archithese 3.04 - Architektur und Alkohol / Architecture et alcool

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archithese Kellereiarchitektur – ein zeitgenössisches Phänomen Wineries im Napa Valley Bauen für Wein in Österreich Projekte von Michael Graves, Herzog & de Meuron, Mario Botta, Steven Holl, Angonese/Boday/Köberl, Frank O. Gehry Bierbrauen und Burgenromantik Münchner Bierarchitektur um 1900 «Bierpinsel», Berlin-Steglitz Bierarchitekturen von Jean Nouvel, Foreign Office Architects Brunnschweiler/Denzler/Erb Schule Elsau Périphériques Zwei Bars in Paris 3.2004 Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture Architektur und Alkohol Architecture et alcool mit

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architheseKellereiarchitektur – ein zeitgenössisches Phänomen

Wineries im Napa Valley

Bauen für Wein in Österreich

Projekte von Michael Graves, Herzog & de Meuron,

Mario Botta, Steven Holl, Angonese/Boday/Köberl,

Frank O. Gehry

Bierbrauen und Burgenromantik

Münchner Bierarchitektur um 1900

«Bierpinsel», Berlin-Steglitz

Bierarchitekturen von Jean Nouvel,

Foreign Office Architects

Brunnschweiler/Denzler/Erb Schule Elsau

Périphériques Zwei Bars in Paris

3.2004

Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Revue thématique d’architecture

Architektur und AlkoholArchitecture et alcool

archithese 3.2004

Mai/Juni

Preis: 28 CHF/18 Euro

Architektur und Alkohol – A

rchitecture et alcool

mit

Leserdienst 124

2 archithese 3.2004

E D I T O R I A L

Seht den Architekten schwitzen.Weise: „Preisend mit viel schönen Reden...“ (A - e e a a)

1. Seht den Architekten schwitzen /: in dem engen Atelier! :/ /: Ach, der Grundriss will nicht klappen, ://: die Fassade schreit o weh! :/

2. Lahmer wird und immer lahmer /: seine trockne Phantasie, :/ /: auf dem Gaumen klebt die Zunge, ://: es verdorret das Genie. :/

3. Und er wirft hinweg den Zirkel, /: durstig will’s nicht länger gehn, :/ /: eilt hinab zum duft’gen Keller, :/ /: wo die Fässer mächtig stehn. :/

4. Wie der Wein die Zunge kühlet, /: wächst ihm neu des Lebens Mut, ://: und es rollt mit jedem Zuge :/ /: lust’ger stets das träge Blut. :/

5. Da erfaßt ein reges Schaffen /: die verjüngte Phantasie; :/ /: fertig steht im Geist sein Bauwerk, ://: klar und schön und sonder Müh’. :/

6. Da muß doch ’ne Wechselwirkung/: zwischen Baun und Trinken sein. :/ /: Durstig werdet ihr vom Schaffen, :/ /: und zum Schaffen treibt der Wein. :/

7. Also hört den Rat, ihr Freunde: /: Treibet’s immer mit Bedacht, ://: plagt am Reißbrett euch, doch trinket ://: zwischendurch und singt und lacht! :/

8. Habt ihr heut’ am Tag gebauet, /: wollt ihr morgen baun mit Lust, :/ /: weiht den Abend heut’ der Flasche, :/ /: jubelnd singt aus voller Brust! :/L. Hoffmann, vor 1877.

Architektur und Alkohol

«Da muss doch ’ne Wechselwirkung/zwischen Baun und Trinken sein», heisst es

in dem Lied «Seht den Architekten schwitzen», das wir einem Liederbuch der Zeit

um 1900 entnommen haben. Die Wechselwirkung zwischen Bauen und Trinken

liesse sich auf verschiedenen Ebenen erörtern – wir widmen uns jedoch nicht ei-

nem individual- oder berufspsychologischen Zugang. Eine von uns lancierte Um-

frage, welcher Wein von Architekten favorisiert wird, scheiterte an mangelnder

Auskunftsfreudigkeit: Trinkgewohnheiten sind Berufsgeheimnis.

