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Argumentieren und Erörterung: Philosophieren im Deutschunterricht. Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von Anna Loibner am Institut für: Fachdidaktik Philosophie Begutachterin: Dr. phil. Barbara Reiter Graz, März 2019

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Argumentieren und Erörterung:

Philosophieren im Deutschunterricht.

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

einer Magistra der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Anna Loibner

am Institut für: Fachdidaktik Philosophie

Begutachterin: Dr. phil. Barbara Reiter

Graz, März 2019

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Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe

verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder

inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in

gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde

vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der einge-

reichten elektronischen Version.

Datum: _____________________ Unterschrift: _________________________________

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Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die zum Gelingen dieser Arbeit

beigetragen haben.

Mein großer Dank für die hervorragende Betreuung dieser Arbeit gilt Frau Dr. Barbara Reiter.

Die stets humorvollen Besprechungen, kreativen Denkanstöße und spannenden Diskussionen

haben mich bei der Entstehung dieser Arbeit sehr unterstützt. Danke für das entgegengebrachte

Vertrauen und die sehr anregenden Gespräche.

Ich danke Manuela K. für das Korrekturlesen der Arbeit, den Gedankenaustausch, die positive

Energie und ein immer offenes Ohr. Danke an Katharina J. für die vielen ertragreichen Gesprä-

che, die mich immer einen Schritt weiter gebracht haben, für das Mitdenken und Unterstützen

während des gesamten Entstehungsprozesses.

Ein großer Dank gilt Adrian R. für die moralische Unterstützung, das Zuhören, Mitfiebern und

den großen Optimismus, der mich bei der Entstehung dieser Arbeit begleitet hat.

Das größte Dankeschön spreche ich meinen Eltern aus. Ohne ihre finanzielle und vor allem

emotionale und seelische Unterstützung wäre mir das Studium und diese Arbeit nicht möglich

gewesen. Ich danke ihnen für ihr Vertrauen und ihren Glauben an mich und an das, was ich tue.

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Inhaltsverzeichnis

Ehrenwörtliche Erklärung ...................................................................................................................... 2

Danksagung ............................................................................................................................................ 3

Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................................... 4

1 Einleitung ..................................................................................................................................... 6

2 Philosophisches Argumentieren ................................................................................................... 9

2.1 „Philosophieren als Kulturtechnik“ ........................................................................................ 9

2.1.1 Vier Hauptwege des Philosophierens als Kulturtechnik ............................................ 11

2.1.2 Philosophieren als Tätigkeit: Staunen, Fragen, Zweifeln… ....................................... 14

2.2 Gelingensbedingungen des Argumentierens......................................................................... 16

2.2.1 Argumentationsformen und -schemata ...................................................................... 18

2.2.2 Der Aufbau eines Arguments .................................................................................... 19

2.2.3 Rekonstruktion, Fehlschlüsse, Prämissenerweiterung ............................................... 23

2.3 Ein Argument kritisieren ...................................................................................................... 24

2.3.1 Gültigkeits-Einwand .................................................................................................. 24

2.3.2 Prämissen-Einwand ................................................................................................... 25

2.3.3 Äquivokation ............................................................................................................. 26

2.3.4 Petitio principii .......................................................................................................... 26

2.3.5 Infiniter Regress ........................................................................................................ 27

2.3.6 Verlorener Gegensatz ................................................................................................ 27

2.3.7 Leere Behauptung ...................................................................................................... 28

2.4 Argumentationsmuster der Philosophie ................................................................................ 29

2.4.1 Transzendentale Argumente ...................................................................................... 30

2.4.2 Selbstanwendungsargumente ..................................................................................... 32

2.4.3 Modale Argumente .................................................................................................... 34

2.4.4 Gedankenexperimente ............................................................................................... 35

2.4.5 Argumentieren mit Rationalitätsannahmen................................................................ 37

2.4.6 Argumentieren in der Ethik ....................................................................................... 39

2.4.7 Analogieargumente .................................................................................................... 42

2.5 Moralische Regeln des Argumentierens ............................................................................... 44

2.6 Kohärentes Argumentieren oder das reflektierte Gleichgewicht nach Rawls ....................... 46

3 Das sokratische (philosophische) Gespräch ............................................................................... 49

3.1 Die historische Entwicklung ................................................................................................ 50

3.1.1 Sokrates ..................................................................................................................... 50

3.1.2 Leonard Nelson ......................................................................................................... 52

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3.1.3 Gustav Heckmann ..................................................................................................... 54

3.2 Phasen des sokratischen Gesprächs ...................................................................................... 56

3.3 Regeln des sokratischen Gesprächs ...................................................................................... 58

3.3.1 Regeln für Gesprächsteilnehmer ................................................................................ 58

3.3.2 Regeln für Gesprächsleiter ........................................................................................ 59

3.3.3 Verfahrensregeln ....................................................................................................... 61

3.3.4 Teilweise Regelrevision ............................................................................................ 61

3.4 Das sokratische Gespräch in der Schule? ............................................................................. 64

3.4.1 Schule konkret – Die Durchführung des sokratischen Gesprächs .............................. 66

4 Das Entwickeln eigenständiger, kritischer Gedanken................................................................. 71

4.1 Denken und „kritisches“ Denken ......................................................................................... 72

4.1.1 Definitionsversuche ................................................................................................... 73

4.1.2 Was kritisches Denken erschwert… .......................................................................... 75

4.2 Möglichkeiten der Förderung des kritischen Denkens in der Schule .................................... 77

4.2.1 …in der Schule konkret ............................................................................................. 78

5 Die Erörterung im Deutschunterricht – der Essay im Philosophieunterricht .............................. 82

5.1 Die Erörterung im Deutschunterricht ................................................................................... 82

5.1.1 Form und Aufbau einer Erörterung............................................................................ 84

5.2 Der Essay im Philosophieunterricht ..................................................................................... 85

5.3 Lehrplananalyse: Deutsch und Philosophie .......................................................................... 88

5.3.1 Lehrplan Deutsch....................................................................................................... 89

5.3.2 Lehrplan Philosophie ................................................................................................. 91

6 Schlussfolgerungen .................................................................................................................... 94

6.1 Sprache und Denken als Kreisläufe ...................................................................................... 94

6.2 Vergleich Erörterung – Essay ............................................................................................... 96

6.2.1 Form und Inhalt ......................................................................................................... 96

6.2.2 Sprache und Argumentation ...................................................................................... 97

6.3 In der Schule konkret: Unterschiede und Bewertung ........................................................... 99

7 Fazit ......................................................................................................................................... 103

8 Literaturverzeichnis ................................................................................................................. 106

8.1 Bücher und Zeitschriften .................................................................................................... 106

8.2 Internetquellen ................................................................................................................... 109

8.3 Abbildungsverzeichnis ....................................................................................................... 110

9 Anhang ..................................................................................................................................... 112

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1 Einleitung

„Die Argumentation ist der wesentlichste Bestandteil der Erörterung.“ 1 So steht es in der De-

finition des Begriffs Erörterung im Brockhaus und gleichzeitig ist dieser Satz der Ausgangs-

punkt der vorliegenden Arbeit.

Die Argumentation und das Argumentieren werden meist mit der Philosophie in Verbindung

gebracht. Neben der Philosophie verlangen aber auch noch andere Disziplinen und Bereiche

diese Fähigkeiten. In der Schule wird die Argumentationskompetenz besonders im Deutschun-

terricht gefordert. Wie im obigen Auszug aus der Definition ersichtlich ist, setzt vor allem die

Textsorte Erörterung, die Teil der standardisierten Reifeprüfung aus Deutsch ist, Argumenta-

tionsfähigkeiten voraus. In diesem Zusammenhang behandelt diese Arbeit die Frage, inwiefern

das philosophische Argumentieren als Vorbereitung zur Entwicklung eigener, kritischer Ge-

danken und beim anschließenden Verfassen guter Erörterungen im Deutschunterricht didak-

tisch sinnvoll eingesetzt werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage soll der Prozess vom

Argumentieren bis zur Erörterung genau erarbeitet und aufgezeigt werden.

Eigenständiges, kritisches Denken ist eine zentrale Bildungsaufgabe der Schule. Schülerinnen

und Schüler sollen dazu befähigt werden, kritisch zu denken, Sachverhalte, Einstellungen und

Anschauungen zu hinterfragen und diese zu verändern. Kritisches Denken braucht die Ausei-

nandersetzung mit anderen in der Gemeinschaft, die das eigene Denken durch neue Ideen, An-

regungen und Reflexionen immer weiterführen. Das sokratische Gespräch als Unterrichtsme-

thode bildet eine Möglichkeit für diesen Austausch in der Gruppe und verhilft zur Entwicklung

einer eigenen, selbstbewussten, begründeten Position. Das sokratische Gespräch zielt neben

weiteren wichtigen Aspekten auf das Erlangen eines Konsenses ab, der möglichst vielen Inte-

ressen und Bedürfnissen gerecht werden soll. Damit wird im Sinne der Diskursethik ein Demo-

kratieverständnis vermittelt, das für die Schülerinnen und Schüler in allen Lebensbereichen von

Bedeutung ist. Die Fähigkeit des philosophischen Argumentierens stellt das Handwerkszeug

im Umgang mit den eigenen Positionen und deren Begründungen dar, die sowohl mündlich als

auch schriftlich ausgeformt werden können.

1 Brockhaus.de

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Das erste Kapitel stellt den größten Teil dieser Arbeit dar und beschäftigt sich mit dem philo-

sophischen Argumentieren, welches zur Logik zählt, einer philosophischen Disziplin, die so-

wohl in der Schule als auch im Philosophiestudium bei den Lernenden oft nicht besonders

beliebt ist. Ein möglicher Grund dafür könnte die assoziative Verknüpfung der Logik mit der

Mathematik sein, die von vielen Lernenden ebenso negativ gesehen wird. Die Verbindung der

beiden Disziplinen lässt die Logik nach außen hin wie ein Stiefkind der Philosophie erscheinen.

Diese Arbeit hat neben der Beantwortung der oben genannten Forschungsfrage das Ziel, zu

zeigen, dass Logik – insbesondere das philosophische Argumentieren – durchaus schulfähig

und nicht nur in der Philosophie, sondern in vielen weiteren Bereichen von Bedeutung ist.

Nach der Auseinandersetzung mit den Gelingensbedingungen des Argumentierens werden phi-

losophische Argumentationsmuster erläutert. Diese sollen Werkzeuge für das Argumentieren

und die Grundlage für gute, überzeugende Argumente sein. Der theoretischen Auslegung der

Argumentationsmuster folgt die Darstellung moralischer Regeln, die im Argumentationspro-

zess eingehalten werden sollten.

Das Argumentieren dient als Voraussetzung für eine philosophische Unterrichtsmethode, die

unterschiedliche Frage- und Problemstellungen behandelt und im zweiten Kapitel vorgestellt

wird: das sokratische Gespräch. Die Erschließung der historischen Entwicklung dieser Methode

dient einem besseren Verständnis und Zugang zur heutigen Ausführung des Gesprächs im Un-

terricht. Die Phasen und Regeln des sokratischen Gesprächs sollen besprochen und anschlie-

ßend bezüglich ihres Einsatzes in der Schule analysiert werden.

Das Entwickeln eigenständiger, kritischer Gedanken ist einerseits Voraussetzung für die zuvor

besprochenen Methoden des Argumentierens und des sokratischen Gesprächs und andererseits

deren Ergebnis. Im dritten Kapitel wird diese Thematik ausführlich behandelt. Ein Schwerpunkt

wird dabei auf die Möglichkeiten der Förderung des eigenständigen, kritischen Denkens – in

Bezug auf die Schule – gelegt.

Das fünfte Kapitel setzt sich mit der Erörterung als Ergebnis des Argumentationsprozesses im

Deutschunterricht auseinander. Daneben wird in diesem Kapitel auch der philosophische Essay

vorgestellt und analysiert. Dieser stellt die äquivalente Textsorte zur Erörterung dar, was bereits

aus dem Auszug der Definition des Begriffs Essay hervorgeht: „Essay: Abhandlung, die einen

Gegenstand auf besondere Weise erörtert.“ 2 Die Verwendung des Begriffs erörtert in dieser

Definition zeigt den Zusammenhang der beiden Textsorten deutlich auf. Deshalb wird neben

der Erörterung auch der philosophische Essay beleuchtet und analysiert. Die anschließende

2 Brockhaus.de

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Analyse der AHS-Lehrpläne der Fächer Deutsch und Philosophie soll die Zweckdienlichkeit

der gesamten Arbeit für die Schule verdeutlichen.

Im letzten Kapitel werden Schlussfolgerungen gezogen, die sich aus der Auseinandersetzung

mit den Inhalten dieser Arbeit ergeben. Diesbezüglich ist vor allem die Verschränkung der bei-

den Textsorten Erörterung und Essay zentral, weshalb eine Analyse zweier Beispieltexte vor-

genommen wird.

Den Abschluss dieser Arbeit bildet das Fazit.

Personenbezogene Bezeichnungen beziehen sich in dieser Arbeit immer auf beide Geschlech-

ter. Um sowohl der Lesbarkeit des Textes als auch geschlechtsspezifischen Formulierungen

gerecht zu werden, wechselt sich die Verwendung weiblicher und männlicher Formulierungen

ab.

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2 Philosophisches Argumentieren

Dieses Kapitel setzt sich mit dem philosophischen Argumentieren auseinander. Nach einer Ein-

führung in das „Philosophieren als Kulturtechnik“ werden die Gelingensbedingungen des Ar-

gumentierens erläutert. Die Möglichkeiten, ein Argument zu kritisieren, werden untersucht, be-

vor die Argumentationsmuster der Philosophie aufgezeigt werden. Zum Abschluss des Kapitels

werden moralische Regeln des Argumentierens erarbeitet und es wird in die Theorie des reflek-

tierten Gleichgewichts eingeführt.

2.1 „Philosophieren als Kulturtechnik“

In diesem Abschnitt wird der Begriff „Philosophieren als Kulturtechnik“ dargestellt und anhand

der vier Hauptwege dieses Philosophierens genauer erläutert. Die Tätigkeiten, die Teil eines

jeden philosophischen Prozesses sind oder sein sollten, werden im Anschluss daran dargelegt.

„Warum sind wir eigentlich auf der Welt?“, „Kann meine Katze auch denken?“, „Warum gibt

es so viel Leid und Böses auf der Welt?“. Fragen wie diese haben die meisten Eltern schon

einmal von ihren Kindern gehört und die Liste könnte wahrscheinlich noch endlos weiterge-

führt werden. Es handelt sich hierbei um Fragen, die bei genauerer Betrachtung so etwas wie

einen philosophischen Gehalt entdecken lassen und von Kindern gestellt werden, weil sie ihnen

existentiell wichtig sind. Es sind Fragen, die zeigen, dass Kinder sich, wohl meist unbeabsich-

tigt, mit philosophischen Problemen beschäftigen, auch wenn das von den Erwachsenen oft

nicht erkannt wird.3

Können also bereits Kinder philosophieren? Mit dieser Frage haben sich schon viele Philoso-

phen auseinandergesetzt. Der Existenzphilosoph Karl Jaspers tritt etwa dafür ein, Kinder als

Philosophinnen und Philosophen zu betrachten und diesen Umstand zu fördern. Grund dafür

sind für ihn unter anderem die Genialität und die Unbefangenheit, die Kinder seiner Meinung

nach meist noch besitzen und die im Erwachsenenalter langsam schwinden. Er schreibt: „Wer

sammeln würde, könnte eine reiche Kinderphilosophie berichten.“4 Neben den Behauptungen

anderer Philosophen sprechen auch zahlreiche praktische Schulversuche für die Möglichkeit

des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen. Hier ist vor allem der Philosophieprofessor

3 Vgl. Freese 1994: 16. 4 Jaspers 1950: 12.

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Matthew Lipman zu nennen, der ein systematisches Curriculum für das Philosophieren mit

Kindern und Jugendlichen für weltweit unternommene Schulversuche erstellt hat.5 Lipman kri-

tisierte die Lehr- und Lernsituation an Schulen, so zum Beispiel, dass Schüler Inhalte nur aus-

wendig lernen und Lehrer als Autoritätspersonen fungieren und die Schüler befragen. In dem

von ihm erstellten Curriculum findet Unterricht durch die Teilnahme an einer Communitiy of

Inquiry statt. In dieser sollen Lehrer und Schüler gleichermaßen Fragen stellen, die Schüler

einander aktiv zuhören, sich herausfordern, Gründe für Positionen zu finden, sich gegenseitig

unterstützen, um Schlussfolgerungen ziehen zu können und versuchen, die Annahmen der an-

deren zu verstehen.6

Ekkehard Martens hat sich intensiv mit dem Thema des Philosophierens mit Kindern auseinan-

dergesetzt und wagt für die in der Literatur unterschiedlich benannte Praxis die provokante

Bezeichnung des „Philosophierens als Kulturtechnik“. Damit stellt er die Philosophie mit an-

deren Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen gleich. Martens unterstreicht

dadurch, dass es sich, wie häufig behauptet, nicht um eine rein instrumentelle und mechanisch

anwendbare Fertigkeit handelt. Zur Vermeidung dieses häufig gemachten Missverständnisses

beschreibt Martens den Begriff genauer und zerlegt ihn in seine Bestandteile.

Martens bezeichnet die Philosophie einerseits als eine zu uns gehörige Kultur, die legitimato-

risch zum Zweck der Ausbildung der Kritikfähigkeit, der Persönlichkeit als auch der demokra-

tischen Erziehung Teil unserer Schulen ist. Er nennt damit den letzten von sechs Punkten, die

er zur Beschreibung dieser Kultur des Philosophierens angibt. Philosophieren ist erstens gene-

tisch ein Teil von uns und Bestandteil unseres kulturellen Erbes. Zweitens kann das Philoso-

phieren ein allgemeines Merkmal unserer menschlichen Natur, also anthropologisch, sein. Das

Philosophieren gehört drittens deskriptiv zur Moderne und viertens normativ zu einer sinnvol-

len, humanen Lebensweise. Philosophieren ist fünftens kein bereits von Natur aus vorhandener

Teil von uns, sondern muss didaktisch-methodisch kultiviert werden.7

Andererseits beschreibt Martens die Philosophie als Technik, die formales Wissen – im Sinne

einer Handwerkskunst – und inhaltliches Wissen – im Sinne einer Materialkunde – vermengt

und so als Zweck für eine humane Lebensgestaltung dienen soll. Als erstes führt Martens die

5 Vgl. Martens 1994: 9 f. 6 Vgl. Lipman 2003: 20. 7 Vgl. Martens 2010: 30 f.

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Technik im Sinne einer Handwerkskunst an. So wie die anderen Kulturtechniken auch kann

man die Technik des Philosophierens nicht ausschließlich lernen, sondern es bedarf wie jedes

Handwerk einer Art Fingerspitzengefühl. Zweitens versteht Martens die Technik als Material-

kunde. Drittens kann man die Technik des Philosophierens nicht von seinem Träger ablösen.

Sie vollzieht sich nämlich primär in der Innenperspektive der Person. Viertens sieht Martens

die Kulturtechnik des Philosophierens als elementar, also grundlegend und unverzichtbar für

die humane Lebensgestaltung an.8

Mit dieser Meinung ist Martens nicht allein. Bereits Sokrates hat mit seinem Philosophieren

gezeigt, dass die Philosophie als eine elementare Kulturtechnik mit dem Ziel der humanen Le-

bensgestaltung angesehen werden kann. Als Beispiel kann Platons Dialog Theages dienen, in

dem Sokrates‘ philosophische Tätigkeit vor allem das klare Denken über das gute Leben be-

handelt. Er hält Philosophie für notwendig und unverzichtbar für das öffentliche Leben.9

2.1.1 Vier Hauptwege des Philosophierens als Kulturtechnik

Die Praxis des Philosophierens als Kulturtechnik lässt sich weder punktgenau bestimmen, noch

lassen sich klare Unterscheidungen feststellen. Vier Hauptwege dieser Praxis sind nach Martens

jedoch zu erkennen und werden hier dargestellt.

Der erste Hauptgang ist das Dialog-Handeln. Hier werden sprachliche Handlungen wie das

Behaupten, Prüfen, Nachfragen oder Zustimmen als Dialog praktiziert und reflektiert. Für das

Dialog-Handeln werden Geschichten als Ausgangspunkt verwendet, die die klassischen Teil-

gebiete der Philosophie behandeln.10 Es geht aber nicht um die Vermittlung von Theorien, Be-

griffen, Problemen oder der philosophischen Traditionen, sondern um unterschiedliche Alltags-

situationen, die der Ausgangspunkt sind und sprachanalytisch aufgeklärt werden sollen. Die

Dialogform der meisten Geschichten soll als Anregung zur eigenen Dialogfähigkeit dienen.

Martens bezieht sich hier – und auch in den folgenden Ausführungen – auf das bereits erwähnte

Curriculum von Matthew Lipman. Ein Ziel dieses Curriculums ist ein praktiziertes Philoso-

phieren. Gemeint ist damit etwa die Fähigkeit der Analyse und des Gebrauchs von Begriffen,

8 Vgl. Martens 2010: 31 f. 9 Vgl. Martens 2010: 29 f. 10 Vgl. Martens 1999: 27 f.

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Argumenten und Schlussfolgerungen. Auch die eigenen Meinungen und Vorurteile sollen mit-

hilfe der gewonnenen Fähigkeiten korrigiert und reflektiert werden können. Eine spielerische

und offene Haltung beim Philosophieren soll ebenso vermittelt werden.11

Der Begriff des Dialogs ist im doppelten Sinne zu verstehen. Der interne Dialog unterscheidet

sich vom realen Dialog. Mit dem internen Dialog ist ein Denkprozess mit einer internen dialo-

gischen Struktur gemeint. Dabei handelt es sich um einen inneren Dialog der Seele mit sich

selbst. Wenn wir denken, tun wir das auf dialogische Art und Weise und besprechen das Für

und Wider einzelner Gedankenschritte mit uns selbst. Diese Art des Dialogs ist vom realen

Dialog abzugrenzen, bei dem der Dialog für den Prozess der Wahrheitsfindung wesentlich ist.

Lipman geht offensichtlich vom zweiten Fall, dem realen Dialog, der in jeder Gruppe anders

verlaufen kann und zu keinem abschließbaren Ende führt, aus. Neben dem gemeinsamen Denk-

prozess im realen Dialog spielt auch das Handeln eine zentrale Rolle. Reale Personen beteiligen

sich gemeinsam an einem Denkprozess. 12 Das gemeinsame Fragen, Behaupten, Bezweifeln

oder Unterscheiden sind außerdem nach dem Philosophen John R. Searle – der zu den Vertre-

tern der so genannten Sprechakttheorie zählt, die sprachliche Äußerungen als Handlungen sieht

– als Sprechakte, die mit zumindest vorstellbaren Handlungssituationen verbunden sind.13 Zu-

sätzlich kann der reale Dialog Teil eines realen Entscheidungsprozesses sein, weshalb hier von

Handeln gesprochen werden kann.14

Im zweiten Hauptgang, der Begriffs-Bildung, geht es um unterschiedliche Verwendungsweisen

von Begriffen und die Praxis der Analyse und auch Loslösung verengter Begriffe.15 Man ver-

sucht das vorhandene Wissen und Können der Kinder und Jugendlichen zu entdecken und

neues, reflektiertes Wissen und Können aufzubauen. Der Umgang mit verschiedenen und ver-

änderlichen Begriffen wird geübt und unterschiedliche Sprachspiele werden ausprobiert. Be-

griffe sollen als veränderbar und nicht als starr und festgelegt wahrgenommen werden. Außer-

dem soll das Bewusstsein für die Verwendung der Begriffe in einem bestimmten Handlungs-

zusammenhang konkreter Personen geschult werden. Das bedeutet, dass die Begriffe nicht un-

abhängig davon existieren. Wenn sich unsere Sichtweisen ändern oder Begriffe nicht mehr un-

seren Erfahrungen und Absichten entsprechen, können sie ausgetauscht oder auch neue Begriffe

11 Vgl. Martens 1999: 74 f. 12 Vgl. Martens 1999: 80 f. 13 Vgl. Searle 1971: 39 f. 14 Vgl. Martens 1999: 80 f. 15 Vgl. Martens 1999: 27 f.

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eingeführt werden. Wichtig bei der Einführung neuer Begriffe ist die wechselseitige, freie An-

erkennung und die Prüfung dieser an der Realität. All diesen Zielen liegt „eine Vorstellung von

Erkenntnis als zunehmender Differenzierung von Erfahrungen und Sichtweisen zugrunde“16.

Denn damit kann das Denken der Kinder und Jugendlichen als eigenständige Leistung aner-

kannt werden. Erkenntnis wird hier so aufgefasst, dass „wir uns nach unterschiedlichen Zwe-

cken und Bedürfnissen die Wirklichkeit unterschiedlich strukturieren und verändern.“17

Große philosophische Fragen bilden das Zentrum des dritten Hauptgangs, dem Sich-Wundern.

Die Auseinandersetzung mit Glück, Gott, Zeit oder Identität passiert jedoch auf spielerische

Art und Weise.18 Somit verfolgt man in diesem Hauptgang im Gegensatz zu den ersten beiden

ganz andere Ziele. Es kommt hier auf die „Förderung persönlicher Qualitäten wie Phantasie

und Vorstellungskraft oder einfach auf eine lustvolle Tätigkeit“19 an. Die Philosophie ist hier

Mittel zum Zweck der menschlichen Persönlichkeitsentfaltung oder zum „höchsten Zweck-an-

sich“20. Das Sich-Wundern ist ein sehr offener Prozess, der nicht reglementier- oder erzwingbar

ist, aber durch Verhaltensweisen der Erwachsenen gefördert werden kann. Zuhören und am

Denken interessiertes Nachfragen, das gemeinsame Schreiben von Dialogen, das Vorlesen von

Geschichtenanfängen mit dem anschließenden Vorlesen des zuvor diskutierten Endes in Form

eines Protokolls oder das gemeinsame Lesen von Märchen oder Geschichten, die an bestimmten

Punkten interessant sein könnten, sind methodische Anregungen für den Hauptgang des Sich-

Wunderns.21

Kants Maxime des Selbstdenkens stellt schließlich den Mittelpunkt des vierten und letzten

Hauptgangs Aufklärung dar.22 Der Philosoph Walter Benjamin hat in seinem Nachlass Manu-

skripte hinterlassen, die sich als „Rundfunkgeschichten für Kinder und Jugendliche“ heraus-

stellten und die von ihm in den Jahren zwischen 1929 und 1932 für den Rundfunk verfasst

wurden.23 Für Martens lassen sich anhand derer die Ziele einer Aufklärung durch das Philoso-

phieren gut erklären. Die Vorträge sollen die unmittelbare Nähe von Vernunft und Unvernunft

in unserer Gesellschaft und im alltäglichen Leben aufzeigen. Außerdem verfolgt Benjamin mit

seinen Vorträgen das Ziel, Kindern und Jugendlichen die Augen zu öffnen für interessante

Menschen und Ereignisse. Philosophisch orientierte Aufklärung findet in den Vorträgen in

16 Martens 1999: 112. 17 Martens 1999: 112 f. 18 Vgl. Martens 1999: 27 f. 19 Martens 1999: 143. 20 Martens 1999: 143. 21 Vgl. Martens 1999: 143-147. 22 Vgl. Martens 1999: 27 f. 23 Vgl. Tiedemann, Schweppenhäuser 1989: 525.

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mehrfacher Hinsicht statt. Die Kinder werden über Faktenwissen und historische Daten aufge-

klärt und bekommen methodisch aufgebaute Erklärungen zum Sachverhalt. Er zeigt, wie man

überhaupt zu Erkenntnissen kommt und verschafft Klarheit über die Zielsetzungen.24

Die vier Hauptwege des Philosophierens als Kulturtechnik werden von Martens sehr konkret

und teilweise mit methodischen Anleitungen dargestellt. Diese Form des Umgangs mit dem

Prozess des Philosophierens kann durchaus kritisch gesehen werden, da grundsätzlich ver-

schiedenste Zugänge zum Philosophieren möglich sind. Betrachtet man die oft starke Hetero-

genität in Schulklassen wird die Bedeutung unterschiedlicher Zugänge zum Philosophieren im

Unterricht deutlich. Die einzelnen Hauptwege werden von Martens außerdem inhaltlich vonei-

nander getrennt, was ebenso zu hinterfragen ist. Im Prozess des Philosophierens ist es durchaus

möglich und in manchen Fällen vielleicht sogar gewollt, dass eine Vermischung der Hauptwege

stattfindet.

Martens bietet mit den Hauptwegen des Philosophierens auf jeden Fall eine Grundlage, die

erkennen lässt, dass das Philosophieren, unabhängig davon, ob es von Kindern, Jugendlichen,

Erwachsenen oder studierten Philosophen betrieben wird, grundsätzlich auf Tätigkeiten beruht,

die in jedem Prozess des Philosophierens vorkommen und nun näher vorgestellt werden.

2.1.2 Philosophieren als Tätigkeit: Staunen, Fragen, Zweifeln…

Der Prozess des Philosophierens umfasst mehrere Tätigkeiten, die für die Suche nach den Ant-

worten auf die wesentlichen Fragen des Lebens notwendig sind. „Denn es beginnen, wie gesagt,

alle mit der Verwunderung (thaumázein) darüber, ob sich etwas wirklich so verhält […].“25

Bereits Aristoteles hat mit diesem Zitat gezeigt, dass es etwas Bestimmtes benötigt, um Men-

schen überhaupt zum Philosophieren zu bringen: das Staunen. Die Frage, warum etwas wie ist

und ob es nicht auch anders sein könnte, ist der Ausgangspunkt des Philosophierens. Nach

Aristoteles und Platon führt dieser Zustand des Nicht-Wissens zu einem Zustand des Fragens

nach dem Warum einer Sache.26 Bereits Kinder stellen die Warum-Frage nur zu oft, um den

Dingen der Welt auf den Grund zu gehen. Der Philosoph John Locke sieht darin das Prinzip

24 Vgl. Martens 1999: 178. 25 Aristoteles 2014: 983 a. 26 Vgl. Brüning 2003: 20.

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des Philosophierens. Das Staunen über eine Sache führt zu Wissbegierde, die zum Fragen ver-

leitet. Diese Fragen sollen beantwortet werden, um die Wissbegierde zu füllen, was zur nächs-

ten philosophischen Tätigkeit führt: dem Nachdenken. Im philosophischen Nachdenken sind

sowohl das eigene Nachdenken im Monolog als auch das Nachdenken in einer Gemeinschaft –

im Dialog – verankert. Nachdenken ist in der Philosophie erstens ein (Er)Klärungsprozess, in

dem über Begriffe, die in einer philosophischen Fragestellung sinntragend sind, reflektiert wird.

Philosophische Fragen werden in ihre Teile zerlegt, indem der Sinngehalt der wesentlichen Be-

standteile dieser Fragen geklärt wird. Zweitens wird ein Urteil formuliert, das eine begründete

These als Antwort auf die Frage enthält. Es kann auch mehrere Thesen geben, weshalb die

Begründung dieser von großer Bedeutung ist. Denn um zu entscheiden, welche Begründung

die überzeugendste ist, findet drittens eine Prüfung im Widerstreit der Meinungen statt. Die

Diskussion kann zu einem Ende führen, indem ein Konsens gefunden wird oder indem mehrere

begründete Antworten nebeneinander stehen bleiben.27

Die gefundenen Antworten erheben in der Philosophie keinen Anspruch auf Gültigkeit, es wird

von vorläufigen Antworten gesprochen. Denn das Zweifeln ist nach dem Philosophen René

Descartes ein wichtiges philosophisches Prinzip. So stellt er sich in seinem Werk Meditationen

die Frage, woher er denn wissen kann, dass das Leben kein Traum ist und zweifelt in der ersten

Meditation Über die Dinge, die in Zweifel gezogen werden können an seinen Sinnen, die ihn

diesbezüglich täuschen könnten.28 Das bedeutet, dass es nur vorläufige Antworten auf funda-

mentale Fragen gibt, bei denen jederzeit in Betracht gezogen wird, dass auch ihr Gegenteil

möglich wäre. 29

Damit der Reflexionsprozess des Philosophierens abgeschlossen ist, benötigt es neben dem

Zweifeln das Weiterdenken einer bereits beantworteten Frage. Dabei geht es vor allem darum,

die bereits gefundenen Antworten durch neue Aspekte zu stützen oder zu erweitern. Der Pro-

zess des Nachdenkens bleibt durch das Weiterdenken unabgeschlossen und führt zu keiner

„richtigen“ Antwort, sodass die Diskussion bestehen bleibt und die Antworten immer wieder

neu durchdacht werden. Das philosophische Nachdenken ist ein unabschließbarer Prozess.30

Der Prozess des Philosophierens ist die Suche nach den Antworten auf philosophische Fragen.

