archithese 4.13 - Vormoderne Nachmoderne / 19th Century

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archithese 1813/1913/2013 Florian Illies im Gespräch Nationalismus und Stildebatten in der europäischen Architektur Architektenausbildung im Jahrhundertvergleich Die Entstehung der Architekturzeitschriften Lebensreform und Ästhetik um 1900 Organicism: Animation of Inanimate Matter Back to the Future: The Rewriting of History Aspekte des Historismus Heinrich Hübsch und die Frage des Stils Werkbund: Nährboden der Moderne Oscar Wilde und die Dekadenz der Verfeinerung Bürgerlichkeit als kulturelles System Pioniere der Gartenkultur: Froebel in Zürich Das Gute der Architektur Brasil Arquitetura: Praça das Artes in São Paulo Cukrowicz Nachbaur: vorarlberg museum in Bregenz 4.2013 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Vormoderne Nachmoderne 19th Century

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Architektur Ikone 05griechisch ikóna: Bilder, die eine Kultur prägen.

ALGORITMOdesign CARLOTTA DE BEVILACQUA

und PAOLA DI ARIANELLO

DAS LICHT IM RAUM ALS MODULARES SYSTEM

ALGORITMO defi niert eine völlig neue Dimension der Beleuchtung.Die Beleuchtung dient dabei nicht als Hilfsmittel sondern ist integraler Bestandteil der Architektur selbst. Das minimalistische Design und eine große Palette an technischen Optionen generiert scheinbar unbe-grenzte Gestaltungsmöglichkeiten – wahlweise mit LED, LED RGB oder Leuchtstoffl ampen. Die ALGORITMO Familie besteht aus: Einzelleuchten, Einbau- und Aufbauleuchten für die Wand- oder Deckenmontage, Pendel-leuchten und Bodeneinbauleuchten. www.artemide.ch/algoritmo

Leserdienst 135

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archithese1813/1913/2013 Florian Illies im Gespräch

Nationalismus und Stildebatten in

der europäischen Architektur

Architektenausbildung im Jahrhundertvergleich

Die Entstehung der Architekturzeitschriften

Lebensreform und Ästhetik um 1900

Organicism: Animation of Inanimate Matter

Back to the Future: The Rewriting of History

Aspekte des Historismus

Heinrich Hübsch und die Frage des Stils

Werkbund: Nährboden der Moderne

Oscar Wilde und die Dekadenz der Verfeinerung

Bürgerlichkeit als kulturelles System

Pioniere der Gartenkultur: Froebel in Zürich

Das Gute der Architektur

Brasil Arquitetura: Praça das Artes in São Paulo

Cukrowicz Nachbaur: vorarlberg museum in Bregenz

4.2013

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Vormoderne Nachmoderne

19th Century

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E D I T O R I A L

Vormoderne Nachmoderne

Ein ganzes Jahrhundert in einer Ausgabe einer Zeitschrift zu fassen, ist ein Anspruch,

der enttäuschen muss. Selbst wenn Mittel und Zeit zu einem Standardwerk zur Verfü-

gung stünden, liesse sich über das 19. Jahrhundert sagen, dass es eine solche Viel-

schichtigkeit birgt, dass ohnehin nur Fragmente und Extraktionen möglich scheinen.

Der Titel «Vormoderne Nachmoderne» weist auf diese Dynamik hin – es war ein steti-

ges Überwinden von modernen Zeiten.

Auch heute leben wir wieder in einer modernen Zeit, die gerade eine besonders ra-

sante technische Fortentwicklung unserer Zivilisation hervorbrachte, so rasant, dass

die Digitalisierung und Globalisierung – letztere legt wirtschaftlich bedingt gerade

eine Verschnaufpause ein – eine Gegenbewegung hervorruft, die sich auch in der Ar-

chitektur feststellen lässt. Die Beschleunigung beschwört ihre Reaktion in der slow

culture herauf, die Distanzierung des Digitalen provoziert eine Renaissance des sinn-

lich-haptischen Machens. Beliebte Begriffe des 20. Jahrhunderts wie universal, neutral,

interkontinental, homogen, künstlich, Norm, gute Form, welche das technische Zeital-

ter von der Mechanik bis zur frühen Digitalisierung begleiteten, verlieren ihre Hegemo-

nierechte und Wörter wie lokal, artisan, speziell, sägerau, natürlich, postdigital, Ge-

schichte, manu-, human- … wetteifern erfolgreich um Anhänger. Die Stimmen sind so

vielschichtig wie die einzelnen Projekte. Diese neue Unordnung ist Indiz dafür, dass

die etablierten Systeme und Institutionen an absoluter Legitimität verlieren. Die Vor-

silben «Selbst-» oder «Selber-» stehen für ein neues Gefühl, das sich aus Zweifel und

Misstrauen am Versprechen des genormten Systems speist; im 19. Jahrhundert hätte

man von Enthusiasmus gesprochen. Damals versuchte man es mit Architektur, heute

bleibt nur noch digitale Überwachung.

