannte Scheinselbstständige anzustellen, das

heisst, ein Architekt arbeitete als Angestellter mit festen

Arbeitsstunden und ausschliesslich für einen Arbeitgeber.

Er erhielt jedoch keinen festen Arbeitsvertrag, hatte keinen

Anspruch auf Abfindung, Arbeitslosengeld oder Urlaubstage

und verdiente einen sehr geringen Lohn. 2003 verdienten

28 Prozent aller Architekten weniger als 15 000 Euro brutto

im Jahr.

In manchen Fällen nutzten die Architektenbüros die

heikle Situation ihrer Mitarbeiter aus. In anderen Fällen

2 PKMN: Rojo Paquimé, temporäre Instal lation bei der archäologischen Fundstätte Paquimé bei Chihuahua, Mexiko, 2011 (Abbildung: PKMN)

2

3

3 2003 gründete Santiago Cirugeda das Büro Recetas Urbanas, das seither subversive Interventionen im städtischen Raum durchführt (Abbildung: Santiago Cirugeda)

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LE CORBUSIER AND THE OCCULT Notes on Le Corbusier’s architectural and phenomenological methodology Before Charles-Édouard Jeanneret rein-

vented himself as Le Corbusier in Paris, he grew up in the moral, social and philosophical environment of La Chaux-de-Fonds

where the Freemasonic Lodge L’Amitié was very influential. These years constitute an important influence on his methods

of designing architecture and his ways of conceptualizing his career as architect.

Author: Jan K. Birksted

“What was intended was not a history of the life and death of

Constantine, nor yet an encyclopaedia of all worthwhile in-

formation pertaining to his period. Rather were the signifi-

cant and essential characteristics of the contemporary world

to be outlined and shaped into a perspicuous sketch of the

whole.”

(Jacob Burckhardt, The Age of Constantine the Great, New York 1949)

Which memories came flooding back to Charles-Édouard

Jeanneret when, in 1960 at the age of 63 and five years before

his death, he purchased and annotated a copy of Les Francs-

maçons by Serge Hutin?1

Before exploring, firstly, the centrality of the Loge L’Amitié in

the cultural and social life of La Chaux-de-Fonds before 1917

and its presence in the life of the Jeanneret family and, sec-

ondly, the importance of Masonic lodges in the Paris of the

Third Republic, when Charles-Édouard Jeanneret arrived

there and realized how he could try to advance his career by

activating his knowledge of Masonic ideas, symbols and net-

works, let me ask a question: so what? Indeed, who cares

about Masonic lodges in La Chaux-de-Fonds and in Paris and

about how Charles-Édouard Jeanneret advanced his career?

Because, ultimately, what we would like to illuminate are the

architectural qualities of his work. It is, however, precisely

via his early life, via the cultural and social contexts of La

Chaux-de-Fonds and Paris and via his use of specific sym-

1

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bolic elements, that we can find answers regarding the archi-

tectural qualities of Le Corbusier’s work and his architectural

concepts for the promenade architecturale and the espace

indicible (architectural promenade and ineffable space).

In the context of the Loge L’Amitié

Therefore, which memories came flooding back when anno-

tating Serge Hutin’s Les Francs-maçons? First in time were

memories from La Chaux-de-Fonds before 1917, the year of

his definitive departure for Paris. These memories encom-

passed his closest family and acquaintances as well as his

rivals, whose work he coveted and tried to emulate. Nearly

anyone who was anybody in La Chaux-de-Fonds around the

year 1900 belonged to the Loge L’Amitié. While Jeanneret’s

own father, Georges-Édouard Jeanneret, was not a member

of L’Amitié – although his watchmaking atelier was located

next door and he was regularly invited to lecture there2 –

Charles-Édouard’s uncle, Sully Guinand, is listed in the

membership registers as “fabricant, Chaux-de-Fonds, né

1847, III”.3 Sully Guinand, meanwhile, was of pivotal impor-

tance in the life of the Jeanneret family. It was Sully Guinand

who regularly came to their financial rescue when they were

penurious. And, thanks to his solid financial situation,

Christmases, anniversaries and all important family celebra-

tions were held at his house. His sudden death on 13 Novem-

ber 1897 is recorded by Georges-Édouard Jeanneret as, “A

big day in our family, with the death of our dear brother-in-

law Sully Guinand at 12 in the morning, after an illness (…).

It is a great loss for his family and for all of us who loved him

and appreciated his kindness.”4 The entry for Christmas

1900 records a poignant change: “27 December. (…) Christ-

mas day sky brilliant; we had a small reunion at our apart-

ment in the evening – grandparents, aunts and cousins.

