archithese 4.05 - Trash
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architheseGünstiges Bauen – Rationalisierung und Gefühl
Slums – Gewaltspirale und urbane Segregation
Jenseits von Kitsch – Disneys Welten
Baukunst für alle! Discounter bauen billig
Betrachtungen über die Peripherie
Countrytrash und Westernpop
Bauten und Projekte: Cité Manifeste, Mulhouse
Jean Nouvel, Shigeru Ban / Jean de Gastines,
Lacaton & Vassal, Duncan Lewis / Potin + Block,
Mathieu Poitevin / ART’M
Herzog & de Meuron Allianz Arena, München
Peter Eisenman Holocaust-Denkmal, Berlin
Bünzli Courvoisier Siedlung Hagenbuchrain, Zürich
4.2005
Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Revue thématique d’architecture
Trash
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Teppiche von TISCA TIARA
Auswärtiges Amt Berl inArchitekt: Prof. H. KollhoffFotograf: Ulrich Schwarz
Leserdienst 101
000_Umschlag 4.05 12.7.2005 14:23 Uhr Seite 1
2 archithese 4.2005
E D I T O R I A L
Trash
In der USA werden Menschen weisser Hautfarbe, die sich auf den untersten Stu-
fen der sozialen Leiter befinden, zynisch als White Trash bezeichnet. Marylin
Manson hat sie besungen, Eminem trotzig verkörpert – und dann hat sich die Mode
ihrer bemächtigt. Mittlerweile gibt es für alle, die es sich leisten können, White-
Trash-Kochbücher, White-Trash-Sushi (für Speck-Maki nehme man Sushireis,
Speck, Gurke, Mayonnaise und Nori), White-Trash-Wrestling mit Stars wie El
Ninja, Yeti, Dr. Hercules und Educator, ein Berliner Lokal namens White Trash Fast
Food und die belgische Band White Trash European Blues Connection.
Trash ist Trend, auch in der Architektur. Spätestens seit Le Corbusier sind
Künstler und Architekten von der tektonischen Wucht anonymer Industriebauten
fasziniert; zunehmend entdeckt auch die urbane Partyszene die räumlichen Qua-
litäten von heruntergekommenen Silos, Bunkern und Tiefgaragen. Von da ist es nur
noch ein kleiner Schritt zu Bars im echten oder falschen Stil einer wieder zum Le-
ben erweckten Epoche. Der «gute Geschmack», von der Popkultur erschüttert und
in der Postmoderne auf eine harte Probe gestellt, lässt sich in kulturell diversifi-
zierten Gesellschaften ohnehin nicht mehr allgemein gültig definieren. Wer vor ei-
nigen Jahren vielleicht noch fürchtete, als Kulturbanause dazustehen, baut sich
heute hemmungslos eine Villa nach eigenem Gusto – oder vielmehr nach dem Vor-
bild leicht konsumierbarer Themenparks, Moden und Fernsehserien. Ob geschäfts-
tüchtige Promoter viel Geld mit billiger Ästhetik verdienen oder ob kritische
Architekten ironisch-liebevoll darüber sinnieren, wie es die Londoner Gruppe
FAT (archithese 5.2004) oder die Analogen tun: An Trash kommt man kaum vor-
bei. Spaziergänge in Disneyland, in DDR-Western-Städten und im Schweizer
Hinterland stimmen nachdenklich; die Normbauten grosser Discounter, die häufig
sowohl im ökonomischen als auch im ästhetischen Sinn billig sind, ebenfalls.
Nun gibt es aber neben den gut betuchten Bohemiens, die mit Industrieästhe-
tik und trashy style kokettieren, und den naiven Häuslebauern, die sich ehrlich
über gefällige Formen freuen, auch jene, für die günstige Wohnbauten eine Über-
lebensfrage bedeuten. Eine Milliarde Menschen weltweit lebt in Slums, nicht
selten in unbeschreiblich elenden Behausungen, die notdürftig aus Abfall zu-
sammengebastelt sind. Räumliche und soziale Segregation sind die Folge; Abhilfe
kann nur in Zusammenarbeit mit den Betroffenen geschaffen werden. Gefragt sind
in erster Linie Wirtschaft und Politik, aber auch die Architekten.