Diese Entwicklung ist neu und sie scheint die Pubertät des 21. Jahrhunderts anzu-

kündigen, das sich, jetzt 13, als Teenager vom elterlichen zwanzigsten zu distanzieren

versucht. Doch so wie die Abnabelung von den Eltern in jeder Generation ein wieder-

kehrender Prozess ist, so sind auch die Reaktionen in der Architektur und Gesellschaft

kein grundsätzlich neues Konzept.

Als Teil dieses Prozesses drängt das 19. Jahrhundert aus seiner Ecke, in welche es

von den Vätern gestellt wurde. Als Anhänger des 19. Jahrhunderts war man bislang

entweder ein konservativer Royalist oder ein unverbesserlicher Romantiker. Weniges

wurde als Spur hin zum «Guten» des 20. Jahrhunderts isoliert und in den Kanon aufge-

nommen – profitiert haben davon vor allem geschäftstüchtige Traditionalisten, die

unbehelligt die Konzepte des vorhergehenden Jahrhunderts zumeist unter dem Titel

der «Europäischen Stadt» für sich beanspruchen konnten. Nun dämmert es der jungen

Welt, dass sich jenseits des Kanons interessante Welten auftun und sie findet Konzepte,

die schon im 19. Jahrhundert als Alternativen zu den Problemen der modernen Welt,

der Industrialisierung und Urbanisierung, propagiert wurden. Ob Ökologie, Reform,

Freiraum oder Bürgersinn – der technische Fortschritt war in Einklang zu bringen mit

einer lebenswerten Umwelt.

Das vorliegende Heft nutzt diese sich öffnende Türe, um einen unverstellten Blick ins

19. Jahrhundert zu erhaschen. Manchmal mögen die Schlüsse vormodern, manchmal

nachmodern und manchmal modern sein, doch Anregungen für das Heute sowie ein

veränderter Blick auf das Vorgestern sind sicher und werden dieses Heft zu einem rei-

chen Fundus für neuerliche Dynamik in der Architektur machen. Die Rückkehr zur Natur

ist uns dabei so bedeutend, dass ihr ein eigenes Heft gewidmet wird (6’2013: Natur).

Bereits 1972 gab Stanislaus von Moos eine archithese zum Historismus heraus, wel-

che rückblickend als frühe Wegbereiterin postmoderner Architektur gesehen werden

muss. Wohlwissend, was passieren kann und doch unwissend über die Zukunft, halten

wir uns deshalb an die Fehlfarben, die auf ihrem für unser Vorhaben ideal betitelten

Debütalbum Monarchie und Alltag von 1980 sangen: «Geschichte wird gemacht, es

geht voran.» Die Redaktion

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HYBRIDE ARTENVIELFALT

Zur Architekten- und Ingenieurausbildung im 19. und 21. Jahrhundert. Eine Skizze Während des industriellen

Zeitalters war Frankreich durch zwei Schulkulturen seit dem Ancien Régime des 18. Jahrhunderts geprägt. Die oftmals

geteilten Aufgabenstellungen an Architekten und Ingenieure verlangten aufgrund der neuen Herausforderungen eine

«gebaute Synthese» beider Metiers. Dabei bildet die besondere Situation der Architekten- und Ingenieurausbildung des

19. Jahrhunderts ein prägendes Vorbild für die meisten Schulgründungen in Europa und Amerika.

1

spätere Sonderbundesgeneral Guillaume-Henri Dufour für

Genf; darunter die erste und damals längste Drahtkabel-

Hängebrücke Europas, den Pont Saint Antoine (1822/1823;