Tatsächlich war der Anlass für dieses Heft auch ein anderer: In den vergangen-

gen Jahren beschäftigen sich Architekten verstärkt mit dem Bau von Weingütern.

Michael Graves’ Clos Pegase Winery im kalifornischen Napa Valley stand am An-

fang dieser Entwicklung, die mit der benachbarten Dominus Winery von Herzog &

de Meuron vor wenigen Jahren einen wichtigen Höhepunkt gefunden hat. Seither

suchen sich die Winzer in den Weingebieten der Welt mit spektakulären Bauten

nachgerade zu übertrumpfen: ob in Slowenien oder Italien, Chile oder Australien,

Ka nada, Spanien oder Österreich. Ausgehend von Spanien gibt Hans Hartje im

Eröffnungsbeitrag dieses Heftes einen Überblick über die gesamte Entwicklung;

Dirk Meyhöfer beschäftigt sich mit dem Napa Valley, in dem Architektur gezielt für

das Branding der grossen Weingüter genutzt wird. Anders stellt sich die Situation

in Österreich dar: Wie Ursula Graf aufzeigt, ist die Weinwirtschaft hier kleinteili-

ger organisiert, und es kommt daher eher zu Um- und Anbauten als zur Neuerrich-

tung ganzer Weingüter. Doch auch hier setzen qualitätsbewusste Winzer zuneh-

mend auf die Wirkung qualitätvoller Architektur.

Dem Thema Brauereien und Bierhallen ist der zweite Teil dieses Heftes gewid-

met. Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand mit den «Bierburgen» ein spezifi-

scher Typus für die Bauaufgabe Brauerei. Während Bier heute in unspezifischen

Produktionshallen entsteht, sind in den vergangenen Jahren immerhin einige spe-

zifisch gestaltete Orte des Konsums entstanden.

Redaktion

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Kellereiarchitektur – ein zeitgenössisches Phänomen Der Begriff

«Chateau» führt in die Irre: Weinkellereien sind zunächst einmal

technische Gebäude. Doch seit einiger Zeit unterliegen sie vermehrt

auch einem ästhetischen Imperativ. Zeitgenössische Architektur wird

von den Besitzern eingesetzt, um ihre Marke besser zu positionieren.

WELTWEIT WEIN IN NEUENSCHLÄUCHEN

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Texte français pp. 72–73

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Text: Hans Hartje

Guter Wein wird bekanntlich besser, wenn man ihm Zeit

zum Reifen lässt. Wie zur Illustration dieser Binsenweisheit

stehen in Weinanbaugebieten der ganzen – und vorzüg-

lich der alten – Welt Burgen und Schlösser, die mit Bild

und Namen das Etikett der edlen Tropfen zieren. Dass dem

nicht immer schon so war und auch nicht unbedingt so sein

muss, davon zeugen Kellereibauten ganz anderer Art, wie

sie im 19. Jahrhundert zuerst in Spanien und heute in Wein-

anbaugebieten der ganzen Welt errichtet wurden und wer-

den.

Archäologie

Den symbolischen Auftakt dieser alternativen Geschichte der

Kellereiarchitektur markiert die Real Bodega de La Concha,

welche Manuel Maria Gonzalez Angel und Robert Blake

1862 aus Anlass des Besuchs der Königin Isabel II. im süd-

spanischen Jerez errichten liessen. Das hartnäckige Gerücht,

der halbkreisförmige Fasskeller sei aus der Feder Gustave

Eiffels, ist inzwischen auch offiziell widerlegt, und die frei-

tragende, einer Jakobsmuschel nachempfundene Stahlkon-

struktion als Werk des britischen Ingenieurs Joseph Koogan

identifiziert.

La Concha ist beileibe nicht die einzige architektonisch

interessante Bodega in der Gemarkung Jerez, wohl aber

die einzige reine Stahlkonstruktion. Die meisten anderen ins

19. Jahrhundert zurückreichenden Fasskeller zeichnen sich

vor allem durch ihre – mehrschiffige Kirchenbauten nachah-

menden – Grundrisse, ihre dicken, meist fensterlosen Wände,

ihre oft extreme lichte Höhe (bis 14,50 Meter) und ihre Dach-

konstruktionen aus.