Staunen, Fragen, Nachdenken, Zweifeln und Weiterdenken bilden einen Kreislauf, der durch

27 Vgl. Brüning 2003: 21 f. 28 Vgl. Descartes 2011: 51-67. 29 Vgl. Brüning 2003: 22 f. 30 Vgl. Brüning 2003: 23.

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unterschiedliche Methoden getragen wird. Besonders das Stützen von Thesen (Antworten)

durch Begründungen ist eine zentrale Methode im Prozess und wird als Argumentation bezeich-

net.31 Die philosophische Argumentation und deren Gelingensbedingungen sind ein zentraler

Bestandteil dieser Arbeit und stellen das Thema des nachfolgenden Kapitels dar.

2.2 Gelingensbedingungen des Argumentierens

Was bedeutet es zu argumentieren? Gibt es beim Argumentieren Gewinner und Verlierer? Was

macht ein Argument zu einem guten oder schlechten Argument? Wann sind Argumentationen

richtig? Können sie das überhaupt sein? Welchen Zweck haben Argumentationen eigentlich?32

In diesem Kapitel wird versucht, Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu finden. Nach der

Darstellung der Argumentationsformen und -schemata wird der klassische Aufbau eines Argu-

ments erarbeitet. Logische Fehlschlüsse beim Argumentieren und die Möglichkeiten der Re-

konstruktion und der Prämissenerweiterung eines Arguments werden im Anschluss daran be-

handelt.

Besonders Holm Tetens‘ Philosophisches Argumentieren wird für dieses und die folgenden

Kapitel eine Grundlage bieten. Dieses Buch wird herangezogen, weil die Art und Weise, wie

Tetens die Thematik betrachtet und erklärt, sehr strukturiert ist. In Bezug auf die im nächsten

Kapitel vorgestellten Argumentationsmuster ermöglicht diese strukturierte Darstellung eine

leichtere Eingliederung der Thematik in den Unterricht. Mit Hilfe der klar definierten und ver-

ständlich erklärten theoretischen Vorlagen kann der Zugang zur Logik und zum philosophi-

schen Argumentieren erleichtert werden.

In der Philosophie gibt es die Grundregel, dass jede Meinung zur Diskussion gestellt wird –

ganz egal, wie abwegig sie ist. Die einzige Voraussetzung ist, dass der Befürworter dieser Po-

sition diese auch argumentativ begründen kann.33 Diese Begründungen werden als Argumente

bezeichnet. Argumente sind Aussagen, die in einer Beziehung von Schlussfolgerungen zu Be-

hauptungen stehen und diese rechtfertigen sollen. Die Behauptungen bilden zusammen mit den

Argumenten eine Argumentation.34

31 Vgl. Brüning 2003: 26. 32 Vgl. Grundler 2011: 7. 33 Vgl. Rosenberg 1997: 27. 34 Vgl. Geiß 2017: 207.

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Viele Philosophen antworten auf die Frage, was die Beschäftigung mit der Philosophie lehren

kann, das über die Philosophie selbst hinausgeht: das Argumentieren. Wird an philosophisches

Argumentieren gedacht, ist damit oft die Gleichsetzung mit der Kunst des deduktiven Schlie-

ßens und der systematischen Theorie des deduktiven Schließens in der formalen Logik verbun-

den. Diese Gleichsetzung stellt für viele Philosophen und Argumentationstheoretiker seit Lan-

gem eine Problematik dar. Die Probleme, die das philosophische Argumentieren aufwirft, sind

nämlich nicht mit denen der formalen Logik gleichzusetzen, sondern stellen ganz andere An-

forderungen, allen voran die Wahrheitsfähigkeit.35

Wie bereits erwähnt, wird die Logik bei Philosophieschülern und auch -studierenden häufig als

übles Beiwerk des Unterrichts oder des Studiums betrachtet. Viele Lehrerinnen und Lehrer

streifen die Disziplin im Unterricht nur, obwohl sie eine Grundlage für das Philosophieren im

Allgemeinen darstellt. Ein möglicher Zugang zur Logik, der motivierend auf Schüler wirken

kann, weil es nicht nur Gegenstand der Philosophie, sondern in vielen Lebensbereichen der

Schüler wichtig ist, ist die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Argumentieren, das

in dieser Arbeit ausführlich erarbeitet wird. Die Problematik der Gleichsetzung des philosophi-

schen Argumentierens mit der formalen Logik wurde bereits weiter oben behandelt – das phi-

losophische Argumentieren zählt dennoch zur logischen Disziplin und ist über die Philosophie

hinaus in vielen Bereichen von Bedeutung. Abgesehen von der Beschäftigung mit dem philo-

sophischen Argumentieren in der Schule kann diese Fähigkeit auch noch in anderen Gebieten,

wie etwa in Debattierclubs, Anwendung finden.

Das Zentrum des philosophischen Argumentierens sind keine Schlussregeln, sondern philoso-

phische Argumentationsmuster, die ganz ohne die formalen Darstellungsmittel der Logik for-

muliert werden.36 Bevor die philosophischen Argumentationsmuster genau betrachtet werden,

sollen die Grundlagen eines philosophischen Arguments geklärt werden. Dazu zählen die Ar-

gumentationsformen und -schemata, der Aufbau eines Arguments, seine Rekonstruktion, mög-

liche Fehlschlüsse und die Prämissenerweiterung.

35 Vgl. Tetens 2014: 9 f. 36 Vgl. Tetens 2014: 9 f.

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2.2.1 Argumentationsformen und -schemata

Zunächst lassen sich zwei Grundformen des Argumentierens zur Begründung von Behauptun-

gen und Meinungen unterscheiden: die empirischen und die nicht-empirischen Argumente.

Empirische Argumente enthalten Tatsacheninformationen, die gegebenenfalls auf ihren Wahr-

heitsgehalt geprüft werden können. Mit empirischen Gründen können Handlungen auf der

Grundlage von Fakten erklärt und gerechtfertigt werden. Eine Untergruppe der empirischen

Argumente sind literarische Gründe, die sich auf Textstellen beziehen, die nachgelesen werden

können. In der philosophischen Argumentation werden mithilfe der literarischen Gründe Argu-

mente verstärkt, die von bestimmten Philosophen oder Autoren ähnlich aufgefasst wurden.

Nicht-empirische Argumente sind ein wichtiges Instrument in der philosophischen Argumen-

tation, stellen aber bezüglich ihrer Überzeugungstauglichkeit eine größere Schwierigkeit dar

als empirische Argumente. Nicht-empirische Argumente sind Verstehensargumente und haben

den Zweck, das Verstehen einer Handlung oder eines Urteils zu verbessern oder zu erleichtern.

Es handelt sich dabei jedoch nicht um geprüfte Fakten, sondern um begriffliche Konstruktio-

nen.37

In der Tradition der aristotelischen Logik hat der Philosoph Stephen Toulmin ein Schema ent-

wickelt, wie der Prozess der Argumentation üblicherweise abläuft. Ausgangspunkt ist eine auf-

gestellte Behauptung, deren Erklärung durch eine Begründung gerechtfertigt wird. Das Ba-

sisschema einer Argumentation bilden Behauptungen – in der Sprache der Logik nach Toulmin

Schlussfolgerungen genannt – und Begründungen – in der Sprache der Logik nach Toulmin

Daten genannt. Schlussfolgerungen werden von Daten gestützt, die sowohl empirische als auch

nicht-empirische Argumente sein können. Wird zu einer Behauptung eine Gegenbehauptung

angeführt, muss der Argumentierende die Relevanz der Daten erläutern und einen Grund für

den Grund anführen.38 Nach Toulmin muss hier gezeigt werden, dass „der Schritt von diesen

als Ausgangspunkt dienenden Daten auf die ursprüngliche Behauptung oder Schlußfolgerung

angemessenen und legitim ist.“39 Diese Metaargumente bezeichnet er als warrant, was so viel

wie Rechtfertigung oder Befugnis bedeutet. Die warrants sollen die angegebene Begründung

rechtfertigen, stellen aber keinen weiteren Grund für eine Behauptung dar. Warrants dienen

37 Vgl. Brüning 2003: 54 f. 38 Vgl. Brüning 2003: 56-59. 39 Toulmin 1975: 89.

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dazu, zu zeigen, warum gerade der angegebene Grund wichtig ist und haben die Funktion, Ar-

gumentationen in der Diskussion überzeugend zu machen. Wird auch ein gut durchdachtes war-

rant in Frage gestellt, müssen die Argumentierenden erläutern, weshalb sie ein bestimmtes war-

rant zur Stützung des Arguments gewählt haben und geben einen Grund für dessen Wahl an.

Dieser Grund wird in der Argumentationstheorie als backing bezeichnet, soll zu einem vorläu-

figen Abschluss führen und mögliche Gegenargumentationen verhindern. In philosophischen

Diskussionen setzt sich beim Aufeinandertreffen verschiedener Meinungen und Argumentati-

onen im Normalfall die überzeugendste durch.40 In Anlehnung an die Darstellung von Geiß

wird das Modell nach Toulmin anhand einer Beispielargumentation grafisch dargestellt:

Abbildung 1: Argumentationsschema nach Toulmin41

2.2.2 Der Aufbau eines Arguments

Ein Argument ist eine Gruppe von Aussagen. Eine dieser Aussagen drückt die Zielüberzeugung

aus, bedarf einer Stützung und wird als Konklusion bezeichnet. Es wird immer für die Konklu-

sion argumentiert. Andere Aussagen sind die Ausgangspunkte oder Prämissen des Arguments

und sind das, woher argumentiert wird. Die restlichen Aussagen verbinden die Prämissen mit

40 Vgl. Brüning 2003: 56-59. 41 Geiß 2017: 210.

Grund (Datum) Modalbegriff Behauptung (Konklusion)

wenn nicht

Ausnahme-

bedingung

Schlussregel (Warrant)

wegen stützender

Schlussregel (Backing)

Harry ist in Bermuda geboren.Petersen ist Schwede.

Harry ist ein britischer Staatsbürger.Petersen ist kein Katholik.

Harrys Eltern waren Ausländer. Petersen gehört zur katholischen Minderheit in Schweden.

Ein geborener Bermudianer ist gewöhnlich britischer Staatsbürger.Schweden sind fast immer keine Katholiken.

Allen gebürtigen Bermudianern wird die britische Staatsbürgerschaft zuerkannt.In Schweden gibt es nur 2 % Katholiken.

meistens

fast immer

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der Konklusion.42 Ein Argument besteht also aus zwei oder mehreren Prämissen und einer Kon-

klusion, die aus den Prämissen folgt und dient dazu, jemand anderen oder auch sich selbst von

der Wahrheit einer bestimmten Aussage zu überzeugen. Das macht man, indem man „die Wahr-

heit dieser Aussage auf andere Aussagen zurückführt, von deren Wahrheit man schon überzeugt

ist.“43 Ein berühmtes Argument, das die Existenz Gottes beweisen soll, wurde von René Descar-

tes aufgestellt und von Holm Tetens so aufgeschrieben:

1. „Wir Menschen verfügen über die Idee Gottes als des vollkommensten Wesens.

2. Als selber unvollkommene, endliche Wesen können wir diese Idee nicht selbständig

von uns aus entwickelt haben.

3. Wenn wir die Idee Gottes nicht selbständig von uns aus entwickelt haben können, wir

aber gleichwohl über diese Idee verfügen, muss das vollkommenste Wesen selber uns

diese Idee eingepflanzt haben.

4. Also muss das vollkommenste Wesen selber uns die Idee Gottes eingepflanzt haben.

5. Wenn das vollkommenste Wesen selber uns die Idee Gottes eingepflanzt haben muss,

dann muss das vollkommenste Wesen auch tatsächlich existieren.

6. Also muss Gott als das vollkommenste Wesen tatsächlich existieren.“44

Die Punkte eins bis fünf in diesem Argument stellen die Prämissen, der sechste Punkt die Kon-

klusion dar. Descartes geht von der Tatsache aus, dass Menschen bereits eine Vorstellung von

Gott haben und auch nur deshalb nach der Existenz Gottes fragen können. Als unvollkommene

Wesen können Menschen die Vorstellung Gottes nicht selbst entwickelt haben, sondern sie

muss ihnen vom vollkommensten Wesen – also Gott – eingepflanzt worden sein. Deshalb muss

Gott, so Descartes Argument, existieren.45

Bei philosophischen Argumenten stellt der Argumentierende zwei Behauptungen auf. Die erste

Behauptung besagt, dass die Prämissen des Arguments wahr sind. Die zweite Behauptung be-

sagt, dass die Konklusion wahr sein muss, falls die Prämissen wahr sind. Wenn beide Behaup-

tungen wahr sind, dann ist die Wahrheit der Konklusion gesichert.46 Es liegt hier eine implizite

Wenn-Dann-Beziehung vor. Wenn die Wahrheit der Prämissen anerkannt wird, dann wird auch

42 Vgl. Rosenberg 1997: 27. 43 Tetens 2014: 25. 44 Tetens 2014: 23. 45 Vgl. Tetens 2014: 22 f. 46 Vgl. Tetens 2014: 24 f.

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die Wahrheit der Konklusion anerkannt.47 Will man die Schlüssigkeit eines Arguments feststel-

len, ist der Inhalt des Arguments im Einzelnen unwesentlich. Zu dieser Einsicht ist Aristoteles

gekommen, weshalb er als der Vater der formalen Logik angesehen wird. Er war es auch, der

die Verwendung von Ausdrücken eines bestimmten Typus an der Stelle von inhaltlich irrele-

vanten Ausdrücken eingeführt hat. Sind inhaltliche Ausdrücke eines Arguments irrelevant für

die Schlüssigkeit eines Arguments, werden sie durch andere Ausdrücke ersetzt, sodass immer

wieder ein schlüssiges Argument resultiert.48 Diese anderen Ausdrücke sind Buchstaben, „die

nur noch die Stellen markieren, an die man verschiedene inhaltliche Ausdrücke einfügen

darf.“49 Für ein Beispiel wird zunächst die vorhin angeführte Argumentation auf die Punkte vier

bis sechs reduziert:

1. „Das vollkommenste Wesen muss uns die Idee Gottes eingepflanzt haben.

2. Wenn das vollkommenste Wesen uns die Idee Gottes eingepflanzt haben muss, dann

muss das vollkommenste Wesen auch tatsächlich existieren.

3. Also muss Gott als das vollkommenste Wesen tatsächlich existieren.“50

Setzt man in dieses Argument nun Buchstaben ein, finden sich kein Argument mehr, sondern

von Logikern so genannte Aussageformen, bei denen es nicht sinnvoll ist, zu fragen, ob sie wahr

oder falsch sind. Erst nachdem für die Buchstaben p und q Beschreibungen von Sachverhalten

eingefügt wurden, kann nach der Wahrheit der Prämissen und der Konklusion gefragt werden.

1. „Es ist p der Fall.

2. Wenn p der Fall ist, dann ist q der Fall.

3. Also ist q der Fall.“51

Die Form des Arguments spielt hier die wesentliche Rolle. Denn es gibt zahlreiche Argumente

mit derselben Form, die aber inhaltlich komplett verschieden sind.52 Der Aufbau eines Argu-

ments sieht zusammenfassend folgendermaßen aus:

47 Vgl. Rosenberg 1997: 28. 48 Vgl. Tetens 2014: 26. 49 Tetens 2014: 26. 50 Tetens 2014: 26. 51 Tetens 2014: 27. 52 Vgl. Tetens 2014: 27 f.

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Abbildung 2: Der Aufbau eines Arguments53

Deskriptive Argumente, wie sie bisher besprochen wurden, machen Aussagen darüber, was in

der Welt der Fall ist und erfüllen zwei Funktionen. Erstens ist die Wahrheit der Konklusion auf

die Wahrheit der Prämissen zurückzuführen. Obwohl das die grundlegendste Funktion eines

Arguments ist, steht sie nicht immer im Vordergrund. Es kann nämlich sein, dass die Konklu-

sion eines Arguments vollkommen unstrittig ist und keines Beweises bedarf. Entscheidend ist

jedoch nicht, dass das Argument aufdeckt, dass die Konklusion wahr ist, sondern dass die Kon-

klusion logisch aus den Prämissen folgt. Das stellt die zweite Funktion der deskriptiven Argu-

mente dar. Sätze können unterschiedliche andere Sätze logisch nach sich ziehen. Hier spricht

man von einem inferentiellen Zusammenhang zwischen Aussagen. In der Philosophie ist die

Darstellung eines solchen inferentiellen Zusammenhangs zwischen Aussagen meist die wichti-

gere Funktion von Argumenten als der Wahrheitsnachweis für die Konklusion.54

Neben den deskriptiven Aussagen gibt es auch die normativen Aussagen im weiteren Sinne und

die normativen Aussagen im engeren Sinne. Die normativen Aussagen können nicht, wie die

deskriptiven Aussagen, wahr oder falsch sein. Es handelt sich dabei nämlich um Wertungen

(normative Aussagen im weiteren Sinne) und um Gebote und Verbote (normative Aussagen im

engeren Sinne). Besonders die normativen Aussagen im engeren Sinne sind nicht mit dem in-

tuitiven Verständnis von Wahrheit zu vereinbaren, weshalb viele Philosophinnen von der Rich-

tigkeit dieser Aussagen sprechen. Dennoch findet Argumentieren auch in moralischen Fragen

statt, worauf später in dieser Arbeit noch genauer eingegangen wird.55

53 Tetens 2014: 33. 54 Vgl. Tetens 2014: 36. 55 Vgl. Tetens 2014: 37.

Der Aufbau des Arguments

Ein Argument besteht aus:

• den Prämissen,

• der Konklusion,

• gegebenenfalls Annahmen um des Arguments willen,

• der zugrunde liegenden Schlussregel.

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2.2.3 Rekonstruktion, Fehlschlüsse, Prämissenerweiterung

Bei der Lektüre eines philosophischen Textes stößt man immer wieder auf Argumente, die erst

rekonstruiert werden müssen. Rekonstruktion von Argumenten bedeutet, die Prämissen und die

Konklusion eines Arguments in einem Text zu identifizieren. Dabei ist es meist unvermeidlich,

vom Wortlaut des Textes erheblich abzuweichen, wenn das Argument eindeutig nach Prämis-

sen und Konklusion geordnet werden soll. Wichtig ist zu beachten, dass es nicht eine einzige

richtige Rekonstruktion eines Arguments gibt. Ein und derselbe Text kann auf die unterschied-

lichsten Arten interpretiert werden. Dadurch können auch die im Text enthaltenen Argumente

verschieden gelesen und aufgefasst werden.56 Tetens nennt eine Faustregel für die Rekonstruk-

tion von Argumenten, die zu beachten ist: „Ein Argument sollte so rekonstruiert werden, dass

es, wenn es sich in irgendeiner Weise mit dem Text vereinbaren lässt, einerseits schlüssig ist,

andererseits die Prämissen wahr sind.“57

Damit man Sicherheit darüber gewinnt, ob ein Argument schlüssig rekonstruiert wurde, muss

die verwendete Schlussregel auf ihre logische Gültigkeit überprüft werden. Gültig ist eine

Schlussregel dann, wenn „bei jeder Einsetzung passender inhaltlicher Ausdrücke für die Buch-

staben, bei der aus den Prämissen der Schlussregel wahre Aussagen entstehen, auch die Kon-

klusion zu einer wahren Aussage wird.“58 Die Schlussregel ist hingegen widerlegt, wenn auch

nur eine einzige Einsetzung passender inhaltlicher Ausdrücke für die Buchstaben die Prämissen

wahr, während sie die Konklusion falsch werden lässt. Dann wird von einem sogenannten Fehl-

schluss gesprochen.59 Fehlschlüsse können so zusammengefasst werden:

Abbildung 3: Fehlschlüsse60

56 Vgl. Tetens 2014: 41. 57 Tetens 2014: 41. 58 Tetens 2014: 41. 59 Vgl. Tetens 2014: 41 f. 60 Tetens 2014: 42.

Fehlschlüsse

• Eine Schlussregel stellt genau dann einen Fehlschluss dar, wenn sie nicht gültig

ist, wenn es also eine Anwendung der Schlussregel mit wahren Prämissen, aber einer falschen Konklusion gibt.

• Man spricht auch bei Argumenten von Fehlschlüssen, wenn ihnen eine nicht gül-

tige Schlussregel zugrunde liegt.

• Dass ein Argument ein Fehlschluss ist, kann durch ein einziges Argument dersel-

ben Form mit offenkundig wahren Prämissen und einer offenkundig falschen

Konklusion gezeigt werden.

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Wenn Argumente Fehlschlüsse sind, bedeutet das jedoch nicht, dass diese Argumente verwor-

fen werden müssen. Es gibt eine Möglichkeit, aus ihnen schlüssige Argumente zu machen:

durch die sogenannte Prämissenerweiterung. Das bedeutet, dass das Argument um ein oder

mehrere Prämissen ergänzt wird, sodass ein schlüssiges Argument entsteht. Dieser Vorgang ist

dann erlaubt, wenn die Prämissen des nicht-schlüssigen Arguments um eine oder mehrere

wahre Prämissen ergänzt werden. Dann erfüllen sie die Aufgabe, dass das Ausgangsargument

allein nicht zu leisten vermochte – sie machen das Argument schlüssig. Ist die hinzugefügte

Prämisse jedoch falsch, kann auch die Konklusion nicht als wahr nachgewiesen werden und der

Versuch, das Argument schlüssig zu machen, ist fehlgeschlagen.61

In diesem Kapitel wurden die Argumentationsformen und -schemata sowie der klassische Auf-

bau eines Arguments dargestellt. Es wurde gezeigt, wie die Rekonstruktion eines Arguments

funktioniert, was Prämissenerweiterungen und Fehlschlüsse sind. Werden diese Fehlschlüsse

aufgedeckt, ist das eine Möglichkeit, Kritik am Argument zu üben. Wie Argumente aufgrund

von Fehlschlüssen kritisiert werden können, wird im folgenden Kapitel gezeigt.

2.3 Ein Argument kritisieren

Argumente können kritisiert und gegen sie können Einwände erhoben werden. Wenn jemand

die Position vertritt, dass ein Argument zur falschen Konklusion geführt hat, dann geht das

Argument entweder nicht von wahren Prämissen aus oder es ist nicht gültig. Das bedeutet, dass

zwei Arten von Einwänden gegen ein Argument möglich sind: Entweder die Prämissen werden

bestritten, oder die Gültigkeit des Arguments wird angezweifelt.62

2.3.1 Gültigkeits-Einwand

Wird ein Einwand gegen die Gültigkeit eines Arguments erhoben, so richtet sich die Kritik

gegen die Form des Arguments. Der Einwand konzentriert sich darauf, dass die Konklusion

nicht aus den Prämissen folgt. Durch die Kenntnis der immer wiederkehrenden Argumentati-

onsmuster, die im folgenden Kapitel dieser Arbeit beschrieben werden, fällt die Unterscheidung

von Gültigkeit und Ungültigkeit eines Arguments leichter. Gültige Argumentationsmuster fol-

gen der Wenn-Dann-Beziehung. Ist es möglich, dass ein Argumentationsmuster von Wahrheit

61 Vgl. Tetens 2014: 44. 62 Vgl. Rosenberg 1997: 29.

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zu Falschheit führt, ist es kein gültiges. Um zu zeigen, dass ein Argumentationsmuster ungültig

ist, braucht es ein Argument, das das gleiche Muster hat, jedoch von einer annehmbaren zu

einer unannehmbaren Konklusion führt. Das bezeichnet man als Technik des Modellebildens.

Das Beziehungsmuster, das von den Prämissen zur Konklusion eines Arguments führt, wird

extrahiert. Nach diesem Modell wird nun ein weiteres Argument gebildet, das von wahren Prä-

missen zu einer falschen Konklusion führt. Ist dies möglich, beweist das, dass dieses Bezie-

hungsmuster für die Prämissen und die Konklusion eines Arguments möglich ist, selbst wenn

die Konklusion falsch ist und die Prämissen wahr sind. Das bedeutet wiederum, dass die Wahr-

heit der Konklusion des Ausgangsarguments, in dem tatsächlich wahre Prämissen in solch ei-

nem Beziehungsmuster zur Konklusion stehen, nicht zwingend akzeptiert werden muss.63

2.3.2 Prämissen-Einwand

Wird ein Argument bestritten, indem die Prämissen angegriffen werden, reicht es nicht aus,

eine Prämisse einfach abzulehnen – das ist nichts weiter als eine Meinungsverschiedenheit. Um

eine Prämisse anzuzweifeln, muss ein Grund dafür gefunden werden, die Prämisse fallen zu

lassen. Die Technik, die dafür zum Tragen kommt, ist die interne Kritik. Das bedeutet, dass

dem Philosophen, der das zweifelhafte Argument aufgestellt hat, gezeigt wird, dass dieser mit

anderen Überzeugungen, die er für wahr hält, in Schwierigkeiten kommt, wenn er die fragliche

Prämisse akzeptiert. Dafür wird ein neues Argument konstituiert, das nur Thesen und Behaup-

tungen enthält – die zweifelhafte Prämisse ist hier mit eingeschlossen –, die der Philosoph für

wahr hält. Die Konklusion dieses Argumentes besteht jedoch aus einer These, die der Philosoph

ausdrücklich verwirft. Nun liegt es am Philosophen, wie er mit diesem Einwand umgeht. Er hat

verschiedene Möglichkeiten und kann etwa die Prämisse aufgeben, oder das vorgebrachte Ar-

gument kritisieren.64

Durch das Üben von Kritik an Argumenten wird die Argumentation aufrechterhalten. Argu-

menten wird mit Argumenten begegnet und genau das ist der Kern des Philosophierens.65 Ro-

senberg beschreibt fünf verschiedene Möglichkeiten, an einem Argument Kritik zu üben und

einen Philosophen dadurch zu kritisieren. Diese Möglichkeit des Kritisierens ist gleichzeitig

das Aufdecken von Fehlschlüssen. Darauf wird im Folgenden Bezug genommen.

63 Vgl. Rosenberg 1997: 32. 64 Vgl. Rosenberg 1997: 52 ff. 65 Vgl. Rosenberg 1997: 56.

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2.3.3 Äquivokation

Äquivokation bedeutet „Mehrdeutigkeit oder Wortgleichheit bei Sachverschiedenheit“66. In Ar-

gumentationen kommt es vor, dass die Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung von der

Interpretation der Formulierung der Behauptung abhängt. Für einen Schlüsselbegriff gibt es

häufig unterschiedliche Lesearten, die einen Satz je nach Leseart wahr oder falsch werden las-

sen. Eine Philosophin, die ein Argument vorbringt, möchte natürlich, dass alle Prämissen wahr

sind. In manchen Fällen gelingt das nur, wenn der Schlüsselbegriff in den vorgebrachten Prä-

missen auf unterschiedliche Weisen gelesen wird, das bedeutet einmal auf die eine und bei einer

anderen Prämisse auf die andere Art. In diesem Fall handelt es sich um eine Äquivokation.

Damit wird eine Grundregel des Argumentierens verletzt, nämlich die, dass ein Wort innerhalb

eines Arguments immer dasselbe bedeuten muss. Die Philosophin verstößt gegen die Regel des

vernünftigen Denkens und hier kann ihr Argument kritisiert werden. 67

2.3.4 Petitio principii

Die „Verwendung eines unbewiesenen, erst noch zu beweisenden Satzes als Beweisgrund für

einen anderen Satz“68 wird als petitio principii bezeichnet. Ein Argument gebraucht dann seine

Konklusion als Prämisse. Um so ein Argument zu bestreiten, muss die Prämisse, die gleichzei-

tig die Konklusion ist, in Frage gestellt werden. Die erste Schwierigkeit besteht jedoch darin,

einem Argument eine petitio principii nachzuweisen, denn die Konklusion wird kaum aus-

drücklich als Prämisse verwendet werden, sondern nur implizit im Argument vorhanden sein.

Wurde eine petitio principii nachgewiesen, zeigt dies, dass der Philosoph, der das Argument

vorbringt, kein ernstzunehmender Gegner einer philosophischen Diskussion ist. Denn mit ei-

nem solchen Argument verstößt der Philosoph gegen die methodischen Anforderungen der Phi-

losophie. Ein Argument dieser Art kann nur durch die Infragestellung der Schlüsselprämisse

kritisiert werden. Kann ein solches Argument nachgewiesen werden, wird es im selben Moment

als nicht relevantes Argument identifiziert.69

66 Duden Online. 67 Vgl. Rosenberg 1997: 89-94. 68 Duden online. 69 Vgl. Rosenberg 1997: 94 ff.

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2.3.5 Infiniter Regress

Der infinite Regress in der Philosophie ist ein rationaler Prozess, der unabschließbar ist. Das

kann ein Prozess des Begründens, des Erklärens, des Rechtfertigens oder Ähnliches sein. Damit

so ein unabschließbarer, rationaler Prozess für eine philosophische Argumentation problema-

tisch wird, braucht es verschiedene andere Bedingungen. Der Prozess muss erstens ein Regress,

also ein „Zurückgehen von der Wirkung zur Ursache“70, sein. Der Regress muss zweitens eine

Konsequenz der kritisierten These sein und drittens muss an diesem infiniten Regress irgendet-

was nicht stimmen, er muss eine Inkohärenz darstellen. Um festzustellen, ob ein infiniter Re-

gress nun kritisch für ein philosophisches Argument ist oder nicht, muss bestimmt werden, ob

es sich um einen fatalen oder harmlosen Regress handelt. Entscheidend ist bei dieser Bestim-

mung das dialektische Umfeld. Denn in einem Umfeld kann eine These einen harmlosen, in

einem anderen einen fatalen Regress zu Folge haben. Ein fataler infiniter Regress kommt relativ

selten vor – wird ein solcher jedoch aufgedeckt, ist das eine Möglichkeit, Philosophen zu kriti-

sieren.71

2.3.6 Verlorener Gegensatz

In der Philosophie und in der philosophischen Argumentation werden immer wieder Unter-

scheidungen getroffen. So werden Begriffspaare gebildet, die sich gegenseitig ausschließen, in

Opposition zueinander stehen oder einen Gegensatz bilden. Eine Regel des vernünftigen Den-

kens in Bezug auf Argumente besagt, dass „gleiche Prämissen gleiche Argumente stützen. Als

ein Prinzip jeder rationalen Untersuchung verlangt es, dass gleiche Daten gleiche Hypothesen

bestätigen und analoge Phänomene analoge Erklärungen finden sollten.“72 Der Inhalt der Prä-

missen, Daten und Phänomene wird hier nicht berücksichtigt. Die allgemeine Struktur – die

Form – der Prämissen, Daten und Phänomene ist das Entscheidende. Die Regel des vernünfti-

gen Denkens bietet eine Möglichkeit von einem Philosophen vorgenommene Unterscheidungen

und die Argumentationen, mit denen er solche Unterscheidungen stützt, beurteilen zu können.