zusammen mit dem französischen Ingenieur Marc Seguin).3

Computergenerierte, mehrfach gekrümmte Flächentrag-

werke wie sie etwa die Block Research Group an der ETH

Zürich in Experimenten entwickelt,4 finden ihre Vorläufer in

einigen Gewächshäusern, zum Beispiel der Bubble des Pal-

menhauses in den Bicton Gardens bei Budleigh Salterton in

Devon (Grossbritannien) von 1825. Peter Rice, Arup-Inge-

nieur und Erfinder des structural glazing, schrieb, dass

die Gebrüder Bailey als Konstrukteure und Unternehmer

erstmals die damals noch kleinformatigen Glastafeln

als statisch mitwirkendes (instabiles) System einsetzten,

um das schlanke (ebenfalls instabile) Sprossenwerk aus

Schmiedeeisen zu einem tragenden Gesamtsystem zu konfi-

gurieren.5

Epochale Entwicklungslinien

Es ist wohl kein Zufall, dass sich gerade englische Architek-

ten und Ingenieure auf den Crystal Palace, die Tour Eiffel

und den Palais des Machines oder auf Roeblings Brooklyn

Bridge in New York beziehen. Etwa Nicholas Grimshaw,

Autor: Ulrich Pfammatter

Warum üben baukulturelle Leistungen des 19. Jahrhunderts

heute wieder eine solche Faszination aus? Was verführt uns,

zurückzuschauen auf das «Jahrhundert der Ingenieure», auf

ihren Pioniergeist und Erfinderdrang? Ist es das unübertrof-

fene Bautempo von damals? Könnte man heute einen Crystal

Palace mit den Ausmassen von 85 000 Quadratmetern (fünf-

mal so gross wie der Petersdom in Rom) in zehn Monaten und

zwanzig Tagen – von der ersten Skizze bis zur Eröffnung –

realisieren und alle konstruktiven Ausführungspläne in

18 Arbeitstagen zu dritt bewältigen?1 Ist es diese Highspeed-

Arbeitsweise, die man auch beim Mont-Cenis-Tunnel, beim

Panamakanal oder bei der Tour Eiffel bewundert?2 Ist es die

unkomplizierte Bewilligungspraxis, die sich eher auf royal

commissions als auf demokratische Entscheidungsträger ab-

stützte, oder ist es der starke Einfluss der damaligen lobby

scientifique der Schulkulturen und Denkschulen auf Politik,

Experten und Gerichte?

Das 19. Jahrhundert als Referenz?

Schrägseilbrücken wie der Viaduc de Millau oder aktuell die

neue Brücke in Fribourg haben ihre Vorbilder in Hängebrü-

cken des 19. Jahrhunderts. Zwei solcher Brücken entwarf der

1 Viaduc de Millau

(2001–2004);

Architektur:

Norman Foster &

Partners; Trag-

werksplanung:

Michel Virlogeux

(Foto: Ulrich Pfammatter)

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2

Norman Foster, Richard Rogers, Michael Hopkins, Richard

Horden oder auch Ingenieure wie Peter Rice, Ted Happold,

Martin Francis, Tony Hunt sowie diejenigen von Ove Arup &

Partners bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Crystal

Palace und Buckminster Fuller, den Palmenhäusern in Bicton

Gardens und Kew – beeinflusst von Archigram, Architectu-

ral Association (AA) und Peter Cook. Sie schafften den «Fun-

kensprung» von rund 150 Jahren bis zum Centre Pompidou

und dem Lloyd’s Building und verdeutlichen die Bezüge zu

den Pionieren neuer Räumlichkeit und Materialität von einst.

Der konstruktive und materialtechnologische «Fassadenab-

druck» am Leadenhall Building von Rogers Stirk Harbour +

Partners in London6 etwa illustriert die Tendenz zu einem

«neuen Konstruktivismus».

Als Beispiel soll hier die Waterloo Railway Station in Lon-

don (1993) von Nicholas Grimshaw (Architektur) und Anthony

Hunt (Tragwerksplanung) mit dem Palais des Machines (1889

anlässlich der Weltausstellung in Paris neben der Tour Eiffel

errichtet) in eine Entwicklungslinie gesetzt werden. Die Er-

findung des gelenkigen Tragsystems durch Johann Wilhelm

Schwedler (um 1865) fand beim Palais des Machines eine der

ersten weiträumigen Anwendungen (Tragwerksplanung:

Victor Contamin; Architektur: Charles-Louis-Ferdinand Du-

tert). Verglichen mit den 115 Metern Spannweite von 1889

nehmen sich die 32 bis 48 Meter von Waterloo bescheiden aus,

reagieren jedoch im Unterschied zum Vorbild auf Schub und

Biegung in Quer- (sechs Millimeter) und Längsrichtung (acht-

zig Millimeter). Sigfried Giedion schrieb in Bauen in Frank-

reich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton (1928, S. 55), dass

es für das Auge der Zeitgenossen ungewohnt, ja bedrohlich

gewesen sein müsse zu sehen, wie das dünne Sprossenwerk

das von oben einfallende Licht geradezu «verschluckt» habe

und sich zudem das Tragwerk nicht fest und verbreitert vom

Boden her entwickelte, sondern gewissermassen von oben

her zum Boden hin verschlankte und in einem Gelenk – also

beweglich – auflag: «Das Gewölbe geriet optisch in einen un-

gewohnten Schwebezustand.»

Denkschulen und Schulkulturen

Das unübersehbare Interesse an herausragenden baukultu-

rellen Leistungen des 19. Jahrhunderts wurde gezielt durch

einzelne Pioniere und border-crosser des 20. Jahrhunderts wie

etwa Buckminster Fuller, Jean Prouvé und Konrad Wachs-

mann gefördert. Sie wurden in den letzten Jahren wiederent-

deckt. Auch Sigfried Giedion und Reyner Banham, die ähnlich

wie der frühe Le Corbusier die Leistungen der Ingenieursbau-

kunst hervorhoben, erleben ein Revival. Man kann geradezu

von einer «Grossen Denkschule» sprechen, deren Spur sich

seit der Industriellen Revolution und ihrem spektakulärsten

ersten Manifest – der Iron Bridge in Coalbrookdale (1775/1779)

– bis in unser 21. Jahrhundert mit Unterbrüchen fortsetzt.