Selbst in privilegierten Ländern ist der Bedarf nach Sozialwohnungen ungebro-
chen: Die Frage nach der Wohnung für das Existenzminimum ist noch lange nicht
beantwortet. Besorgte Industrielle des 19. Jahrhunderts, die architektonische
Avantgarde der Zwanzigerjahre, der Nationalsozialismus, der real existierende
Sozialismus, westliche Sozialstaaten und zahllose engagierte Architekten haben
sich des Problems angenommen; heute kommen Fertighausanbieter und Möbel-
hersteller hinzu, eine Tendenz, die viele als beunruhigend empfinden. Dennoch: Es
entstehen immer wieder gelungene Beispiele, die zeigen, dass günstige Bauweise
und mangelnde architektonische Qualität nicht unbedingt zusammenfallen
müssen. Die soeben fertig gestellte Cité Manifeste in Mulhouse vereinigt gleich
fünf Projekte, die trotz Sparzwang grosszügig und phantasievoll gestaltet sind.
Billige Ästhetik, Slums und günstige Bauten in hoher architektonischer Qualität
– die schimmernden Facetten des Begriffs Trash sind Thema dieses Heftes.
Redaktion
Trash à gogo:GebäudesatzDiscounter-Markt (Foto: Judit Solt)
002-007_Editorial/Ins.qxp 12.7.2005 11:16 Uhr Seite 2
8 archithese 4.2005
zuschöne die Aura der Lügenhaftigkeit abgestreift und ist
zum Residuum des Authentischen geworden. Fraglos ist das
für die Moderne hart: Als die Avantgarde sich vor knapp hun-
dert Jahren zu formieren begann, speiste sie sich aus der Kri-
tik am sterilen und verlogenen Eklektizismus der akademi-
schen Baukunst. Steht also nun, an ihrem vermeintlichen
Ende, eben jener Kitsch, gegen den sie einst angetreten war?
Ikea und die Identität nach Norm
Wenn die Architektur selbst darauf keine Antwort zu geben
vermag – ein Möbelhaus immerhin hat eine formuliert. Als
kleine Versandfirma im Jahr 1943 in der schwedischen Re-
gion Småland geboren und seitdem – unbeeindruckt von jed-
weder Wirtschaftskrise – steil expandierend, stellt Ikea ein
Phänomen dar. Auf den ersten Blick ist es einfach der Aus-
druck mittlerer, utopieschwacher, aber pragmatischer Ver-
nunft, an der jeder teilhat, auch derjenige, der die Teilhabe
verweigert. Die Gründung der ersten deutschen Filiale 1974
in München traf auf eine junge Generation, die sich auf der
Flucht befand aus dem elterlichen Ambiente von Schrank-
wänden in Eiche rustikal, orientalisierenden Sesselungetü-
men und Vertikos, die als unverrückbare Trutzburgen dem
Sonntagsgeschirr Zuflucht boten. Hell, mobil, funktional,
leicht zu säubern, transparent und nie eine Entscheidung
fürs Leben: Ikea produzierte die idealen Möbel für die erste
bewusst bindungsschwache Generation. In jedes Ikea-Möbel
ist die bevorstehende Trennung mit eingebaut, der klassi-
sche Kunde «besserer» Möbelhäuser dagegen besiegelte
Text: Robert Kaltenbrunner
Vom englischen Klerikalen und Schriftsteller G. K. Chesterton
stammt der schöne Satz: «Was hatte man ‹dem kleinen
Mann› nicht alles versprochen: das Land Utopia, den kom-
munistischen Zukunftsstaat, das Neue Jerusalem, selbst
ferne Planeten. Er aber wollte immer nur eins: ein Haus mit
Garten.»
Die Ironie kann den wahren Kern dieser Aussage kaum
verdecken. Allzu offensichtlich ist, dass vor allem im Woh-
nungsbau Zeitgeist, bildersprachliche Nostalgie und das ak-
tuelle Angebot im lokalen Baumarkt eine (un)heimliche Alli-
anz eingehen. Hat die Postmoderne, wie sie Charles Jencks
vor einem Vierteljahrhundert vollmundig propagierte, sich
unseres Alltags bemächtigt «durch Erweiterung der Sprache
der Architektur [ . . . ] zum Bodenständigen, zur Überlieferung
und zum kommerziellen Jargon der Strasse»1?
Zumindest scheint das Phänomen gesellschaftlich umfas-
send: Die Trash-Kultur blüht, der Unterschied zwischen
Kunst und Kitsch lässt sich kaum mehr dingfest machen.