Without tree, a peaceful evening that ended with tea and

cakes (…). Since the death of my brother-in-law Sully

Guinand, Christmas celebrations have lost their brio in the

family (…).”5

More memories flooded back when Serge Hutin’s Les

Francs-maçons discussed Freemasons Jeanneret had known,

such as Édouard Quartier-la-Tente. A new pastor, Édouard

Quartier-la-Tente fils, had been appointed to the Église na-

tionale in La Chaux-de-Fonds before being transferred to Le

Landeron, a village outside Neuchâtel where William Ritter

lived between 1914 and 1917 with his partner, Janko Cádra.

It was Édouard Quartier-la-Tente fils who, as privileged

owner of a telephone, announced Charles-Édouard Jeanner-

et’s frequent arrivals from La Chaux-de-Fonds. Ritter re-

corded: “Friday 19 March 1915. At eight o’clock this morning,

M. Quartier-la-Tente came to tell us that he telephoned (…).

He is arriving by train at 22 minutes past 2.6 Quartier-la-Tente

fils was the son of Édouard Quartier-la-Tente père, whom

Hutin’s Les Francs-maçons listed as an authoritative and

classic Masonic author.7 The belonging of both Quartier-

la-Tente fils and père to Masonic lodges was of course well

known. Ritter, writing about life in Le Landeron, described

how, “First of all, we were enchanted with the area and all

the wonderful possibilities for walking. Well, the people

there in general showed us great kindness (…) but there was

also the pastor Édouard Quartier-la-Tente, son of the State

Councillor and also confirmed Grand Master of the Grande

Loge Suisse Alpina. The protestant pastor of Le Landeron

was equally well known to be a freemason (…).”8 So, having

briefly outlined a few cases of Freemasonic presence

amongst Jeanneret’s family and acquaintances, the question

arises: what about the circles and networks beyond these

immediate ones? What about his architectural and profes-

sional rivals, the official town architects and engineers of La

Chaux-de-Fonds?9 Robert Belli, Hans Mathys and Louis

Reutter were all members of L’Amitié. Therefore I would like

to examine some features of the architecture created by

these town architects and, in particular, one of the best-

known buildings of La Chaux-de-Fonds – Robert Belli’s

1 Le Corbusier, Le Poème de l’angle droit, G3 (Photos 1, 3, 7, 8, 10, 12, 14, 15: © FLC/ProLitteris, 2014)

2 Serge Hutin, Les Francs-maçons, Éditions du Seuil, Paris 1960 (Photos 2, 6, 9, 13: Archive J. K. Birksted)

2

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DER KOPF HINTER MYTHEN: ESTHER MCCOY Die Arbeit der Schriftstellerin und Architekturjournalistin Esther McCoy in Kalifornien Wie wird

eine Frau Anfang dreissig, die in New York überwiegend Kurzgeschichten verfasst hatte und dank

Veröffentlichungen in Grand Street, Harper’s Bazaar und Vogue bereits auf der ersten Stufe einer schrift-

stellerischen Karriereleiter stand, in Los Angeles zur Chronistin dessen, was in den USA als «Mid-Century

Modernism» bezeichnet wird?

Autor: Klaus Leuschel

Esther McCoy war 1932 nach einer schweren Lungenentzün-

dung des Klimas wegen von New York nach Los Angeles ge-

zogen. Ursprünglich als temporärer Aufenthalt geplant, fand

sie rasch Gefallen an Kalifornien und arbeitete dort zunächst

als freischaffende Autorin. Artikel zu slum clearances und

günstigem Wohnungsbau für EPIC News, die Zeitung des

End Poverty in California Movement des sozialkritischen so-

zialistischen Autors und Aktivisten Upton Sinclair, verdeut-

lichen McCoys politische Haltung,1 die sie später eng mit

Rudolph Schindlers Frau Pauline verbinden sollte. Während

des Zweiten Weltkriegs fand McCoy eine Anstellung als

technische Zeichnerin beim Flugzeugbauer Douglas und

hoffte, gegen Ende des Krieges ein Architekturstudium an

der University of Southern California (USC) aufnehmen zu

können, was ihr jedoch aufgrund ihres Alters und Ge-

schlechts verwehrt blieb.