Während die beiden Weltkriege die Entwicklung unter-

brachen, folgten ihnen vorerst tendenziell eher kohärentere

Phasen: Die Zwischenkriegs- und Nachkriegsmoderne präg-

ten das 20. Jahrhundert als «Jahrhundert des Betons». Dazu

haben im Wesentlichen das Système Hennebique (Patent

François Hennebiques von 1892), die Pilzkopfstütze von Ro-

bert Maillart (1909) und die Vorspanntechnik von Eugène

Freyssinet und Pier Luigi Nervi (um 1920) beigetragen, die

den Architekten, Ingenieuren und Konstrukteuren sowie

Bauunternehmungen seit der Weltausstellung 1900 in Paris

technische und gestalterisch-expressive Methoden verfüg-

bar machten. Es galt nicht zuletzt, mit Betonskelettbau,

weitgespannten Tragsystemen sowie feuersicheren Konst-

ruktionen die Vorherrschaft von Eisen und Stahl zu brechen.

Hennebiques Haus- und Kundenzeitschrift Le Béton armé

trug denn auch einen so zweideutigen Titel und galt als

«Kampfschrift».7

Dennoch: Auch die Betontechnologie ist Teil dieser Denk-

schule, ja einer grossen, weitverbreiteten Schulkultur. Wäh-

2 «Grand Pond

Suspendu»: alte

Saanebrücke in

Fribourg, mit 273

Metern die weitest-

gespannte Draht-

seilbrücke der

Schweiz (Projekt

1834); Tragwerks-

planung: Joseph

Chaley (Musée d’art

et d’histoire)

(Aus: David J. Brown, Brücken, München 1994 / London 1993)

3 Robert Maillart,

Rheinbrücke bei

Tavanasa, 1905

(Aus: C. Allenspach, Architektur in der Schweiz, Zürich 2002, S. 44)

4 Gustav Gull,

Stauffacherbrücke,

Zürich, 1899

(Foto: Katharina Sommer)

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BACK TO THE FUTURE

The Rewriting of History in Architecture Marty McFly: “What about all that talk about screwing up future events?

The space-time continuum?” Dr. Emmett Brown: “Well, I figured, what the hell!” When the protagonists of the movie Back

to the Future (1985) debate the consequences of time travel, they in many ways reflect the differing attitudes towards

history that separate the art historian from the architect. The former values the accuracy of facts, while the latter notoriously

takes “creative license” when manipulating the evidence into productive tools. 20th-century Modernism mainly regarded

the past as an obstacle to be overcome, but today’s architects seem to have developed a renewed appetite for history –

history that now waits to be rewritten.

Author: Oliver Domeisen

A Supernatural Smoothness

In April this year it was reported that the estimated cost of

the Foster + Partners-designed corporate campus for Apple

Inc. in Cupertino, California, had now skyrocketed from the

2011 estimate of US $3 billion to a hefty $5 billion. The article

claimed that the true expense of the ring-shaped 260,000-

sqm project lay in the material finishes of the building: “As

with Apple’s products, Jobs wanted no seam, gap or paint-

brush stroke showing; every wall, floor and even ceiling is

to be polished to a supernatural smoothness.”1 The CEO of

Apple apparently insisted that the width of surface seams

would not exceed 0.8 mm, as opposed to the US standard of

3.2 mm, in order to successfully transpose the slick appear-

ance of an iPad to the scale of architecture.

What can be measured here in fractions of millimetres

and billions of dollars is in effect a carefully cultivated aes-

thetic desire for seamless continuity in architecture. The

erasure of the visible seam and the disguising of joints was

already a costly preoccupation of the minimalist interiors of

the late 1980s (e. g. John Pawson, David Chipperfield). But

the complete visual fusion of previously distinct tectonic ele-

ments into fluid and apparently homogenous “single sur-

face” designs is clearly the result of three subsequent dec-

ades of technological progress. An ever-increasing precision

achievable through digital design and prefabrication has

now found its ultimate expression in the smooth skins of re-

cent architectural objects.2 Like an iPhone that disguises its

inner workings behind an impenetrable “supernaturally

smooth” carapace, these buildings dissolve the traditional

architectural assemblage into the illusion of homogeneity, of

continuous envelopes, and of an uninterrupted, “purified”

space. What started with Le Corbusier’s “Law of Ripolin” – a

coat of white paint to unify, abstract and cleanse the archi-

tectural object – seems to have reached its fulfilment within

a contemporary global consumer society that yearns to see

itself endlessly reflected in the rounded smooth surfaces of

electronic devices, built environments and digital networks.

But of course, these contemporary desires essentially ex-

press Modernist ideas and ideals of the last century – a cen-

tury that equated progress with endless (technological) re-

newal expressed in futurist aesthetics, and that regarded the

historical as an unbearably heavy yoke to be shaken off.