Nachschöpfung, Fälschung und Simulation sind zu einem
selbstverständlichen Teil der Alltagsästhetik geworden,
Wiederaufbau und Rekonstruktion gelten als legitime und
anspruchsvolle Bauaufgaben. «Heimat» gehört zu jenen sen-
timental aufgeladenen Vokabeln, die uns das 19. Jahrhundert
reichlich beschert hat; seither wurde sie als handfester Be-
sitz an Gut und Boden umgemünzt. Und als die Postmoderne
das Sein zu einer Frage des Designs erklärte und mit der Ent-
deckung der Lebenswelt das Banale nobilitierte, hat das All-
ÄSTHETISCHES HEIMWEH1
008-013_Kaltenbrunner 11.7.2005 14:35 Uhr Seite 8
9
eine Heirat mit dem langjährigen Ratenvertrag für Küche,
Wohn- und Schlafzimmer. Indem Ikea auf Fachverkäufer ver-
zichtet, eliminiert es gleichsam den Agenten einer Ge-
schmackskonvention. Dem Individualismus wird viel Raum
gegeben, der Tendenz zur Abschottung Vorschub geleistet.
Der junge Mensch, der in den Siebzigern den Mann im Mö-
belhaus für eine Art Erziehungsinstanz hielt, ist auch heute
noch allergisch auf Beratung in Stilfragen.
Bei Ikea gibt es, grob gesagt, eine domestizierte Variante
der Bauhausästhetik zu kaufen. Deren Nüchternheit ist abge-
mildert durch die skandinavische Wohnfolklore, die auf einem
sorgsamen Umgang mit Farben und Licht setzt. Inzwischen
wird der ursprünglich auf Kiefernholz basierende Ikea-Look
durch Hartschaum, PVC, Metall, Nylon und Leder ergänzt, der
hölzerne Minimalismus um poppigere Artikel erweitert.
Das Ikea-Design ist weltanschaulich scheinbar neutral; es
ist weder esoterisch angehaucht wie die Futon- und Ost-
asienmode, idyllisiert nicht wie der Landhausstil und protzt
nicht wie das aktuelle amerikanische Art-déco-Revival. So ist
Ikea zum Umschlagplatz einer Wohnlichkeit geworden, die –
paradox genug – Vereinzelung und Vermassung vereint.
Konsum, Kitsch und Moral
Damit hat Ikea geschafft, was der Architektur bislang trotz al-
ler Anstrengungen verwehrt blieb. Kaum je hat diese einge-
sehen, dass es einer persönlichen Ausgestaltung von Iden-
tität und Geborgenheit bedarf – und sei es in immergleichen
Schablonen. Der Möbelkonzern hat verstanden, dass Mas-
senkultur eine Angebotsökonomie darstellt. Die ethisch-mo-
ralische Haltung der Architektur scheint dem nach wie vor
entgegen zu stehen – obwohl es dem Konsumenten nicht um
den Nachvollzug eines vom Architekten erfundenen Inhalts
geht, sondern um die eigene Findung von Bedeutung im Kon-
text des alltäglichen Lebens. Denn Heim und Heimat entste-
hen heute nicht mehr beim Häuslebauen als aktiver Durchar-
beitung der privaten Umwelt, sondern in konsumierender
Aneignung ästhetischer Identitätsangebote.
Die dann allerdings schnell unter Kitsch-Verdacht fallen.
Doch von welchem Standpunkt werden Ramsch, Tand und
Trash als solche definiert? Oder, in Wolfgang Welschs Wor-
ten: «Die gesellschaftliche Zuweisung spezifischer Orte und
Terrains setzt einen Standard von Normalität voraus. Wie klar
ist dieser heute noch? Besteht er überhaupt noch in einer Ge-
sellschaft, von der man gesagt hat, sie habe keine einheitliche
Form mehr, sondern sei durch die lockere Verknüpfung nicht
nur unterschiedlicher, sondern geradezu heterogener Grup-
pen, Lebensformen und Sprachspiele gekennzeichnet?»2
Von einem «Komfort des Herzens», der die Kunst erst zum
Gebrauch qualifiziere, sprach einst Walter Benjamin: «le-
bendige Formen» gibt es für ihn nur um den Preis, dass sie in
sich etwas Erwärmendes, Brauchbares, Beglückendes ha-
ben, dass sie dialektisch den «Kitsch» in sich aufnehmen,
sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch
überwinden können.