Denn eine Unterscheidung benötigt einen Unterschied. Ist dieser nicht vorhanden, geht der ver-

70 Duden online. 71 Vgl. Rosenberg 1997: 101-107. 72 Rosenberg 1997: 108.

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meintliche Gegensatz verloren. Eine weitere Möglichkeit, Kritik an Philosophen und ihren Ar-

gumentationen zu üben ist es, solche Unterscheidungen, die auf einem verlorenen Gegensatz

beruhen, aufzuklären.73

2.3.7 Leere Behauptung

Eine leere Behauptung oder eine leere These ist eine These ohne Inhalt. Wenn eine These gram-

matikalisch vollkommen korrekt aufgestellt wird, bedeutet das noch nicht, dass es sich dabei

tatsächlich um eine These handelt. Eine These verliert ihre Glaubwürdigkeit und den Anspruch,

sie zu verteidigen oder zu kritisieren, wenn sich zeigt, dass sie sich von ihren sinnvollen Kon-

sequenzen innerhalb einer Diskussion löst. Eine sinnvolle Behauptung zieht nämlich sinnvolle

Konsequenzen nach sich. Das Verteidigen und Kritisieren einer Behauptung ist nur dann sinn-

voll, wenn die Behauptung einen Inhalt hat, also wahr oder falsch sein kann. Die Zurückwei-

sung oder Akzeptanz einer Behauptung hängt davon ab, ob sie kohärent oder widersprüchlich

zu anderen Behauptungen ist. Kann eine Behauptung aber weder kohärent noch widersprüch-

lich zu anderen Behauptungen sein, weil ihr keinerlei positive Konsequenzen folgen, so ist diese

Behauptung keine These, sondern sie ist leer. Und damit ergibt sich nach Rosenberg eine fünfte

Möglichkeit einen Philosophen zu kritisieren.74

Die beschriebenen Möglichkeiten, Philosophinnen und Philosophen zu kritisieren, sind gleich-

zeitig Fehlschlüsse, die beim Argumentieren gemacht werden und dann von anderen Philoso-

phinnen und Philosophen aufgedeckt werden können. Das Ziel beim Philosophieren und Argu-

mentieren sollte sein, diese Fehlschlüsse zu vermeiden. Bereits beim Erlernen des Argumentie-

rens im Unterricht in der Schule spielen diese Fehlschlüsse eine wichtige Rolle. Da diese Arbeit

im Bereich der Philosophiedidaktik verfasst wurde und stark auf die Schule und den Unterricht

Bezug nimmt, findet sich im Anhang ein Handout für den Unterricht, das genau diese Thematik

aufgreift. Das Handout ist sowohl für Philosophielehrerinnen und -lehrer als auch für Lehrerin-

nen und Lehrer anderer Fächer, wie zum Beispiel Deutsch, gedacht, die häufige logische Fehl-

schlüsse – beispielsweise im Rahmen einer Supplierstunde – auf humorvolle Art und Weise mit

ihren Schülerinnen und Schülern erarbeiten wollen.

73 Vgl. Rosenberg 1997: 108-111. 74 Vgl. Rosenberg 1997: 114 f.

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2.4 Argumentationsmuster der Philosophie

Nachdem im vorherigen Kapitel die Möglichkeiten des Kritik-Übens an Argumenten aufge-

zeigt wurden, stehen in diesem Kapitel die philosophischen Argumentationsmuster als Grund-

lage für überzeugende und gute, nicht-kritisierbare Argumente im Mittelpunkt. Die hier aufge-

zeigten Muster sollen Werkzeuge des philosophischen Argumentierens darstellen. Das bedeu-

tet, dass diese Muster im Prozess des Argumentierens eine zweckdienliche Funktion überneh-

men. Sie erleichtern den Umgang und veranschaulichen die logische Struktur hinter den kom-

plex wirkenden Argumenten. Bezugnehmend auf den Philosophieunterricht in der Schule stel-

len Argumentationsmuster Werkzeuge dar, die die Schülerinnen und Schüler beim Argumen-

tieren verwenden können und mit deren Hilfe ihnen die Struktur des philosophischen Argu-

mentierens gezeigt werden kann. Durch die Arbeit mit den folgend vorgestellten Argumentati-

onsmustern kann der bereits erwähnten Negativität gegenüber der logischen Disziplin entge-

gengewirkt werden. Die Muster ermöglichen einen klaren, strukturierten Zugang zu und Um-

gang mit Argumenten, der die Schülerinnen und Schülern einen neuen Aspekt der Logik erken-

nen lässt.

Argumente können vom selben allgemeinen Thema handeln oder sich auf denselben Gegen-

standsbereich beziehen. Diese inhaltlichen Gemeinsamkeiten werden durch Argumentations-

muster dargestellt und geben den Ausschlag dafür, ob Argumente überzeugend oder gut sind.

Das überzeugende und einer Sache angemessene Argumentieren lernt man anhand von Bei-

spielen, die Muster für gutes Argumentieren darstellen. Dieser Aufgabe des Zusammenstellens

guter Beispiele und der Verallgemeinerung zu Argumentationsmustern widmet sich die Topik.

Sie ist die Lehre von den „topoi“, also den Orten und Gegenstandsbereichen, wo sich gute Ar-

gumente finden lassen und gehört zur allgemeinen Argumentationslehre. Topik ist die „Theorie

der bereichs- und themenbezogenen Probleme des Argumentierens und der für bestimmte The-

menfelder einschlägigen Muster guter und allseits akzeptierter Argumente.“75 Die Topik des

philosophischen Argumentierens beschäftigt sich im Speziellen mit der Analyse der Stärken

und Schwächen typischer philosophischer Argumente und versucht, allgemeine Muster in ge-

lungenen Beispielen zu entdecken. Diese philosophiespezifischen Argumentationsmuster bil-

den für Philosophen hilfreiche Grundlagen für überzeugende Argumentationen.76 Ein Argu-

75 Tetens 2014: 54. 76 Vgl. Tetens 2014: 51-55.

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ment hat neben seiner Schlüssigkeit noch andere Werte, die nicht zum Themenbereich der for-

malen Logik zählen. Dazu gehören die Überzeugungsfähigkeit und die Raffinesse eines Argu-

ments. Die Fähigkeit, überzeugend zu argumentieren, ist getrennt zu sehen von der Fähigkeit,

die formale Logik zu beherrschen.

Neben der Darstellung der Argumentationen spielen für das Argumentieren auch Emotionen

eine tragende Rolle. Menschen haben zu Überzeugungen von anderen Personen oder auch zu

eigenen Überzeugungen unterschiedliche emotionale Einstellungen, die bestimmen, wie sie et-

was sprachlich zum Ausdruck bringen. Meinungen und Überzeugungen können Gefühle des

Ärgers, der Freude, der Empörung oder der Langweile hervorrufen und es gibt vielfältige Mög-

lichkeiten, diese Emotionen zu artikulieren. Manche Philosophinnen sind der Ansicht, dass die

Philosophie einen emotionslosen, der Wahrheit verpflichteten Umgang mit Meinungen ver-

lange. Dagegen spricht, dass man bereits in der Antike wusste, dass Argumente vor allem dann

wirklich überzeugen, wenn sie Gefühle ansprechen. Diese Einsicht ist Teil der Disziplin der

Rhetorik. Es geht natürlich nicht nur darum, mit Texten oder Reden Gefühle hervorzurufen –

solche werden als „bloß rhetorisch“ kritisiert. Die Logik und die Rhetorik sind dennoch keine

sich widersprechenden Disziplinen. „Wahrhaftigkeit des Redners, Orientierung an Wahrheit

und Schlüssigkeit und zugleich angemessene Erzeugung und Artikulation emotionaler Einstel-

lungen zu Überzeugungen müssen in guter argumentativer Rede Hand in Hand gehen.“77 Das

zeigt auf, warum das Argumentieren und die damit verbundene sprachlich richtige Anwendung

eine sehr hohe Kunst sind.78 Gefühle spielen bei moralischen Entscheidungen und philosophi-

schen Diskussionen eine zentrale Rolle und es benötigt häufig eine Kombination mehrerer Ar-

gumentationsformen, um diese zu rechtfertigen.79

In der Topik des philosophischen Argumentierens werden zahlreiche Arten von Argumenten

voneinander unterscheiden. In Anlehnung an Holm Tetens werden im Folgenden sieben Argu-

mente und die dazugehörigen Argumentationsmuster genauer dargestellt.

2.4.1 Transzendentale Argumente

Wenn Menschen reden, nachdenken, sich etwas vorstellen oder etwas tun, dann handeln sie. Es

ist jedoch sinnlos, bestimmte Handlungen auszuführen, wenn gewisse Bedingungen vorliegen.

77 Tetens 2014: 64. 78 Vgl. Tetens 2014: 63 f. 79 Vgtl. Brüning 2003: 56.

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So wäre es sinnlos, nach seinem Schlüssel im Büro zu suchen, wenn man sicher weiß, dass der

Schlüssel nicht im Büro liegt. Das bedeutet, dass Handlungen bestimmte Unterstellungen auf

Seiten des Handelnden einschließen. Wenn derjenige, der seinen Schlüssel verloren hat, unter-

stellt, dass er definitiv weiß, dass sein Schlüssel nicht im Büro ist, wäre die Ausführung der

Handlung des „Schlüssel-Suchens“ im Büro nicht sinnvoll.80 Im dargestellten Argumentations-

muster, dem transzendentale Argumente gehorchen, ist das Schlussprinzip transzendentaler Ar-

gumente das Entscheidende. Dieses ist direkt auf den Grundsatz der Philosophie als höhere

Ordnung zurückzuführen: „Jede Behauptung, dass ein Sachverhalt p der Fall ist, muss kohärent

zu den verschiedenen Weisen passen, wie wir Menschen uns vernünftigerweise auf p bezie-

hen.“81 Der Grundsatz verlangt, dass das der Fall ist, was bei der sinnvollen Bezugnahme auf

gewisse Gegenstände aus begrifflichen Gründen unterstellt werden muss. Das angeführte

Schlussprinzip geht auf Kants Grundsatz transzendentaler Untersuchungen zurück, das besagt,

dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung von Gegenständen gleichzeitig die Be-

dingung der Gegenstände selbst sind.82

Das zugrundeliegende Argumentationsmuster sieht folgendermaßen aus:

Abbildung 4: Transzendentale Argumente83

80 Vgl. Tetens 2014: 68 f. 81 Tetens 2014: 70. 82 Vgl. Tetens 2014: 69 f. 83 Tetens 2014: 74.

Argumentationsmuster für transzendentale Argumente

1. Man kann auf Gegenstände der Art H sinnvoll auf die Weise K Bezug nehmen.

2. Wer sinnvoll auf die Weise K auf Gegenstände der Art H Bezug nimmt, muss

aus begrifflichen Gründen unterstellen, dass p der Fall ist.

3. Also ist p der Fall.

Schlussprinzip transzendentaler Argumente: Was man aus begriffli-

chen Gründen bei der vernünftigen Bezugnahme auf Gegenstände un-

terstellen muss, ist der Fall.

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2.4.2 Selbstanwendungsargumente

„Der Grundsatz der Philosophie als einer Disziplin höherer Ordnung verlangt, dass der Inhalt

einer Behauptung, dass p der Fall ist, und die Tatsache, dass wir behaupten, dass p der Fall ist,

zusammenpassen müssen.“84 Zwischen dem Inhalt einer Behauptung und der Tatsache, dass

dieser Inhalt behauptet wird, findet eine Verschränkung statt, die besonders bei selbstbezügli-

chen Aussagen – also Aussagen, die über sich selbst reden – interessant ist. Eines der belieb-

testen Beispiele für selbstbezügliche Aussagen ist der Lügnersatz, der folgendermaßen ausse-

hen kann:

Abbildung 5: Lügnersatz85

Dieser Lügnersatz wird als Lügnerparadoxie bezeichnet und ist widersprüchlich. Wenn der

Satz wahr ist, ist er falsch und umgekehrt. Um diesen Widerspruch festzustellen, muss heran-

gezogen werden, dass eine Aussage genau dann als wahr gilt, wenn tatsächlich das der Fall ist,

was die Aussage aussagt. Formal lässt sich das so ausdrücken: „Eine Aussage „p“ ist genau

dann wahr, wenn p.“86 Dieses Aussagenschema geht auf den polnischen Logiker Alfred Tarski

zurück und wird als Tarskis Wahrheitskonvention bezeichnet. Der Lügnersatz und dessen Wi-

derspruch ist für die Debatte um das Wahrheitsprädikat bedeutsam. Philosophen und Logiker

können sich jedoch nicht einigen, welche Konsequenzen aus der Lügnerparadoxie zu tragen

sind. Problematisch ist es jedenfalls, wenn solche selbstbezüglichen Sätze als Beweislasten ein-

gesetzt werden.87 Ein radikaler Einwand gegen den Lügnersatz ist die Frage, ob der Lügnersatz

überhaupt ein sinnvoller Satz ist. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu beachten, dass die

Syntaxregeln unserer Sprache die Möglichkeit offenbaren, unsinnige Sätze zu bilden, von de-

nen es zahlreiche gibt. Der Lügnersatz könnte also als syntaktisch korrekt, aber semantisch

nicht wertvoll bezeichnet werden, aus dem einfach keine Folgerung gezogen werden kann. Be-

weislasten werden solchen Sätzen normalerweise nicht auferlegt.88

84 Tetens 2014: 81. 85 Tetens 2014: 81. 86 Tetens 2014: 81. 87 Vgl. Tetens 2014: 81-84. 88 Vgl. Tetens 2014: 84.

Lügnersatz

Der einzige in dem Kasten mit der Überschrift „Lügnersatz“ stehende Satz ist falsch.

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Das Argumentationsmuster, dem beweiskräftige Selbstanwendungsargumente genügen müs-

sen, sieht so aus:

Abbildung 6: Selbstandwendungsargumente89

Selbstanwendungsargumente sind zwar formallogisch in Ordnung, müssen aber an der 1. Prä-

misse kritisiert werden. Denn „wenn der durch Behauptung der These „Auf alle Gegenstände

der Art H trifft F zu“ erzeugte H-Gegenstand a der einzige ist, auf den F nicht zutrifft, dann ist

die Widerlegung in der Regel sehr schwach.“90 Viele Selbstanwendungsargumente bräuchten

eine erweiterte Prämisse, um ihrer Aussage Beweiskraft zukommen zu lassen. Substantielle

Selbstanwendungsargumente sind eigentlich sehr selten, die philosophische Fließbandproduk-

tion solcher Argumente wird von Tetens deswegen als sehr bedenklich erachtet.91

89 Tetens 2014: 94. 90 Tetens 2014: 88. 91 Vgl. Tetens 2014: 88-94.

Argumentationsmuster für Selbstanwendungsargumente

1. Wer sinnvoll behauptet, dass für alle x der Art H F gilt, erzeugt dadurch selber einen

echten Gegenstand a der Art H, der geradezu paradigmatisch für einen echten Gegen-

stand der Art H ist.

2. Auf diesen Gegenstand a trifft aber wegen der Eigenschaft G die Eigenschaft F nicht

zu.

3. G ist jedoch eine paradigmatische Eigenschaft für H-Gegenstände.

4. Also trifft auf keinen H-Gegenstand F zu.

Schlussprinzip paradigmatischer Fälle: Was auf paradigmatische Fälle einer

Klasse K wegen paradigmatischer Eigenschaften zutrifft, trifft auf alle Fälle

aus der Klasse K zu.

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2.4.3 Modale Argumente

Modale Argumente werden mit modalen Aussagen gebildet, die sich unterschiedlich ausdrü-

cken lassen. „Es ist notwendig“, „Es ist möglich“ und „Es ist kontingent, dass…“ sind die Mo-

dalausdrücke, mit denen man Modalaussagen bilden kann. Es gibt Definitionsbeziehungen zwi-

schen den modalen Aussagen, die allgemein akzeptiert sind92:

(1) „Es ist möglich, dass p, genau dann, wenn es notwendig ist, dass nicht p.

(2) Es ist unmöglich, dass p, genau dann, wenn es notwendig ist, dass nicht p.

(3) Es ist kontingent, dass p, genau dann, wenn es weder notwendig ist, dass nicht p,

noch notwendig ist, dass p.“93

Der Begriff der Notwendigkeit spielt bei diesen Argumenten eine zentrale Rolle und viele Ar-

gumente leiden darunter, dass es keine einheitliche Definition für diesen Begriff zu geben

scheint. Notwendigerweise wahr ist all das, was wir uns nicht anders vorstellen oder denken

können. Um diese notwendige Wahrheit zu prüfen, nimmt man etwas entgegen der Tatsachen

an. Man spricht von kontrafaktischen Annahmen, mit denen wir uns auf eine andere Welt be-

ziehen, als auf die, in der wir leben, nämlich auf eine mögliche Welt. Immer häufiger werden

modale Ausdrücke von Philosophinnen mit dem Ausdruck der möglichen Welt definiert.94

Diese Definition sieht nach Tetens so aus:

(1) „Es ist möglich, dass p, genau dann, wenn es eine mögliche Welt gibt, in der p der

Fall ist.

(2) Es ist notwendig, dass p, genau dann, wenn p in jeder möglichen Welt der Fall ist.

(3) Es ist kontingent, dass p, genau dann, wenn es mindestens eine mögliche Welt gibt,

in der p der Fall ist, und mindestens eine andere mögliche Welt, in der p nicht der

Fall ist.“95

Mögliche Welten kann man sich denken oder vorstellen, indem man sie sich charakterisiert.

Eine klare, einheitliche Definition des Begriffs der möglichen Welt gibt es jedoch nicht. Ein

Beispiel zur Veranschaulichung einer möglichen Welt könnte so aussehen: Ich nehme ein

92 Vgl. Tetens 2014: 95. 93 Tetens 2014: 95. 94 Vgl. Tetens 2014: 95 f. 95 Tetens 2014: 97.

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Streichholz mit einem feuchten Streichholzkopf und ziehe es unter Druck über den Streifen der

Streichholzschachtel. Das Streichholz entzündet sich nicht. 96 Ich bilde eine so genannte kont-

rafaktische Konditionalaussage: „Wäre der Streichholzkopf trocken gewesen, hätte sich das

Streichholz beim Anreißen entzündet.“97

Die kontrafaktische Konditionalaussage sagt etwas über eine mögliche Welt aus, die nicht die

Welt ist, in der wir leben. Diese mögliche Welt unterscheidet sich von unserer Welt mindestens

darin, dass in ihr der Streichholzkopf trocken ist. Wir halten die kontrafaktische Konditional-

aussage für wahr, weil es Naturgesetze gibt, die sich im Umgang mit Streichhölzern bewehren

und uns sagen, dass sich das Streichholz mit einem trockenen Streichholzkopf entzünden lässt.

Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass in der angenommenen möglichen Welt auch die Natur-

gesetze aus unserer Welt in Kraft treten.98 Das Argumentationsmuster, das zeigt, wie sich kont-

rafaktische Konditionalaussagen begründen lassen, sieht so aus:

Abbildung 7: Kontrafaktische Überlegungen99

2.4.4 Gedankenexperimente

Die Philosophie interessiert sich dafür, wie eine vernünftige Bezugnahme auf die Welt zustande

kommt. Philosophinnen und Philosophen überlegen daher, was in der Welt anders sein könnte,

als es tatsächlich ist und machen das mithilfe von Experimenten – mit den so genannten Ge-

dankenexperimenten. Fragen, die mit diesen Experimenten zusammenhängen, sind zum Bei-

spiel: „Was kann sich an der Welt oder unserer Bezugnahme ändern, sodass trotzdem immer

noch die Tatsachen in der Welt und unsere Bezugnahme auf sie kohärent zusammenstimmen?“

96 Vgl. Tetens 2014: 97 f. 97 Tetens 2014: 98. 98 Vgl. Tetens 2014: 97 f. 99 Tetens 2014: 100.

Argumentationsmuster für kontrafaktische Überlegungen

1. p ist nicht der Fall.

2. Im Kontext, in dem gefragt wird, was wäre der Fall, wenn p der Fall wäre, ist

das Wissen W einschlägig.

3. Aus p und W folgt logisch, dass q der Fall ist.

4. Also wäre q der Fall gewesen, wenn p der Fall gewesen wäre.

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oder „Unter welchen Umständen bricht diese Kohärenz zwischen Tatsachen und unserer Be-

zugnahme auf sie komplett zusammen?“100 Da dem Experimentieren mit Weisen der Bezug-

nahme enge Grenzen gesetzt sind, wird in der Philosophie in Gedanken mit der Welt und unse-

rer Bezugnahme auf sie experimentiert.101

Der Ablauf eines Gedankenexperiments ist dem eines realen Experiments sehr ähnlich. Wird

etwa bei eine physikalischen Experiment eine reale Situation hergestellt, beobachtet, was pas-

siert und eine Beschreibung des Beobachteten für adäquat gehalten, so „soll jemand im Gedan-

kenexperiment auf die Schilderung der ungewöhnlichen und nicht realisierbaren Situation mit

der Zustimmung zu einem Satz reagieren.“102 Dennoch ist ein Gedankenexperiment Teil einer

Argumentation mit folgendem Argumentationsmuster:

Abbildung 8: Gedankenexperiment103

Im Unterricht werden Gedankenexperimente in vielfältiger Weise eingesetzt. Sie ermöglichen

den Zugang der Schülerinnen und Schüler zu schwer erfassbaren Problemen, veranlassen sie

dazu, eigene Positionen zu entwickeln oder dienen als Unterrichtseinstieg und als Ausgans-

punkt für das gemeinsame Philosophieren. Gedankenexperimente, wie das häufig im Unterricht

eingesetzte platonische Höhlengleichnis, unterscheiden sich von normalen Geschichten durch

ihre Strukturiertheit, die eine Szene klar darstellt und nicht durch zu großes Detailreichtum vom

Wesentlichen ablenkt.104 Gedankenexperimente fördern außerdem die kreative Sichtweise auf

Sachverhalte. Die vorgestellten Szenen sind meist ungewohnt, was das Interesse an ihnen und

gleichzeitig die Motivation, darüber nachzudenken, steigert. Sie sind manchmal überraschend

100 Tetens 2014: 117. 101 Vgl. Tetens 2014: 116 f. 102 Tetens 2014: 121. 103 Tetens 2014: 122. 104 Vgl. Zürcher 2016: 317.

Argumentationsmuster für ein Argument auf

der Basis eines Gedankenexperiments

1. Plastische Schilderung einer nicht realen oder sogar nicht realisierbaren Situa-

tion S.

2. Angesichts einer sprachlichen Reaktion auf die Schilderung von S gilt der Satz

„In S ist p der Fall“ als angemessen und wahr.

3. Aus der Schilderung der Situation S, dem Satz, dass in S p der Fall ist, und wei-

teren Prämissen folgt logisch, dass q der Fall ist.

4. Also ist tatsächlich q der Fall.

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und auch provokant und ermöglichen den Schülerinnen und Schülern Perspektivenwechsel

durchzuführen oder Kritik zu üben.105

Gedankenexperimente können nicht nur als Basis für ein Argument dienen, sondern finden be-

sonders im Philosophieunterricht darüber hinaus noch viele weitere Anwendungsgebiete.

2.4.5 Argumentieren mit Rationalitätsannahmen

Vernunft und Rationalität sind zentrale Begriffe und auch Bestandteile der Philosophie. Nun

stellt sich die Frage, was die Begriffe „Vernunft“, „Rationalität“ oder „vernünftig“ eigentlich

bedeuten. Tetens formuliert dazu ein fundamentales Rationalitätsprinzip – eine allgemeine Re-

gel für rationales Verhalten –, das wie folgt lautet: „Eine rationale Person lässt sich, wo immer

es darauf ankommt, in ihren Überzeugungen und Handlungen von guten Gründen bestim-

men.“106 Problematisch ist dieses Prinzip dahingehend, dass man dazu neigen könnte, es als

Definition für Vernunft zu sehen. Es gibt jedoch keine vollständige und exakte Definition von

Vernunft. Ausschlaggebend sind in diesem Prinzip die guten Gründe für eine Handlung, die

sich jedoch nicht definieren lassen. In unterschiedlichen Kontexten kann völlig Verschiedenes

ein guter Grund sein kann. Gute Gründe werden über ihre Vernünftigkeit und ebenso wird Ver-

nünftigkeit über gute Gründe bestimmt. Erst wenn bestimmte Gründe bereits als gute anerkannt

wurden, können wir uns auf sie stützen und das als vernünftig bezeichnen.107

Neben dem Problem der Begriffsdefinition von Rationalität stellt das Prinzip der Zweckratio-

nalität einen unproblematischen Aspekt von Rationalität dar und lautet folgendermaßen: „Eine

rationale Person handelt zielstrebig und nutzt dabei in optimaler Weise das ihr verfügbare Wis-

sen über geeignete Mittel, um ihre Ziele zu erreichen.“108 Diese Prinzip steht in Zusammenhang

mit dem von Aristoteles formulierten Argumentationsmuster praktischer Syllogismus. Nach

diesem Muster handeln Menschen in unzähligen Fällen und verhalten sich dementsprechend

zweckrational.109 Das Argumentationsmuster sieht so aus:

105 Vgl. Zürcher 2016: 318 f. 106 Tetens 2014: 138. 107 Vgl. Tetens 2014: 138. 108 Tetens 2014: 138. 109 Vgl. Tetens 2014: 138 f.

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Abbildung 9: Praktischer Syllogismus110

Rationales Verhalten und der Umgang mit rationalem Wissen eröffnen intensionale Kontexte

– also nicht-extensionale Kontexte. Ein extensionaler Kontext ist ein sprachlicher Kontext, in

dem man jeden Ausdruck durch einen extensional gleichen Ausdruck ersetzen kann, ohne die

Wahrheit der Aussagen in diesem Kontext zu verändern. Extensional gleiche Ausdrücke sind

sprachliche Ausdrücke, die sich auf dasselbe Objekt in der Welt beziehen. Solche Ausdrücke

sind zum Beispiel „„Lebewesen mit Herz“ und Lebewesen mit Niere“, denn jedes Lebewesen

mit Herz hat auch Nieren und umgekehrt.“111 Nicht-extensionale oder intensionale Kontexte

sind Kontexte, in denen sich die Wahrheit der Aussagen verändern kann. Wenn ein Ausdruck

durch einen extensional gleichen Ausdruck ersetzt wird, muss man in intensionalen Kontexten

damit rechnen, dass eine der ursprünglich wahren Aussagen plötzlich in eine falsche verwandelt

wird. Es gibt bestimmte Ausdrücke, die intensionale Kontexte schaffen. 112 Das sind: „„P weiß,

dass…“, „P will, dass…“, P denkt, dass…“, „P sagt, dass…“, „es ist notwendig, dass…“, „es

ist gut, dass…“, „es ist geboten, dass…““113 Ein Argument der folgenden Art ist aus Sicht der

formalen Logik nicht schlüssig, doch es wird wohl allgemein akzeptiert, wenn man der Person

unterstellen kann, dass sie nicht unvernünftig, inkonsequent oder verrückt, sondern rational ist.

1. „Peter weiß, dass der Abendstern mit dem Morgenstern identisch ist.

2. Peter weiß, dass der Abendstern zuerst am Abendhimmel sichtbar wird.

3. Peter weiß, dass der Morgenstern zuerst am Abendhimmel sichtbar wird.“114

110 Tetens 2014: 138. 111 Tetens 2014: 127. 112 Vgl. Tetens 2014: 126 ff. 113 Tetens 2014: 127. 114 Tetens 2014: 128.

Argumentationsmuster des praktischen Syllogismus

1. Person P will den Zweck Z erreichen.

2. Person P handelt unter den Umständen S.

3. Person P glaubt, dass unter den Umständen S der Zweck nur bzw. am besten auf die

Weise h erreicht wird.

4. Also handelt die Person P auf die Weise h.

Prinzip der Zweckrationalität: Eine zweckrationale Person handelt

auf die Weise X, wenn sie glaubt, dass der von ihr verfolgte Zweck

unter den obwaltenden Umständen am besten auf die Weise X er-

reicht wird.

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Die Rationalität einer Person wird nicht zuletzt an ihrem Wissen festgemacht. Man geht davon

aus, dass jemand, der den Begriff identisch kennt und weiß, dass zwei Dinge identisch sind und

auf ein Ding die Aussage x zutrifft, diese Aussage auch auf das andere Ding zutrifft.115 Es

handelt sich um das Rationalitätsprinzip für Wissen:

Abbildung 10: Rationalitätsprinzip für Wissen116

2.4.6 Argumentieren in der Ethik

Philosophinnen und Philosophen denken darüber nach, wie die Menschen sein sollen oder sein

wollen und befinden sich mit diesen Überlegungen im Bereich der Ethik. Hier kommen norma-

tive Aussagen zum Einsatz – also Gebote, Verbote und Erlaubnisse. Diese Aussagen sind im

Gegensatz zu den deskriptiven Aussagen nicht wahr oder falsch. Für das Argumentieren in der

Ethik gilt es zu klären, inwieweit solche normativen Aussagen schlüssig sein können. Wer ver-

nünftig ist und die Prämissen eines schlüssigen Arguments akzeptiert, akzeptiert auch dessen

Konklusion. Der Unterschied der normativen zu den deskriptiven Argumenten und ihrer

Schlüssigkeit liegt darin, dass man einen deskriptiven Satz für wahr hält, wenn man diesen

akzeptiert. Ein normativer Satz kann nicht im selben Sinn wahr sein, weshalb man einen nor-

mativen Satz dann akzeptiert, wenn man bereit ist, nach dem entsprechenden Gebot, Verbot

oder der Erlaubnis des normativen Satzes zu handeln. Die Schlüssigkeit normativer Argumente

definiert sich dadurch, dass sie genau dann schlüssig sind, wenn normative Aussagen wie de-

skriptive Aussagen aufgefasst werden und das Argument die Form eines logisch schlüssigen

deskriptiven Arguments hat. Das bedeutet, dass eigentlich normative Aussagen wie deskriptive

Berichte gelesen werden. Gut erkennbar ist dies an dem Satz „Es ist verboten, X zu tun“. Ei-

nerseits kann dieser Satz als Verbot ausgesprochen, andererseits aber auch als Bericht gelesen

werden. Das Berichten über ein Verbot hat keinerlei normativen Charakter – es handelt sich um

einen deskriptiven Satz, der wahr oder falsch sein kann. Aber, „auch wenn für die Frage der

Schlüssigkeit die normativen Aussagen wie deskriptive behandelt werden, ist eine Konklusion

115 Vgl. Tetens 2014: 129. 116 Tetens 2014: 129.

Rationalitätsprinzip für Wissen: Wenn eine rationale Person weiß, dass Gegenstand x

identisch ist mit Gegenstand y und dass auf x F zutrifft, so weiß sie auch, dass F auch

auf y zutrifft.

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der Form „Es ist geboten (verboten, erlaubt), auf die Weise X zu handeln“ nicht als ein deskrip-

tiver Bericht über moralische Forderungen gemeint.“117 Eine Konklusion dieser Form ist den-

noch eine normative Aussage mit dem Ziel, dass Menschen sich entsprechend verhalten oder

Bemühungen anstellen, sich so zu verhalten.118

Beim moralischen Argumentieren gibt es bestimmte elementare Regeln, die beachtet werden

müssen. Meistens sind Handlungen mit gewissen Umständen verbunden und je nach Umstand

verboten, geboten oder erlaubt. Es ist beispielsweise geboten, einen Sachverhalt herbeizufüh-

ren, wenn ein gewisser Umstand vorliegt. Diese Art von Aussagen bezeichnet man als Normen

und unser System von Normen sollte konsistent sein.119 Nach Tetens lauten die sieben wich-

tigsten Prinzipien des moralischen Argumentierens:

1. „Konsistenzprinzip I: Wenn Z herbeizuführen geboten ist, dann ist die Herbeiführung von

Z nicht verboten.“120 Dieses Prinzip zeigt die notwendige Konsistenz121 unserer Normen

auf.

2. „Konsistenzprinzip II: Wenn die Aussage, dass Z der Fall ist, die Aussage, das Z‘ der Fall

ist, logisch impliziert und wenn es geboten ist, Z herbeizuführen, dann ist es auch geboten,

Z‘ herbeizuführen.“122 Normative Kontexte schließen logische Zusammenhänge nicht aus,

wie dieses Prinzip beweist.