The Elements of Architecture

Recent years have seen an increase in critical and practical

attempts to overcome the endless circularity and stasis of

insular parametric iterations in favour of a more pluralistic,

evolutionary and historically aware understanding of con-

temporary architecture. The upcoming 14th Venice Architec-

ture Biennale under the artistic direction of Rem Koolhaas,

which will open its doors on June 5, 2014, already promises

to deliver a foundation for such an alternative discourse to

emerge into the mainstream. Under the title “Fundamen-

tals” Koolhaas is conducting a major exhibition-research

project that will deliver “a biennale about architecture, not

architects”, with “a focus on histories – on the inevitable

elements of all architecture used by any architect, anytime

(the door, the floor, the ceiling etc.)”3 In contrast to the barely

disguised-trade shows for starchitects of previous Venice

Biennales, Koolhaas’s historical retrospective “will generate

a fresh understanding of the richness of architecture’s fun-

damental repertoire, apparently so exhausted today.”4 In an

unprecedented move he also aims to convince the various

national pavilions to subscribe to a single theme – “Absorb-

ing Modernity: 1914–2014” – “and to show the process of the

erasure of national characteristics in favour of the almost

universal adoption of a single modern language in a single

repertoire of typologies.”5 What he hopes to discover is a new

narrative of globalisation as “a more complex process than

we typically recognize, involving significant encounters be-

tween cultures, technical inventions and imperceptible ways

of remaining ‘national’.”6 He concludes: “in a time of ubiqui-

tous Google research, and the flattening of cultural memory,

it is crucial for the future of architecture to resurrect and

expose these narratives.”7

His exhibition at the core of the biennale, titled “Elements

of Architecture”, will feature the results of research that

Koolhaas, Stephan Trüby and AMO are conducting with

their students at the Harvard Graduate School of Design.

“Each room in the Central Pavilion will be devoted to an in-

1 Joseph Michael

Gandy, Compara-

tive Architecture,

London, 1830s

(© By Courtesy of the Trustees of Sir John Soane’s Museum)

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VOR DER MODERNE

Gedanken über den Nährboden der Moderne im ausgehenden 19. Jahrhundert Mit der Reform

der Wohnkultur feierte das Kunsthandwerk auf den Bühnen der Musterschauen und Weltausstellungen

seinen Siegeszug. Sie gaben einen ersten Vorgeschmack «moderner» Gestaltung und spiegelten die

Lebendigkeit stilistischen Experimentierens und fachlicher Neuausrichtung ihrer Umbruchszeit wider.

überraschte es kaum jemanden, als der einflussreiche stell-

vertretende Direktor des k. k. Österreichischen Museums für

Kunst und Industrie in Wien, Jacob von Falke, in seiner be-

deutenden historischen Untersuchung und Stilkunde Die

Kunst im Hause von 1879 ein luxuriöses, eklektisches bürger-

liches Wohnzimmer aus dem 19. Jahrhundert als «moderne»

Inneneinrichtung beschrieb.

Die wachsenden kapitalistischen Märkte und die Ent-

wicklungen, die dieses Wachstum im 19. Jahrhundert noch

beschleunigten, waren mitverantwortlich für die immer wei-

tere Verbreitung der Idee von «moderner» Gestaltung und

deren zunehmend modischen Konsumgütern. Insbesondere

die Massenproduktion, der Wettbewerb bei den Weltausstel-

lungen sowie die in Konkurrenz zueinander stehenden riesi-

gen Auslagen der Warenhäuser in Städten wie London, Paris

und Berlin verhalfen den verschiedenen Ausprägungen von

Gestaltung, Produktion, Präsentation und Konsum zum

Durchbruch. Auf der Weltausstellung 1851 hatten die Besu-

cher zum ersten Mal die Gelegenheit, Waren aus vielen

Autor: John V. Maciuika

Übersetzung aus dem Englischen: Norma Keßler

Die Begriffe «modern», «postmodern» und «zeitgenössisch»

werden auch von Experten kaum hinterfragt. Aber es sind

– das wird leicht vergessen – durchaus relative, zeitab-

hängige Begriffe. So müssen sich Menschen des 21. Jahr-

hunderts schon sehr anstrengen, um sich in die aufge-

wühlt-erhitzte Stimmung der Moderne im ausgehenden

19. Jahrhundert hineinzuversetzen. Es würde den Rahmen

eines solchen kurzen Artikels sprengen, das Wesen und den

Umfang der Moderne im ausgehenden 19. Jahrhundert be-

schreiben zu wollen. Doch wohlgemerkt genau in der zwei-

ten Hälfte des 19. Jahrhundertes begannen fortschrittlich

denkende Architekten, Gestalter, Kuratoren und stilprä-

gende Persönlichkeiten, sich als «modern» wahrzunehmen

und auch so zu beschreiben. In den 1880er-Jahren, so schrieb

der Architekturhistoriker Stefan Muthesius, war «das viel-

leicht beliebteste Epitheton dieser Zeit ‹modern›».1 Daher

1 «Modern Inte-

rior», ca. 1879

(Aus: Jacob von Falke, Art in the Home, Boston 1879, Tafel 30)

1

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Ländern nebeneinander ausgestellt zu sehen und sie verglei-

chend zu bewerten. Danach präsentierte die Pariser Welt-

ausstellung 1867 erstmalig vollständige, «harmonische»