Sozialpolitisch engagierte Avantgarde
Aneignung dessen, was in Serie hergestellt wird, ist längst
eine grundlegende Forderung an die Architektur. Relativie-
rend wäre also auf ein Jahrhundert zurückzublicken, in des-
sen höchst unterschiedlichen Phasen Massenfertigung und
Industriekultur, Verbilligung und Entgrenzung, Rationalisie-
rung und Publikumsgeschmack nicht nur institutionalisiert
wurden, sondern auch Hand in Hand gingen. Viele Akteure
mussten unter dem Druck der Verhältnisse darauf hinarbei-
ten, günstige Behausungen in ausreichender Menge verfüg-
bar zu machen: Weite Kreise der Bevölkerung natürlich, aber
auch Politiker und Parteien – zur Legitimation ihrer selbst –
und die (Bau)Industrie, weil sich mit solchen Modernisie-
rungsimpulsen Geld verdienen und die Voraussetzung für
künftige Absatzmärkte schaffen liess. Die Avantgarde hatte
Rationalisierung und Sentiment in der
Architektur Von der idealistischen Wohnung
für das Existenzminimum über die «totale»
Wohnungspolitik der NS-Zeit und den Plattenbau
des real existierenden Sozialismus bis hin zum
heutigen Fertighaus: Rationalisierung und
Publikumsgeschmack sind nicht ohne weiteres zu
vereinbaren. Die Architektur tut sich mit den
gegenläufigen Tendenzen Individualisierung und
Standardisierung schwer.
21+2 Bruno Taut,Martin Wagner:Siedlung Britz,Berlin, 1925–1927Von der Stadtkronezum Pragmatismus –der Kostendruckerzwang einfacheGrossformen(Peter Gössel,Gabriele Leuthäuser,Architektur des 20. Jahrhunderts,Köln 1994, S. 157)
1 Ansicht 2 Plan
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24 archithese 4.2005
DUNCAN LEWIS, ANGERS UND BLOCK, NANTES
1
4
014-027_Solt Mulhouse 11.7.2005 14:36 Uhr Seite 24
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dockt, zum Teil innerhalb und zum Teilausserhalb des ursprünglichen Baukörpers,sei es im Erd- oder Obergeschoss. DieVegetation und der Luftraum über derParzelle werden ebenfalls als Voluminaverstanden und mit Zäunen räumlich gefasst:Dadurch entstehen Gärten, Lauben, gedeckteVorzonen, Autoabstellplätze, Veranden undTerrassen. Die vielfältigen Innen- undAussenräume sind miteinander verbunden
Architektur: Duncan Lewis, Angers undBlock, Nantes; Ausführung: Agence Scapemit Block; Bauherrschaft: SOMCO, Mulhouse
Duncan Lewis, Angers und Block, Nantes
Die Architekten liefern mit ihren zwölf Zwei-bis Vierzimmerwohnungen eine spannendeNeuinterpretation des carré mulhousien,wobei sie sowohl die ursprünglich strengeGrundrissdisposition als auch die wuchern-den An- und Umbauten geschickt aufgreifen.Drei freistehende Einheiten werden kreuz-weise in Viertelhäuser geteilt, ein Block mitder Küche und den Nassräumen aller vierWohnungen bildet das Rückgrat des Erdge-schosses. Der ebenerdige Wohnraum ist 5 mhoch; die Zimmer werden wie Kuben ange-
1 Ansicht von derhistorischen Citéaus; im Hintergrundist die Häuserzeilevon MatthieuPoitevin / ART’M zusehen (Fotos: Jean-MichelLandecy)
2+3 Strassen-ansichten
4+5 GrundrisseErd- und Oberge-schoss 1:500
2 3
5
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32 archithese 4.2005
«Die im Dunkeln sieht man nicht.» Bertolt Brecht, 19301
Text: Marc Angélil
Nahm sich in den Siebzigerjahren die Architektengilde vor,
vom billigen Städtebau Las Vegas’ zu lernen, so stellt sich
heute die Frage, ob die Entwicklung der Slums nicht umso
dringlicher eine Neuausrichtung des Fachgebiets erfordert.
Wohin man auch in den Städten der Dritten Welt blickt, wird
unser Verständnis dessen, was Urbanismus bedeutet, kom-
promittiert. Armut, Müll, Regellosigkeit bestimmen den Le-
bensraum Abertausender von Menschen – sei es in Bombay,
Caracas, Dhaka, Kairo, Lagos oder São Paulo. Verheerend
sind die sozialen Bedingungen, desolat die ökonomischen
Verhältnisse, trostlos ist die physische Umwelt. Und dennoch
scheinen diese Städte zu funktionieren. Zeugt der verwerfli-
che Ton der flüchtig gefällten Urteile nicht von der Unfähig-
keit, andere Formen sozialer, ökonomischer und räumlicher
Organisation in Betracht zu ziehen? Oder stehen die Phäno-
mene uns vielleicht doch so nahe, dass wir sie nicht für wahr
erachten möchten? Weder Überheblichkeit noch Hilflosigkeit
sind angebracht. Denn die Städte entstehen, wachsen und
1
SLUMS, URBANE SEGREGATION
Zonen der Inklusion und Exklusion Wie eine
kürzlich veröffentlichte Studie der Vereinten Natio-
nen nachweist, bahnt sich seit geraumer Zeit
eine Entwicklung an, deren Folgen kaum einschätz-
bar sind. Während gegenwärtig weltweit eine
Milliarde Menschen in Armen- und Elendsvierteln
leben, weisen Prognosen darauf hin, dass sich
diese Zahl in den nächsten Dekaden – sollten die
erforderlichen Massnahmen ausbleiben –
verdoppeln könnte. Bislang vom Architektur- und
Städtebaudiskurs ausgeklammert, wird sich
die Auseinandersetzung mit Fragen der urbanen
Behausung für Minderbemittelte zukünftig
dieser Herausforderung kaum verwehren können.