Kellereien nach dem Modell von Kirchen zu erbauen, lag in

Südspanien allein schon aus klimatischen Gründen nahe.

Dazu kommt, dass bei der Weinherstellung ein der liturgi-

schen Wandlung von Wein in Christi Blut analoger Prozess

abläuft. Die ausdrücklich suggerierte Parallele dürfte im Übri-

gen im Unterbewusstsein des Weinliebhabers eine nicht un-

wesentliche Rolle spielen: Wo die Kelterei als säkularisierte

Eucharistie präsentiert wird, darf die Kellerei getrost als

Tempel des guten Geschmacks gelten.

Sherryproduzenten geben als Urheber des Ausdrucks

«Kathedralen des Weins» gern den englischen Reiseschrift-

steller Richard Ford (1796 –1858) an, wohingegen katalani-

sche Winzer ihn dem einheimischen Dramaturgen Angel Gui-

mera (1847–1924) zuschreiben. Wie dem auch sei: Heute

meint der Ausdruck vor allem die zahlreichen Kellereibauten

des katalanischen Modernismo, wie sie in den Jahren

1890–1925 vor allem von Cesar Martinell i Brunet, Josep Puig

i Catafalch und Lluis Domenech i Montaner in den Winzer-

dörfern rund um Barcelona errichtet worden sind. Dabei

ist keineswegs auszuschliessen, dass die erwähnten Archi-

tekten – und allen voran Antoni Gaudí – sich bautechnisch

in erster Linie vom säkularen Modell der gotischen Drassanes

(Schiffswerften) haben inspirieren lassen, wie sie heute

noch in Barcelona zu besichtigen sind (Museu Maritim). Eine

Art von missing link bei der Umwidmung könnten die Bode-

gas Güell in Garraf darstellen, ein Gemeinschaftswerk von

Gaudí und Francisco Berenguer, in denen beide Funktionen

konvergieren.

Als nächster Schritt hin zur Legitimierung zeitgenössi-

scher Architektur im Weinberg dürfte die Anfang der Sech-

zigerjahre getroffene Entscheidung des Italo-Amerikaners

Robert Mondavi gelten, seinem Bruder die vom Vater über-

nommene Krug-Winery zu überlassen und in Oakville (Napa

Valley, Kalifornien) einen Neubeginn zu wagen.

Robert Mondavi Winery wurde 1965 von Cliff May im

für Kalifornien typischen spanischen Missions-Stil gestaltet.

Von der ursprünglichen Anlage existieren heute noch der

weit geschwungene Torbogen und ein Glockenturm, die

als Emblem denn auch das Etikett sämtlicher unter dem

Markennamen Mondavi kommerzialisierten Weine zieren.

Die Winery indes kann beim besten Willen nicht als Proto-

typ des «New World Château» durchgehen (vgl. hierzu auch

den Text von Dirk Meyhöfer, S.18–21). Dieser Status kommt

dann schon eher Opus One zu, das Scott Johnson 1984 für

ein transatlantisches joint venture zwischen Robert Mondavi

und Baron Philippe de Rothschild entworfen hat.1

Opus One ist 1991 fertiggestellt worden, vier Jahre nach

der ebenfalls 1984 von Jan L. Shrem als lokales Konkurrenz-

projekt ins Leben gerufenen Clos Pégase Winery, für die

ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde, an dem nicht weni-

ger als 96 Architektenteams teilnahmen. Die zwei Ge-

bäudekomplexe könnten kaum verschiedener sein, dabei

eignet ihnen ein vergleichbar imposanter Habitus, der sämt-

liche Sinne anzusprechen sucht, dabei allerdings Gefahr

läuft, dass dem Besucher zuerst einmal Hören und Sehen ver-

geht.