Zimmereinrichtungen – und diese Gesamtgestaltung wurde

als gute Werbung und Verkaufstechnik schnell von den füh-

renden Warenhäusern in Europa übernommen.2

Renaissance des Kunstgewerbes

Für viele führende Anhänger der aufkommenden Kunster-

ziehungsbewegung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert

entstand, begann Kunst und die sie begleitende Kultur im

eigenen Heim; nur von diesem eigenen Heim aus konnte ein

Gespür für Kunst in die Strasse und in den öffentlichen Raum

ausstrahlen. Aus diesem Grund manifestierte sich der Stil-

reigen bei den Ausstellungen des ausgehenden 19. Jahrhun-

derts insbesondere in den Wohnungseinrichtungen: Räume

im Stil einer «modernen Renaissance» waren bei der Ersten

Deutschen Kunstgewerbeausstellung 1876 in München vor-

herrschend, während bei der Zweiten Deutschen Kunstge-

werbeausstellung 1888, ebenfalls in München, die damals

aktuelle Suche nach Stilen, die zum neuen Nationalgefühl in

Deutschland passten, eher einem Neobarock und Neorokoko

Prominenz verlieh. Anfang der 1890er-Jahre wandelten sich

die Modetrends erneut: Produkte der englischen Arts-and-

Crafts-Bewegung waren mittlerweile so bekannt und be-

liebt, dass sie ihren Einfluss auf den Kontinent und darüber

hinaus ausübten. The Studio war die wichtige Zeitschrift der

Arts-and-Crafts-Bewegung, die erstmalig 1893 erschien,

und durch sie erhielten führende britische Mitglieder der Be-

wegung wie William Morris, C.R. Ashbee und M.H. Baillie

Scott internationale Aufmerksamkeit. Die Wirkung der Zeit-

schrift auf Künstler und Architekten in Deutschland bildete

hier keine Ausnahme.3 So schrieb der preussische Architekt,

Geheimrat und Botschaftsattaché Hermann Muthesius 1899:

«Sich ‹englisch› einzurichten, gilt heute selbst dem Spießbür-

ger als Ideal, englisch ist heute das ‹Neueste›.»4

Die britische Arts-and-Crafts-Bewegung bot insbeson-

dere ein national-romantisches Selbstverständnis für die

durch Handel und Arbeit entstandene europäische Mittel-

schicht in Form einer verbesserten Gestaltung ihrer Wohnun-

gen und deren Ausstattungen.5 Deutsche Reformer im Kunst-

handwerk und für den häuslichen Bereich folgten begeistert

dem britischen Beispiel, nicht zuletzt auch, um Frankreich

Konkurrenz zu machen.6 In den 1880er-Jahren beschrieben

führende Persönlichkeiten der Kunsterziehungsbewegung

wie Julius Langbehn, Ferdinand Avenarius, Alfred Licht-

wark, Peter Jessen, Ludwig Pallat und Richard Streiter die

wichtige Rolle, die Deutschlands Handwerk und Kunsthand-

werk in der Förderung der wirtschaft lichen, gesellschaftli-

chen und kulturellen Entwicklung des Landes spielen müs-

sen. 1888 beispielsweise veröffentlichte der in Dresden

beheimatete Kritiker Ferdinand Avenarius in seiner Zeit-

schrift Der Kunstwart einen Aufruf für eine «Partei der Sach-

lichen» für die Gebildeten und Eliten, um die deutsche Öf-

fentlichkeit über die Rolle der Kunst im alltäg lichen Leben zu

unterrichten. Kunst könne, kurz gesagt, sowohl als Aus-

drucksmedium als auch als wertvolles Bildungsmittel die-

nen. Mit Blick auf die immer schnellere wirtschaftliche Ex-

pansion Deutschlands im ausgehenden 19. Jahrhundert und

die Zunahme von billig hergestellten Möbeln, die alle Arten

historischer und fremdländischer Stile nachahmten, rief Ave-

narius die befreundeten kulturellen Eliten auf, die so drin-

gend benötigte «Kontrolle der nationalen Gesundheit» zu

unterstützen. Nach der Vorstellung von Avenarius könnte

eine speziell deutsche Gemeinschaft des guten Geschmacks

der Bevölkerung zu einem grundlegenden Verständnis von

ästhetischer Qualität, Handwerkskunst und wirtschaftli-

chem Wert verhelfen, wenn nur alle die Grundsätze der Ob-

jektivität und Zweckdienlichkeit, wie sie in dem Begriff Sach-

lichkeit zum Ausdruck kommen, beachteten.7

Vorbildliches und Mustergültiges

Vorstellungen wie diese gewannen mit dem Beginn eines

wirtschaftlichen Aufschwungs des Landes Mitte der 1890er-

Jahre zunehmend an Bedeutung. Innerhalb nur weniger

Jahre präsentierten Künstler, Kunsthandwerker und Kultur-

kritiker in neuen Zeitschriften wie Pan, Der Architekt, Ju-

gend, Deutsche Kunst und Dekoration sowie Dekorative Kunst

Programme für Verbesserungen im Bereich der Kunst und

Kultur in Deutschland. Diese Zeitschriften zeugten von einem

Wandel, der für dieses Jahrzehnt mit seinem erstaunlichen

wirtschaftlichen Wachstum typisch war. In dieser Zeit erwei-

terten die Künstler, die häufig von dem führenden Propheten

der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung, William Morris,

inspiriert waren, ihre Betätigungsfelder vom Malen und von

der professionellen Buchillustration auf gesellschaftsbe-

wusstes Kunsthandwerk, Produktgestaltung und Architek-

tur. Mitte der 1890er-Jahre unternahmen Münchner Künstler

wie Hermann Obrist, Otto Eckmann und Richard Riemer-

schmid ihre ersten Ausflüge in die Gestaltung von Keramik

und Glas, womit sie Entwicklungen in England, Belgien und

Frankreich folgten. Ihre Gestaltung war zugleich auch eine

Reaktion auf die üppig-pompöse offizielle und institutionelle

Kunst aus den Akademien und auf die Dominanz historisie-

render Stilrichtungen bei deutschen Ausstellungen.