032-037_Angelil Slums 11.7.2005 14:38 Uhr Seite 32
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1 Caracas, Vene-zuela, 2003«Venezuela’sEconomy Down 29Percent in FirstQuarter» (Foto: KimberlyWhite/GettyImages)
2 a Lagos/Kollhaas,FilmstillVideofilm, 2002Leitung: RemKoolhaas, Regie:Bregtje van der Haak
2 b Lagos Wide &Close; an InteractivJourney into anExploding City,Filmstil CVD-Film, 2005Leitung: RemKoolhaas, Regie:Bregtje van der Haak
Weltbevölkerung anzustreben. Dass sich die Organisation
der Völkergemeinschaft vornahm, die Probleme der zuneh-
menden Urbanisierung anzugehen, deutete schon damals auf
die Dringlichkeit der Sachlage hin. Trotz unzähliger bemer-
kenswerter Projekte – Kooperationen mit lokalen Behörden,
soziale Beihilfe und Unterstützung bei der Erstellung techni-
scher Infrastrukturen –, die vornehmlich zur politischen Sen-
sibilisierung für die Komplexität der Problematik beitrugen,
scheint sich die Situation kaum gemildert zu haben. Der kürz-
lich publizierte Bericht The Challenge of Slums legt dies auf
unmissverständliche Weise dar.7
Die Zahl der Menschen, die in Slums leben, ist seit den
Neunzigerjahren drastisch gestiegen. Verschiedene Fakto-
ren haben zur Beschleunigung der Entwicklung beigetragen:
Die Zunahme der Weltbevölkerung, kombiniert mit der un-
aufhaltsam fortschreitenden Migration der ländlichen Ein-
wohnerschaft in städtische Gebiete, sowie auch das sich
weiterhin verschärfende Gefälle zwischen armen und reichen
Gesellschaftsschichten haben zur unkontrollierbaren Aus-
breitung minderwertiger urbaner Behausungen geführt –
nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern zunehmend
nehmen in zunehmender Geschwindigkeit Form an: «quick,
loose, and dirty», wie sich der Architekturkritiker Robert So-
mol angesichts der Zustände der unmittelbar an den Verei-
nigten Staaten angrenzenden mexikanischen Stadt Tijuna
ausdrückt.2
Wo immer ein Stück Land nicht formell beansprucht wird,
kann es in Beschlag genommen werden. Kaum wird ein Ge-
biet besetzt, entstehen Formen urbaner Strukturen, mit Pfa-
den, Hütten, Gehegen, Ständen, Material- und Abfalldepo-
nien. Diese mögen im Nu wieder verschwinden und in ver-
änderter Gestalt andernorts auftauchen. Dass wir es hier mit
einem beinahe unbezähmbaren Biest zu tun haben, wird in
einem Dokumentarfilm über Lagos deutlich, der kürzlich un-
ter der Leitung von Rem Koolhaas und in der Regie von
Bregtje van der Haak gedreht werden konnte.3 Die Wahl des
Untersuchungsobjekts überrascht nicht, denn Nigeria weist
– gemäss einer Statistik der Vereinten Nationen – weltweit
den tiefsten Human Development Index auf. Der Film behan-
delt das Getriebe der Stadt, ihre vermeintlich ungeregelten,
gleichwohl funktionierenden Mechanismen urbaner Produk-
tion. Für viele stellt die Metropole mit ihren 15 Millionen Ein-
wohnern ein Rätsel dar, insoweit ihre Ordnung grundlegen-
den Prinzipien tradierter Planung widerspricht. «Was sich
auf den ersten Blick als eine dem Zufall überlassene Ent-
wicklung präsentiert, erweist sich bei genauerer Betrachtung
als eine hoch strukturierte Situation.»4 In vielen Belangen
zeugen die getroffenen Massnahmen von einer bemerkens-
werten Ingeniosität – betreffend des Umgangs mit Dichte,
der Festlegung von Ad-hoc-Verfahren ausserhalb formeller
Strukturen, der ökonomischen Selbsthilfe, der Mehrfachnut-
zung der zur Verfügung stehenden Flächen und des elemen-
taren Einsatzes von Baumaterialien und Konstruktionsme-
thoden. «Der Eindruck, den die Stadt hinterlässt, ist der eines
sehr armen Lebensraums, der allerdings sehr reich ist an In-
telligenz und Kreativität, der – aus einer Mischung von Opti-
mismus und Improvisation – sich auf unglaublich produktive
Weise komplizierten Verhältnissen annehmen kann.»5 So-