Ganz anders – und doch vergleichbar in dem, was sie

unterscheidet – liegen die Dinge bei zwei Kellereien, die im

gleichen Zeitraum in Spanien entstanden sind. Da ist zum

einen die Bodega Raventos i Blanc in Sant Sadurni d’Anoia

1 Antoni Gaudí/Francisco Beren-guer: BodegasGüell, 1895 –1901

2 FranciscoMangado: Bodega Marco Real, Olite,Navarra, 1989/90(Foto: FranciscoMangado)

38 archithese 3.2004

Text: Ursula Graf

Michael Graf Goëss-Enzenberg versteht es nicht nur, eine

Tradition aufrechtzuerhalten, die bis ins Jahr 1608 zurück-

führt, als der Gutshof Manincor errichtet wurde; er vermag

auch eine visionäre Haltung mit wirtschaftlichen Überlegun-

gen zu verbinden. Als er 1991 als ausgebildeter Önologe den

Betrieb übernahm, begann eine neue Ära für das Trauben

produzierende Gut, das keine eigene Vinifikation besass.

Manincor ist heute mit 45 Hektar Ertrag das grösste Wein-

gut Südtirols, das nur eigene Trauben verarbeitet. Das histo-

rische Anwesen liegt äusserst reizvoll – inmitten von Hügeln

voller Rebhänge – an der Südtiroler Weinstrasse mit Blick auf

den Kalterer See. Goëss-Enzenberg erkannte das Potenzial

dieser Lage und beauftragte im Jahr 2001 den Architekten

Walter Angonese mit dem Kellerneubau. «Weniger ist mehr»,

so dachte Goëss-Enzenberg: Charaktervolle, eigenständige

Weine als Spiegelbild von Boden und Klima. Und dazu eine

passende Architektur: Die Eichenfässer sind aus dem Holz

heimischer Wälder gefertigt, und auch der Architekt kommt

aus der Region. Walter Angonese, bekennender Ruraler, der

als Intermezzo urbane Gefilde aufsucht, um dann, mit eige-

nen Worten «im Weindorf Kaltern unter den Lauben zu sit-

zen, den Turbobooster herunterzufahren und weiterzuden-

ken», nennt seine Tätigkeit schlicht: Weiterbauen. Ango -

neses Neubauten (Weinkellerei Hoffstätter, Tramin) oder

Adaptierungen (Festung Kufstein-Josefsburg, gemeinsam

mit Andreas Egger und Markus Scherer) frönen nicht dem

missverstandenen Regionalismus. Er kultiviert durch Weiter-

UNTER DER ERDE Walter Angonese, Silvia Boday, Rainer Köberl:

Weingut Manincor, Südtirol, 2004 Gegenüber

den billigen Weinen der Region Kalterer See

setzt der Önologe Michael Graf Goëss-Enzenberg

auf Qualität. Nun ist ein neues Kellergebäude

entstanden, das weitgehend unterirdisch organi-

siert wurde. Eine starke Erdschicht gewährt

ein konstantes Kellerklima – und überdies gelang

es, die Baumasse in die Hügellandschaft einzu-

betten.

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bauen, Weiterspielen, Weitermachen den Bestand – im Falle

von Manincor auch das Produkt, den Wein auf seine Weise:

«Das eingeschränkte Gesichtsfeld kann eine unbestechliche

Genauigkeit der Beobachtung zur Folge haben. Ein nüchter-

ner, nicht romantisierender Blick auf das Umfeld ist gefragt.

Die unsichtbaren Hilfslinien kommen zum Vorschein. Jetzt

heisst es: Weiterbauen, historische Wucht von Burgmauern

begreifen lernen und leichte architektonische Elemente an-

lehnen.»

Der Architekt lud zwei Kollegen ein – die junge Meranerin

Silvia Boday und den Innsbrucker Rainer Köberl –, gemein-

sam den Kellerneubau zu erstellen. Rainer Köberl kann einen

überschaubaren Werkkatalog vorweisen: Die Liste der

Preise, Nominierungen und Ausstellungsbeteiligungen ist

fast ebenso lang wie die der Bauten. Zeit ist ein Faktor, der

sich auf die Qualität auswirken kann, und dieses Verständnis

scheint das Triumvirat der Architekten mit dem Bauherren in

aller Gelassenheit zu teilen. Als Resultat einer dreijährigen

Planungs- und Bauphase entstand ein monolithischer, vor Ort

gegossener Betonbau. Das unterirdische Gebäude wurde öst-

lich des bestehenden Ansitzes in den Weinberg eingefügt

und übernimmt alle topografischen Vorgaben dieses Ortes.