3. „Prinzip der konsequenten Pflichterfüllung: Wenn es geboten ist, auch Z‘ herbeizuführen,

falls man Z herbeiführt, dann ist es geboten, Z‘ herbeizuführen, falls es geboten ist, Z her-

beizuführen.“123 In manchen Fällen ist es geboten, etwas zu tun, wenn man etwas anderes

tut. So ist es notwendig als Ersthelfer beim Verletzten zu bleiben, bis der Rettungsdienst

kommt, wenn man diesen gerufen hat.

4. „Prinzip der moralischen Angemessenheit der Mittel: Wenn es verboten ist, Z‘ herbeizu-

führen, Z aber nur über Z‘ hergestellt werden kann, dann kann es nicht geboten sein, Z

herbeizuführen.“124 Diese Prinzip des moralischen Argumentierens zeigt, dass nicht jedes

Mittel moralisch angemessen ist, um einen bestimmten Zweck herbeizuführen.

117 Tetens 2014: 142. 118 Vgl. Tetens 2014: 140 ff. 119 Vgl. Tetens 2014: 144 f. 120 Tetens 2014: 145. 121 Unter Konsistenz wird die Widerspruchsfreiheit beziehungsweise ein strenger gedanklicher Zusammenhang

verstanden. 122 Tetens 2014: 145. 123 Tetens 2014: 145. 124 Tetens 2014: 146.

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5. „Prinzip der kausalen Konsistenz: Wenn es geboten ist, Z herbeizuführen, und wenn Z‘

herbeizuführen verhindert, dass Z eintreten kann, dann ist es verboten, Z‘ herbeizufüh-

ren.“125 Der kausale Ausschluss von Dingen ist ebenso moralisch relevant.

6. „Prinzip „Sollen impliziert Können“: Wer Z nicht herbeiführen kann, für den ist es nicht

geboten, Z herbeizuführen.“126 Verbote und Gebote sind innerhalb der Handlungs- und Ein-

flussmöglichkeiten einer Person wirksam. Was außerhalb deren Möglichkeit steht, ist nicht

der Gegenstand moralischer Richtlinien.

7. „Das Prinzip der Verantwortung für arbeitsteilige Pflichten: Wenn es für mindestens eine

Person X geboten ist, den Sachverhalt Z herbeizuführen, dann ist es (für alle) geboten, den

Sachverhalt Z herbeizuführen, dass irgendjemand Z herbeiführt.“127 Dieses letzte Prinzip

stellt klar, dass beispielsweise nicht alle Augenzeugen bei einem Verkehrsunfall den Not-

arzt rufen müssen. Es muss aber von allen Personen sichergestellt werden, dass zumindest

eine Person den Notarzt ruft.128

Diese Prinzipien sind für Tetens Voraussetzung für moralisches Argumentieren. Sie erheben

jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Ausnahme bestätigt auch in diesem Fall die

Regel – es können immer wieder besondere Sachverhalte eintreten, die andere oder abgeänderte

Prinzipien in der Argumentation erfordern. Ein Rahmen von Regeln ist jedoch besonders im

Schulkontext und bei der Arbeit mit Schülern erforderlich. Die Teten’schen Prinzipien können

hierfür sicherlich eine Grundlage bilden, die jedoch nicht als strikte Vorgaben zu verstehen

sind.

Die Prinzipien zeigen, dass beim moralischen Argumentieren Handlungen oder Handlungswei-

sen unter Normen subsumiert werden. Daraus lässt sich ein Argumentationsmuster ableiten:

125 Tetens 2014: 146. 126 Tetens 2014: 146. 127 Tetens 2014: 147. 128 Vgl. Tetens 2014: 145 ff.

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Abbildung 11: Beurteilung von Handlungen durch Subsumtion unter einer Norm129

Es gibt Argumente, die wesentlich darauf basieren, die Folgen einer Handlung zu betrachten

und sich zu überlegen, was passieren würde, wenn alle Personen wie eine einzelne handeln

würden und ob man die Folgen dieser Handlung akzeptieren könnte oder wollte. Die Argumen-

tationsweise, die aus solchen Argumenten hervorgeht, ist zentral in der moralischen Argumen-

tation und beruht auf der Beurteilung der Folgen von Handlungen.130 Das entsprechende Argu-

mentationsmuster sieht so aus:

Abbildung 12: Moralische Beurteilung einer Handlung anhand ihrer Folgen131

2.4.7 Analogieargumente

Analogien sind die Entsprechung von bestimmten Objekten, Eigenschaften und Beziehungen

eines Wirklichkeitsausschnittes W zu bestimmten Objekten, Eigenschaften und Beziehungen

eines Wirklichkeitsausschnittes W*. Das bedeutet, dass eine Analogie besagt, dass sich Ob-

jekte, Eigenschaften und Beziehungen in W genauso zueinander verhalten wie sich die Objekte,

129 Tetens 2014: 151. 130 Vgl. Tetens 2014: 153 f. 131 Tetens 2014: 154.

Argumentationsmuster für die Beurteilung von Handlungen

durch Subsumtion unter eine Norm

1. In der zu beurteilenden Situation S liegen die Umstände U vor.

2. Es ist geboten (verboten, erlaubt), den Sachverhalt Z herbeizuführen, falls Um-

stände der Art U vorliegen.

3. Also ist es in der zu beurteilenden Situation S geboten (verboten, erlaubt), den

Sachverhalt Z herbeizuführen.

Argumentationsmuster für die moralische Beurteilung

einer Handlung anhand ihrer Folgen

1. In der zu beurteilenden Situation S treten mit der Handlung H die Folgen F

ein.

2. Die Folgen F sind gut (schlecht).

3. Gutes herbeizuführen ist geboten bzw. erlaubt, Schlechtes herbeizuführen

ist verboten.

4. Die Handlung H aktuell auszuführen, ist geboten (erlaubt, verboten).

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Eigenschaften und Beziehungen in W* zueinander verhalten. Gibt es bestimmte wahre Sätze

über Objekte, Eigenschaften und Beziehungen in W, so entsprechen diese wahren Sätzen über

Objekte, Eigenschaften und Beziehungen in W*. Besteht eine Analogie zwischen dem Wirk-

lichkeitsausschnitt W und W*, so besitzen W und W* eine gemeinsame Struktur. W* kann ein

Modell für W sein, wenn die Struktur des Wirklichkeitsausschnittes W* zur Darstellung der

Struktur eines anderen Wirklichkeitsausschnittes W dient.132 Das Argumentationsmuster für

Analogieargumente sieht so aus:

Abbildung 13: Analogieargumente133

Das im Argumentationsmuster vorfindbare Analogieprinzip kann als analytisch wahre Aussage

betrachtet werden und stellt die Voraussetzung für Analogieargumente dar. Dieses Prinzip führt

jedoch zu nicht unproblematischen deduktiv schlüssigen Argumenten. Das Problem besteht in

der Aussage des Punktes (a) im Analogieprinzip. Einerseits besteht die Möglichkeit, dass defi-

nitiv gewusst wird, dass sich gewisse Gegenstände X in Bezug auf den Aspekt Z* so verhalten

wie Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z. Dieses Wissen schließt alle Eigenschaften ein

– insbesondere die in der Konklusion genannte Eigenschaft. In diesem Fall kommt das Analo-

gieargument bereits zu spät. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass das Analogieargument

132 Vgl. Tetens 2014: 175 ff. 133 Tetens 2014: 177.

Argumentationsmuster für Analogieargumente

1. Gegenstand a verhält sich hinsichtlich des Aspekts A genauso wie Gegenstand b

hinsichtlich des Aspekts B.

2. Hinsichtlich des Aspekts B trifft auf b der Sachverhalt F zu.

3. Dem Sachverhalt F entspricht hinsichtlich des Aspekts A der Sachverhalt F* für

den Gegenstand a.

4. Also trifft auf a F* zu.

Analogieprinzip: Gelten folgende drei Dinge: (a) Gegenstände X verhalten sich in

Bezug auf den Aspekt Z* genauso wie Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z; (b)

auf Gegenstände Y trifft hinsichtlich Z S zu; (c) der Sachverhalt S* hinsichtlich Z*

entspricht dem Sachverhalt S hinsichtlich Z, dann gilt auch: Auf Gegenstände X trifft

S* zu.

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dem Zweck der Überzeugung dient, dass eine bestimmte Eigenschaft im Aspektvergleich ein-

geschlossen ist. Das bedeutet, dass eine Prämisse, deren Wahrheit erst mit der Wahrheit der

Konklusion feststehen kann – nämlich die Prämisse, dass sich alle für den Aspektvergleich

relevanten Eigenschaften der beiden Gegenstände gleichen – als Stütze des Arguments heran-

gezogen wird. In diesem Fall kommt das Analogieargument zu früh.134 Die Wahrheit einer

Konklusion kann durch ein Analogieargument aufgrund der zirkulären Abhängigkeit zwischen

der Konklusion und dem Wahrheitsnachweis für die Analogieprämisse nicht garantiert werden.

Trotz dieser Problematik sind Analogieargumente in vielen Wissenschaften wie der Philoso-

phie sehr beliebt. Dafür gibt es laut Tetens zwei Gründe:

a) Analogieargumente stellen mittels wiederkehrender Strukturen eine Einheitlichkeit der

Welt dar.

b) Unvertrautes und Unverstandenes wird mit Vertrautem und Verstandenem erklärt und

befriedigt damit ein tiefes kognitives Bedürfnis der Menschen.135

In diesem Abschnitt wurden sieben Argumentationsmuster nach Tetens vorgestellt. Diese stel-

len eine Grundlage für gute und überzeugende Argumente dar. Die Muster ermöglichen zwar

einen einfacheren Umgang mit Argumenten, der richtige Umgang muss aber durchaus gelernt

und geübt werden. Das bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht vermutlich erst

durch eine längere Auseinandersetzung mit der Thematik den Vorteil solcher Argumentations-

muster erkennen werden.

Bei der Verwendung dieser Argumente im Argumentationsprozess sind für eine faire und er-

tragreiche Argumentation gewisse moralische Regeln zu beachten. Diese Regeln bilden das

Thema des folgenden Kapitels.

2.5 Moralische Regeln des Argumentierens

Argumentieren und Diskutieren sind Handlungen, deren Durchführung das Einhalten bestimm-

ter moralischer Regeln erfordert. Diese Regeln stellen gerade im Unterricht einen wichtigen

Aspekt dar. Beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Positionen und Meinungen ist es wich-

tig, im Vorhinein klarzustellen, unter welchen Bedingungen diese geäußert werden. Schülerin-

134 Vgl. Tetens 2014: 174. 135 Vgl. Tetens 2014: 181.

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nen und Schüler sind während ihrer gesamten Schullaufbahn mit Diskussionen und auch Aus-

einandersetzungen konfrontiert. Die moralischen Regeln des Argumentierens sind für diese

Zwecke ebenso geeignet wie für philosophische Argumentationen. Die Erarbeitung moralischer

Regeln des Argumentierens im Unterricht ist demnach nicht nur für den Philosophie- und

Deutschunterricht, wo Argumentieren eine wichtige Rolle spielt, zentral, sondern darüber hin-

aus für das gesamte schulische und persönliche Umfeld der Schüler. Diese Regeln sind nach

Tetens:

• Beim Argumentieren will man Andere von der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen

überzeugen. Das kann nur gelingen, wenn verständlich gesprochen wird, also so, dass die

Gesprächspartner die Aussagen auch wirklich verstehen.

• Eine ernsthafte Diskussion erfordert, dass nur das geäußert und dem zugestimmt wird, was

nach bestem Wissen und Gewissen für richtig und wahr gehalten wird. Rein strategische

Äußerungen, die nur darauf gerichtet sind, die Gesprächspartner wider besseres Wissen

vom Gesagten zu überzeugen, sind nicht erwünscht.

• Die freie Äußerung und Darstellung von Überzeugungen soll unbedingt erlaubt sein, ohne

von vornherein unterdrückt oder sanktioniert zu werden. Überzeugungen sollten nicht aus

Angst oder anderen Motiven verschwiegen werden.

• Alle Überzeugungen sollten gleichermaßen ernst genommen und die Gründe und Gegen-

gründe sollten gleichermaßen kritisch gegeneinander abgewogen werden.

• In einer Diskussion ist es häufig der Fall, dass auch nicht an der Diskussion teilnehmende

Personen oder Personengruppen Überzeugungen und Interessen teilen, die für die Diskus-

sion wichtig sind. Deshalb sollten diese auch in der Diskussion berücksichtigt werden.

• Die Erörterung des Für und Wider der einzelnen Überzeugungen ergibt eine Menge von gut

begründeten Überzeugungen, an denen festgehalten werden sollte. Dementgegen sollten

Überzeugungen, die nicht mit ausreichenden Gründen gerechtfertigt werden können, ver-

worfen werden.136

Diese sechs Gebote oder moralische Regeln für eine philosophische Argumentation sind Vo-

raussetzung für eine ernsthafte Diskussion. Würden alle moralische Fragen in ernsthaften Dis-

kussionen geklärt werden – wie es von einigen Philosophen verlangt wird – würde sich ein

oberstes Moralprinzip für die Diskursethik ergeben137:

136 Vgl. Tetens 2014: 161 ff. 137 Vgl. Tetens 2014: 164.

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Abbildung 14: Moralprinzip der Diskursethik138

In diesem Abschnitt wurden die Aufzählung und Erklärung der moralischen Regeln des Argu-

mentierens durchgeführt. Als Abschluss des Kapitels „Philosophisches Argumentieren“ wird

im Folgenden die Methode des kohärenten Argumentierens oder des reflektierten Gleichge-

wichts nach Rawls als Methode der Normenbegründung kurz erläutert und dargestellt.

2.6 Kohärentes Argumentieren oder das reflektierte Gleichgewicht nach Rawls

John Rawls‘ Methode des Überlegungsgleichgewichts oder reflektierten Gleichgewichts (re-

flective equilibrium) ist eine Methode, die der Normenbegründung dient und von John Rawls

in seinem Werk „A Theory of Justice“ eingeführt wurde.139 Das reflektierte Gleichgewicht stellt

den Abschluss eines Reflexionsprozesses dar, in dem eine oder mehrere Personen, allein oder

in Gruppen, über ihre Überzeugungen zu einem Untersuchungsgegenstand – das sind konkrete

oder generelle, moralische oder nicht-moralische Gegenstände – reflektieren oder revidieren.

Das Ziel des Prozesses ist das Erlangen eines reflektierten Gleichgewichts. Dieses wird erreicht,

wenn „durch Reflektion und Revision von Urteilen und Überzeugungen Kohärenz zwischen

den für die Einschätzung des konkreten Urteils relevanten Überlegungen hergestellt wird.“140

Kohärenz bedeutet, dass zwischen diesen Überlegungen keine Lücken enthalten sind, dass sie

also eine zusammenhängende Struktur aufweisen. Dafür ist es notwendig, die Kohärenz eines

Urteils mit den Überzeugungen bei ähnlichen Fällen und mit denen bei einem größeren Bereich

moralischer und deskriptiver Fragen zu überprüfen. 141

Für Rawls steht die „abgesicherte Begründung seiner Gerechtigkeitsidee als Fairness“142 im

Zentrum dieser Methode, wobei von moralischen Alltagsurteilen ausgegangen wird, die als fi-

xed (feste) und considered (wohlerwogene) bezeichnet werden.143 Die Methode des reflektier-

ten Gleichgewichts zielt darauf ab, zwischen diesen wohlerwogenen Urteilen und den Prinzi-

pien, die diese erklären sollen, Kohärenz herzustellen. In diesem Fall spricht Rawls von einem

138 Tetens 2014: 164. 139 Vgl. Pfeifer 2009: 107. 140 Meyer 2016: 1. 141 Vgl. Meyer 2016: 1. 142 Pfeifer 2009: 107. 143 Vgl. Pfeifer 2009: 207 f.

Das Moralprinzip der Diskursethik: Orientiere dich in deinem Handeln an den Ergebnis-

sen ernsthafter Diskussionen.

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engen reflektierten Gleichgewicht, bei dem die genannten Prinzipien auch andere Fälle recht-

fertigen. Beim weiten reflektierten Gleichgewicht wird zwischen den wohlerwogenen Urteilen,

den Prinzipien, die diese erklären und den theoretischen Überlegungen, die als relevant für die

Akzeptanz der Prinzipien und Urteile gehalten werden, Kohärenz hergestellt.

Kennzeichnend für die Methode des reflektierten Gleichgewichts ist, dass alle Elemente revi-

dierbar sind, aber einige wohlerwogene (considered) Anfangsurteile eine hohe Glaubwürdig-

keit und Akzeptanz besitzen.

Um Kohärenz und somit reflektiertes Gleichgewicht zu erreichen ist es notwendig, jedes dieser

Elemente immer wieder zu revidieren. Das Ziel ist das Erreichen eines optimalen reflektierten

Gleichgewichts. Das bedeutet, dass kein Grund für die weitere Revision der Überzeugungen

besteht, da diese mit höchster Glaubwürdigkeit und Akzeptanz verbunden sind.144

Nach Rawls haben bestimmte Anfangsurteile bereits Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. Es lässt

sich kritisch hinterfragen, warum bestimmte Urteile bereits diese Eigenschaften besitzen und

ob die durch das reflektierte Gleichgewicht erreichte Rechtfertigung nicht ein bloßer Ausdruck

dieser unbegründeten Urteile mit vorausgesetzter Glaubwürdigkeit ist. Für Rawls ist jedes

wohlerwogene moralische Urteil aufgrund theoretischer Überlegungen revidierbar, jedoch sind

nicht alle Urteile gleichzeitig hinterfragbar. Außerdem ist ein reflektiertes Gleichgewicht nur

so lange gültig, so lange kein Grund für eine weitere Reflektion oder Revision besteht.145

Es lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Kohärenz bei Rawls, den Konsistenzprinzipien

des moralischen Argumentierens146 und dem Konsens in Habermas‘ Diskursethik147 erkennen.

Alle drei Begrifflichkeiten beziehen sich auf Ziele des philosophischen Argumentierens. Rawls

sieht Kohärenz zwischen den für ein Urteil relevanten Überlegungen – also deren zusammen-

hängende Struktur – als Ziel eines Reflexionsprozesses. Ebenso betrachtet Habermas das Er-

langen von Konsens – also die Übereinstimmung von Positionen – als Ziel einer Argumenta-

tion. Die Konsistenzprinzipien beziehen sich auf die Konsistenz von Argumenten, also auf de-

ren Widerspruchsfreiheit. All diese Begriffe zeigen auf, dass das philosophische Argumentieren

das Ziel von widerspruchsfreien, zusammenhängenden Argumenten mit einer abschließenden

Übereinstimmung der Positionen im Sinne eines Demokratieverständnisses verfolgt.

144 Vgl. Meyer 2016: 1-2. 145 Vgl. Meyer 2016: 3. 146 Vgl. Seite 40. 147 Vgl. Seite 70.

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Dieses Kapitel beschäftigte sich mit dem philosophischen Argumentieren. Nach einer Einfüh-

rung in das „Philosophieren als Kulturtechnik“ wurden die Gelingensbedingungen des Argu-

mentierens und die Möglichkeiten, ein Argument zu kritisieren, untersucht. Argumentations-

muster der Philosophie und moralische Regeln des Argumentierens wurden aufgezeigt. Die

Einführung in die Methode des reflektierten Gleichgewichts nach Rawls dient als Übergang

vom philosophischen Argumentieren zum folgenden Kapitel „Das sokratische (philosophische)

Gespräch“. Das philosophische Argumentieren stellt für das sokratische Gespräch eine Grund-

lage dar. Durch die Fähigkeit des Argumentierens können die im sokratischen Gespräch behan-

delten Problem- und Fragestellungen von unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet, mit ver-

schiedenen Positionen begründet und es kann überzeugend dafür oder dagegen argumentiert

werden. Die Methode des sokratischen Gesprächs und die Bedeutung des philosophischen Ar-

gumentierens für diese Methode werden im folgenden Kapitel aufgezeigt.

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3 Das sokratische (philosophische) Gespräch

Nach der Klärung der Grundlagen des philosophischen Argumentierens steht in diesem Kapitel

das sokratische Gespräch148 im Mittelpunkt. Angelehnt an die Texte von Dieter Birnbacher soll

das sokratische Gespräch als ein wichtiger Bestandteil einer schülerzentrierten Didaktik erläu-

tert werden.

Das sokratische Gespräch ist eine philosophische Unterrichtsmethode, mit der philosophische

Frage- und Problemstellungen besprochen werden. Das Ziel dieser Methode ist die tieferge-

hende Auseinandersetzung mit der Frage- oder Problemstellung, um Lösungen und Antworten

für diese finden und formulieren zu können. Ein Gesprächsleiter setzt dafür gezielte Frageim-

pulse.149 Das sokratische Gespräch hat sich aus der sokratischen Methode heraus entwickelt.

Diese beruht auf der Idee, „den Lernenden ein ohne textliche Hilfsmittel lösbares Problem weit-

gehend selbständig und aufgrund eigener Anschauung und eigener Einsicht bearbeiten zu las-

sen.“150

Die Verbindung der sokratischen Methode zu Sokrates beruht auf den ähnlichen didaktischen

und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Methode und der sokratischen Lehren in den

platonischen Dialogen. Diese Voraussetzungen sind, dass die Wahrheit selbst herausgefunden

werden soll, dass sie jedem Menschen gleichermaßen zugänglich ist und dass mit dem Finden

der Wahrheit Mut, Willensanstrengung und die Überwindung von Denkfaulheit verbunden

sind.151 Die sokratische Methode ist am stärksten ausgeprägt beim platonischen Sokrates er-

sichtlich, der ein Leben ohne Selbstforschung als nicht lebenswert bezeichnet. Das sokratische

Gespräch wird im Gegensatz zu den platonischen Dialogen jedoch als Polylog ausgeführt. Die

Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Gesprächsgruppe verfolgen das Ziel, gemeinsam als

Gruppe Erkenntnisse zu gewinnen.152

Im Folgenden wird die Methode des sokratischen Gesprächs erläutert. Nach der Darstellung

der historischen Entwicklung dieser Gesprächsform werden Ablauf und Regeln der Methode

aufgezeigt.

148 Nachfolgend wird einheitlich der Begriff „Sokratisches Gespräch“ verwendet. 149 Vgl. Geiß 2017: 194. 150 Birnbacher 2010: 216. 151 Vgl. Birnbacher 2002: 7. 152 Vgl. Birnbacher 2010: 217 ff.

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3.1 Die historische Entwicklung

Das sokratische Gespräch geht auf die sokratische Methode zurück und hat eine lange histori-

sche Entwicklung durchgemacht. Besonders durch Sokrates, Leonard Nelson und Gustav Heck-

mann wurde das sokratische Gespräch geprägt, weshalb deren Auffassungen folgend genauer

betrachtet werden.

3.1.1 Sokrates

„Unter der sokratischen Methode wird jene Form des Philosophierens verstanden, die Sokrates

in den Schriften seiner Schüler Platon und Xenophon […] zugeschrieben wird.“153 In diesen

Schriften führt Sokrates als Philosoph des Marktplatzes Dialoge mit Bürgern, Freunden oder

Sophisten. Sokrates will in den Gesprächen mit seinen Mitbürgern alltäglich verwendete Be-

griffe abgrenzen und klären und die damit verbundenen Thesen aufdecken. Eine Kreuz- und

Querbefragung führt meist zu der Einsicht der Gesprächspartner, dass ihr Wissen widersprüch-

lich oder brüchig war. Es entsteht ein Moment der Verunsicherung, der einen neuen Bewusst-

seinsweg für Denkmöglichkeiten eröffnet. Durch Fragen von Sokrates werden nun die wesent-

lichen Merkmale eines Begriffes bestimmt. Sokrates verfolgt dabei das Ziel, seine Gesprächs-

partner zu diskursiv begründetem Wissen zu führen, also zu Wissen, das durch eigenes Nach-

denken entstanden ist und begründet werden kann.154

Ein zentrales Element des sokratischen Gesprächs ist die Maieutik – die so genannte Hebam-

menkunst. Das Grundprinzip, das damit verfolgt wird, ist, dass der Lehrer dem Schüler nur

Hilfestellungen bei der Produktion von Wissen gibt, ihm aber kein fertiges Wissen vermittelt.

Sokrates lässt sich von einer Alltagserfahrung ausgehend ganz auf seinen Gesprächspartner ein,

mit dem Ziel, die in ihm liegenden Einsichten und Wahrnehmungen aus ihm herauszulocken.155

Dabei ist die Rolle des Sokrates als Fragesteller sehr dominant. Sokrates formuliert Fragen

selbst, liefert Antworten und weist auf Widersprüche hin. In vielen Fällen obliegt dem Ge-

sprächspartner einzig die Zustimmung zu Sokrates Ausführungen.156

153 Geiß 2017: 194. 154 Vgl. Geiß 2017: 195. 155 Vgl. Pfeifer 2009: 129. 156 Vgl. Pfeifer 2009: 135.

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Eine Abhängigkeit der sachlichen Ergebnisse des Gesprächs von der Form des Dialogs ist bei

Sokrates nicht erkenntlich. Diese Ergebnisse lassen sich grundsätzlich auch durch die Denkan-

strengung eines Einzelnen gewinnen. Entscheidend ist die Zielbestimmung des sokratischen

Philosophierens, die das Philosophieren dialogisch werden lässt. Das Philosophieren zielt auf

einen Bewusstseinswandel ab, für den Kommunikation und die Hinwendung zum Anderen ei-

nen zentralen Zweck darstellen. „Das Denken des anderen soll durch sokratisches Befragen

geläutert werden, um letztlich die Person des anderen zu läutern.“157 Das heißt, dass erst die

kommunikative Auseinandersetzung mit anderen Personen einen Wandel des Bewusstseins der

Person zulässt und ihr den Zugang zu neuen Denkrichtungen und Einstellungen ermöglicht.

Dies soll dann schließlich zu einer Läuterung der Person führen.

Neben diesem radikal sokratischen Denken gibt es bei Sokrates auch „unsokratische“ Mo-

mente. Dazu zählt unter anderem das daimonion – „die für Sokrates charakteristische Figur

eines inneren wahrsprechenden Orakels“.158 Die Stimmen des daimonion treten bei Sokrates

nur warnend in Erscheinung und passen als persönliche Weisung ohne Verallgemeinerungs-

möglichkeit nicht zu der öffentlichen Rolle des Sokrates als Denker des Markplatzes. Die sok-

ratische Zurückweisung der Antworten seiner Gesprächspartner auf die von ihm gestellten Fra-

gen zeigen, dass Sokrates hier davon ausgeht, dass nur eine vollständige Definition zu einer

zufriedenstellenden Begriffsklärung führt und dass für diese vollständige Definition anderer-

seits nur Definitionen „durch die Konjunktion von zwei einzeln notwendigen und zusammen

hinreichenden semantischen Bedingungen“159 möglich sind. Diese sokratischen Voraussetzun-

gen können als dogmatisch bezeichnet werden, da sie für Sokrates als selbstverständlich gelten,

obwohl ihre Erfüllbarkeit keineswegs geklärt ist.160

Als dogmatisch erscheint laut Birnbacher auch die nicht mit einer dialogischen Philosophieauf-

fassung vereinbare mangelnde Unterscheidung des Sokrates zwischen dem Explikations- und

Begründungswissen. Während das Explikationswissen durch begriffliche Analyse gewährt

wird, entsteht das Begründungswissen durch die weitergehende Interpretation. Sokrates nimmt

hier laut Birnbacher eine Kategorienverwechslung vor. In den angestrebten Ergebnissen seiner

vor allem ethischen Begriffsanalysen sieht er einen substantiell ethischen Erkenntnisgehalt.

157 Birnbacher 2002: 145. 158 Birnbacher 2002: 145. 159 Birnbacher 2002: 146. 160 Vgl. Birnbacher 2002: 146.

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„Die semantische Frage danach, was Tugend bedeutet, wird nicht klar getrennt von der ethi-

schen Frage danach, was Tugend ist.“161 Birnbacher hält fest, dass die sokratische Begriffsana-

lyse zu einem Explikationswissen darüber führt, wie Begriffe gebraucht werden, aber nicht

dazu, ob ihr Gebrauch normativ gerechtfertigt ist. Für Birnbacher ist die begriffliche Analyse

höchstens eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ethische Erkenntnis.162 Da-

raus folgt, dass für das Erzielen von Erkenntnis neben der begrifflichen Analyse auch das Be-

gründungswissen, das durch weitergehende Interpretationen erlangt wird, nötig ist.

Nach Sokrates als Begründer der sokratischen Methode wird im Folgenden Leonard Nelson als

Entwickler der neo-sokratischen Methode dargestellt.

3.1.2 Leonard Nelson

In seinem Vortrag „Die sokratische Methode“ im Jahr 1922 hat sich der Göttinger Philosoph,

Pädagoge und politische Aktivist Leonard Nelson klar als Schüler des Sokrates bekannt. Er

entwickelte ein neues Konzept der sokratischen Methode, weshalb diese als neo-sokratisch be-

zeichnet werden kann.163 Er beschreibt die sokratische Methode als die Kunst, philosophieren

– nicht Philosophie – zu lehren. Demnach hat auch Ethik zu lehren den Zweck, die Fähigkeit

der ethischen Einsicht durch eigene Anstrengung, Problemlösung oder reflexive Selbstklärung

zu gewinnen. Das Ziel der Philosophie allgemein sieht Nelson in der Entwicklung von Kompe-

tenzen.164

Nelson hat die Stärken und Schwächen der sokratischen Methode sehr genau analysiert und

eine scharfe Kritik an der Dialogführung des Sokrates geäußert. In den platonischen Dialogen

verwendet Sokrates zur Erreichung seiner Ziele manipulative Mittel – wie die offene Verhöh-

nung, Beschämung oder Bloßstellung der Gesprächspartner. Im Gegensatz dazu beruht das sok-

ratische Gespräch im neuen Konzept von Nelson auf gegenseitiger Achtung. Das Gespräch ist

kein Dialog, sondern ein Gruppengespräch und erfordert vom Gesprächsleiter andere Fähigkei-

ten, als sie von Sokrates in seinen Dialogen dargeboten werden. Während Sokrates das Ge-

spräch größtenteils dominiert und seinen Gesprächspartnern keine Zeit zum Denken gelassen

wird, stellt Nelson die Anforderungen an den Gesprächsleiter, sich in Zurückhaltung und Ge-

161 Birnbacher 2002: 147. 162 Vgl. Birnbacher 2002: 146 f. 163 Vgl. Blesenkemper 2016: 74. 164 Vgl. Birnbacher 2010: 219.