So bewarb sie sich 1944 bei Rudolph M. Schindler als

Zeichnerin. Hier waren im Gegensatz zur Universität die

männlichen Mitbewerber rar; diese hatten ihren Dienst in

der US-Armee zu leisten. Schindler gab ihr den Job, obwohl

er ihr im Bewerbungsgespräch sagte: «Flugzeugkonstruk-

teure verstehen nichts von Flugzeugen – ausser von den

Teilen, an denen sie gerade arbeiten.» Ihr Hinweis auf das

abgelehnte Architekturstudium bestärkte ihn aber darin, sie

anzustellen. «Dann müssen Sie umso weniger wieder ver-

gessen.»2 Sie arbeitete bis 1947 für Schindler und schrieb

nebenbei weiterhin Texte – bevorzugt in den frühen Morgen-

stunden und zunehmend über Architektur.

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs avancierte sie so zur

entschiedenen Parteigängerin jener Protagonisten der Mo-

derne, die den kalifornischen Traum vom zeitgenössischen

Einfamilienhaus realisierten. Dazu zählten nicht nur Schind-

ler und die beiden Überväter Neutra und Wright, sondern

beispielsweise auch Charles und Henry Greene, Irving Gill

und Bernard Maybeck.

Der Aufstieg Kaliforniens

Als McCoy nach L.A. kam, «nahm niemand L.A. ernst. Und

ich wollte […], dass der Ort ernst genommen wird»3. Hatte

sie, auch ohne Architekturausbildung, dank ihres Interesses

und ihres Freundeskreises an der Ostküste – zu dem unter

anderem der ETH-Absolvent William Lescaze gehörte –

quasi mit ihrer Ankunft begriffen, über wie viel Potenzial die

Westküste verfügte? Bliebe die Frage: Wie verlieh sie diesem

Potenzial Ausdruck? – Sie kam vom literarischen Schreiben,

und so verschmolz bei Esther McCoy aussergewöhnliches

sprachliches Talent dergestalt mit Tatsachen, wie es Holly-

wood erfolgreich vorgemacht hatte. Ausserdem verfasste sie

intelligente Plädoyers; etwa in einem Brief an ihren Freund,

den Science-Fiction-Autor Ray Bradbury, in dem sie darauf

hinwies, Architekten würden auch dann noch für Fehler ver-

antwortlich gemacht, wenn diese der Bauherrschaft zuzu-

rechnen wären.4 Und schliesslich – verdankt die Traum fabrik

1

1 Esther McCoy am Zeichentisch, Santa Monica, um 1945 (Fotos 1+3: Esther McCoy Papers, Archives of Ameri-can Art, Smith-sonian Institution, aus: Susan Morgan (Hrsg.), Piecing Together Los Angeles: An Esther McCoy Reader, Valencia, CA 2012, S. 1 und S. 392)

2 Publikationen von Esther MacCoy

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Hollywood ihr Image nicht gerade der Faktenungenauigkeit?

War es Zufall, dass sie Ayn Rands Roman The Fountainhead

am liebsten selbst geschrieben hätte, dessen Protagonist ein

Architekt ist? Spielte Julius Shulman im Gespräch zu Ayn

Rand und The Fountainhead auch darauf an?5 Jedenfalls be-

wohnte Ayn Rand zeitweilig ein Haus, das Richard Neutra

1935 für den Regisseur Josef von Sternberg gebaut hatte. Es

steht in Northridge, 15 Kilometer nördlich von Bel Air – aber

sinnbildlich doch in Hollywood.

1945 bis 1960: Richard Neutra – Esther McCoy –

Rudolph M. Schindler

Wer Esther McCoy unterstellen wollte, sie sei durch Schind-

ler einseitig geprägt worden, täte besonders Richard Neutra

unrecht. So stark sie sich zeitlebens für Schindler einsetzte

(was gerade in Kreisen um Neutra stets als ihr grosses Ver-

dienst betont wird), so deutlich hat sie andererseits RJNs

architektonische Qualitäten unterstrichen. Und das, ohne

seine Schlussfolgerungen aus den Neurowissenschaften und

den daraus abgeleiteten Biorealism wirklich durchdrungen

zu haben. Den Hintergrund von Neutras und Schindlers gros-

ser Gemeinsamkeit, die klare Trennung zwischen Küche und

Wohnen, akzeptierte sie zeitlebens nicht – das Architektur-

verständnis in der Nachfolge von Adolf Loos’ «Raumplan»

blieb ihr als Amerikanerin fremd.