Nur einzelne Bauteile (Einfahrten, Verkostung und Verkauf)

der auf drei Geschosse verteilten, insgesamt 30000 Kubik-

meter Bauvolumen bei 3000 Quadratmeter bebauten Fläche

treten oberflächlich in Erscheinung. Das jahrtausendealte

Thema Weinkeller wurde unter Ausnutzung des geophysika-

lischen Potenzials und auf ausgereiften önologischen Erfah-

1–3 Ebenen +1und –1 sowieSchnitt 1 :1000

4 + 5 Der Neubauverbirgt sich imHügel, von aussentreten nur wenigeTeile in Erschei-nung(Fotos: WalterNiedermayer)

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Der «Bierpinsel» in Berlin-Steglitz An einer Kreuzung diverser

Infrastrukturachsen entstand vor 30 Jahren in Berlin-Steglitz

der «Bierpinsel», ein aufgeständertes Restaurantbauwerk, das

damals die Visionen der Zeit verkörperte und heute als Ikone

der Siebzigerjahre-Architektur ein neues Potenzial besitzen könnte.

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BIER TRINKEN ÜBER DEM STÄDTISCHEN CHAOS

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Text: Ulrich Brinkmann

Mit einer geballten roten Faust habe er seine Karriere be-

gonnen, scherzt Ralf Schüler im Rückblick auf den gemeinhin

als Bierpinsel bekannten, 1976 fertig gestellten Turmbau,

welcher sich, weithin sichtbar, über dem U-Bahnhof Schloss-

strasse im Berliner Bezirk Steglitz erhebt. Die Zeit ist reif, mit

dem 73-jährigen und seiner Büro- und Lebenspartnerin Ursu-

lina Schüler-Witte über ihren Erstling zu sprechen. Denn zu

entdecken ist ein vielleicht skurriles, gewiss eigenwilliges,

architektonisch aber wohl durchdachtes Gebäude, welches

viel zu lange die Schmähungen all jener auf sich gezogen hat,

die am liebsten die ganze Stadt in Wärmedämmverbundsys-

tem-Klassizismus einpackten hätten, um allenfalls als Ikone

im Zuge des Seventies-Revival Gnade zu finden. Denn warum

eine Architektur wie diese heute, in Zeiten fortdauernder

Krise und allgemeiner Ratlosigkeit, wieder zu faszinieren ver-

mag, liegt weniger in ihrer formalen Eigenwilligkeit begrün-

det als im Überschuss ihres Optimismus, in ihrem Glauben an

die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft.

Als die Kanzel mit ihren drei Restaurant-Ebenen 1977 er-

öffnete, waren neun Jahre Planung und fünf Jahre Bauzeit

verstrichen, waren fünf Projektstufen durchgearbeitet und

drei Eigentümerwechsel überstanden, hatte man für die Su-

che nach Mietern eigens eine im Chic der Zeit gestaltete DIN

A3-Mappe aufgelegt, welche die vielen Nutzungsmöglich-

keiten darlegte (zwischenzeitlich hatte die sowjetische Han-

delsmission ernstes Interesse gezeigt; am Bild der «Roten

Faust» dürfte sie Gefallen gefunden haben), es war ein Bau-

stopp verhängt – und leider auch ein Architektenwechsel

vollzogen worden. Denn nun gehörte das neue Wahrzeichen

des Berliner Südwestens der Wohnungsgesellschaft BEWOGE,

und die hatte ihre eigenen Vorstellungen von gastronomi-

schem Ambiente: Anders als etwa beim ICC am Autobahn-

dreieck Funkturm, welches dieses Jahr seinen 25. Geburtstag

feiert, blieb es den Schülers jedenfalls verwehrt, ihr futuri-

stisch anmutendes Objekt adäquat auszustatten – etwa im

Sinne einer «Luftschiffkanzel».

Langwierige Planungsgeschichte

Unzählige Ordner, darin unübersehbar viele Mappen, darin

unabschätzbar viele Zeichnungen stapeln sich auf dem Tisch

in der von Erich Mendelsohn entworfenen Wohnung der Ar-

chitekten in der Charlottenburger Cicerostrasse. Die beiden

spielen sich die Stichworte und Erinnerungen zu, dass es

eine Freude ist, aber zugleich volle Konzentration abverlangt,

um die Ereignisse nicht zu verwirren. Alles begann mit dem

Auftrag, den neuen U-Bahnhof Schlossstrasse zu gestalten.