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duld zu üben, keine Suggestivfragen zu stellen, den Gesprächsteilnehmerinnen und -teilneh-

mern Zeit zu lassen, ihre eigenen Gedanken zu entwickeln und sie zu eigenem Denken zu ani-

mieren. Zusätzlich hat der Gesprächsleiter für Nelson unter anderem die Aufgabe, bestmögliche

Voraussetzungen bei den Gesprächsteilnehmern zu schaffen, um eine selbständige Wahrheits-

findung zu ermöglichen.165 Er fordert „die Schüler von Anfang an auf, sich zu stellen, sie das

Selbstgehen zu lehren, ohne dass sie darum allein gehen.“166 Bei Nelson ist das sokratische

Gespräch hauptsächlich ein Gespräch zwischen den Schülern. Der Lehrer nimmt sich in der

Leiterfunktion zurück und hat vor allem die Aufgabe, die Gesprächsteilnehmer vor schädlichen

Einflüssen zu schützen. Der schlimmste schädliche Einfluss nach Nelson ist der Lehrer, der zu

Vorurteilen bei den Schülern führt. Der Lehrer soll aber auch nicht schweigen, sondern die

Gesprächspartner zu klarer Artikulation animieren und Verständnisfragen stellen. Der Lehrer

ist nicht die Hebamme, wie sie vom platonischen Sokrates dargestellt wird, sondern eine Art

Hebammen-Assistenz. Diese Verschiebung der Funktionen lässt Nelson zum Neosokratiker

werden.167

Die von Nelson formulierten Ziele des sokratischen Gesprächs stimmen bei allen Unterschieden

mit denen des platonischen Sokrates überein: Philosophie soll als Ziel die Verständigung oder

Selbstverständigung haben und eine Praxis des Fragens sein. Philosophie soll vom Einzelnen

zum Allgemeinen führen – vom einzelnen Urteil zum allgemeinen Prinzip. Diese Methode der

Regression, des langsamen Herantastens an eine philosophische Erkenntnis, ist für Nelson die

einzige Möglichkeit, zu echtem philosophischen Wissen zu gelangen. 168 Nelson deutet die Re-

sultate des sokratischen Gesprächs transzendentalphilosophisch und sieht darin die Möglich-

keit, letztgültige philosophische Wahrheiten aufzuspüren, die sich im allgemeingültigen und

objektiven Sinne rechtfertigen lassen.169 Dieser Prozess der Regression ist jedoch nicht mit ei-

nem Dialog oder einem Gruppengespräch verknüpft, sondern kann nach Nelsons Ansicht auch

im alleinigen Nachdenken einer Person durchgeführt werden. Nelson hat die sokratische Me-

thode jedoch als Methode für den philosophischen Unterricht ausgestaltet.170

Gerade in Bezug auf den Unterricht sind die von Nelson festgelegten Ziele für das sokratische

Gespräch jedoch kritisch zu sehen. Das Aufspüren letztgültiger philosophischer Wahrheiten ist

in der heutigen unterrichtlichen Praxis kein Ziel des sokratischen Gesprächs, was bereits von

165 Vgl. Birnbacher 2002: 148 f. 166 Nelson 2002: 47. 167 Vgl. Blesenkemper 2016: 75. 168 Vgl. Birnbacher 2002: 150. 169 Vgl. Birnbacher 2010: 220. 170 Vgl. Birnbacher 2002: 150 f.

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Gustav Heckmann erkannt wurde und im nächsten Abschnitt ausgeführt wird. Vielmehr können

die Auseinandersetzung mit den Positionen und Gedanken anderer – auch hier besteht eine Di-

vergenz zu den Auslegungen Nelsons, der das Gruppengespräch nicht voraussetzt –, das ge-

meinsame Nachdenken, das Herausbilden einer eigenen Position sowie eine Bewusstseinser-

weiterung und Persönlichkeitsentwicklung als Ziele des sokratischen Gesprächs gesehen wer-

den. Im Folgenden wird nun Gustav Heckmanns Beitrag zum sokratischen Gespräch erläutert.

3.1.3 Gustav Heckmann

Gustav Heckmann, eigentlich Mathematiker und Physiker, wurde nach dem bereits erwähnten

Vortrag Die sokratische Methode von Leonard Nelson auch zum Pädagogen. Seine selbst ge-

wählte Lebensaufgabe als Philosophie- und Pädagogiklehrer nach dem 2. Weltkrieg war die

Verbreitung des neosokratischen Gesprächs. Im Gegensatz zu Nelson sieht Heckmann die Be-

deutung einer Argumentationsgemeinschaft jedoch in der Suche nach der Wahrheit und nicht

in der endgültigen Wahrheitsfindung.171 Heckmann hat das sokratische Gespräch emanzipiert

und autonom gemacht und es zu einer offenen didaktischen Methode entwickelt. Für ihn ist die

sokratische Methode nicht nur eine Form des philosophischen Unterrichts, sondern das Medium

der Philosophie überhaupt. Der Dialog und das Gruppengespräch erklärt Heckmann zu einem

eigenständigen Ziel. Weder die Vermittlung philosophischer Erkenntnisse, noch das Erlernen

einer philosophischen Technik sind für ihn das Ziel des philosophischen Gesprächs. „Es ist

vielmehr die Praxis der Philosophie selbst. […] Philosophie ist danach kein geschlossenes Lehr-

gebäude, sondern eine Praxis des gemeinsamen Fragens und Suchens.“172 173

Es gibt Prinzipien, die für das sokratische Gespräch charakteristisch sind und vor allem von

Gustav Heckmann geprägt wurden:

- Gleichberechtigung: Die Überzeugung, dass philosophische Einsichten grundsätzlich je-

dem möglich sind, bildet die Grundlage des sokratischen Gesprächs. Ein guter Wille und

Denkfähigkeiten sind die einzigen Voraussetzungen. Diese Überzeugung lässt das sokrati-

sche Gespräch demokratisch werden. Das bedeutet, dass alle Gesprächspartner auf der glei-

chen Ebene miteinander kommunizieren und als gleichwertig angesehen werden.

171 Vgl. Blesenkemper 2016: 76 f. 172 Birnbacher 2010: 221. 173 Vgl. Birnbacher 2010: 220 f.

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- Partnerschaftlicher Charakter: Neben Heckmann wurde dieser Punkt auch schon von Le-

onard Nelson als sehr wichtig erachtet. Die Wahrung der Würde und der Autonomie eines

jeden Gesprächsteilnehmers scheint eine selbstverständliche Norm darzustellen. Heckmann

und Nelson wollten mit ihrer Hervorhebung dieser Norm jedoch die Abgrenzung zu den

sokratischen Dialogen schaffen, in denen Sokrates seine Gesprächsteilnehmer häufig mani-

puliert, bloßstellt oder beschämt.

- Aufgabe des Gesprächsleiters: Der Gesprächsleiter soll laut Heckmann den Gesprächsteil-

nehmern Zeit zum Nachdenken geben, ihre geistigen Potenziale wecken und die bestmög-

lichen Voraussetzungen schaffen, sodass selbständige Wahrheitsfindung bei den Ge-

sprächsteilnehmern möglich ist.174

- Das Metagespräch: Heckmann hat das Metagespräch – ein Gespräch über ein Gespräch –

eingeführt, um Platz für die Milderung oder das Ausräumen von Kommunikationsstörun-

gen, wie Reibungen zwischen den Gesprächsteilnehmern, zu bieten.175 Das Metagespräch

soll Teil eines jeden sokratischen Gesprächs sein und etwa ein Drittel der Gesamtgesprächs-

dauer ausmachen. Das Metagespräch ist vom Sachgespräch streng getrennt und bietet die

Möglichkeit des Austausches über formale und prozedurale Aspekte des Gruppengesprächs

und der Kritik an der Gesprächsleiterin oder an Gesprächsteilnehmerinnen. Dem Ge-

sprächsleiter obliegt die Aufgabe, ein Metagespräch vorzuschlagen, wenn er beispielsweise

ein wachsendes Unbehagen in der Gesprächsgruppe bemerkt.176 Durch das Bewusstmachen

vorhandener Spannungen, das Benennen von Schwierigkeiten oder die wechselseitige Kri-

tik kann das Gesprächsklima der Gruppe erheblich verbessert werden.177

Die historische Entwicklung des sokratischen Gesprächs – von der sokratischen Methode bei

Sokrates bis hin zu den Prinzipien des sokratischen Gesprächs nach Gustav Heckmann – wurde

in diesem Abschnitt erläutert. Im folgenden Kapitel werden nun die einzelnen Phasen des sok-

ratischen Gesprächs dargestellt.

174 Vgl. Brinbacher 2010: 221 ff. 175 Vgl. Blesenkemper 2016: 77. 176 Vgl. Birnbacher 2010: 229. 177 Vgl. Pfeifer 2009: 137.

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3.2 Phasen des sokratischen Gesprächs

Das sokratische Gespräch hat sich von einem Dialog zu einem Gruppengespräch entwickelt,

das idealtypische Phasen durchläuft. Die Phasenanzahl weist je nach Autor oder Autorin ge-

ringfügige Unterschiede auf. Im Folgenden werden die Phasen nach Klaus Draken beschrieben.

1. Phase: Themenstellung

Bevor ein sokratisches Gespräch beginnt, wird das zu bearbeitende Thema bekannt gegeben.

Die Problemstellung wird dabei meist als offene Frage formuliert. Das schafft Transparenz und

motiviert für das Gespräch.

2. Phase: Beispielsuche

In dieser Phase versuchen alle Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer ein persönliches Bei-

spiel – ein eigenes Erlebnis – zu finden, das als Analysebeispiele für die Problemstellung her-

angezogen werden kann und das bereits ein Alltagsurteil zur Ausgangsfrage enthält. Dieses

spontan gefällte Urteil soll die Grundlage für die Ableitung dahinter liegender Prinzipien bil-

den.178

3. Phase: Beispielerfassung

In der Beispielfindung lassen sich häufig mehr Beispiele finden, als benötigt werden. Der Ge-

sprächsleiter hat die Aufgabe, den Wert der Beispiele für die Fragestellung abzuschätzen und

ein Beispiel auszuwählen. Im Verlauf des Gesprächs kann bei Bedarf auch ein weiteres Beispiel

von der Gesprächsleiterin eingeführt werden.179 Das ausgewählte Beispiel sollte einen klaren

Themenbezug haben, öffentlich erzählt und nachvollzogen werden können und eine möglichst

einfache Struktur aufweisen. Dieses Beispiel wird nach einer ausführlichen Vorstellung auch

schriftlich fixiert und bildet die Grundlage für das anschließende Gespräch.

4. Phase: Fragenformulierungen zum Beispiel

Diese Phase bildet den Einstieg zur nächsten Phase der Beispielanalyse. Dazu werden Fragen

gesammelt, die jederzeit ergänzt werden können und sich konkret auf das Beispiel beziehen

sollen. Diese Fragensammlung soll in Bezug auf die Problemfrage zu größerer Klarheit führen.

5. Phase: Beispielanalyse anhand selbst formulierter Fragen

Die zuvor formulierten und gesammelten Fragen werden auf Geeignetheit für die Bearbeitung

des Themas geprüft. Eine geeignet wirkende Frage wird geklärt, bevor mit der nächsten Frage

178 Vgl. Draken 2016: 303. 179 Vgl. Birnbacher 2010: 227.

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fortgefahren wird. In dieser Phase ist die Wahrung der Transparenz von besonderer Bedeutung,

sodass der rote Faden im Gespräch aufrechterhalten werden kann.

6. Phase: Thesenbildung zur Fragenbeantwortung

In dieser Phase werden Thesen formuliert, die zur Begründung der Problemfrage verwendet

werden.

7. Phase: Diskursive Suche wahrer Aussagen „regressive Abstraktion“

Anschließend an die vorherige Phase bilden die formulierten Thesen die Grundlage für die Su-

che nach allgemeineren, konsensfähigen Sätzen. Diese Phase stellt einen zentralen Schritt im

sokratischen Gespräch dar und wird nicht als abgeschlossene Phase gesehen – es handelt sich

dabei um einen immer wiederkehrenden Prozess, der zu verschiedenen Problemaspekten voll-

zogen wird. Dementsprechend kann eine Konsensbildung nicht zu allen Aspekten erarbeitet

werden.180

8. Phase: Gesprächsabschluss (in der Regel aus zeitlichen Gründen)

Philosophische Fragen lassen sich in der Regel nicht endgültig bearbeiten, was nicht bedeutet,

dass die Beschäftigung damit ohne Ergebnis bleibt. Dennoch findet der Abschluss des Ge-

sprächs meist im laufenden Prozess statt. Im Sinne eines Abschlusses können die gefundenen

Konsense am Ende des Gesprächs noch einmal verdeutlicht und offene Fragen klar formuliert

werden.

Zwischenphasen als Metagespräch(e)

Das Metagespräch kann in unterschiedlichen Phasen eingesetzt werden. Es hat verschiedene

Funktionen, wie etwa als Strategiegespräch oder zur Stärkung des Regel- und Methodenbe-

wusstseins.181

Anschließend an die soeben dargestellten idealtypischen Phasen eines sokratischen Gesprächs

nach Draken werden im nächsten Abschnitt die Regeln besprochen, die bei der Durchführung

dieser Methode eingehalten werden sollen.

180 Vgl. Draken 2016: 303 f. 181 Vgl. Draken 2016: 304 f.

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3.3 Regeln des sokratischen Gesprächs

Das sokratische Gespräch ist in seiner Durchführung abhängig von der Einhaltung bestimmter

Regeln. Dabei werden die Regeln für die Gesprächsteilnehmer, den Gesprächsleiter und Ver-

fahrensregeln unterschieden. Nach Birnbacher werden im Folgenden die unterschiedlichen Re-

geln angeführt.

3.3.1 Regeln für Gesprächsteilnehmer

Beim sokratischen Gespräch werden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern keine Voraus-

setzungen erwartet – mit Ausnahme von Dialogfähigkeit. In diesem Zusammenhang besteht die

Gefahr der Verwechslung des sokratischen Gesprächs mit einem Dialog, in dem die Gesprächs-

teilnehmer häufig angreifen, sich verteidigen, sich beweisen oder recht haben wollen. Demge-

genüber soll im sokratischen Gespräch mit Argumenten überzeugt werden. Die Gesprächsteil-

nehmer sollen einander zuhören, sich klar und einfach ausdrücken und ernsthafte Zweifel be-

züglich der Äußerungen anderer Gesprächspartner zu Wort bringen. Um diesen Verhaltensre-

geln Folge leisten zu können, wird von den Gesprächsteilnehmern die Fähigkeit zur kritischen

Toleranz, zur Selbstkritik, zur Wahrhaftigkeit und auch Geduld gefordert.182 Mit der Einhaltung

der Regeln werden von den Teilnehmerinnen bereits Fähigkeiten verlangt, die als Ziele des

sokratischen Gesprächs gesehen werden können. Zusätzlich stellen diese Fähigkeiten eine op-

timale Grundlage für das Nachdenken in der Gemeinschaft, das Entwickeln eigener Positionen

und somit für das philosophische Argumentieren dar. Das alles ist wiederum nur in der Ausei-

nandersetzung mit anderen, die die ausgesprochenen Gedanken, Ideen und Positionen immer

wieder kritisch hinterfragen und weiterdenken, möglich. Das Einhalten der Regeln – gerade in

der unterrichtlichen Praxis – könnte jedoch zu Beginn Schwierigkeiten darstellen, weil die

Schülerinnen solche Gesprächsregeln nicht gewohnt sind. Hier kann es als Aufgabe des Ge-

sprächsleiters verstanden werden, die Teilnehmerinnen immer wieder auf die Regeln aufmerk-

sam zu machen und sie dafür zu sensibilisieren.

182 Vgl. Blesenkemper 2016: 79.

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Birnbacher nennt folgende Regeln für die Gesprächsteilnehmer eines sokratischen Gesprächs:

„1. Sich verständlich ausdrücken

2. Sich wechselseitig zu verstehen suchen

3. Eigene Erfahrungen zum Ausgangspunkt nehmen

4. Unbehagen artikulieren.“183

3.3.2 Regeln für Gesprächsleiter

Die Aufgabe des Gesprächsleiters im sokratischen Gespräch ist die Erleichterung und Beglei-

tung des Dialogs zwischen den Teilnehmern. Dazu gehört eine thematisch adäquate Vorberei-

tung, sodass der Gesprächsleiter zentrale Aspekte akzentuieren, genauer ausführen oder in Er-

innerung rufen kann, die von den Gesprächsteilnehmerinnen beispielsweise nur ansatzweise

erwähnt wurden. Bei allen Fragen, die die Klärung der Sache betreffen, nimmt der Gesprächs-

leiter eine zurückhaltende Rolle ein. Er achtet darauf, dass sich alle im Gespräch beteiligen,

sorgt dafür, dass der Gedankengang von allen nachvollzogen werden kann und dokumentiert

alle wesentlichen Äußerungen so, dass sie für alle Gesprächsteilnehmer sichtbar sind.184

Birnbacher hat die Regeln für die Gesprächsleiter so formuliert:

„1. Zurückhaltung, non-direktives Verhalten in Sachfragen

2. Unparteilichkeit, Schutz des langsam Denkenden

3. Wechselseitiges Verstehen ermöglichen und fördern

4. Festhalten der Frage

5. Anzielen eines Konsenses“185

Das Einhalten dieser Regeln ist für die Durchführung und den Erfolg des sokratischen Ge-

sprächs von zentraler Bedeutung. Denn nur wenn die Gesprächsleiterin diesen Grundsätze folgt,

sind die Gesprächsteilnehmerinnen frei in ihrem Denken, werden nicht von vorgefertigten Mei-

nungen oder Vorgaben des Gesprächsleiters beeinflusst und können so eigene begründete Po-

sitionen entwickeln.

183 Birnbacher 2010: 226. 184 Vgl. Blesenkemper 2016: 80. 185 Birnbacher 2010: 224.

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Der Gesprächsleiter eines sokratischen Gespräches hat zur Aufgabe, die Gesprächsteilnehmer

bei der Arbeit mit einer Frage zu begleiten, aber nicht, sie inhaltlich anzuleiten. Auf diesen

Punkt bezieht sich die erste der fünf Regeln nach Birnbacher, wobei das non-direktive Verhal-

ten auf inhaltliche Fragen bezogen wird. In gewissen Situationen, wie bei der Disziplinierung

der Gruppe zur Einhaltung der Regeln, kann und soll der Gesprächsleiter mitunter auch direktiv

sein. Die Gesprächsleiterin trägt dafür Sorge, dass die Gesprächsdisziplin aufrechterhalten wird

und fördert das Gespräch durch das Schaffen bestimmter atmosphärischer Voraussetzungen für

ein möglichst offenes und freies Gespräch, an dem sich alle Gesprächsteilnehmer beteiligen.

Besonders in sehr heterogenen Gruppen mit unterschiedlichen Kompetenzen und Vorkenntnis-

sen ist diese Aufgabe des Gesprächsleiters zentral. Darauf wird mit der zweiten Regel abgezielt.

Klarheit steht im Mittelpunkt der dritten Regel und gleichzeitig ist sie einer der höchsten Werte

des sokratischen Gesprächs. Äußerungen innerhalb der Gruppe sollen von allen verstanden

werden und jeder Gruppenteilnehmer soll die Möglichkeit haben, weitere Klärungen zu verlan-

gen – auch dem Gesprächsleiter ist das erlaubt. Durch die vierte Regel soll das Gespräch leichter

zu einem greifbaren Ergebnis geführt werden. Die fünfte Regel lässt Spuren von Nelson und

Sokrates erkennen, die für das Ergebnis des sokratischen Gesprächs einen Wahrheitsanspruch

erhoben haben. Obwohl diese Vorstellung in der historischen Entwicklung des sokratischen

Gesprächs niemals komplett aufgegeben wurde, wurde sie im Bereich moralischer und ästheti-

scher Wertungen zumindest relativiert. Ein Konsens in der Sache bleibt dennoch ein regulatives

Ziel, das nicht immer zu erreichen ist, über das der Gesprächsleiter die Teilnehmerinnen aber

von Anfang an informieren muss.186 Das Finden eines Konsenses sollte neben den weiteren

Zielen des sokratischen Gesprächs nur einen kleinen Aspekt ausmachen. Die Auseinanderset-

zung mit einem Thema im sokratischen Gespräch ermöglicht den Gesprächsteilnehmern etwa,

andere Sichtweisen, neue Ideen und unterschiedliche Zugänge zum Thema kennenzulernen.

Das hilft ihnen wiederum beim Entwickeln einer eigenen, selbstbewussten Position, die sich

aus dem Dialog und der Auseinandersetzung mit den anderen ergibt, und beim Entdecken von

Gründen, mit denen sie diese Position argumentativ vertreten können. Hier wird die Bedeutung

des sokratischen Gesprächs für die Fähigkeit des philosophischen Argumentierens deutlich:

Erst wenn eine eigene Position entwickelt wurde, kann diese argumentativ vertreten werden.

186 Vgl. Birnbacher 2010: 224 ff.

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3.3.3 Verfahrensregeln

Neben den Regeln für die Gesprächsteilnehmer und für den Gesprächsleiter ist das sokratische

Gespräch durch die Verfahrensregeln definiert, die nach Birnbacher so aussehen:

„1. Die Themenwahl entwickelt sich aus der Gruppe

2. Ausgangspunkt des Gesprächs sind eigene Erfahrungen

3. Alle wichtigen geäußerten Gedanken werden festgehalten

4. Sachgespräch und Metagespräch werden getrennt“187

Die Verfahrensregeln können gerade in der unterrichtlichen Praxis nicht immer eingehalten

werden. Besonders die Themenwahl ist in diesem Kontext meist Aufgabe der Lehrperson. Auch

die anderen Aspekte der Verfahrensregeln sind in der Schule möglicherweise eher als Hinweise

und nicht als strikte Regeln zu verstehen.

Die erste Regel bezieht sich auf Leonard Nelson, der in seiner eigenen Schule mit einer kon-

stanten Gruppe arbeitete und demnach aus der Gruppe heraus ein Thema entwickelte. Diese

Form des sokratischen Gesprächs findet heute nur noch selten statt. In der Schule ergeben sich

die Themen meist aus dem Lehrplan. Ein Thema ist für die Gruppenarbeit geeignet, wenn es

- hinreichend komplex ist, um neue Einsichten zu ermöglichen,

- nicht auf Informationen (empirisch oder historisch) angewiesen ist, über die die Gruppe

nicht verfügt,

- Interessen weckt und die Teilnehmer dadurch motiviert.188

3.3.4 Teilweise Regelrevision

Die besprochenen Regeln des sokratischen Gesprächs haben sich mit der Erfahrung als zu steif

erwiesen, um den verschiedenen Anforderungen in unterschiedlichen Kontexten gerecht zu

werden. Die in den Regeln vorgegebenen Ideale entsprechen nicht immer den tatsächlichen

Bedingungen eines sokratischen Gesprächs. So müssen nicht immer persönliche Erfahrungsbe-

richte der Gesprächsteilnehmer eingebracht werden. Auch andere Beispiele können zugelassen

werden. Das Metagespräch wird häufig direkt nach einem inhaltlichen Punkt geführt und nimmt

keine ganze Sitzung ein. Die kanonische Forderung nach Zurückhaltung des Gesprächsleiters

187 Birnbacher 2010: 230. 188 Vgl. Birnbacher 2010: 230.

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wird von vielen Praktikern nicht streng gesehen. Sie plädieren sogar für eine Lockerung dieser

Regel, da die Erfahrung zeigte, dass sachliche Beiträge des Gesprächsleiters sehr hilfreich sein

können.189 Besonders im schulischen Kontext, wo das sokratische Gespräch erst eingeführt und

erarbeitet wird, ist die Möglichkeit der sachlichen Beiträge durch den Gesprächsleiter – also

meist durch die Lehrperson – von Bedeutung.

Exkurs: Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn

Ruth Cohn hat unabhängig von der Methode des sokratischen Gesprächs eine therapeutische

Methode – die themenzentrierte Interaktion, kurz TZI – entwickelt, die der Methode des sokra-

tischen Gesprächs sehr ähnlich ist.190 Um diese Ähnlichkeiten aufzuzeigen soll die TZI nach

Cohn im Folgenden grob dargestellt werden.

„Die TZI ist ein professionelles Handlungskonzept, das auf effektives Lernen und Arbeiten

abzielt – in allen Situationen und Handlungsfeldern, in denen es auf Kommunikation entschei-

dend ankommt.“191 So wird TZI auf der Homepage des Ruth-Cohn-Institutes beschrieben. TZI

fördert also die Handlungsfähigkeit von Menschen „als professionelles Handlungskonzept zur

optimalen Beratung und Leitung von Gruppen, Teams und Gremien“192. Um das zu erreichen,

vertritt die TZI zwei Postulate:

1. „Das Chairpersonpostulat: Leite dich selbst“: Es fordert dazu auf, seine eigenen Entschei-

dungen zu treffen und diese auch zu verantworten, sich die Wirklichkeit bewusst zu machen

und seine Sinne, Gedanken und Gefühle zum eigenen Verständnis und dem der Umwelt zu

nutzen.

2. „Das Störungspostulat: Störungen haben Vorrang“: Es richtet sich auf die Störungen, Be-

einträchtigungen und Hindernisse, die vorkommen und die als Realität erkannt werden sol-

len und fordert auf, Möglichkeiten zur Überwindung dieser Störungen zu suchen. Diese

Störungen können emotional, körperlich oder rational, aber auch ökologisch, sozial oder

politisch bedingt sein. Der Hintergrund dieses Postulats liegt in der Annahme, dass die Ig-

noranz oder Verleugnung dieser Störungen Arbeiten, Lernen und Wachstum behindern kön-

nen.193

189 Vgl. Birnbacher 2010: 231 f. 190 Vgl. Birnbacher 2010: 223 f. 191 Ruth-Cohn-Institute 192 Ruth-Cohn-Institute 193 Vgl. Ruth-Cohn-Insitute

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Die Gruppen in der TZI sind durch vier Faktoren bestimmt. Durch das Ich (die Person), das

Wir (die Gruppeninteraktion), das Es (die Aufgabe) und den Globe (das Umfeld). Diese vier

Faktoren sollen im Gleichgewicht zueinander stehen – eine dynamische Balance haben. Der

Gruppenleiter hat die Aufgabe, auf diese Balance zu achten. Er ist ein Teil des Systems, also

sowohl Leiter als auch Teilnehmer. Als Teilnehmer bringt er sich selbst mit seinen Gefühlen

und Gedanken ins Gespräch ein. Als Leiter hat er die Aufgabe, weitere Themen aufzugreifen,

sie zu formulieren und einzuführen. Das Thema der Gruppenarbeit ist sowohl Ziel als auch

Aufgabe dieser Arbeit und soll die Teilnehmer ganzheitlich ansprechen. Das heißt, es soll be-

grenzt sein, dass es den Teilnehmern zur Orientierung dient, aber auch so weit weg sein, dass

sich alle in diesem Thema wiederfinden können. In der TZI gibt es wie beim sokratischen Ge-

spräch Regeln, die zur Verwirklichung der Postulate dienen sollen. Sie werden als Hilfsregeln

bezeichnet, da sie nicht zum Gesetz gemacht werden dürfen194. Hier finden sich Ähnlichkeiten

zu den Regeln des sokratischen Gesprächs:

Abbildung 15: Hilfsregeln TZI195

Die Ähnlichkeiten der TZI zum sokratischen Gespräch sind klar ersichtlich. Beide Methoden

erzielen auch gute Erfolge. Laut Birnbacher sind sokratische Gespräche sowohl in kognitiver

als auch in nicht-kognitiver Hinsicht wertvoll. Das konzentrierte Nachdenken in einer Gruppe

ist in kognitiver Sicht viel ertragreicher als individuelles Nachdenken. Außerdem führt die Teil-

nahme in einer sokratischen Gesprächsgruppe in der Regel zu einer „befriedigend empfundenen

Erfahrung eines Gleichgewichts von Rationalität und Sachlichkeit auf der einen und Wärme,

Angenommensein und Offenheit auf der anderen Seite.“196 Das sokratische Gespräch bietet die

194 Vgl. Ruth-Cohn-Institute 195 Ruth-Cohn-Institute 196 Birnbacher 2010: 232.

1. Vertritt dich selbst in deinen Aussagen; sprich per 'Ich' und nicht per 'Wir' oder

'Man'.

2. Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst und was deine Frage für dich

bedeutet. Sage dich selbst aus und vermeide das Interview.

3. Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen!

4. Halte dich mit Interpretationen von anderen zurück. Sprich stattdessen deine per-

sönlichen Reaktionen aus.

5. Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen.

6. Wenn du etwas über eine andere Person sagst, sage auch, was es dir bedeutet.

7. Seitengespräche haben Vorrang. Sie stören und sind meist wichtig.

8. Nur einer zur gleichen Zeit bitte!

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Möglichkeit, Konflikte zu erkennen und zu verstehen, die eigene Selbstwahrnehmung zu schär-

fen und das eigene Empathievermögen zu stärken. Auf der kognitiven Ebene wird zusätzlich

rationales Problemlösen geübt.

Die Erfahrung mit dem sokratischen Gespräch hat gezeigt, dass eine erfolgreiche Interaktion

mit der Homogenität der Gruppe zusammenhängt. Während sehr homogen Gruppe den intel-

lektuellen Hintergrund, die Motivation und die Erwartungen betreffend harmonischer miteinan-

der interagieren, lassen sich bei der Integration von Gruppenmitgliedern, die nur an der Me-

thode und nicht am Inhalt interessiert sind, und Mitgliedern mit einem differenzierten Hinter-

grund gelegentlich Probleme erkennen.197

In diesem Kapitel wurden die für ein sokratisches Gespräch wichtigen Regeln veranschaulicht.

Die teilweise Revision dieser zuvor aufgestellten Regeln – weil diese heutzutage als nicht mehr

angemessen gelten – wurde anschließend aufgezeigt. Die kurze Einführung in die dem sokrati-

schen Gespräch sehr ähnliche themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn stellt den Abschluss

dieses Kapitels dar. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Methode des

sokratischen Gesprächs in der Schule Anwendung finden kann.

3.4 Das sokratische Gespräch in der Schule?

Nach der Darstellung der historischen Entwicklung, des Ablaufs und der Regeln des sokrati-

schen Gesprächs stehen die Möglichkeiten für das sokratische Gespräch in der Schule im Mit-

telpunkt dieses Kapitels. Nach der Erörterung der theoretischen Überlegungen werden die kon-

kreten Gegebenheiten in der Schule zu dieser Thematik erläutert, bevor die Diskursethik nach

Jürgen Habermas den Abschluss des Kapitels bildet.

Das sokratische Gespräch sollte in der Schule einen wichtigen Stellenwert einnehmen, da es

viele Fähigkeiten und Kompetenzen fördert und auch voraussetzt, die nicht nur für die schuli-

sche, sondern auch für die private Laufbahn der Schüler wichtig sein können. Das sokratische

Gespräch verlangt sowohl die Auseinandersetzung der Schüler mit sich selbst – also Selbstref-

lexion –, als auch mit den anderen Gesprächsteilnehmern, was die soziale Kompetenz und em-

pathisches Verhalten stärken. Die Schülerinnen gelangen durch den Dialog, die Fragen und die

197 Vgl. Birnbacher 2010: 233.

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Reflexion in der Gruppe zu einer eigenen Position, die sie selbstbewusst mit Gründen vertreten

können. Sie gewinnen damit die Grundlage für Argumentationen oder Diskussionen, denen sie

immer wieder ausgesetzt sind und können in diesen durch die Einhaltung von Regeln und das

Handwerkszeug des philosophischen Argumentierens ihre eigene Position vertreten und stär-

ken.

Das sokratische Gespräch leistet demnach eine wichtige Aufgabe für die unterrichtliche Praxis,

kann aber gleichzeitig nicht alle Ansprüche des Unterrichts erfüllen. So können keine Inhalte

vermittelt werden, da die erreichten Erkenntnisse rein vom Verlauf des Prozesses im Gruppen-

gespräch abhängig sind, was in der immer größer werdenden Standardisierung des Schulsys-

tems ein Problem eröffnen könnte. Auch die methodischen Kompetenzen können zuerst nur

durch klassische Lehre vermittelt werden, bevor sie geübt werden können. Diese Thematiken

verlangen nach einer Erweiterung des klassischen Verlaufs des sokratischen Gesprächs.198

Für Birnbacher ist die Aufgabe vor allem des Philosophieunterrichts in der Schule, die Schüler

zum selbständigen Philosophieren zu bewegen. Fragen – die auch durch die Lektüre von Texten

vermittelt werden können – sind der Gegenstand des gemeinsamen Philosophierens und sollten

so ausgewählt sein, dass sie das Interesse und damit verbunden die intrinsische Motivation der

Schülerinnen und Schüler wecken. Für Birnbacher ist das Ziel des sokratisch orientierten Un-

terrichts unterteilt in formale und inhaltliche Ziele.199 „Methodisch angeleitetes, diszipliniertes

und kritisches Selbstdenken, das mit den Mühen rationaler und autonomer Urteilsbildung, aber

auch mit dem Glück selbständiger Erkenntnis Bekanntschaft macht“200 ist das formale Ziel.

Inhaltlich sind

eine möglichst umfassende Verständigung und Selbstverständigung über die für die

behandelte Frage konstitutiven Begriffe, Vorverständnisse und Vorannahmen, ande-

rerseits die gemeinsame Erarbeitung von Lösungsansätzen unter genauer Reflexion

auf die dabei eingesetzten begrifflichen, argumentativen und methodischen Mittel201

das Ziel.