Wohlstand und frei verfügbares Einkommen stiegen

Mitte der 1890er-Jahre sehr stark, und auch diese Tatsache

veranlasste junge Kunsthandwerker, neue und unabhängige

kunsthandwerkliche Betriebe nach dem Vorbild von William

Morris & Co. zur Herstellung «kunsthandwerklichen Mobili-

ars» zu gründen. So entstanden private kunsthandwerkliche

Betriebe wie die Vereinigten Werkstätten für Kunst im Hand-

werk, die 1898 in München gegründet wurden, und die

Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst des Tischler-

meisters und Unternehmers Karl Schmidt von 1897.8 Parallel

dazu wurden 1899 auch die grossherzogliche «Künstlerkolo-

nie» Mathildenhöhe in Darmstadt sowie ab 1902 innovative

Privatschulen und staatliche «Kunstgewerbeschulen», bei-

spielsweise von Wilhelm Debschitz und Henry van de Velde

in München beziehungsweise Weimar, ins Leben gerufen.

Alle diese neuen Werkstätten, Kolonien und Schulen zeigen,

wie stark die Gestaltung deutscher Möbel und Wohnungs-

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ÖFFNUNG UND REPRÄSENTATION

Die Landschaftsgärtner und Pflanzenhändler Froebel als Pioniere der Gartenkultur Das Produkt «Garten» wurde

im Laufe des 19. Jahrhunderts von Theodor und Otto Froebel perfektioniert. Ihr Zürcher Familienbetrieb wuchs zur

bedeutendsten auf Pflanzen spezialisierten Handelsfirma der Schweiz und des süddeutschen Raumes heran und erlang

internationales Ansehen. Als Vertreter der ersten Generation von Gartenkünstlern gestalteten Vater und Sohn

Privatgärten für das aufkommende Bürgertum oder repräsentativ angelegte Promenaden und Parks, die bis heute das Bild

Zürichs prägen.

1

cher der Prozess vonstatten ging. Die schnell sichtbaren Än-

derungen bewogen den Begründer der ersten Schweizer

Zeitschrift für Architektur, Carl Ferdinand von Ehrenberg,

bereits 1837 zusammenzufassen: «Die Schleifung der Fes-

tungswerke von Zürich hat dieser Stadt ein ganz neues An-

sehen verschafft, so daß derjenige, welcher seit einigen Jah-

ren nicht in Zürich war, schwerlich die frühere Gestaltung

der Umgebung der Stadt aufzeichnen und sich überhaupt

sogleich orientiren könnte […]»1.

Die frei gewordenen Flächen wurden jedoch nicht wie in

anderen Städten als homogener Stadterweiterungsring oder

gar als Grüngürtel angelegt. Die mit dem Abriss betraute

Schanzenkommission parzellierte das Land und verkaufte es

aus wirtschaftlichen Zwängen heraus möglichst schnell, um so

die kostspieligen Abbrucharbeiten finanzieren und den Kanton

als Besitzer der Festungswerke ausbezahlen zu können. Bald

Autorin: Claudia Moll

Städtebaulicher Wandel und Gärten

als Statussymbol

In seiner Sitzung vom 30. Januar 1833 beschloss der Zürcher

Grosse Rat, die barocke Stadtbefestigung zu schleifen. Da-

mit setzte er einen städtebaulichen Prozess in Gang, dank

dem die überschaubare Stadt an der Limmat binnen weniger

Jahre das einer Handelsmetropole angemessene Erschei-

nungsbild erlangen konnte. Der Entschluss ist im euro-

päischen Vergleich zwar kein Sonderfall – die den neuen

militärischen Techniken nicht mehr standhaltenden Schan-

zensterne wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts vielerorts

zugunsten einer Erweiterung der Städte niedergerissen –,

bemerkenswert für Zürich waren aber seine weitreichenden

Auswirkungen und vor allem die Geschwindigkeit, in wel-

1 Otto Froebel:

«Profile zum Project

für eine gärtneri-

sche Umgebung der

Gallerie Henneberg,

Zürich Alpenquai»,

Juli 1898. Schnitt-

zeichnungen mit

Koniferen.