nach die Beobachtungen überzeugen, deuten sie ferner da-
rauf hin, dass diese Stadt weniger ein Sonderfall als eine ex-
treme Manifestation einer sich weltweit abzeichnenden Ten-
denz darstellt. Stellvertretend für andere Städte weist Lagos
auf eine Entwicklung hin, die in ihren prototypischen Eigen-
schaften zur Regel werden könnte. Sollte sich diese Voraus-
sage bewahrheiten, wäre es nicht mehr eine Frage, «ob La-
gos mit dem Westen Schritt halten kann, sondern ob wir in
der Lage sind mit Lagos Schritt halten zu können».6
UN-Habitat
Die Instanz der Vereinten Nationen, die sich der urbanen Um-
welt und deren Entwicklung annimmt, ist das United Nations
Human Settlements Programme, gemeinhin unter der Be-
zeichnung UN-Habitat bekannt. Die an der Weltkonferenz in
Istanbul 1996 angenommene Erklärung gab in der so ge-
nannten Habitat Agenda den Vorsatz kund, im internationa-
len Raum nachhaltige Urbanisationsprozesse zu fördern und
eine Verbesserung der Wohnbedingungen der mittellosen
2b
032-037_Angelil Slums 11.7.2005 14:38 Uhr Seite 33
46 archithese 4.2005
Cowboy, stark und männlich. Wir träumen vom Helden in
uns, doch die Stadt lässt keine Helden zu, hier sind alle gleich.
Der Wilde Westen ist eine Fiktion, eine Gegenwelt zur All-
tagsrealität, der Wilde Westen ist der Traum von Freiheit,
Weite, Abenteuer. Aber den Wilden Westen gibt es nicht nur
im Kino, der Wilde Westen ist ein Stück Realität, der Wilde
Westen ist überall, direkt um die Ecke, neben der eigenen
Haustür. Westernclubs, Countrybands, Bull-Riding-Festivals.
Im Radio, im Schrebergarten, im Freizeitpark.
Auch Berlin ist Wilder Westen. Der Wilde Westen in Berlin
ist eine mehrfach gebrochene Gegenwelt, weil Berlin nicht
eins ist, sondern vieles: Das alte West-Berlin, das alte Ost-
Berlin, das hippe Berlin-Mitte, das verarmte brandenburgi-
sche Umland. Überall Wilder Westen, überall eine andere Be-
deutung, überall ein anderer Traum von Freiheit.
Old Texas Town
«Old Texas Town, die Westernstadt, liegt mitten in Berlin.
Cowboys feiern überall, egal wohin sie zieh’n.
Sie haben Spass am Feiern und einem neuen Spiel.
Old Texas Town, die Westernstadt, liegt mitten in Berlin.»2
Text: Friedrich von Borries, Torsten Fremer
«Der Mythos verklärt den einfachen Viehtreiber zum Ritter
und entzaubert ihn zugleich. Der Cowboy hütet nicht nur die
Herde, er stiehlt sie auch. Er schiesst sie zusammen oder ver-
kauft sie und macht sie zu Geld. Der Cowboy ist gut und böse.
Er spaltet sich in Held und Verbrecher. Sein Zwitterwesen er-
zwingt das Duell am Ende jedes Westerns. [ . . . ]
Der Cowboy beschützt seine Herde, er gibt ihr Halt. Er
selbst hat Haltung. Er hält sich zurück und zügelt seine Lei-
denschaft. [ . . . ] Der Westernheld treibt seine Herde in die
neue Welt, Ritter in Cowboystiefeln, in Rinder verwandelte
Menschen. Federngeschmückte Naturwesen, grausam und
gut, hocken am Wegrand. Der Zauber verschwindet. Der Irr-
garten der Prärie ist graue Grossstadt geworden.»1
Die Stadt ist ein Moloch. Dreckig, verrucht, gefährlich. Die
Stadt ist das Böse, die Welt des Gangsters. Sein fiktives
Gegenüber ist der Cowboy, der Held, der Ehrenhafte, der
aber immer auch ein Gangster sein kann. Jeder von uns ist
ein Gangster, geprägt von der Gier nach mehr, mehr Geld,
mehr Macht, mehr Ruhm, mehr Liebe. Wir alle träumen vom
COUNTRYTRASH UND WESTERNPOP
Eine architektonische Reise durch
Berlin Verschiedene Westerndörfer
und Westernclubs in und um Berlin wur-
den und werden als Gegenwelten zur
Alltagsrealität genutzt. Ob im alten West-
Berlin, im alten Ost-Berlin oder nun in
der wieder vereinigten Hauptstadt: Der
Cowboy, der der untergehenden Sonne
entgegen reitet, steht für den Helden, den
es in der Stadt nicht geben kann.