Was zur europäischen Sicht einer amerikanischen Posi-

tion zum «Open Plan» (als Gegenentwurf zu Loos) zu passen

scheint, relativiert sich beim Studium ihrer Aussagen. Nicht

nur, weil Mary Banham, die Ehefrau des Architekturkritikers

Reyner Banham, ihr den Unterschied zwischen Anlieferung

und Dienstpersonal in viktorianischen Häusern in England

erklärt hatte. Letztlich war es McCoys politischer Hinter-

grund, der ihr beispielsweise zu der vorausschauenden Er-

kenntnis verhalf, dass durch die Zunahme mexikanischer

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MEINS! ODER AUCH: VERTIGO – DIE DROHUNG DES TROGES Eine diskrete Liebestragödie in mehreren Revitalisierungen unter Mitwirkung des Bündnisses für Unschuld.

Wer heute im Bereich der Architekturpublikationen tätig ist, stellt fest, dass die Bündnisse, auf welche man stösst,

weniger zwischen den Architekten selbst zu finden sind als vielmehr bei den Rechteverwaltern ihrer Archive. Einzel-

personen, Stiftungen, Institutionen und Agenturen haben den Umgang mit den Arbeiten von Künstlern und Architekten

professio nalisiert – oder machen ihn unmöglich. The Barragán Archives, ein Projekt der US-amerikanischen Künstlerin

Jill Magid thematisiert in einer Serie von Ausstellungen das Thema an Hand des mexikanischen «Meisters der emotionalen

Architektur».

Autor: Hannes Mayer

Es gab wenig Resonanz. Keinen Rechtsstreit, keinen Auf-

schrei. Der Skandal blieb aus. Aber es fand auch keine öffent-

liche Körperanalyseaktion mit Selbstbefriedigung zur Natio-

nalhymne statt.1 Es gab keine Andeutung einer Miktion auf

ein Politikerbild oder einen Swingerklub im Untergeschoss.2

Und obwohl die drei schwarzen Pferdchen aus Kunststoff an

einem länglichen Stück schwarzem Plexiglas weit davon ent-

fernt waren, mit einer Nazi-Ronald-McDonald-Chapman-Bro-

thers-Plastikfiguren-Gewaltorgie zu konkurrieren, war das

Modell, welches die New Yorker Künstlerin Jill Magid für die

aufstrebende Zürcher Galerie RaebervonStenglin herstellen

liess und während des Art-Basel-Parcours 2013 der Öffent-

lichkeit präsentierte, in seiner hölzernen, abstrakten Un-

scheinbarkeit keineswegs so harmlos wie es zunächst den

Anschein hatte.

Der Trog ist der weiterhin bestehende Vorschlag der

Künstlerin, den Brunnen mit Schattenwand aus der von Luis

Barragán nach 1958 selbst entwickelten Wohnanlage in Ar-

boledas im Norden von Mexico City auf dem Vitra Campus in

Weil am Rhein zu errichten. Bucky’s Dome, Prouvés Tank-

stelle, seit neuestem das Minimalhaus Diogenes von Renzo

Piano: Zwischen den Resten süddeutscher Streuobstwiesen

könnte das lang gestreckte niedrige Wasserbecken die

sanfte Wellung der Wiese zerschneiden, könnte die hoch auf-

ragende Wand den Schatten des Obstbaumes im Wandel der

Jahreszeiten tragen, könnten Württemberger des Landge-

stüts Marbach den kalifornischen Eames-Elefanten die

Schönheit einheimischer Züchtung vermitteln. Und im Früh-

jahr würde die Obstbaumblüte den wassergefüllten Trog in

ein weiss-rosa Blumenbeet verwandeln.

Trog – der Titel wirkt beruhigend wie ein plätschernder

Dorfbrunnen, weil sich hier bei architektonischen Ausflügen

der Kunst üblicherweise ein Schlüssel zur Logik verbirgt.

Thomas Schüttes Varianten zu Ferienhaus für Terroristen

sind kompositorisch gelungen, aber harmlose Privathäuser,

Martin Kippenbergers Titel Entwurf Verwaltungsgebäude

für Müttergenesungswerk in Heilbronn macht die Europalet-

ten erst zur Architektur. Wo also ist die dunkle Tiefe im

seichten Trog versteckt?

«Wer früher stirbt ist länger tot»

Auch wenn die einstige Luxusanlage in Mexiko zwischen

den hoch aufragenden Eukalyptusbäumen nicht mehr in bes-

tem Zustand ist, lautet der Vorschlag der Künstlerin Magid

nicht, die Tränke abzubrechen und nach Europa zu verschif-

fen, sondern sie in Weil zu duplizieren. Würde die erste Vari-

ante (berechtigte) öffentliche Kritik hervorrufen, so scheint

die zweite Variante harmlos. Allerdings: Urheberrechtlich

ist das Werk bis siebzig Jahre nach dem Tod geschützt und

Barragán starb erst 1988. Handelt es sich also um einen lang-

fristigen Plan für das Jahr 2058?