Fünf Ebenen sollten sich mit dem Umsteigebahnhof an die-

sem Punkt des Stadtplans mit grossstädtischem Treiben

gegenseitig überbieten: zwei Ebenen für die U-Bahnlinien 9

und 10 (letztere wurde allerdings nie in Betrieb genommen),

eine Verteilerebene mit Läden, die Schlossstrasse, Hauptge-

schäftstrasse des Berliner Südwestens, zuletzt die Hoch-

trasse der Schildhornstrasse, welche zum Autobahnkreuz

Wilmersdorf und zu einer weiteren Ikone der Siebziger-

jahre-Architektur, der Autobahnüberbauung Schlangen -

bader Strasse, führt. Warum das Ganze nicht mit einem

Ruhepunkt krönen, von wo aus sich die städtische Betrieb-

samkeit überblicken liesse; einem Ruhepunkt, der in den bei-

den Sichtachsen Schlossstrasse und Schildhornstrasse für

Orientierung sorgen könnte? Der Senat zeigte sich aufge-

schlossen für die Idee der Architekten, sofern sich denn ein

1 Rückansicht von der Schnell-strasse aus(Fotos 1+3: MilaHacke)

2 Gesamtansichtvon der Strassen-ebene aus(Foto: Udo Meinel)

3 InnenansichtGaststättenebene

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Jean Nouvel: Brasserie Schützenberger, Strasbourg

Im Zentrum von Strasbourg ist vor vier Jahren eine Brasserie

eingerichtet worden, welche den Namen der elsässischen Brauerei

Schützen berger trägt. Sind die Zeichen der Abnutzung auch

tagsüber unübersehbar, so fasziniert die irritierende Belichtung

des Abends stets aufs Neue.

ABENDLICHES MIRAKEL

Text: Uwe Hinkfoth

Trocken-melancholisch und spröde am Tag, aber feuchtfröh-

lich und schillernd in der Nacht zeigt sich diese Brasserie im

Herzen von Strasbourg. An der Einmündung der Rue des

Grandes Arcades in die Place Kléber gelegen – also unweit

der legendären Aubette, deren Innenräume Theo van Does-

burg, Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp in den Jahren

1926 –1928 im Stil der Neuen Sachlichkeit umgestaltet hat-

ten — ist auch hier das Thema Sanierung, Umwidmung: Be-

griffe, die Jean Nouvel an sich nicht mag. Folgt man seinen

Worten, so leben wir in einer Epoche der Veränderung: «Au-

jourd’hui la piste la plus productive c’est celle de la modifica-

tion.» Der Auftrag bestand darin, zwei historische Gebäude,

die durch einen überbauten Innenhof miteinander verbunden

sind und zusammen einen längsrechteckigen, allzu schmalen

Grundriss bilden, für eine Brasserie heutigen Geschmacks

dienstbar zu machen – den Architekten reizte die Aufgabe,

das Vorhandene mit Leben zu füllen. Im verdichteten Wohnen

und Arbeiten der Altstadt von Strasbourg findet sich wenig

Spielraum für Neues, – und wenn, dann im Innern eines his-

torischen Gebäudes, dessen Aussenbild aber von Eingriffen

weitgehend bewahrt sein soll. Bei der Einrichtung der neuen

Brasserie liess man den Bereich der beiden unteren Stock-

werke nicht unangetastet. Das Geschäftshaus aus den Zwan-

zigerjahren, dessen Geschoss-, Trauf- und Firsthöhe und

dessen Fensterformate nicht am historisch gewachsenen

Umfeld orientiert waren, erhielt durch Nouvel eine sachliche

Eingangszone. Zwischen mächtigen Pfeilern aus rotem Sand-

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A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Dreiecke, zersplittertPÉRIPHÉRIQUES: NOUVEAU CASINO UNDDE LA VILLE CAFÉ, PARISZwei Entwürfe der Pariser Gruppe Péri-

phé riques bereichern bestehende Gastro-

nomie lokale um neue Räume, welche

mit feiner Ironie den Eingriff in historische

Strukturen thematisieren. Die Beschäf-

tigung mit Form, Material, Raum und Oberflä-

che und das Spiel mit den Erwartungen

des Betrachters lassen erstaunliche Effekte

entstehen. Beiden Projekten gemeinsam

ist die Verwendung dreieckiger Paneele als

dreidimensionales Mosaik.