198 Vgl. Draken 2016: 307. 199 Vgl. Birnbacher 2002: 161 f. 200 Birnbacher 2002: 162. 201 Birnbacher 2002: 162.

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Zur Orientierung sollten beim ersten Einsatz eines sokratischen Gesprächs laut Draken unter-

schiedliche Gesprächsanlässe und -zwecke differenziert werden. Hier ist Transparenz ein zent-

rales Merkmal, da intransparent geschilderte Ansprüche zu unklaren Erwartungen führen, die

Störungen verursachen können. Gemeint sind damit Unsicherheiten, wie die Frage danach, ob

die Schülerin sagen darf, was sie denkt und ob sie ihren eigenen Standpunkt prüfen oder nur

den Standpunkt eines Autors nachvollziehen soll. Transparent gestellte Anforderungen können

solch unterschiedliche Erwartungen vermeiden und eine aktive Mitarbeit ohne Störungen för-

dern.202

Draken erachtet es als sinnvoll für die Philosophiedidaktik, typische unterrichtliche Gesprächs-

phasen ins Blickfeld zu nehmen. Dazu zählen Unterrichtseinstiege, die den eigenen Zugang der

Schüler zu einer philosophischen Thematik eröffnen, Problembewusstsein schaffen, zu einer

Reflexion motivieren und individuelle Anknüpfungsmöglichkeiten bieten. Dem Einstieg fol-

gende Erarbeitungsphasen können selbständig oder angeleitet durchgeführt werden, wobei auf

das Bonbonmodell der Phasierung des Philosophieunterrichts zurückgegriffen werden kann.

Nach einer Phase des sokratisch orientierten Gesprächs könnte eine Phase der angeleiteten

Problemlösung folgen, der wiederum eine Anwendungsphase nach Prinzipien der sokratischen

Gesprächsführung nachfolgt. Durch diese Phasierung des Unterrichts soll es zu einem Kompe-

tenzzuwachs bei den Schülern aufgrund des Zusammenspiels von Lehrvorträgen, Textarbeit

und vernunftorientierter Denkarbeit kommen.203

3.4.1 Schule konkret – Die Durchführung des sokratischen Gesprächs

In diesem Abschnitt sollen nun die konkreten Gegebenheiten des Unterrichts in Bezug auf das

sokratische Gespräch analysiert werden. Die Bedingungen der Schule stellen für Geiß in der

Durchführung des sokratischen Gesprächs aufgrund der dort stattfindende Bewertungssituation

Anforderungen dar, die im außerschulischen Kontext nicht zu finden sind. Zusätzlich sind die

Rahmenbedingungen – Schülerinnen sind verpflichtet, den Unterricht zu besuchen, Klassen

umfassen meist viel zu hohe Schülerzahlen, Unterrichtsstunden sind zeitlich beschränkt – nicht

optimal. Geiß empfiehlt deswegen, das sokratische Gespräch als Arbeitsmethode im Rahmen

von Projekttagen und auf freiwilliger Basis ohne Bewertungsdruck durchzführen. Unter be-

stimmten Bedingungen ist die Durchführung des Gesprächs auch im Regelunterricht möglich.

202 Vgl. Draken 2016: 308 f. 203 Vgl. Draken 2016: 309 f.

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Hier sind Kleingruppen, ein gutes Gruppenklima und eine Doppelstunde aber unbedingt erfor-

derlich.204

Vor der Durchführung eines sokratischen Gesprächs sind bestimmte Voraussetzungen zu klä-

ren: Die Lehrperson muss feststellen, ob alle Schüler bereit sind, diese Form des Philosophie-

rens auszuprobieren und dafür auch die sokratische Grundhaltung einzunehmen. Ist dies nicht

der Fall, dann ist das sokratische Gespräch als Arbeitsmethode laut Geiß nicht besonders emp-

fehlenswert. Grundlegend vor Beginn des Gesprächs ist außerdem, dass alle Schüler über die

Gesprächsregeln und die unterschiedlichen Phasen des Gesprächs in Kenntnis gesetzt wer-

den.205

Ein konkretes, problemrelevantes Beispiel bildet den Ausganspunkt für das Gespräch. Dieses

Beispiel liegt für gewöhnlich im Erfahrungshorizont der Schüler. Alle Schüler haben nun die

Möglichkeit persönliche Erfahrungen zu diesem Beispiel zur Sprache zu bringen und vorzu-

stellen. Die Schüler lernen hier, sich verständlich auszudrücken. Nebenbei findet auch Selbs-

treflexion statt, denn beim Nachdenken über eigene Erfahrungen wird auch Klarheit über die

eigene Person gewonnen. Neben der Beschäftigung mit dem Ich ist vor allem die Auseinander-

setzung mit Wahrnehmungen und Positionen anderer Personen zentral, was natürlich mit argu-

mentativer Verständigung verbunden ist, was wiederum die Sozial- und Kommunikationskom-

petenz schult.206 „Beim sokratischen Gespräch geht es also nicht in erster Linie um das Erlernen

einer bestimmten Gesprächstechnik. Im Zentrum steht vielmehr der Versuch, den Schülern eine

bestimmte Gesprächshaltung zu vermitteln.“207 Pfeifer hat Gesprächsregeln für die Schüler zu-

sammengefasst, die diese Gesprächshaltung darstellen:

Abbildung 16: Gesprächsregeln nach Pfeifer208

204 Vgl. Geiß 2017: 197 f. 205 Vgl. Geiß 2017: 198. 206 Vgl. Pfeifer 2009: 133. 207 Pfeifer 2009: 133. 208 Pfeifer 2009: 134.

1. Höre genau zu, frage nach und versetze dich in den anderen.

2. Rede in kurzen, klaren Sätzen.

3. Sag deine eigene, begründete Meinung.

4. Alle beteiligen sich aktiv am Gespräch und fühlen sich für einen konstruktiven

Gesprächsverlauf verantwortlich.

5. Alle sind gleichberechtigte Gesprächsteilnehmer.

6. Revidiere deine Meinung, wenn bessere Argumente gegen sie sprechen.

7. Nimm dir Zeit zum Denken.

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Damit die Schülerinnen diese Regeln während des Gesprächs tatsächlich befolgen, bedarf es

vermutlich sowohl Zeit als auch Übung. Es kann durchaus sein, dass die Schüler zu Beginn

Probleme damit haben, die Gesprächsregeln einzuhalten, weshalb die Gesprächsleiterin immer

wieder darauf hinweisen und die Schüler zu den Regeln hinführen sollte.

Geiß gibt ein Beispiel für die Schrittfolge eines sokratischen Gesprächs, das über mehrere Un-

terrichtsstunden gehen kann. Besonders zur Beantwortung solcher „Was ist-Fragen“ ist die Me-

thode des sokratischen Gesprächs geeignet.

Die Schrittfolge sieht so aus:

Nach einem Einstieg durch die Vorgabe oder das gemeinsame Sammeln von Beispielen wird

„über die Äußerung „Das war mir echt peinlich!““209 nachgedacht. Im ersten Schritt schildern

die Schüler persönliche Situationen, in denen ihnen etwas sehr peinlich war. Die Gesprächslei-

tung fixiert die Äußerungen schriftlich. Im zweiten Schritt werden die Beispiele zusammenge-

fasst, geordnet und es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Beispielen gesucht.

Die erarbeiteten Merkmale dienen im dritten Schritt als Grundlage für die Suche nach weiteren

Beispielen, mit der Frage „Fehlt noch etwas?“ im Hinterkopf. Im vierten Schritt beschäftigen

sich die Gesprächsteilnehmer mit der Frage nach den Voraussetzungen für das Gefühl der

„Peinlichkeit“. Damit findet ein regressives Suchen und Finden von allgemeinen Handlungs-

gründen statt. Zum Schluss werden die gemeinsamen Ergebnisse schriftlich festgehalten, nach

noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten untersucht und nach Fragen gesucht, die diese

minimieren können.210

Das Fragestellen spielt im sokratischen Dialog eine zentrale Rolle. Die Lehrperson soll als fra-

gestellende Person eine zurückhaltende Rolle einnehmen. Das heißt, dass sie nur Fragen stellt,

die wirklich notwendig sind und versucht die Schüler zum selbständigen Fragenformulieren zu

bringen. Die problemorientierte und kritisch-differenzierende Fragenformulierung ist eine Fä-

higkeit, die innerhalb des philosophisch orientierten Unterrichts erlangt werden soll.211

Die Schülerinnen lernen, durch

Fragen Widersprüche und Wissens- bzw. Argumentationslücken aufzudecken, ja

überhaupt die Qualität von ethischen Problemen („moral issues“) sehen zu lernen,

als fertiges, ohnehin äußerts fragwürdig verpacktes Wissen zu reproduzieren.212

209 Vgl. Pfeifer 2009: 134. 210 Vgl. Pfeifer 2009: 134. 211 Vgl. Pfeifer 2009: 135. 212 Pfeifer 2009: 135.

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Die Schüler sollen durch gezieltes Nachfragen der Lehrperson dazu motiviert werden, eine Fra-

gehaltung zu entwickeln. Diese Fragehaltung beinhaltet die Bereitschaft zum ständigen Wei-

terfragen, das Offenbleiben für neue Informationen und Erkenntnisse sowie zu Sachlichkeit und

Fairness.213

Das Problem beim Nachfragen, dem man sich als Fragenstellender kaum entziehen kann, ist,

dass mit Fragen stets eine manipulative Wirkung verbunden ist. Wichtig – besonders im Zu-

sammenhang mit dem sokratischen Gespräch – ist die Bewusstheit solcher Wirkungen. Denn

die Qualität des sokratischen Gesprächs hängt stark von der Qualität der Fragestellungen ab.214

Deshalb hat Pfeifer Frage-Arten klassifiziert, die eine positive Wirkung auf das Gespräch ha-

ben.

Dazu zählen:

- Impulsfragen, die Denkanstöße geben.

- Öffnende W-Fragen. Das sind Fragen mit Fragewörtern wie „Wie“, „Wer“ oder „Was“, die

zum Erzählen und Reden anregen.

- Reflexive Fragen, die das eigene Nachdenken antreiben.

- Stellvertreter-Fragen, die stellvertretend für eine andere Person im Gespräch gestellt werden

und deshalb viel Einfühlungsvermögen erfordern.

- Aktives Schweigen und Pausen. In gewissen Situationen ist es für das Gespräch effektiver,

wenn die Lehrperson keine Fragen stellt, sondern selbst etwas zum Thema sagt oder einfach

nur schweigt und das Gesagte wirken kann.215

Die Bedeutung des sokratischen Gesprächs sowohl für die unterrichtliche Praxis als auch für

das in dieser Arbeit behandelte philosophische Argumentieren wurde in diesem Kapitel klar

ersichtlich. Neben den bereits diskutierten Zielen des sokratischen Gesprächs216 kann es auch

als Möglichkeit gesehen werden, einen demokratischen Ansatz zu vermitteln. Die Diskursethik

nach Jürgen Habermas217 vertritt genau diese Ansicht und wird von Pfeifer als Hintergrundthe-

orie des sokratischen Gesprächs bezeichnet. „Kernpunkt des diskurstheoretischen Ansatzes ist

213 Vgl. Pfeifer 2009: 135. 214 Vgl. Pfeifer 2009: 135 f. 215 Vgl. Pfeifer 2009: 136. 216 Vgl. Seite 53-54. 217 Vgl. Habermas 1991: 11-20.

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die Annahme, moralische Meinungsverschiedenheiten in ethischen Diskursen grundsätzlich lö-

sen zu können.“218 Ziel dieser Diskursethik ist das Erlangen eines Konsenses in strittigen Fra-

gen, der möglichst vielen Bedürfnissen und Interessen gerecht wird. Hier ist ein Zusammen-

hang zum reflektierten Gleichgewicht nach Rawls zu erkennen.219 Rawls nennt als Ziel eines

Reflexionsprozesses das Herstellen von Kohärenz zwischen den für das konkrete Urteil rele-

vanten Überlegungen. Um einen Konsens zu erreichen bedarf es gewisser Regeln, die Haber-

mas als ideale Sprechsituation beschreibt. Das bedeutet „Inklusion aller kommunikationsfähi-

gen Subjekte, Chancengleichheit bei der Artikulation von Behauptungen und Bedürfnissen so-

wie kommunikative Symmetrie, die sich vor allem in der Regressionsfreiheit ausdrückt.“220

Eine Voraussetzung für die Methode des Diskurses nach Habermas ist die Annahme, dass mo-

ralische Meinungsverschiedenheiten grundsätzlich diskursiv überprüft werden müssen. Auch

Normen und Werte, die als selbstverständlich gelten, sind von dieser Prüfung nicht ausgeschlos-

sen.221 Das Demokratieverständnis der Diskursethik ist nicht nur in Bezug auf das sokratische

Gespräch von Bedeutung, sondern vermittelt wichtige Grundlagen und Kompetenzen, die für

die Persönlichkeit und das Leben aller Schülerinnen und Schüler wichtig sind, weshalb diese

als Basis des sokratischen Gesprächs gesehen werden sollten.

In diesem Kapitel wurde das sokratische Gespräch genau erläutert. Der Darstellung der histo-

rischen Entwicklung dieser Methode folgte die Offenlegung der Phasen und der Regeln des

sokratischen Gesprächs. Die Bezugnahme auf die Durchführung der Methode in der konkreten

Unterrichtssituation und der Exkurs zu Habermas‘ Diskursethik bildeten den Abschluss dieses

Abschnittes. Im folgenden Kapitel werden die Grundlagen für das bisher Besprochene – Argu-

mentieren und das sokratische Gespräch – analysiert: eigenständige, kritische Gedanken.

218 Pfeifer 2009: 138. 219 Vgl. Seite 46-47. 220 Pfeifer 2009: 138. 221 Vgl. Pfeifer 2009: 138.

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4 Das Entwickeln eigenständiger, kritischer Gedanken

Die Gelingensbedingungen des Argumentierens so wie das sokratische Gespräch wurden in

dieser Arbeit schon ausführlich behandelt. Doch der Grundstein für die Tätigkeit des Philoso-

phierens, des Argumentierens und auch der Gesprächsführung liegt in den eigenen Ideen, Ein-

stellungen und Gedanken. Das Argumentieren ist die soziale Seite des kritischen Denkens, denn

es ist das „Denken-mit-anderen und das Denken-gegen-andere“222 und stellt eine Schlüssel-

kompetenz des kritischen Denkens dar. Dieses Kapitel beschäftigt sich nun mit ebendiesem

eigenständigen, kritischen Denken. Nach dem Versuch einer Begriffsklärung und –analyse wer-

den die Möglichkeiten zur Förderung dieses Denkens – besonders in Bezug auf den Unterricht

– betrachtet.

Kritisches Denken stellt eine zentrale Bildungsaufgabe in Schulen dar. Schülerinnen und Schü-

ler sollen dazu befähigt werden, eigenständig zu denken, Sachverhalte, Einstellungen und An-

schauungen zu hinterfragen und diese zu verändern. Ohne die Fähigkeit des kritischen Denkens

verringern sich die Möglichkeiten der Wahrnehmung und des Erlebens der Welt und der Ei-

genständigkeit im Leben. Kritisches Denken findet jedenfalls in der Gemeinschaft statt und es

benötigt die Auseinandersetzung mit anderen Personen, die das eigene kritische Denken durch

neue Ideen, Anregungen und Reflexionen immer weiterführen. Der Unterricht stellt somit eine

ideale Voraussetzung für das Erlangen der Kompetenz des kritischen Denkens dar. Durch den

Prozess des kritischen Denkens werden immer neue Erkenntnisse gewonnen, die Grundlage für

persönliche Positionen sind, die eingenommen und mit relevanten Gründen vertreten werden.

Es hilft den Schülern also, zu einer begründeten Urteilsbildung zu gelangen. Kritisches Denken

ist demnach die Voraussetzung für die Fähigkeit des Argumentierens sowie für die Methode

des sokratischen Gesprächs. Ohne kritische Gedanken können keine Erkenntnisse gewonnen

und keine eigenen Positionen begründet vertreten werden. Das alles ist aber für den Kompe-

tenzerwerb und die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler von zentraler Be-

deutung, weshalb kritisches Denken einen wichtigen Aspekt des Unterrichts ausmachen sollte.

Im Folgenden wird der Weg vom Denken zum kritischen Denken dargestellt, es werden Defi-

nitionsversuche unternommen und schließlich werden unterschiedliche Möglichkeiten für die

Förderung kritischen Denkens betrachtet.

222 Kruse 2017: 85.

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4.1 Denken und „kritisches“ Denken

Denken ist „die bewusste und willentliche Steuerung mentaler Prozesse und ihre Ausrichtung

auf relevante Objekte.“223 So beschreibt es Otto Kruse in seinem Buch Kritisches Denken und

Argumentieren, auf das in diesem Kapitel in Besonderem Bezug genommen wird. Im Laufe des

Lebens bilden sich beim Menschen verschiedene Arten des Denkens aus, die unterschiedliche

Funktionen erfüllen. Dazu zählt das problemlösende Denken, das einem Handlungszweck un-

terworfen ist und die Lösung eines oder mehrerer Probleme zum Ziel hat. Im Gegensatz dazu

dient das reflektierende Denken dem Verstehen und ist auf die Erweiterung des eigenen Den-

kens ausgerichtet. Eine weitere Denkart nach Kruse ist das nachvollziehende Denken, das für

das Lesen eine zentrale Bedeutung hat, da beim lesenden Denken das nachvollzogen werden

muss, was andere gedacht haben. Beim spielerischen und kreativen Umgang mit Gedanken,

Objekten und Personen kommt das kreative und spielerische Denken zum Tragen. Eine letzte

Form des menschlichen Denkens ist der Tagtraum. Beim Tagträumen handelt es sich nicht um

aktives Denken, jedoch hat diese Art des Denkens eine wichtige Bedeutung für Handlungsvor-

bereitungen, emotionale Verarbeitung und Kreativität.224

All diese Denkarten lassen sich nicht im eigenen Kopf vereinen, was natürlich zur Folge hat,

dass nicht alle Menschen gleich denken. Manche Menschen haben eine starke Ausprägung im

analytischen Denken, andere im emotionalen und wieder andere im kreativen Denken. Für die

Entwicklung des eigenen Denkens – und des kritischen Denkens – ist es laut Kruse von Bedeu-

tung, die eigenen Stärken und Schwächen im Denken zu kennen und die der anderen anzuneh-

men. Niemand kann alle Arten des Denkens ideal beherrschen. Das heißt auch, dass das Denken

in einer Gruppe einfacher ist als alleiniges Nachdenken, weshalb es wichtig ist, die Denkstile

anderer Menschen wahrzunehmen, zu schätzen und sie als Bereicherung anzusehen.225

Was macht nun Denken zum kritischen Denken? Es gibt keine festgelegte Grenze, wo Denken

aufhört und kritisches Denken anfängt und dennoch können Unterschiede zwischen beiden

Konzepten festgemacht werden. Beim kritischen Denken werden neben den realen mentalen

Prozessen auch normative und erwünschte Qualitäten des Denkens mit einbezogen. Das kriti-

sche Denken fordert die Bereitschaft des Denkenden, sich selbst zu optimieren und zu kontrol-

223 Kruse 2017: 25. 224 Vgl. Kruse 2017: 25 ff. 225 Vgl. Kruse 2017: 28 f.

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lieren und die Fähigkeit, mit Informationen und Meinungen dem Kontext entsprechend umzu-

gehen. Der soziale Kontext, in den kritisches Denken eingebunden ist, in dem es stattfindet oder

verhindert wird, ist auch nicht zu missachten.226

Der Begriff „kritisch“ wird in der Umgangssprache und im Alltag meist negativ assoziiert. Die

Allgemeinheit verbindet mit Kritik die Herabwürdigung von Personen, Entscheidungen oder

Handlungen. Das Wort „kritisieren“ kommt jedoch ursprünglich aus dem Griechischen und be-

deutet so viel wie „urteilen“, „richten“ oder „entscheiden“. „Gemeint ist damit die Kunst der

Beurteilung, das Auseinanderhalten von Annahmen und Tatsachen oder das Infragestellen von

Argumenten und Interpretationen von Sachverhalten.“227 Kritik ist demnach nichts Negatives,

sondern fördert das Erlangen eigener Einsichten und Erkenntnisse. Kritik bezieht sich auf be-

stehende Sachverhalte, wirft Fragen auf, untersucht auf Richtigkeit und Wahrheit und prüft

deren Bedingungen.228

4.1.1 Definitionsversuche

Für den Begriff „kritisches Denken“ gibt es keine eindeutige Definition. Die unterschiedlichen

konzeptionellen und definitorischen Vorschläge verschiedenster Autoren und Disziplinen sind

sehr heterogen.229 In der Psychologie wird kritisches Denken etwa als Ansatz zur Problemlö-

sung definiert, das durch das Zusammenwirken verschiedener kognitiver Prozesse entsteht. Die

Logik230 betrachtet es als Möglichkeit zur formalen Überprüfung von Argumenten und in der

Kritischen Theorie einer Philosophietradition geht es beim kritischen Denken um die Identifi-

kation verdeckter Mächte und das Durchbrechen von Herrschaftsverhältnissen.231

Im Begriff „kritisches Denken“ finden sich mehrere Begriffskerne. Vier Facetten davon –

selbstgesteuertes, rationales, skeptisches Denken und kritisches Denken als Persönlichkeits-

merkmal – erachtet Kruse als zentral. Diese Aspekte werden im Folgenden genauer vorge-

stellt.232

226 Vgl. Kruse 2017: 48. 227 Jahn 2013: 2. 228 Vgl. Jahn 2013: 3. 229 Vgl. Kruse 2017: 48. 230 Vgl. Seite 17. 231 Vgl. Jahn 2013: 3. 232 Vgl. Kruse 2017: 48 f.

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Selbstgesteuertes Denken

Kritisch zu denken bedeutet, sich ein eigenes Urteil zu erarbeiten und nicht bloß das Urteil

anderer nachvollziehen zu wollen. Diese Bedeutung steht in engem Zusammenhang mit der

Selbständigkeit im Denken, die am deutlichsten von Immanuel Kant ausgedrückt wird. In seiner

Definition von „Aufklärung“ plädiert Kant dafür, den Mut zu haben, selbständig zu denken und

sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Obwohl selbstgesteuertes Denken eine wichtige Vo-

raussetzung für kritisches Denken ist, bedeutet das noch keineswegs, dass tatsächlich kritisches

Denken stattfindet. Die Selbständigkeit im Denken besteht darin, das eigene Denken zu präzi-

sieren, Irrtümer und Fehler im Denken auszuschließen und Qualitätskriterien zur Prüfung des

eigenen Denkens zu verwenden.233

Rationales Denken

Die zweite Facette des Begriffs „kritisches Denken“ bezieht sich auf rationales Denken und

Handeln. Unwissen verlangt kritisches Denken und dieses stellt wiederum einen vernünftigen

Umgang mit dem Nichtwissen dar. Diese Definition leitet sich von der Tatsache ab, dass viele

Fragen eben nicht mit vorhandenem Wissen beantwortet werden können. Kritisches Denken

setzt demnach dort ein, wo „schlecht definierte Probleme […] vorliegen und wo man mit

Denkroutinen oder Standardmethoden allein nicht weiterkommt.“234 Wenn klare Hypothesen

vorhanden sind und diese auch getestet werden können, ist kritisches Denken dagegen nicht

notwendig. Die Überwindung von schematischen und konventionellen Denkmodellen ist eines

der Kernziele des kritischen Denkens.235

Skeptisches Denken

In den Wissenschaften gibt es den Primat der Skepsis gegenüber vorhandenem Wissen. Das

skeptische Denken als ein Aspekt des kritischen Denkens zielt auf genau diese Skepsis ab. Sie

ist eine Möglichkeit, durch die Prüfung aller Gedanken und deren Legitimierungen Erkennt-

nisse zu optimieren. Skeptische Denker prüfen vorhandenes Wissen kontinuierlich auf dessen

Schwachstellen. Das bedeutet nicht, dass Skeptizismus immer negativ konnotiert sein muss,

sondern im besten Fall ein „Gemisch aus Offenheit und gedanklicher Vorsicht“236 darstellt.

233 Vgl. Kruse 2017: 49. 234 Kruse 2017: 50. 235 Vgl. Kruse 2017: 50. 236 Kruse 2017: 51.

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Neben der Skepsis neuen Erkenntnissen gegenüber bezieht sich skeptisches Denken ebenso auf

das Hinterfragen eigener Positionen, der persönlichen Selbstvergewisserung und der Vergewis-

serung der Wissenschaften und deren gut etablierter Grundsätze.237

Kritisches Denken als Persönlichkeitsmerkmal

Kritisches Denken ist Teil der Persönlichkeit eines Menschen. Es ist verankert in der „gewohn-

heitsmäßigen Haltung im Umgang mit Fakten, Daten und Theorien, die von Genauigkeit, Sorg-

falt und Umsicht geprägt ist.“238 Der schnelle Erfolg in einer Diskussion, ein materieller Ge-

winn oder Selbstbestätigung sind nicht die Ziele von kritischen Denkern. Diese wollen begrün-

dete Positionen erreichen. Das gelingt ihnen durch eine möglichst genaue, umsichtige, vorur-

teilsfreie und systematische Untersuchung eines Gegenstandes. Kritische Denker besitzen be-

stimmte Persönlichkeitsmerkmale, die unterstützend auf das kritische Denken einwirken. Dazu

zählen Offenheit, Hartnäckigkeit, Umsicht, Fairness und Genauigkeit.239

Kruse hat mit den vier Facetten des Begriffs „kritisches Denken“ gezeigt, dass sich dieses Den-

ken in unterschiedlichen Bereichen verankern lässt. Kritisches Denken ist jedoch nicht immer

erwünscht und hat „Feinde“, die im Folgenden diskutiert werden.

4.1.2 Was kritisches Denken erschwert…

Kritisches Denken ist nicht überall beliebt. So lassen sich Länder oder gesellschaftliche Berei-

che finden, in denen diese Form des Denkens regelrecht negativ sanktioniert wird. Das Mani-

pulieren öffentlicher Meinungen, das In-Umlauf-Bringen von Falschmeldungen oder das Ver-

breiten glaubwürdig klingender Lügen sind Aktionen, die die schrittweise Unterdrückung des

kritischen Denkens mit sich bringen. Das kritische Denken hat laut Kruse natürliche Gegner –

einige von ihnen werden im Folgenden betrachtet.240

Dogmatismus

Dogmatismus bezeichnet „die Tendenz zur Annahme unverrückbarer Wahrheiten oder morali-

scher Gewissheiten“241 und bildet damit einen starken Gegensatz zum Skeptizismus, dessen

237 Vgl. Kruse 2017: 51. 238 Kruse 2017: 51. 239 Vgl. Kruse 2017: 51 f. 240 Vgl. Kruse 2017: 52 f. 241 Kruse 2017: 239.

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Lehre bereits in der Antike strikt gegen feste Wahrheiten war. Im Dogmatismus werden unhin-

terfragte Wahrheiten legitimiert, ohne Alternativen dafür zu entwickeln oder zu akzeptieren –

genau das will der Skeptizismus nicht. Auch in den Wissenschaften lässt sich Dogmatismus

finden. Problematisch dabei ist die schwierige Unterscheidung der dogmatischen von den festen

Meinungen. Kritisches Denken und Dogmatismus stehen deshalb in einer Kampfbeziehung so-

wohl auf innerwissenschaftlicher als auch auf individueller Ebene zueinander, da Menschen ein

gewisses Maß an festen Überzeugungen für die persönliche Handlungsfähigkeit brauchen.242

Populismus und Fundamentalismus

Nach Kruse ist der Populismus zur Zeit der bedrohlichste Gegner des kritischen Denkens. Der

Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Populisten den Anspruch auf Rationalität offen bekämp-

fen oder zumindest aufgegeben haben. Rationalität bildet für Populisten dementsprechend keine

Grundlage für politische Diskussionen und auch eine gemeinsame Konsensfindung in einer

Diskussion ist kein Grundinteresse, weshalb eine Diskussion mit Populisten häufig als schwie-

rig angesehen wird. Manche populistischen Bewegungen können Einwände gegen ihre Ideen

gar nicht wahrnehmen, weil sie zu sehr in diese verstrickt sind.

Der Fundamentalismus fühlt sich im Gegensatz zum Dogmatismus oft religiösen Glaubenssät-

zen verpflichtet, verhängt Denkverbote und stellt unhinterfragte Wahrheiten in den Mittelpunkt

seines Weltbildes. Damit bilden fundamentalistische Anschauungen eine grundlegende Gegen-

position zum kritischen Denken.243

Ethnozentrismus, Nationalismus und Rassismus

Das Denken einer ethnischen Gruppe, das Denken eines Geschlechts oder das Denken einer

Rasse stellen bei diesen drei Feinden des kritischen Denkens den Mittelpunkt ihrer Theorien

dar. Das bedeutet, dass sie ihrem eigenen Denken einen viel höheren Wert zuschreiben, als

irgendeinem anderen Denken. In der Wissenschaft muss das Denken aber danach ausgerichtet

sein, allen die gleichen Rechte in einem offenen Diskurs einzuräumen und Wissensentwicklung

zu ermöglichen. 244

242 Vgl. Kruse 2017: 53. 243 Vgl. Kruse 2017: 54. 244 Vgl. Kruse 2017: 55.

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Kruse schreibt dazu:

Was als wahr angenommen wird, darf nicht davon abhängen, auf welchem Kontinent

jemand lebt, welche Religion, Hautfarbe oder Geschlecht jemand hat, sondern nur

vom Resultat offen geführter Aushandlungen in wissenschaftlichen Medien und

Veranstaltungen.245

Bequemlichkeit

Die Bequemlichkeit als Feind des kritischen Denkens sitzt in der Persönlichkeit eines jeden

Denkers selbst. Es ist nicht möglich, alles Ungewisse in der Welt kritisch zu hinterfragen und

zu prüfen, was den Glauben als wertvolle Basis für Unwissen erscheinen lässt. Außerdem gibt

es heutzutage zahlreiche Informationsquellen wie das Internet, die Zeitung oder das Fernsehen,

die Meinungen vermitteln, die gerne als die eigene Position angenommen und akzeptiert

wird.246

Nach dem Versuch einer Begriffsklärung des kritischen Denkens und der Schilderung der von

Kruse so bezeichneten natürlichen Gegner dieser Denkform, werden im Folgenden die Mög-

lichkeiten erarbeitet, das kritische Denken in der Schule zu fördern.

4.2 Möglichkeiten der Förderung des kritischen Denkens in der Schule

Die Förderung von kritischem Denken in der Schule kann unterschiedliche Ziele verfolgen.

Dazu zählen die Aneignung von Faktenwissen, reflektiertem Methodenwissen oder Wissen dar-

über, wie Wissen zustande kommt. Kritisches Denken ist also sowohl Mittel zum Zweck – beim

Erreichen von Lernzielen – als auch Selbstzweck – als zu erreichende Kompetenz im Unter-

richt. Ennis hat eine Typologie erstellt, in der vier verschiedene Ansätze zur Förderung des

kritischen Denkens im Unterricht dargestellt werden247:

Beim allgemeinen Ansatz geht es um das kritische Denken selbst, ohne jeglichen Gegenstands-

bezug. Das bedeutet, dass kritisches Denken unabhängig von Unterrichtsinhalten gelehrt wird.