Barragán teilte in seinem Testament (sowie räumlich

durch eine Tür in seinem Wohnhaus) seinen Nachlass in ein

privates Archiv sowie ein professionelles Archiv. Die persön-

liche Hinterlassenschaft, zu der seine Bibliothek, private

Aufzeichnungen sowie unzählige Briefe gehörten, ging an

eine Gruppe befreundeter Architekten nach Guadalajara, der

Heimatstadt Barragáns. Die Erben gründeten daraufhin die

Fundación de Arquitectura Tapatía Luis Barragán. Barra-

gáns gestalterisches Lebenswerk hingegen, seine Zeichnun-

gen, das Bild- und Planmaterial sowie die Urheberrechte an

seinen (gebauten) Entwürfen überliess er seinem Geschäfts-

partner, der kurze Zeit später Selbstmord beging. Die Witwe

verkaufte in der Folge diesen Teil des Archivs an den New

Yorker Galeristen Max Protetch, der sich seit 1978 zunehmend

auf Architekturzeichnungen namhafter experimenteller Ar-

chitekten spezialisierte. 1995 erwarb Rolf Fehlbaum, dama-

liger Geschäftsführer und heutiger Aufsichts ratsvorsitzender

der Vitra AG das Archiv von Max Protetch. Während der eine

Werke von Ando, Hadid und Gehry ausstellte und verkaufte,

hatte der andere den Architekten Aufträge für den Vitra

Campus erteilt. Der Besitz und dessen Verwaltung gingen in

die gemeinnützige Barragan Foundation über, der heute Rolf

Fehlbaum als Stiftungsratspräsident mit seiner Frau Fede-

rica Zanco Fehlbaum als Stiftungsratsmitglied gleichberech-

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tigt vorsitzt. Die Stiftung hält über die Archivmaterialien

hinaus die Namensrechte an Barragán und erwarb nach dem

Archiv auch noch das fotografische Werk Armando Salas

Portugal, der die Arbeit von Barragán zeitlebens dokumen-

tierte. Der Trog könnte sofort gebaut werden. Wo also ist die

dunkle Tiefe im seichten Trog versteckt?

Barragán macht mich an

«I would like to spread the news that the foundation is here»,

wird Fehlbaum Zanco in einem Artikel in der New York Times

zitiert.3 Der Trog als Monument und Hinweistafel auf dem

Campus? Ein Gemarkungsstein, um die Begründung eines

Pendants zum Canadian Centre for Architecture (CCA) –

dem von Phyllis Lambert gegründeten führenden Architek-

turarchiv der Welt – in der Schweiz zu signalisieren? Das

würde zwar dem gta Archiv der ETH Zürich und dem S AM

in Basel Konkurrenz, aber gleichzeitig die Schweiz wie auch

in der Kunst- und Unternehmenswelt zu einer weltweiten

Drehscheibe von Lizenzen und Werken machen. Nebenbei

liesse sich der Trog skalieren und als Vogeltränke, Tapas-

schälchen oder Dorfbrunnen im Vitra Shop verkaufen. Wer

will, ersteht den Trog als Gartenteich – je nach individuellen

Bedürfnissen in drei verschiedenen Varianten. Künstler

könnten Editionen entwerfen, denn die blasse Wand eignet

sich wie eine Swatch-Uhr hervorragend als «Leinwand».

Dass das Modeunternehmen G-Star nicht nur OMA für sei-

nen niederländischen Firmensitz engagierte, sondern un-

längst Vitras Prouvé-Kollektion aufmöbelte (Prouvé Raw

Edition) zeigt, dass die Expertise für Lizenzen, Produkte und

Kollaborationen bereits im selben Haus sitzt. Mit den Ein-

nahmen liesse sich das Original in Mexiko sanieren, könnten

junge Architekturforscher in ihrer Arbeit unterstützt werden

und das Archiv sowohl vor Ort wie digital aufbereitet wer-

den. Denn hier scheint der Knackpunkt zu sein. Derzeit ist,

so die Website, das Archiv mit seinen allein 13 500 Zeichnun-

gen bis Ende 2014 für die Öffentlichkeit geschlossen. Eine

umfangreiche Publikation, die an anderer Stelle auf der Web-

site für 2013 ankündigt ist, ist bis heute nicht erschienen. Die

1+3 Jill Magid Der Trog, 2013 Installation: Art-Basel-Parcours, Basel 2013 (Courtesy Raeber-vonStenglin, Zürich, Fotos: Gunnar Meier)

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