Nouveau Casino, 2000–2001

Die Pariser Rue Oberkampf hat sich in den letztenJahren zu einem beliebten Ziel für Nachtschwär-mer entwickelt. Einen Anziehungspunkt bildet derim Sommer 2001 eröffnete Konzertsaal NouveauCasino: Er beherbergt eine Bühne, eine Bar, eineGalerie mit Lounge und Regie-Pult sowie Raum für400 Zuschauer und ermöglicht es, mitten im äus-serst dichten städtischen Gefüge Veranstaltungenmit einer Lautstärke von bis zu 135 dBA durchzu-führen. Der besondere Reiz mag indes in der Kom-bination mit dem traditionellen Café Charbon undin der gelungenen Gestaltung des Innenraumesliegen.

Das Café Charbon stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts und weist diverse Charakteristikaauf, die Einheimische wie Touristen mit einem typi-schen «Café Parisien» assoziieren: hohe Decke,bunter Mosaikboden, Schiefertafel, grosse Spie-gel und Wandmalereien tanzender Damen undHerren. Daran hat sich auch nach dem Umbaudurch Périphériques nichts geändert; neu ist le-diglich, dass das Café Charbon dank der neuenKüchen im Erd- und Untergeschoss als Restaurantbetrieben wird.

Der rückwärtige Teil mit dem Konzertsaal da-gegen ist ein Neubau und auch deutlich als sol-cher zu erkennen. Erschlossen wird der Raum, dermitten in die dichte Blockrandbe bauung eingefügtwurde, entweder durch einen Gang direkt von derStrasse aus oder durch einen Zugang vom Caféher, welcher vollständig mit schwarzen Stahlplat-ten ausgelegt ist. Auch im Inneren herrscht roherStahl als Baustoff vor: Über den Hartbetonbodenwölbt sich eine zersplitterte, aus dreieckigen Stahl-paneelen zusammengesetzte Struktur, die einenhöhlenartigen Raumeindruck entstehen lässt. Zielder Architekten war es, eine an Starwars gemah-nende Atmosphäre zu erzeugen; die Kombinationvon uriger Höhle und metallischem Hightech ist jedenfalls eindrücklich. Die Stahlplatten unter-scheiden sich nicht nur in der Grösse, sondern

1+ 2 Die projizierten Bilderzerschellen an der ausDreiecken zusammenge-setzten Oberfläche(Simulation Architekten)

3 Innenansicht mit Bar austransluzentem Harz undProjektionen(Fotos: Luc Broegli)

4 Grundriss

5 Schnitt

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auch in der Oberflächenbeschaffenheit: Es gibtsie glatt, perforiert – und daher Schall absorbie-rend – oder verspiegelt. Die Fugen zwischen denPaneelen sind offen, dahinter verbergen sichsämtliche technische Installationen. Insgesamt istdie Wand des Gebäudes ein Meter dick, und derKonzertsaal ist als Box in der Box konstruiert, umSchallemissionen zu verhindern.

Die Schwere der Metalloberfläche wird durchden Einsatz des Lichtes gemildert. Kronleuchterhängen von der Decke, und die Bar – ein längli-ches, organisches Gebilde aus transluzentemHarz – kann in verschiedenen Farben von innenbeleuchtet werden. Eine ausgeklügelte Video -inst a l lation ermöglicht es zudem, den ganzenRaum mit Projektionen zu bespielen, die mandurchaus als moderne Nachfolger der Wandmale-reien im Café betrachten kann. Die Bilder zer-schellen an der fragmentierten Oberfläche, wer-den gespiegelt oder überblendet – und das heavymetal verwandelt sich in eine bewegte Tapete.

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