Dafür stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder die Inhalte, anhand derer kritisches

245 Kruse 2017: 55. 246 Vgl. Kruse 2017: 56 f. 247 Vgl. Ennis 1989: 13-16.

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Denken gelehrt und geübt wird, sind beliebig und ergeben sich aus aktuell interessanten The-

men aus der Politik, der Gesellschaft oder dem Schulleben. Oder die Inhalte werden komplett

ausgelassen und die Auseinandersetzung mit dem kritischen Denken besteht aus der Auseinan-

dersetzung mit der Logik.248 Vertreter dieses Ansatzes gehen davon aus, dass die allgemeine

Schulung des kritischen Denkens zu einem Transfer dieser Fähigkeit in alle Schul- und Lebens-

bereiche führt. Es zeigt sich jedoch, dass Denken stark gegenstandsgebunden ist und es identi-

scher Elemente bedarf, damit ein Transfer stattfindet, was den allgemeinen Ansatz in seiner

Wirkung entkräftet.249

Die integrativ-direkte Förderung übt dagegen das kritische Denken im jeweiligen Fachunter-

richt. Die Fachinhalte dienen hierbei zur Erarbeitung und zur Einübung der Strategien des kri-

tischen Denkens und sollen die Schülerinnen zu diesem Denken auch herausfordern.

Im Gegensatz dazu findet bei der integrativ-indirekten Förderung keine umfangreiche Ausei-

nandersetzung mit den Strategien des kritischen Denkens statt. Die vertiefende Auseinander-

setzung mit den Lerninhalten im normalen Unterricht soll genügend Voraussetzung für kriti-

sches Denken sein.

Bei einem letzten gemischten Ansatz werden der allgemeine Ansatz und die integrativen An-

sätze miteinander vermischt. Das bedeutet, dass die Strategien des kritischen Denkens in einem

allgemeinen Kurs gelehrt und dann in den einzelnen Fächer fachspezifisch angewandt wer-

den.250

4.2.1 …in der Schule konkret

Mit der Frage, wie die Ansätze des kritischen Denkens in der Schule konkret umgesetzt werden

können, hat sich Dirk Jahn im Aufsatz Was heißt es, kritisches Denken zu fördern auseinander-

gesetzt. Er stellt eine Didaktik für kritisches Denken vor, die aus bestehenden Ansätzen in einer

umfangreichen Analyse herausgearbeitet, empirisch erprobt und differenziert wurde. Im Be-

reich des kritischen Denkens gibt es unterschiedliche didaktische Vorgehensweisen, die sich

aber in vielen Stellen überschneiden. Im Folgenden werden diese Schnittstellen und die didak-

tischen Empfehlungen für den Unterricht nach Jahn besprochen.251

248 Vgl. Dubs 1992: 35. 249 Vgl. Dubs 1992: 37. 250 Vgl. Dubs 1992: 36 f. 251 Vgl. Jahn 2013: 7.

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Kritisches Denken ist für Jahn die ständige Bereitschaft, das eigene Denken zu überprüfen,

möglicherweise gewisse Einstellungen und Anschauungen zu verändern und diese durch neue

Einsichten abzulösen. In der Schule sollte kritisches Denken nicht nur bei den Schülern geför-

dert, sondern auch von den Lehrenden vorgelebt werden, indem sie eine bestimmte Haltung

einnehmen, die sie mit Gründen vertreten können. Außerdem ist ein gutes Unterrichtsklima der

Offenheit und des Vertrauens notwendig, um die Schülerinnen zu kritischem Denken zu ani-

mieren. Jahn verwendet den Begriff des „Verführens“ zum kritischen Denken. Dies kann aber

nur gelingen, wenn die Lehrer einerseits kritisches Denken vorleben und sich und ihr Denken

dadurch angreifbar machen und andererseits auch die Schüler bereit sind, ähnliche Risiken ein-

zugehen. Unter Risiken versteht Jahn, dass Fehler gemacht oder die richtigen Worte für die

Beschreibung eines Problems erst gesucht werden können – das sind Dinge, die im schulischen

Kontext nur möglich sind, wenn sich die Schüler wohlfühlen. Ein geeignetes Lernklima bein-

haltet dementsprechend auch Humor, Ironie und spielerische Elemente, die den Ernst und die

Anstrengung des kritischen Denkens abfedern.252

Stimmen die Rahmenbedingungen für die Förderung des kritischen Denkens, ist es wichtig, die

Lernziele zu formulieren und das methodische Vorgehen genau zu planen. Jahn weist darauf

hin, dass es keine allgemeingültigen Vorgehensweisen gibt, sondern jeder Lehrer eine indivi-

duelle, für sich passende Lösung finden muss.253 Jahn greift die Impulse, die zum Nachdenken,

Philosophieren und auch zum kritischen Denken anregen, – das Sichverwundern, das Zweifeln

und das Erfahren von Grenzsituationen – auf, um in der Schule Nachdenken zu erreichen. Er

schreibt:

Das Sichverwundern drängt nach Erkennen, der Zweifel nach Gewissheit und die in

der Grenzsituation erfahrene Verlorenheit nach Selbstwerdung. In diesem Drängen

werden herausfordernde Fragen aufgeworfen, die nach bedeutsamen Antworten ver-

langen. Darin liegt der Impuls des kritischen Denken.254

Im Unterricht gibt es, abhängig von den Lernzielen und der Themenstellung, unterschiedliche

Möglichkeiten, diese Impulse herzustellen. Vor allem der Einsatz von Medien spielt dabei eine

wichtige Rolle. Filmausschnitte können beispielsweise im besten Fall alle drei Impulse hervor-

rufen, da Filme den Betrachter oft unmittelbar berühren und ansprechen. Idealerweise ist die

Filmerfahrung eine Anregung dafür, die echte Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten

252 Vgl. Jahn 2013: 8. 253 Vgl. Jahn 2013: 8. 254 Jahn 2013: 9.

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und das bisher Wahrgenommene neu zu interpretieren.255 Neben Filmen eignen sich auch Zei-

tungsausschnitte, Zitate, Kurzgeschichten oder Cartoons als Impulse für kritisches Denken. Für

das ansatzweise Erleben von Grenzerfahrungen sind „echte“ Erfahrungen gut geeignet. Dazu

zählen etwa der Besuch von Zeitzeugen im Unterricht, die über ihre Erlebnisse berichten, der

Exkurs zu Einrichtungen oder die Analyse historischer Unterlagen und Dokumente. Der Impuls

dient dazu, das Abstrakte so emotional und nah wie möglich erlebbar zu machen. Die Schüler

sollen dabei den Bezug zu ihrem eigenen Leben und zu ihrer Erfahrungswelt herstellen kön-

nen.256

Wenn die entsprechenden Impulse im Unterricht gesetzt wurden und die Gefühle der Verwun-

derung, des Zweifelns oder der Grenzerfahrung ausgelöst wurden, beginnt die direkte Ausei-

nandersetzung mit einem Sachverhalt, indem dieser aus unterschiedlichen Perspektiven be-

trachtet und erkundet wird.257 In diesem Prozess spielt laut Dubs besonders die Steuerung des

Unterrichts durch die Lehrperson eine Rolle. Die Lehrperson soll aus dem Gespräch ein Modell

für kritisches Denken entstehen lassen, indem sie immer wieder Fragen stellt, kreative Anstöße

gibt oder Anregungen zum Reflektieren der Argumente aufwirft. 258 Ein Modell ist auch die

Lehrkraft selbst, weshalb sie ihre kritischen Denkaktivitäten visuell und auditiv sichtbar ma-

chen soll. Das bedeutet, dass sie beispielsweise Gedanken laut äußert oder Mindmaps zur Vi-

sualisierung verwendet. Dieses Sichtbarmachen des Denkens gilt auch auf der anderen Seite für

die Lernenden. Das ist notwendig, damit die Lehrperson die Strategien und Konzepte der Schü-

ler wahrnehmen und mit geeigneten Maßnahmen, wie mit der Vermittlung anderer Konzepte,

die Erweiterung von Perspektiven oder das Spiegeln von Annahmen, darauf reagieren kann.

Das Sichtbarmachen ist nur möglich, wenn die Schüler schreiben, diskutieren oder handeln.

Der Unterricht, in dem kritisches Denken gelernt werden soll, ist dementsprechend eine Mi-

schung aus Phasen der Diskussion, Instruktion, Reflexion und Moderation.259 Zwei Phasen

spielen im Unterricht zu kritischem Denken eine besondere Rolle: die Phasen der Diskussion

und die Phasen der Reflexion. In der Diskussion werden „Ideen gesammelt, verschiedene Per-

spektiven zu einem Sachverhalt antizipiert und kognitive Konflikte erzeugt“.260

255 Vgl. Jahn 2013: 8 f. 256 Vgl. Jahn 2013: 10. 257 Vgl. Jahn 2013: 11. 258 Vgl. Dubs 1992: 52. 259 Vgl. Jahn 2013: 11. 260 Jahn 2013: 12.

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Die Reflexionsphasen dienen dazu, „eigene Annahmen kritisch zu untersuchen, die gewonnen

Einsichten in vorhandene Schemata zu integrieren und neue Denk- und Handlungsmuster zu

entwickeln.“261

Beim kritischen Denken üben die Schülerinnen, einen freien Blick zu bekommen, der es er-

möglicht, begründete Urteile zu fällen. Als Konsequenz führen die dadurch erlangten begrün-

deten Weltanschauungen manchmal zu mündigen Handlungsweisen. Für die Lehrperson ergibt

sich daraus die Herausforderung, die Schüler darin zu bekräftigen, ihre eigenen begründeten

Standpunkte zu gewinnen und sie zu unterstützen, wenn sie gewonnene Erkenntnisse in ihre

eigene Lebenswelt integrieren möchten. Begründete Standpunkte erlangen die Schüler durch

die Förderung der konstruktiven Denkebene in Verbindung mit kreativen und intuitiven Ge-

dankenspielereien. Die Unterstützung der Schülerinnen bei der Entwicklung eigener begründe-

ter Standpunkte zielt auf die Entfaltung ihrer konstruktiven und kreativen Potenziale ab.262

Ohne kritisches Denken sind die in dieser Arbeit intensiv besprochenen Methoden des Argu-

mentierens und des sokratischen Gesprächs kaum möglich. Diese Methoden sind wiederum

Voraussetzung und Grundlage für zwei Textsorten, die im folgenden Kapitel besprochen wer-

den: Die Erörterung, die im Deutschunterricht erarbeitet wird und der Essay, der Teil des Phi-

losophieunterrichts ist.

261 Jahn 2013: 12. 262 Vgl. Jahn 2013: 13.

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5 Die Erörterung im Deutschunterricht – der Essay im Philo-

sophieunterricht

Die Erörterung wird in der Literaturwissenschaft als eine schriftliche Diskussion verstanden,

deren Hauptbestandteil die Argumentation ist. Der Essay ist eine schriftliche Abhandlung, die

einen besonderen Gegenstand erörtert.263

Die Argumentation als wichtigster Ausgangspunkt für die Erörterung als auch für den Essay

wurde in dieser Arbeit bereits ausführlich beleuchtet. In diesem Kapitel stehen nun die Erörte-

rung und der Essay im Zentrum des Interesses. Nach der Veranschaulichung der Erörterung

wird der Essay näher beschrieben. Zur besseren Einordnung dieser Textsorten264 und der damit

verbundenen Inhalte und Kompetenzen im Unterricht wird im Anschluss der Lehrplan diesbe-

züglich analysiert.

5.1 Die Erörterung im Deutschunterricht

Zu Beginn ist es sinnvoll, eine begriffliche Trennung vorzunehmen. Unter Argumentieren wird

die Stützung von Forderungen, Behauptungen oder Positionen durch Gründe verstanden. Ar-

gumentieren findet in einer Sprachhandlung mit mindestens zwei Dialogpartnern statt.265 Beim

Argumentieren handelt es sich um eine der wichtigsten kommunikativen Handlungen der Ge-

sellschaft, da die Argumentationsfähigkeit Grundlage für die Auseinandersetzung mit anderen

Personen, für den schulischen, beruflichen und privaten Umgang, als auch für die Persönlich-

keitsentwicklung ist. Diese kommunikative Bedeutung erklärt den hohen Stellenwert des Ar-

gumentierens im Deutschunterricht in der Schule. Das Erlernen der Methode des Argumentie-

rens steht dabei im Mittelpunkt. Jelko Peters zählt Gründe auf, die die Fähigkeit des Argumen-

tierens über die Schule hinaus als wichtig erscheinen lassen. Er nennt

- die Möglichkeit, Probleme und Uneinigkeiten friedlich und gewaltfrei zu lösen,

- das selbstbewusste Einstehen für gewisse Haltungen,

- das Erlernen von Empathie,

263 Vgl. Brockhaus.de 264 Der Begriff „Textsorte“ wird verwendet, weil der Schulbezug deutlich hervortreten soll. Im schulischen Kon-

text stellen die Erörterung und der Essay Textsorten dar. 265 Vgl. Beisbart 2005: 10.

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- das Kennenlernen neuer Perspektiven und Ansichten,

- das Erkennen und Überdenken von Vorurteilen und Stereotypen

- die Erweiterung des eigenen Wissens

- den Umgang mit der Sprache (Kreativität, Einfallsreichtum, argumentative Sprachverwen-

dung).266

Die von Peters genannten Gründe stellen wesentliche Ziele beim Erlernen der Argumentations-

fähigkeit dar. Besonders das Entwickeln einer selbstbewussten Position, das kritische Nachden-

ken, Reflektieren und Überdenken von Sachverhalten und die Fähigkeit, die eigene Position

und die eigenen Gedanken überzeugend sprachlich auszudrücken, sind hier hervorzuheben.

Erörtern kann für das Wort Argumentieren synonym verwendet werden. Der Begriff beschreibt

ebenso die Tatsache, wenn die Klärung eines noch wenig „erörterten“ Problems im Zentrum

steht.267 Das bedeutet, dass der „Ort des Problems“ in der Auseinandersetzung mit dem Problem

noch gefunden werden muss. Eine Erörterung ist eine schriftliche Argumentation in Aufsatz-

form im Rahmen des Deutschunterrichts.268 Ein Ziel der Erörterung ist die Suche nach Konsens

und die Sprachform, die dazu verwendet wird, ist die Argumentation. Neben der Suche nach

Konsens – der laut Diskursethik dann erreicht ist, wenn er möglichst vielen Interessen und Be-

dürfnissen gerecht wird269 – sind als Ziele der Erörterung die Fähigkeiten der Meinungsbildung,

des kritischen Denkens und der argumentativen Sprachverwendung zu nennen.

Bereits in der Antike finden sich erste Überlegungen zum Erörtern, das ein argumentatives

Fundament für philosophische Erkenntnisse bietet und bei dem diskursives Problemdenken

stattfindet. Der historische Vorläufer der Erörterung ist die von der Rhetorik abstammende the-

sis. Diese betreibt die Problemuntersuchung in mündlicher Form und gliedert sich nach dem

gleichen Schema, wie es bei schriftlichen Erörterungen heute noch teilweise zu finden ist. Im

18. Jahrhundert hat der deutsche Sprach- und Literaturwissenschaftler Johann Christoph Gott-

sched schließlich eine philosophisch-moralische Aufsatzlehre entwickelt, in der Entscheidungs-

fragen diskutiert und gelöst werden sollen. Diese erörternden Abhandlungen wurden aber erst

ab dem 19. Jahrhundert vermehrt im Deutschunterricht als Aufsätze gefordert .270

266 Vgl. Peters 2004: 11 f. 267 Vgl. Beisbart 2005: 10. 268 Vgl. Peters 2004: 13. 269 Vgl. Seite 70. 270 Vgl. Peters 2004: 14 f.

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Gottsched war im 18. Jahrhundert einer der wichtigsten Vermittler des aufklärerischen Gedan-

kengutes. Er gilt als zentrale Figur in der deutschen Aufklärung und Literaturgeschichte und

arbeitete an der Leipziger Universität als Professor der Poesie, der Logik und der Metaphysik.

Mit seinem Wirken verfolgte er neben dem Prinzip der Aufklärung des Verstandes unter ande-

rem die Reform der deutschen Dichtung, die Normierung der deutschen Sprache und die Her-

ausbildung der Frauenliteratur.271

Damit Schülerinnen in der heutigen Zeit eigenständig denken, ein Urteil erlangen und somit

eine Erörterung schreiben können, ist es laut Peters von großer Bedeutung, Themen auszuwäh-

len, die freies Erörtern ermöglichen und diese didaktisch sinnvoll und strukturiert aufzuberei-

ten. Dafür ist es notwendig, die Gestaltungsmöglichkeiten eines erörternden Textes zu kennen,

die im Folgenden dargestellt werden.272

5.1.1 Form und Aufbau einer Erörterung

Eine Erörterung gliedert sich in drei Bereiche: Ein Problem stellt die Ausgangslage dar. Dieses

bildet die Grundlage für die Argumentation und schließlich kommt es zu einem Lösungsvor-

schlag. In der Schule wird zwischen linearen Erörterungen und dialektischen Erörterungen

unterschieden.

Der Aufbau einer Erörterung besteht formal aus den drei Abschnitten Einleitung, Hauptteil und

Schluss. In der Einleitung wird das zu behandelnde Problem vorgestellt. Hier kann der Schrei-

ber der Erörterung, wenn er das möchte, bereits seinen Standpunkt zum Thema darlegen. Die

Einleitung kann mit der Stellung einer Problemfrage enden.273

Im Hauptteil findet die tatsächliche Argumentation statt. Hier werden die Argumente je nach

Form der Erörterung in unterschiedlicher Art und Weise dargebracht. Bei der linearen Erörte-

rung entwickelt sich die Argumentation Schritt für Schritt. Das bedeutet, dass die schwächsten

Argumente den Anfang machen und die Argumentation zum stärksten Argument hinführt. In

der dialektischen Erörterung müssen sich die Pro- und Kontraargumente inhaltlich aufeinander

beziehen und erfordern eine direkte Gegenüberstellung.

271 Vgl. Rudersdorf 2007: VII f. 272 Vgl. Peters 2004: 16 f. 273 Vgl. Peters 2004: 17.

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Im Schlussteil einer Erörterung gibt der Schreiber seine persönliche Stellung zum erörterten

Thema preis und bekräftigt die eigene Position durch den Verweis auf die im Hauptteil darge-

brachte Argumentation. Beim Verfassen einer linearen Erörterung kann die eigene Position be-

reits in die Einleitung einfließen. Bei einer dialektischen Erörterung hingegen werden die per-

sönlichen Schlüsse aufgrund der Abwägung der Argumente erst im Schlussteil gezogen.274

Nach der Erläuterung der Textsorte Erörterung wird nun die Textsorte Essay im folgenden

Abschnitt genauer betrachtet und aufgezeigt.

5.2 Der Essay im Philosophieunterricht

Der Essay ist eine Textsorte, die vor allem in der Philosophie und im Philosophieunterricht

Anwendung findet und sozusagen die Parallele zur Erörterung im Deutschunterricht darstellt.

Viele Schulen nehmen außerdem im Rahmen des Freifaches Philosophie an der österreichi-

schen Philosophieolympiade teil. Für diese Olympiade muss ein Essay zu einem bestimmten

Thema verfasst werden, der von einer Fachjury bewertet wird.

In historischer Hinsicht leitet sich der Begriff Essay vom französischen essayer ab, was so viel

bedeutet, wie erfahren, versuchen, oder erwägen. Es werden der französische und der englische

Ansatz des Essays voneinander unterschieden. Der französische Vertreter ist Michel, Seigneur

de Montagne, der seine Sammlung von Reflexionen über die unterschiedlichsten Inhalte seines

Lebens als Essais betitelt und damit eine „bestimmte Methode der Erkenntnisgewinnung“275

bezeichnet, deren Form an ein Tagebuch erinnern. Der englische Vertreter Francis Bacon hat

siebzehn Jahre nach Montaignes Essais die Essayes veröffentlicht, was den Begriff Essay zur

literarischen Gattungsbezeichnung werden lässt. Bacons Essayes sind im Gegensatz zu Mon-

taigne lebenspraktisch und er verwendet Zitate als Belege für die dargestellte Erkenntnis.276

Pfister bezeichnet den Essay als eine begründete Verteidigung einer These. Bevor der Schreib-

prozess beginnt, sollte das Ziel des Aufsatzes festgelegt werden. Der Schreiber muss überlegen,

welche Intention er mit dem Verfassen des Aufsatzes verfolgt. Damit das gelingt, empfiehlt

Jonas Pfister drei Prozesse: den Prozess des Nachdenkens, des Diskutierens mit anderen und

274 Vgl. Peters 2004: 17 ff. 275 Haas, 1969: 10. 276 Vgl. Haas 1969: 1-15.

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des Lesens von Texten. Steht das Ziel des Essays fest, folgt die Erstellung einer Gliederung,

die wie bei der Erörterung üblicherweise aus Einleitung, Hauptteil und Schluss besteht. Die

Einleitung beinhaltet die im Essay zu behandelnde Frage und eventuell die Erläuterung der

Vorgehensweise, die zur Beantwortung der Frage verwendet wird. Im Hauptteil findet die Ar-

gumentation mit einer nachvollziehbaren Begründung der These statt. Alle dafür benötigten

Argumente und Thesen gehören in den Hauptteil des Essays.277 Im Schlussteil steht eine Zu-

sammenfassung der gesamten Argumentation. Jonas Pfister fasst den Aufbau eines Essays fol-

gendermaßen zusammen:

Abbildung 17: Grundaufbau eines Essays nach Pfister278

Ein Essay kann drei unterschiedlichen Grundformen folgen, was Auswirkungen auf den Aufbau

des Hauptteils des Aufsatzes hat. Die drei Grundformen, die nach Pfister unterschieden werden,

sind: „(1) die kritische Prüfung einer Position (einer These, eines Arguments), (2) die Entschei-

dung eines Streits und (3) die Lösung eines Problems“279. Die zweite Grundform kann mit einer

dialektischen Erörterung verglichen werden, bei der die Pro- und Kontraseiten eines Problems

erarbeitet und schließlich eine Entscheidung für eine Position getroffen wird.

Die erste Grundform – die kritische Prüfung – hat die Form eines Kommentars. Nach der Dar-

stellung der These wird im zweiten Schritt Kritik an dieser geäußert und im dritten optionalen

Schritt wird diese Kritik wiederum zurückgewiesen.280

277 Vgl. Pfister 2015: 246 f. 278 Pfister 2015: 247 f. 279 Pfister 2015: 248. 280 Vgl. Pfister 2015: 248.

Grundaufbau eines Essays

1. Einleitung

Was ist die Frage, die ich beantworten will?

Weshalb ist diese Frage wichtig?

Was will ich zeigen?

Wie werde ich dabei vorgehen?

2. Hauptteil

Was ist mein Argument für das, was ich zeigen will?

Weshalb sind die Prämissen in diesem Argument wahr?

Was kann man gegen das Argument einwenden?

Weshalb sind dies Einwände nicht stichhaltig?

3. Schluss

Was habe ich gezeigt?

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Bei der Grundform Entscheidung eines Streits werden zwei gegensätzliche Positionen zu einem

Problem dargestellt, bewertet und beurteilt, sodass am Ende des Essays eine Entscheidung für

die eine und gegen die andere Position getroffen werden kann. Das Problem wird meist in Form

einer Frage dargestellt, damit diese von den zwei Positionen unterschiedlich beantwortet wer-

den kann. Laut Pfister ist es kaum der Fall, dass eine der beiden Positionen vollkommen recht

hat. Meist führen unterschiedliche Interpretationen zu verschiedenen Ergebnissen, die für eine

differenzierte Entscheidung am Ende des Essays auch in diesen einfließen sollten.281

Die dritte Grundform Lösung eines Problems zielt auf die Lösung eines zu Beginn des Essays

formulierten Problems ab. Der Problemdarstellung folgt die Entwicklung von Kriterien, die für

eine adäquate Lösung herangezogen werden. Im nächsten Schritt werden inadäquate Lösungen

und die Begründung für die Nicht-Adäquatheit dieser dargestellt. Daraufhin wird die eigene

Lösung vorgestellt, die anhand der zuvor aufgestellten Kriterien geprüft wird. Zum Schluss ist

es optional möglich, auf naheliegende Kritik einzugehen und diese zurückzuweisen. Diese

Grundform ist wie auch die zweite problemorientiert, verlangt aber im Gegensatz zu dieser

aufgrund der Entwicklung einer eigenen Lösung mehr Kreativität vom Autor.282

Bei der Frage, was einen guten Essay ausmacht, gibt Pfister drei Stichworte an:

„1. Inhalt: Korrekte und präzise Darstellung von Positionen (Thesen, Argumenten)

2. Argumentation: Eigenständige und gute Begründung einer These

3. Sprache: Klare und wohlstrukturierte Formulierung“283

Pfister verweist explizit darauf, dass es sich dabei um eine mögliche, aber keine vollständige

Liste von Kriterien handelt.284

In diesem Abschnitt wurde der philosophische Essay als Textsorte des Philosophieunterrichts

und der Philosophieolympiade aufgezeigt. Um die zweckdienliche Funktion der Textsorten Er-

örterung und Essay, sowie der damit verbundenen Thematiken, die in dieser Arbeit bereits er-

arbeitet wurden, für die Schule klar ersichtlich zu machen, findet im Folgenden eine Darstellung

und Analyse des Lehrplans der AHS Oberstufe statt.

281 Vgl. Pfister 2015: 248 f. 282 Vgl. Pfister 2015: 249 f. 283 Pfister 2015: 250. 284 Vgl. Pfister 2015: 250.

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5.3 Lehrplananalyse: Deutsch und Philosophie

In diesem Kapitel wird zuerst der allgemeine Teil des Lehrplans untersucht. Danach folgen die

Analysen des Lehrplans für Deutsch und des Lehrplans für Philosophie.

Der Lehrplan der AHS Oberstufe der Fächer Deutsch und Philosophie sieht neben der Wis-

sensaneignung noch weitere wichtige in der Schulzeit zu erreichende Kompetenzen vor. In die-

sem Kapitel werden der allgemeine Teil des Lehrplans als auch die Fachlehrpläne für Deutsch

und Philosophie der AHS-Oberstufe in Österreich hinsichtlich der Forderung nach Selbständig-

keit im Denken, kritischem Denken, kommunikativen Fähigkeiten und Argumentationsfähig-

keiten betrachtet und analysiert.

Im allgemeinen Teil des Lehrplans sind neben den Allgemeinen Didaktischen Grundsätzen und

der Schul- und Unterrichtsplanung die Bildungsziele für den Unterricht festgelegt. Darunter

fallen die Aufgabenbereiche der Schule, die sich aus Wissensvermittlung, Kompetenzen und

religiös-ethisch-philosophische Bildungsdimension zusammensetzen. Zum Punkt der Wissens-

vermittlung zählen neben der Vermittlung von Wissen als einer der zentralen Aufgaben von

Schule auch, dass

die Schülerinnen und Schüler im Sinne eines lebensbegleitenden Lernens zur selb-

ständigen, aktiven Aneignung, aber auch zu einer kritisch-prüfenden Auseinander-

setzung mit dem verfügbaren Wissen befähigt und ermutigt werden.285

In diesen Zeilen des allgemeinen Teils des Lehrplans sind Kompetenzen des lebenslangen Ler-

nens und des selbständigen, kritischen Denkens und Überprüfens des Gelernten angeführt. Das

Erreichen dieser Kompetenzen stellt ein zentrales Ziel von Bildung für alle Schüler dar.

In der religiös-ethisch-philosophischen Bildungsdimension des Lehrplans findet sich der Auf-

trag an die Schule, den Schülern durch verschiedene Angebote die Möglichkeit für den Erwerb

von Urteils- und Entscheidungskompetenz zu bieten.286 Die Kompetenz des Urteilens steht in

engem Zusammenhang mit der Kompetenz des kritischen Denkens und der Argumentationsfä-

higkeit. Ohne die eigenständige, kritische Urteilsbildung über einen Sachverhalt ist es nicht

möglich, für oder gegen etwas einzutreten und dafür oder dagegen zu argumentieren.

285 Bundesministerium für Bildung, Allgemeiner Lehrplan: 2. 286 Vgl. Bundesministerium für Bildung, Allgemeiner Lehrplan: 3.

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Der allgemeine Lehrplan umfasst weiters unterschiedliche Bildungsbereiche, wie den Bil-

dungsbereich Mensch und Gesellschaft, den Bildungsbereich Sprache und Kommunikation und

den Bildungsbereich Natur und Technik, denn „Bildung ist mehr als die Summe des Wissens,

das in den einzelnen Unterrichtsgegenständen erworben werden kann.“287 In diesen Bildungs-

bereichen findet sich unter anderem die Aufforderung, einen kritischen Umgang mit Medien in

der Schule zu fördern. Außerdem sollen die Schüler lernen, mit sich selbst und mit anderen

verantwortungsvoll umzugehen. Dafür ist es laut Lehrplan notwendig, die Urteils- und Kritik-

fähigkeit als auch die Entscheidungs- und Handlungskompetenz der Schülerinnen zu fördern.288

Dieser Punkt des allgemeinen Lehrplans wird durch die in dieser Arbeit erarbeiteten zentralen

Voraussetzungen für einen argumentativen Text genauso erfüllt, wie die Vorgabe der Förde-

rung der Persönlichkeitsentwicklung.

Im Folgenden werden die Fachlehrpläne der Fächer Deutsch und Philosophie der AHS Ober-

stufe analysiert und hinsichtlich der Anforderungen betrachtet, die mit den in dieser Arbeit er-

arbeiteten Aspekten in Zusammenhang stehen.

Die Fachlehrpläne sind gegliedert in

- Bildungs- und Lehraufgabe: Hauptziele für das jeweilige Unterrichtsfach

- Didaktische Grundsätze: Grundsätze für den Unterricht, die Methodik und Didaktik

- Lehrstoff: Explizite Lernziele für die Schüler

Die ersten beiden Punkte gelten für alle Klassen der Oberstufe, während der Lehrstoff für jede

Schulstufe einzeln angegeben ist.

5.3.1 Lehrplan Deutsch

Die Bildungs- und Lehraufgabe des Deutschunterrichts der AHS Oberstufe beschreibt die

Kommunikations-, Handlungs- und Reflexionsfähigkeit sowie die ästhetische Kompetenz als

Hauptziele des Fachunterrichts. Die Kompetenz der Schüler im Umgang mit Texten und Me-

dien fördert die kritische und aktive Wissensaneignung, während die mündliche Kompetenz

die Sozialfähigkeiten der Schüler sowie ihre Dialog- und Kooperationsfähigkeiten fördert.

287 Bundesministerium für Bildung, Allgemeiner Lehrplan: 3. 288 Vgl. Bundesministerium für Bildung, Allgemeiner Lehrplan: 3 f.

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In den Didaktischen Grundsätzen wird den Lehrenden im Deutschunterricht fächerübergrei-

fendes Arbeiten nahegelegt.289 Die folgenden sechs Bereiche sollen in einer möglichst vielfäl-

tigen Weise miteinander verflochten werden:

- Mündliche Kompetenz: Die mündliche Kompetenz wird als wichtiges Bildungsziel in allen

Fächern betrachtet. Dadurch wird die Entwicklung der Persönlichkeit und der Kompetenz

der privaten und öffentlichen Sprachhandlung unterstützt. Für die Entwicklung der münd-

lichen Kompetenz ist das Erleben verschiedenster Kommunikationsprozesse, Gesprächs-

und Redeformen notwendig.290

- Schriftliche Kompetenz: Zur Erreichung der schriftlichen Kompetenzen sind die Motivation

und Freude am Schreiben durch die Lehrer zu fördern. Neben der Rechtschreibsicherheit

hat der Schreibunterricht das Ziel, Schreibhaltungen auszubilden. „Schriftliche Kompetenz

ist ein wesentlicher Faktor für die Persönlichkeitsbildung und Voraussetzung für wissen-

schaftliches Arbeiten, berufliche Tätigkeit und die Teilnahme am gesellschaftlichen Le-

ben.“291

- Textkompetenz: Texte sind immer häufiger multimediale Produkte, weshalb an die Text-

kompetenz höhere Anforderungen gestellt werden. Beim Lesen eines Textes entsteht eine

Interaktion zwischen dem Text und dem Text- und Weltwissen des Lesers, weshalb die

emotionale und argumentative Auseinandersetzung mit Texten eine wichtige Vorausset-

zung ist.292

- Literarische Bildung: Durch den Umgang mit ästhetischen Texten sollen die Schüler die

Fähigkeit erlangen, mit Texten emotional und produktiv-handelnd umzugehen, eigenstän-

dige Interpretationen zu erstellen und ein kritisches Urteilsvermögen zu entwickeln.