(Abb. 1, 3, 5 + 6 Quelle: gta Archiv [NSL Archiv]/ETH Zürich)

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schon gliederten die für das Funktionieren der Stadt unbedingt

nötigen Strassen die frei gewordenen Flächen und es erhoben

sich darauf repräsentative Bauten wie Kantonsschule oder Uni-

versitätsspital, aber auch Gewerbe- und Industrieanlagen so-

wie die für Zürcher Massstäbe herrschaftlichen Villen ihrer

Besitzer. Die Öffnung der Stadt vollzog sich aber nicht nur in

baulicher Hinsicht, sondern auch in den Köpfen ihrer Bewoh-

ner. Willkommen geheissen von einer liberalen Stadtregierung,

liessen sich initiative Personen aus dem In- und Ausland nieder,

darunter viele aus den deutschen Fürstentümern, die ihre Hei-

mat aufgrund der dort herrschenden eingeschränkten Mei-

nungsfreiheit verlassen hatten. Sie importierten ihr Wissen in

die Schweiz und belebten das wirtschaftliche, gesellschaftli-

che und kulturelle Leben der Stadt. Der Wandel brachte eine

Stärkung des Bürgertums mit sich, das seinen gehobenen Le-

bensstil auf verschiedene Arten manifestierte. Dazu zählte

genauso das nach Möglichkeit von einem renommierten Archi-

tekten entworfene Wohnhaus mit einer geschmackvollen In-

neneinrichtung wie die der europäischen Mode entsprechende

Garderobe seiner Bewohner und nicht zuletzt ein repräsenta-

tive Ansprüche erfüllender Garten.

En vogue war zu der Zeit der gärtnerisch intensiv gestal-

tete spätklassizistische Landschaftsgarten. Dieser hatte

sich aus dem klassischen Landschaftsgarten heraus entwi-

ckelt, der als Antwort auf die strenge Geometrie barocker

Gärten um 1730 in England entstanden war. Mit den nach

dem Vorbild einer idealisierten Natur entstandenen Gärten

versprachen sich die Besitzer, von gesellschaftlichen Zwän-

gen gelöst mittels Naturbeobachtung zur individuellen Frei-

heit zu gelangen. Die Phase dieser ‹reinen› Anlagen währte

jedoch nicht lange. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert

hatte mit dem pleasure ground eine wieder klar als von

menschlicher Hand gestaltet erkennbare Partie Einzug ge-

funden. In dem zwischen Haus und Park vermittelnden Be-

reich fanden die begehrten exotischen Pflanzen ihren Platz.

Im Zuge der Verkleinerung der Grundstücke wurde der plea-

sure ground zum eigentlichen Garten. Das beliebte Reprä-

sentationsobjekt des Bürgertums geriet erst zu Beginn des

20. Jahrhunderts als zu gekünstelt in die Kritik der Exponen-

ten der erwachenden Moderne. Analog zur in der Baukunst

parallel verlaufenden Entwicklung entstand die Bezeich-

nung des spätklassizistischen Landschaftsgartens.

Theodor Froebel – erster freischaffender

Gartenkünstler Zürichs

Galt der Beruf des Gärtners bis ins 19. Jahrhundert hinein als

rein handwerkliches Metier und wurden unter der Bezeich-

nung seine unterschiedlichen Ausprägungen subsumiert,

konnte sich allmählich im Auftrag des Bürgertums der «frei-

schaffende Gartenkünstler»2 etablieren. Die sich zu der Zeit

verbessernden Verkehrswege ermöglichten den Handel mit

Pflanzen, was meist die Haupteinnahmequelle der selbst-

ständig tätigen Unternehmer war. Nicht selten widmeten sie

sich aber auch der Zucht neuer Arten und entwarfen Pläne

zur Gestaltung privater und öffentlicher Anlagen. Erster frei-

schaffender Gartenkünstler Zürichs war Theodor Froebel

(1810–1893). Der aus Thüringen stammende Neffe des Päda-

gogen Friedrich Froebel (1782–1852) hatte in der ersten Er-

ziehungsanstalt des Onkels eine schulische Ausbildung

durchlaufen, die von einer ganzheitlichen pädagogischen

Auffassung ausging: Die Schule war eine eigentliche Wohn-

gemeinschaft, in der Schüler und Lehrer gemeinsam lebten,

arbeiteten, lehrten und lernten. Froebel liess sich anschlies-

send in einer Reihe namhafter Anlagen zum Gärtner ausbil-

den, spezialisierte sich dort im Bereich der Botanik und zog

1834 nach Zürich, wo er die neu geschaffene Stelle des Uni-

versitätsgärtners antrat. Hier lebten bereits seine beiden äl-

teren Brüder und mit ihm liessen sich auch seine Mutter und

Schwester in der Stadt an der Limmat nieder.3 Froebels

Hauptaufgabe war die Mithilfe bei der Anlage des Botani-

2 Galerie Henne-

berg (1889–1900

erbaut, 1969

abgetragen) in

Zürich. Die nach

Otto Froebels Plan

gepflanzten

Koniferen vor der

Strassenfassade am

Alpenquai, Zustand

um 1919

(Foto: Baugeschicht-liches Archiv der Stadt Zürich [BAZ])

3 Otto Froebel:

«Gallerie Henne-

berg, Situations-

plan», Juli und

September 1898.

Ausführungsplan

mit Notizen zu

Rosenpflanzungen

2 3

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