1
046-049_Borries 11.7.2005 14:42 Uhr Seite 46
47
West-Berlin, umgeben von der Mauer, bedroht vom Kalten
Krieg. West-Berlin, der Vorposten der freien Welt im Kommu-
nismus. Hier erlangt der Mythos von Freiheit, Weite und
Abenteuer eine besondere Bedeutung. In Spandau, im ame-
rikanischen Sektor von Berlin, gründet sich 1950 der Cowboy
Club Old Texas Town. Auf der Suche nach einer neuen Welt,
die in einer fiktiven Vergangenheit liegt, wird eine eigene
Stadt gegründet.
«Mitte der fünfziger Jahre verfügte dann der Cowboy Club
Old Texas Town dicht neben dem Kraftwerk Reute über ein
schön gelegenes Gelände. Hier entstand in mühevoller Klein-
arbeit die Lone-Star-Ranch, die 1956 eingeweiht werden
konnte. Das Clubhaus auf der Lone-Star-Ranch war im alten
Texasstil erbaut, mit der typischen Porch vor der Front. Das
Innere diente als Versammlungsraum und beherbergte eine
kleine Texasbar, das Marshal’s Office und einen Küchenraum.
Die Wände waren so stilecht dekoriert, dass dem Western-
freund das Herz lachte. [ . . . ] 1968 musste der Verein der Kraft-
werkserweiterung weichen. Dank der Verhandlungen des
1. Vorsitzenden Fritz Walter verpachtete die Firma Siemens
dem Cowboy Club Old Texas Town 14000 qm Brachland. [ . . . ]
Es begann der Aufbau der Town Old Texas. Es wurden viele
Entwürfe gemacht und wieder verworfen, bis der richtige
Plan der Stadt geboren war. Der Abriss der alten Ranch und
der Neuaufbau auf märkischen Sand konnte beginnen.
Mit dem Pioniergeist, mit dem einst die Amerikaner ihren
Westen erschlossen hatten, karrten die Grossstadt-Cowboys
Mutterboden heran, pflanzten hunderte von Bäumen und
Sträuchern und gründeten ihre Stadt. Holz und Steine wurden
aus Abrisshäusern organisiert. Am 5. Mai 1973 konnte Mary’s
Saloon eröffnet werden. Mit seinen 160 Plätzen ist er das kul-
turelle Herz von Old Texas Town.
Wie einst in Amerika wuchs die Stadt ständig. Viele origi-
nalgetreue Häuser entstanden wie zum Beispiel das Court-
house, Jail, Bank of Texas, die Postkutschenstation Wells
Fargo, Fort Steuben mit dem Alamo-Denkmal und das Block-
haus. Aus dem märkischen Sand wurde ein Canyon aufge-
schüttet, in dem sich die mexikanische Cantina versteckte,
und am Lagerfeuer konnte man der Musik lauschen.
Einiges davon ist leider Vergangenheit, da die Firma
Siemens einen Teil des Geländes eingeplant hatte für die
Werner von Siemens Mehrzweckhalle.»3
Berlin, das ist die Frontier des 20. Jahrhunderts. Im ame-
rikanischen Wilden Westen des 19. Jahrhunderts war Freiheit
kein abstrakter Begriff, sondern eine Handlung. Freiheit war
die Beweglichkeit der Grenze. Die Frontier, die sich nach
Westen verschiebt, bedingt eine Kultur des Wachstums,
schafft eine Freiheit, die neue Räume erobert. Doch die mo-
derne Stadt lässt keine Freiheit zu. Der Lonesome-Cowboy ist
eine Fiktion. In der modernen Stadt bleibt der Cowboy ein
Verlierer. Erst muss er dem Kraftwerk weichen, der moderne
Mythos der Industrialisierung holt ihn ein. Er zieht weiter
nach Westen und baut sich eine neue Stadt, doch auch diese
wird zerstört durch die Mehrzweckhalle, die postindustrielle
Kultur der Eventisierung.
Doch der Cowboy weiss sich zu wehren. «Dies ist eine
friedliche Stadt, Fremder», lautet die Begrüssung am Ein-
gang der Stadt, «wer Ärger macht, kriegt eine Ladung Blei in
den Bauch.» Stacheldraht und Videoüberwachung schützen
vor den Gefahren der Aussenwelt. Der Traum von Freiheit,
Weite, Abenteuer verkehrt sich in sein Gegenteil. Er braucht
Grenzen und Schutz, Stacheldraht und Videoüberwachung.
American Western Saloon
Old Texas Town ist nicht der einzige Ort in Berlin, an dem der
Mythos versucht, Wirklichkeit zu werden. Und nicht nur
Brachflächen werden besiedelt, als Neuland erkannt, son-
dern auch vorhandene Räume besetzt und in eine fiktive Welt
verwandelt. Berlin-Reinickendorf, direkt an der Grenze zur
DDR: Von 1963 bis 1974 wird das Märkische Viertel gebaut,
1+3 Old TexasTown(Fotos: Lars Nickel)
2 +4 Silverlake City
2 3
046-049_Borries 11.7.2005 14:42 Uhr Seite 47
78 archithese 4.2005
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Unspektakuläre Grosszügigkeit
1
078-083_Adam Hagenbuch 12.7.2005 8:42 Uhr Seite 78
7979
BÜNZLI & COURVOISIER ARCHITEKTEN:
SIEDLUNG HAGENBUCHRAIN, ZÜRICH,
2000–2005 Zürich ist eine Stadt des genossen-
schaftlichen Wohnungsbaus. Doch Klein-
wohnungen, wie sie in den Dreissiger- bis
Siebzigerjahre entstanden, entsprechen heute
kaum noch den Bedürfnissen. So suchen
die Genossenschaften nach neuen Strategien,
um eine mittelständische Klientel anzuziehen.
Die Siedlung Hagenbuchrain ist ein Muster-
beispiel für die Neuorientierung genossen-
schaftlichen Bauens.
Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Vorortge-
meinden hat das 1934 von Zürich eingemeindete
Albisrieden seinen historischen Kern recht gut be-
wahren können. Rings um die klassizistische Kir-
che steht eine stattliche Anzahl von Fachwerkge-
bäuden, die von der dörflichen Vergangenheit
zeugen: Gasthaus, Bauernhäuser und Scheunen.
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als Zürich suk-
zessive mit seinem Umland zur grossstädtischen
Agglomeration verschmolz, blieb das Dorf abge-
legen. Die wichtige, aber steil geführte Strassen-
verbindung ins Knonauer Amt verlor nach dem
Bau der sanfter steigenden Birmensdorfer Strasse
1848 an Bedeutung, und die Eisenbahntrassen
wurden weit von Albrisrieden entfernt im Limmattal
angelegt. Das Bevölkerungswachstum begann
merklich erst nach dem Ersten Weltkrieg, und
während in anderen Teilen der Zürcher Agglome-
ration – beispielsweise im Quartier Friesenberg –
gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften für
Wohnanlagen im grossen Massstab sorgten, ent-
stand in der Zwischenkriegszeit nur eine derartige
Siedlung auf dem Gemeindegebiet von Albis-
rieden – die 1931 errichtete Anlage der Bauge-
nossenschaft Limmattal von Karl Egender und
Wilhelm Müller am Letzigraben.
Die Bautätigkeit, die Albisrieden mit der Stadt
Zürich zusammenwachsen liess, setzte nach 1945
deutlich verstärkt ein, und als Träger der Bauvor-
haben wirkten nun vornehmlich die Genossen-
schaften. Ausser in Schwamendingen war 1970 in
keinem Quartier der Stadt die Zahl der Genossen-
schaftswohnungen so hoch wie in Albisrieden.
Nicht mehr geöffnete Blockrandstrukturen wie am
Letzigraben fungierten nun als Leitbild, sondern
Zeilenbauten, in den Siebzigerjahren auch mode-
rate Hochhäuser.
Neue Strategien der Genossenschaften
Als Anbieter preisgünstiger Wohnungen haben
Genossenschaften auf dem überhitzten Woh-
nungsmarkt der Stadt Zürich zweifelsohne weiter-
1 Mit Holz ausgekleideteLoggia
2 Situationsplan
3 Bauvolumina amHagenbuchrain (Fotos: Hannes Henz)
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3
078-083_Adam Hagenbuch 12.7.2005 8:42 Uhr Seite 79