- Mediale Bildung: Im Deutschunterricht wird Mediennutzungskompetenz vermittelt. Das ist

die Fähigkeit des zielgerichteten und funktionalen Umgangs mit Medien. Die Beschäfti-

gung mit allen Arten von Medien ist ebenso Teil der medialen Bildung.

- Sprachreflexion: Sprachreflexion ist ein integrales Prinzip im gesamten Deutschunterricht

und bezeichnet das Nachdenken über die Funktion, die Verwendung und den Bau von Spra-

che.293

289 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 117 f. 290 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 118. 291 Bundesministerium für Bildung: 118. 292 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 118 f. 293 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 119.

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Der Bereich Lehrstoff umfasst das Stoffgebiet von der 5. bis zur 8. Klasse, unterteilt in die

soeben vorgestellten sechs Bereiche der didaktischen Prinzipien. Es sollen nun die für diese

Arbeit besonders relevanten Vorgaben des Lehrplans in Bezug auf den Lehrstoff aufgezeigt

werden.

In der fünften Klasse ist aus dem Bereich der Schriftlichen Kompetenz die Anforderung hervor-

zuheben, unterschiedliche Schreibhaltungen zu entwickeln. Insbesondere wird in diesem Ab-

schnitt die Textsorte Erörterung genannt. Auch in der sechsten Klasse ist die Erörterung als zu

beherrschende Textsorte im Lehrstoff verankert. In dieser Schulstufe findet sich im Bereich der

Mündlichen Kompetenz die Anforderung, dass Schüler sich in unterschiedlichen Sprechsituati-

onen zurechtfinden, sprachliche Strategien nutzen und kommunikative Prozesse aktiv mitge-

stalten. In der siebten und achten Klasse steht im Bereich der Schriftlichen Kompetenz die für

diese Arbeit wichtige Fähigkeit im Mittelpunkt, Texte entsprechend der jeweiligen Situation,

Absicht oder Textsorte zu gestalten und das Schreiben als Instrument der Erkenntnisgewinnung

einzusetzen. Im Bereich der Medialen Bildung ist die Entscheidungskompetenz und die Kom-

petenz zur kritischen Überprüfung von Informationsquellen hervorzuheben.294

5.3.2 Lehrplan Philosophie

Im Folgenden wird der Fachlehrplan für Psychologie und Philosophie der AHS genauer be-

trachtet. Der Fokus wird dabei auf den Philosophieunterricht gelegt.

In der Bildungs- und Lehraufgabe ist für den Philosophieunterricht festgelegt, dass die Schü-

lerinnen Einblick in die wesentlichen Strömungen der Philosophie bekommen, sich mit der

Wirklichkeit, ihrer Erkenntnis, der Wahrheitsfrage, den Werten und der Sinnfrage auseinander-

setzen. Alle Bereiche des Fachunterrichts sollen zur Förderung der sprachlichen und kommu-

nikativen Prozesse der Schülerinnen beitragen. Dazu zählt unter anderem die Erarbeitung argu-

mentativer Begründungen, um die eigenen Positionen und Einstellungen zu vertreten. Außer-

dem sollen sich die Schülerinnen kritisch mit verschiedenen Medien auseinandersetzen und

reflektierte Kenntnis über sich selbst und ihre Mitmenschen gewinnen. Die Entwicklung per-

sönlicher Einstellungen und von Urteils- und Kritikfähigkeit soll zu einer toleranten Grundhal-

tung der Schüler beitragen.295

294 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 119-125. 295 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 197.

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Die Didaktischen Grundsätze legen Kompetenzorientierung als Nachhaltigkeitsprinzip fest,

das das lebenslange Lernen in Abgrenzung zu kleinschrittigen Lernzielen betont.296 Daraus er-

geben sich im Lehrplan die folgenden vier methodischen Konsequenzen:

- Exemplarisches Lernen: Der Kompetenzerwerb erfordert eine intensive Auseinanderset-

zung mit Themengebieten, wofür das Prinzip des exemplarischen Lernens von besonderer

Bedeutung ist. Dadurch findet einerseits eine Beschränkung auf Sachverhalte mit beispiel-

haftem Charakter statt und andererseits meint es den Unterricht mit Beispielen.297

- Kompetenzorientierung als Mitte zwischen Instruktion und Handlungsorientierung: Eine

Balance zwischen Instruktion und Handlungsorientierung ist im Unterricht anzustreben.

Mit Hilfe von selbst organisierten Lernformen sind Schüler in ihrer Selbsttätigkeit und Ei-

genverantwortung zu stärken.298

Weiters ist die umfassende Kommunikationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler

durch Formen des sokratischen Gesprächs, durch das Üben des logisch richtigen Ar-

gumentierens (zB durch das Schreiben philosophischer Essays) und durch das Trai-

ning des aktiven Zuhörens zu fördern.299

- Erfahrungsorientierung: Der Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen ist durch den Besuch

außerschulischer Institutionen oder das Einladen von Fachleuten herzustellen. Ebenso sollte

bei den im Unterricht behandelten Themen auf eine altersgemäße Darstellung und die Re-

levanz der Themen für die Lebenswelt der Schüler geachtet werden.300

- Betonung der Vernetzung: Durch die Vernetzung von Inhalten zeigt sich ein nachhaltiger

Kompetenzerwerb. Dabei handelt es sich um die Vernetzung von Psychologie und Philoso-

phie, eine fächerübergreifende oder kompetenzübergreifende Vernetzung.301

Der Psychologie- und Philosophieunterricht ist laut Lehrplan entscheidend hinsichtlich der Per-

sönlichkeitsentfaltung der Schüler, ihrer Motivation des lebenslangen Lernens und ihrer Selbst-

tätigkeit.

296 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 198. 297 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 198. 298 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 198. 299 Bundesministerium für Bildung: 198. 300 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 198. 301 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 198 f.

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Philosophieunterricht findet in der AHS in der achten Klasse statt. Beim Lehrstoff zählt zu den

Grundlagen der Philosophie die Anwendung philosophischer Methoden. Die Bearbeitung von

erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragestellungen ist neben der Klärung und kriti-

schen Hinterfragung von ethischen Grundpositionen und der Begründung von Wertehaltungen

besonders hervorzuheben.302

Die Analyse des allgemeinen Teils des Lehrplans sowie der Fachlehrpläne für Deutsch und

Philosophie der AHS Oberstufe hat gezeigt, dass einerseits die Argumentations- und Kommu-

nikationsfähigkeiten und das kritische Denken und Hinterfragen sowie andererseits die Fähig-

keit, Erörterungen und philosophische Essays zu verfassen, vom Lehrplan gefordert werden

und zur persönlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler beitragen.

Im folgenden letzten Kapitel dieser Arbeit werden die Schlussfolgerungen, die sich aus den

bisher erarbeiteten Theorien und Inhalten ergeben, aufgezeigt. Zur Veranschaulichung dieser

Überlegungen werden eine Erörterung und ein Essay beispielhaft miteinander verglichen und

in Bezug auf die Schule analysiert.

302 Vgl. Bundesministerium für Bildung: 200.

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6 Schlussfolgerungen

Die theoretischen Ausarbeitungen dieser Arbeit führen zu Schlussfolgerungen, die in diesem

Kapitel dargestellt werden. Zuerst werden die bisher angestellten Überlegungen veranschau-

licht. Darauf aufbauend finden ein Vergleich und eine Analyse der Textsorten Erörterung und

philosophischer Essay anhand von ausgewählten Beispieltexten statt. Daran anschließend wird

ein Ausblick in Bezug auf den Umgang mit diesen Thematiken und Inhalten in der Schule ge-

geben.

6.1 Sprache und Denken als Kreisläufe

Die Sprache und das Denken sind untrennbar miteinander verbunden. Diese Einsicht ist durch

die Auseinandersetzung mit den theoretischen Inhalten dieser Arbeit deutlich hervorgetreten.

In Bezug auf die Textsorten Erörterung und philosophischer Essay spielt dies eine wichtige

Rolle, was im Folgenden genauer erläutert werden soll.

Ohne Gedanken kann nichts zur Sprache gebracht werden und ohne Sprache können Gedanken

nicht ausgedrückt werden. Die Sprache und das Denken sind voneinander abhängig. Sie stehen

in einem zirkulären Verhältnis zueinander. Dieses Faktum ist für diese Arbeit von zentraler

Bedeutung. Es sollen nun weitere Kreisläufe dargestellt werden, die sich in dieser Arbeit ent-

wickelt haben.

Eigenständiges, kritisches Denken bildet die Grundlage für philosophisches Argumentieren,

denn ohne eigenständige, kritische Gedanken und die Entwicklung einer eigenen Position ist

die Fähigkeit des philosophischen Argumentierens als Werkzeug nutzlos. Gleichzeitig können

ohne die Fähigkeit des philosophischen Argumentierens die durch kritisches Denken erlangten

begründeten Positionen nicht angemessen und überzeugend aufgezeigt werden. Die Anwen-

dung und auch das Erkennen von Argumentationsmustern unterstützt dabei im Argumentati-

onsprozess. Hier lässt sich ein Kreislauf erkennen.

Weiters braucht kritisches Denken die Auseinandersetzung mit anderen, in Form eines Dialogs

oder in der Gruppe. Eine Möglichkeit dafür bildet die Methode des sokratischen Gesprächs. In

diesem Gespräch steht das Denken in der Gruppe, das Entwickeln einer eigenen Position durch

die Reflexionen und Anregungen der anderen und das demokratische Suchen eines Konsenses

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im Mittelpunkt. Die Teilnehmerinnen benötigen sprachliche Fähigkeiten, die es ihnen ermög-

lichen, die Gesprächsregeln einzuhalten, die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wertzu-

schätzen und ihren Gedanken den richtigen Ausdruck zu verleihen. Das, was im Gespräch zur

Sprache gebracht wird, muss sich im Vorhinein im Kopf als Gedanke manifestieren. Ein Nach-

denken, Vorausdenken, Umdenken, Überdenken – also kritisches Denken – muss stattfinden,

damit der Gedanke schließlich zur eigenen Position wird. In der Diskussion mit den Gesprächs-

teilnehmern und im ständigen Fragen und Antworten beginnt dieser Prozess dann wieder von

Neuem. Auch hier kann von einem Kreislauf zwischen Denken und Sprechen gesprochen wer-

den.

Das, worin diese beschriebenen Kreisläufe münden sollen, ist die Erörterung im Deutschunter-

richt und in weiterer Folge der Essay im Philosophieunterricht. Beides sind argumentative

Textsorten, die von der im Text stattfindenden Argumentation abhängig sind. Während die Er-

örterung als Textsorte im Deutschunterricht gelehrt und geübt wird und eine der Textsorten der

standardisierten Reifeprüfung ist, wird der Essay vor allem in Philosophiekursen, die als Frei-

fach angeboten werden, verfasst. In diesem Zusammenhang wird der Essay auch häufig für die

österreichische Philosophieolympiade erarbeitet und als Wettbewerbstext eingereicht. Die Er-

örterung und der Essay werden in der Schule als unabhängige Textsorten gesehen und stehen

dort in keinem Zusammenhang. Die vorliegende Arbeit und die zuvor durchgeführten Analysen

der Textsorten zeigen jedoch, dass diese eigentlich nicht voneinander zu trennen und auch kaum

voneinander zu unterscheiden sind. Denn es besteht eine starke Konvergenz zwischen der Er-

örterung und dem Essay. Beide Textsorten benötigen eine weitreichende gedankliche Vorbe-

reitungsarbeit, die zu einem überzeugenden Ergebnis führen soll. Bevor eine Erörterung oder

ein Essay verfasst wird, müssen kritische Gedanken angestellt, Positionen eingenommen, Ar-

gumentationen erdacht und alles überprüft, gefestigt oder wieder verworfen werden. Diese Vor-

bereitungsphase ist bei beiden Textsorten zentral.

Es stellt sich nun die Frage, ob und wenn ja, welche Unterscheidung zwischen der Erörterung

und dem Essay gemacht werden kann. Zu diesem Zweck sollen im Folgenden eine Erörterung

und ein Essay beispielhaft miteinander verglichen werden.

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6.2 Vergleich Erörterung – Essay

In diesem Kapitel werden eine Erörterung und ein Essay analysiert und miteinander verglichen.

Die Analyse gliedert sich in die Unterpunkte Form und Inhalt und Sprache und Argumentation.

Die hier verglichene Erörterung ist dem Artikel Kompetent aufsteigen… Aufsatztraining für die

Matura entnommen und behandelt das Thema Glück. Grundlage für diese Erörterung ist eine

Aufgabenstellung für Schülerinnen und Schüler. Das Ziel ist es, die Direktorin einer Schule mit

Hilfe der Erörterung davon zu überzeugen, eine Veranstaltung zum Thema Glück zu organisie-

ren. Als Hilfsmittel steht ein Zeitungsartikel zum Thema zur Verfügung.

Als Essay wird der Siegertext der österreichischen Philosophieolympiade 2017 von Robert

Berndl-Forstner herangezogen. Der Ausganspunkt für diesen Text war ein Zitat von Judith But-

ler aus Kritik der ethischen Gewalt. Beide Texte befinden sich im Anhang.

6.2.1 Form und Inhalt

Betrachtet man die Form und den Aufbau der Erörterung, entsprechen diese den in dieser

Arbeit dargestellten Kriterien303 für Erörterungen. Der Einleitung, in der das zu erörternde

Thema eingeführt wird, folgt ein langer Hauptteil, in dem die Argumentation stattfindet. Zum

Schluss wird in einem Fazit die eigene Position der Schreibenden preisgegeben und mit Argu-

menten untermauert und verstärkt.

Der Essay beginnt mit einer bildhaften Darstellung, die eine Art Rahmenhandlung bietet, bevor

das Thema des Essays in der Einleitung ansatzweise dargelegt wird. Im Hauptteil werden Ar-

gumente und mögliche Einwände dargestellt. Der Schlussteil enthält neben der Zusammenfas-

sung dessen, was im Aufsatz gezeigt wurde, auch eine abschließende Aufforderung an die Le-

serinnen und Leser.

Inhaltlich beschäftigt sich die Erörterung nur oberflächlich mit dem Thema Glück. Die eigent-

liche Intention des Aufsatzes besteht darin, Argumente dafür zu sammeln, weshalb es in der

Schule der Verfasserin eine Veranstaltung zu diesem Thema geben soll. Viele der inhaltlichen

Aspekte des Aufsatzes sind dem beigefügten Zeitungsartikel entnommen. Die persönliche Zu-

303 Vgl. Seite 84.

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gabe der Schreiberin zum Inhalt ist dementsprechend gering gehalten. Dennoch werden unter-

schiedliche Aspekte von Glücklichsein und Glück eingebracht und auch mit Beispielen erläu-

tert.

Im Gegensatz dazu behandelt der hier analysierte Essay eine Thematik, die eine sehr intensive

Auseinandersetzung des Schreibers mit diesem Thema voraussetzt. Dieses wird durch ein Zitat

von Judith Butler vorgegeben, in dem es um die Darstellung einer möglichen neuen Ethik geht,

die Gewalt als Reaktion auf erlittenes Leid als nicht gerechtfertigt begreift. Der Autor des Es-

says greift den Inhalt des Zitats auf und weitet ihn noch um Einiges aus. Hier kann ein zentraler

Unterschied zur Erörterung festgestellt werden. Während die Verfasserin der Erörterung den

inhaltlichen Aspekt auf eine eher oberflächlichen Weise bearbeitet, führt der Schreiber des Es-

says den Inhalt selbständig weiter aus. Zentral ist hier auch die Rahmengeschichte, die vom

Verfasser hinzugefügt wurde, inhaltlich zur Thematik passt und das Geschriebene bildlich er-

scheinen lässt und auflockert. Die Gedanken werden in jedem Absatz weitergeführt und im

Fazit zusammengefasst.

Die Form entspricht sowohl bei der Erörterung als auch beim Essay den vorgegebenen Krite-

rien. Inhaltlich ist der Essay eindeutig anspruchsvoller als die Erörterung. Während bei der Er-

örterung der Zweck und die Intention des Aufsatzes im Vordergrund stehen, ist der Inhalt beim

Essay das wichtigste Element. Das Ausmaß der inhaltlichen Ausweitung ist beim Essay um

Einiges größer als bei der Erörterung.

6.2.2 Sprache und Argumentation

Bei der Sprachbetrachtung der Erörterung ist auffällig, dass sehr viele rhetorische Fragen als

auch Fragen, die anschließend beantwortet werden, im Text zu finden sind. Diese machen den

Text beim Lesen spannend und interessant. Die Verfasserin greift auch immer wieder auf For-

mulierungen zurück, die eher aus der mündlichen Kommunikation stammen und beispielsweise

kein Verb enthalten („Fragen über Fragen.“), was auf den Leser sehr ansprechend wirken kann.

Die Schreiberin der Erörterung „spielt“ sozusagen mit der Sprache. Es findet sich keine einfa-

che Folge von Haupt- und Nebensetzen, sondern eine bunte Mischung unterschiedlichster Satz-

arten und Formulierungen.

Die Argumentationsfolge in diesem Aufsatz entspricht den Kriterien einer dialektischen Erör-

terung. Es werden alternierend Pro- und Kontraargumente angeführt. Die bereits erwähnten

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häufig vorkommenden Fragen nehmen den Argumenten dabei jedoch einen Teil ihrer Kraft, da

diese dadurch selbstredend immer wieder „in Frage gestellt“ werden. Am Ende der Erörterung

plädiert die Verfasserin für eine Veranstaltung zum Thema Glück und gibt die Gründe dafür

noch einmal an. Die Argumente sind klar und strukturiert, weisen in ihrer Verwendung jedoch

keine übertrieben starke Überzeugungskraft auf.

Die Sprachverwendung im Essay wirkt, wie auch in der Erörterung, sehr durchdacht und an-

sprechend. Im Vergleich zur Erörterung werden hier viele Termini verwendet, die nicht unbe-

dingt in der Alltagssprache vorkommen. Wie in der Erörterung finden sich auch im Essay un-

terschiedlichste Satzkonstrukte und Formulierungen, die den Text sehr abwechslungsreich ge-

stalten. Die Argumentation im Aufsatz folgt durchgehend dem gleichen Schema: Argumente

werden aufgestellt und mögliche Gegenargumente entkräftet. Hier wird im Gegensatz zur Er-

örterung also keine Pro- und Kontraargumentation angeführt. Der Argumentationsverlauf lässt

eine Richtung erkennen, die von den schwächeren zu den stärkeren Argumenten führt. Dieses

aufsteigende Prinzip in der Argumentation wirkt überzeugend und leitet den Leser des Textes

zu den Hauptargumenten des Verfassers. Die Intention und die Position des Essay-Schreibers

ist klar erkenntlich und wird im Hauptteil des Textes durch die Argumente bestärkt. Die allge-

meinen Beurteilungskriterien für Essays304 treffen auf den hier analysierten Essay zu. Die Po-

sitionen werden präzise dargestellt, die Begründung der These erfolgt auf eigenständige Art

und Weise und die sprachliche Formulierung ist klar und wohlstrukturiert.

In sprachlicher Hinsicht kann zwischen den hier analysierten Texten kaum ein Unterschied

festgestellt werden. Beide Aufsätze verwenden komplexe Sätze und Formulierungen sowie

sprachliche Zusätze, wie Phrasen aus der mündlichen Kommunikation oder rhetorische Fragen,

die den Text lebendig und authentisch wirken lassen. Es kann angemerkt werden, dass die

sprachliche Komponente im Deutschunterricht üblicherweise einen wichtigeren Aspekt ein-

nimmt, als im Philosophieunterricht. Eventuell sind die geringen sprachlichen Unterschiede der

hier analysierten Texte auf das Niveau des Essays, der als Siegertext der Philosophieolympiade

eine gewisse Qualität vermuten lässt, zurückzuführen.

Die Argumentationsstrukturen sind in beiden Texten vorhanden, aber unterschiedlich ausgear-

beitet. Während die Argumente in der Erörterung gegenübergestellt werden, ist im Essay ein

linearer Verlauf von den schwächeren zu den stärkeren Argumenten zu erkennen.

304 Vgl. Seite 87.

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Auf inhaltlicher Ebene ergibt sich eine Unterscheidung dahingehend, dass die inhaltliche Her-

ausforderung beim Essay größer und komplexer ist, als bei der Erörterung, wo der Inhalt sozu-

sagen Mittel zum Zweck ist.

In diesem Abschnitt wurden eine Analyse und ein Vergleich beispielhafter Texte für die beiden

Textsorten Erörterung und Essay durchgeführt. Es hat sich gezeigt, dass kaum Unterschiede zu

erkennen sind. Die Differenz zwischen den Textsorten, die sich durch eine Schwerpunktsetzung

dennoch ergeben kann, wird in Bezug auf die Benotung solcher Texte in der Schule im folgen-

den Kapitel betrachtet.

6.3 In der Schule konkret: Unterschiede und Bewertung

Die vorausgehende Analyse hat gezeigt, dass eine Unterscheidung der beiden Textsorten Essay

und Erörterung grundsätzlich durch eine Schwerpunktsetzung möglich ist. Während im

Deutschunterricht die Sprache und die Sprachverwendung im Mittelpunkt stehen, ist im Philo-

sophieunterricht meist der Inhalt des Aufsatzes zentral. Diese Unterscheidung wirkt sehr grob

und verallgemeinernd, was in der Schule in dieser Form nicht möglich ist und auch nicht sein

sollte. Es handelt sich eben um Schwerpunkte, die sehr weit zu verstehen sind und über deren

Berechtigung durchaus diskutiert werden kann. Besonders in der schulischen Notengebung

könnten diese Schwerpunkte jedoch eine Rolle spielen. In diesem Abschnitt soll deswegen auf

die Frage eingegangen werden, inwiefern eine Unterscheidung in der Bewertung der beiden

Textsorten Erörterung und Essay vorgenommen werden kann. Die Fragen, die dabei im Mittel-

punkt stehen, sind:

Kann bei einer Erörterung Sprachrichtigkeit und Sprachverwendung über dem Inhalt stehen?

Und im Kehrschluss:

Kann bei einem Essay der Inhalt über passender und komplexer Sprachverwendung und

Sprachrichtigkeit stehen?

Zur Beantwortung dieser Fragen wird folgendes Gedankenexperiment aufgestellt:

Ich unterrichte an einer AHS in Graz Deutsch und den Freigegenstand Philosophie. In Deutsch

wiederhole ich mit meinen Schülerinnen und Schülern der achten Klasse die Textsorte Erörte-

rung als Vorbereitung für die bevorstehende Schularbeit und die Matura. Im Philosophiekurs

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bereite ich meine Schülerinnen der achten Klasse auf die Teilnahme an der Philosophieolym-

piade vor. Alle sollen einen Essay verfassen, der dann möglicherweise für den Wettbewerb ein-

gereicht wird. Nun ergeben sich zwei Fälle:

1. Schüler A schreibt bei der Deutsch-Schularbeit eine Erörterung mit sehr komplexer Sprach-

verwendung, einwandfreier Grammatik und Rechtschreibung, logischen Argumenten und

einem überzeugenden Argumentationsverlauf. Die Position, die er mit der Erörterung ver-

tritt und für die er am Ende plädiert, ist: „Gewalttätige Übergriffe von Männern auf Frauen

sind im Grunde in Ordnung und in manchen Fällen sogar angebracht.“

2. Die Schülerinnen des Philosophiekurses sollen einen Essay für die Philosophieolympiade

verfassen, der auch in die Benotung des Kurses mit einfließt. Schülerin B schreibt einen

Essay über Frauenrechte, bringt eigene Ideen ein, weitet das Thema inhaltlich ausgespro-

chen gut und selbständig aus und tritt für die Rechte der Frauen mit sehr starker Überzeu-

gung ein. Der Argumentationsverlauf ist gut durchdacht und überzeugend. Rechtschreibung

und Grammatik sind sehr fehlerhaft, die Satzkonstruktionen sind langweilig, eintönig und

einfach.

Wie können und sollen diese beiden Fälle benotet und bewertet werden? Müssen beziehungs-

weise können sie überhaupt miteinander verglichen werden?

Dieses Gedankenexperiment veranschaulicht ein Dilemma, dem sich vermutlich viele Lehre-

rinnen und Lehrer ausgesetzt fühlen: Die Frage nach einer fairen, rechtmäßigen Benotung. In

diesem speziellen Fall spielt die Tatsache mit, dass eine Lehrperson zwei Unterrichtsfächer

unterrichtet, die – das wurde in dieser Arbeit bereits gezeigt – zwei sehr ähnliche Textsorten

behandeln. Es sollten aber beide Unterrichtsgegenstände voneinander getrennt beurteilt und be-

wertet werden. Die Fächer weisen auch im Lehrplan keine großen Überschneidungen auf. Dass

ein Vergleich innerhalb einer Klasse und innerhalb eines Unterrichtsgegenstandes stattfindet,

ist hingegen durchaus legitim und auch üblich.

Im Falle des Gedankenexperiments sollten die Aufsätze des Schülers A und der Schülerin B

also unabhängig voneinander bewertet und beurteilt werden.

Schüler A hat eine Erörterung geschrieben, die in sprachlicher Hinsicht einwandfrei ist und

vermutlich von jedem Deutschlehrer mit einem Sehr Gut benotet werden würde. Das Problem

an der Erörterung ist jedoch das, wofür Schüler A argumentiert und wo er sich positioniert.

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Möglicherweise könnte bei der Beurteilung das Schadensprinzip herangezogen werden, dem-

nach jede Form der Gewalt prinzipiell verurteilt wird. Hat eine Lehrperson diesen inhaltlichen

Aspekt im Blick, ist fraglich, ob diese Erörterung, die formal und sprachlich perfekt, aber in-

haltlich durchaus zu kritisieren ist, die Bestnote verdient.

Ebenso hat Schülerin B einen Essay verfasst, der auf inhaltlicher Ebene fortgeschritten, überlegt

und ausgesprochen gut ist und der auf den Inhalt bezogen ein Sehr Gut verdient hätte. Hier ist

das Problem die Umsetzung des Inhalts – also Sprachverwendung, Grammatik und Recht-

schreibung. Auch in diesem Fall ist durchaus zu hinterfragen, ob ein Lehrkörper diesen Essay

mit der Bestnote bewerten sollte.

Eine Möglichkeit, diese Problematiken gerecht zu lösen – denn das sollte das Primat der beur-

teilenden Lehrperson sein – wäre der Austausch mit Lehrerkollegen. So können andere Mei-

nungen und Ansichten eingeholt werden. Weiters kann sich die Lehrperson auf das besinnen,

was die Schule nach innen als auch nach außen hin vertritt: Einstellungen und Werte. Unter

Berücksichtigung solcher Werte dürfte Schüler A kein Sehr Gut erhalten, Schülerin B würde

das aber durchaus. Andererseits hat die Schule einen Bildungsauftrag und dazu zählen auch

Grammatik- und Rechtschreibkenntnisse. Wird dies stärker berücksichtigt, würde Schüler A

ein Sehr Gut bekommen, Schülerin B nicht. Das Dilemma bleibt jedoch immer dasselbe.

Die Schwerpunkte des Deutschunterrichts auf die Sprache und des Philosophieunterrichts auf

philosophische Themen und Inhalte übertragen sich mit Sicherheit auch auf die Textsorten Er-

örterung und Essay und auf die Benotung dieser. Eine einheitliche Lösung für die angesproche-

nen Probleme wird es wohl kaum geben. Dafür spielen im Schulalltag viel zu viele andere Fak-

toren, wie kulturelle Sozialisation, Begabung, familiäre Zusammensetzung und Lernerfolge

mit. Grundsätzlich muss eine Lehrperson jedoch Klarheit darüber gewinnen, ob sie es persön-

lich vertreten kann, wenn ein Schüler offiziell in Aufsätzen für Positionen eintritt, die entgegen

aller demokratischen und menschrechtlichen Auffassungen und Werte sind. Kann sie das nicht

und wirkt sich das auf die Benotung aus, muss sie natürlich auch entsprechende Argumente für

die schlechtere Note aufweisen können. Umgekehrt müsste sie auch rechtfertigen können, wenn

sie einen sprachlich fehlerhaften Essay mit der Bestnote beurteilt. Zusammengefasst liegen

diese Entscheidungen im subjektiven Empfinden der Lehrperson unter Berücksichtigung aller

Gegebenheiten und sind schlussendlich eine Frage der richtigen Argumentation.

Diese Kapitel zeigt die Überlegungen auf, die aus der Erarbeitung dieser Arbeit hervorgegangen

sind. Das Denken und die Sprache sind nicht voneinander zu trennen, was die Unterscheidung

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der Textsorten Erörterung und Essay auf ein Minimum – nämlich einzig und allein Schwer-

punkte – beschränkt. In der Schule können genau diese Schwerpunkte eine Rolle spielen. Das

Gedankenexperiment hat aber gezeigt, dass es keinen einheitlichen richtigen Weg für den Um-

gang mit dieser Problematik geben kann, sondern individuelle und situationsabhängige Ent-

scheidungen von der Lehrperson getroffen werden müssen.

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7 Fazit

In dieser Arbeit wurden die Möglichkeiten des philosophischen Argumentierens als Grundlage

und Vorbereitung für eine schriftliche Erörterung im Deutschunterricht erarbeitet und aufge-

zeigt. Die Frage, die dabei im Mittelpunkt stand, beschäftigte sich damit, inwiefern das philo-

sophische Argumentieren für das Entwickeln eigener, kritischer Gedanken und das anschlie-

ßende Verfassen einer guten Erörterung didaktisch sinnvoll eingesetzt werden kann.

Zu den wichtigsten Bildungszielen der Schule gehören die Persönlichkeitsentwicklung und die

Ausbildung selbstbewusster, kritisch denkender, junger Menschen mit Demokratieverständnis.

In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass der gesamte dargestellte Prozess – vom philosophischen

Argumentieren bis zur Erörterung – zur Erreichung dieser Bildungsziele beiträgt. In der Ausei-

nandersetzung mit anderen Personen kann kritisch gedacht und es können eigene, begründete

Positionen entwickelt werden. Das sokratische Gespräch bietet die Möglichkeit, bei der Be-

handlung eines Problems mit neuen Ideen, Anregungen und Sichtweisen in Berührung zu kom-

men, die zur Herausbildung einer eigenen Position und eines demokratischen Konsenses führen

sollen. Die Fähigkeit des philosophischen Argumentierens stellt das Handwerkszeug im Um-

gang mit den eigenen Positionen und deren Begründungen dar, die sowohl mündlich als auch

schriftlich – als Erörterung oder Essay – ausgeformt werden können.

In dieser Arbeit wurde gezeigt, wie Argumente aufgebaut sind, was Argumentationsschemata

sind, welche logischen Fehlschlüsse es gibt und wie Kritik an Argumenten geübt werden kann.

Hierzu wurde ein Arbeitsblatt für die Schule entworfen, das die häufigsten logischen Fehl-

schlüsse bei Argumentationen behandelt. Die Darstellung philosophischer Argumentations-

muster, die als Werkzeuge für überzeugende Argumente dienen und den Umgang mit diesen

erleichtern sollen, hat einen zentralen Platz in dieser Arbeit eingenommen.

Im Sinne eines konstruktivistischen Unterrichts – also eines Unterrichts, in dem die Lernenden

zum selbständigen Konstruieren ihres Wissens angeregt werden – wurde die Methode des sok-

ratischen Gesprächs vorgestellt. Für ein leichteres Verständnis der heutigen Form dieser Me-

thode wurden deren historische Entwicklung beleuchtet und anschließend die Gesprächsphasen

und -regeln eingeführt.

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Bei der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Einsatzes des sokratischen Gesprächs

im Unterricht hat sich herausgestellt, dass die Umsetzung dieser Methode aufgrund der schuli-

schen Rahmenbedingungen durchaus problematisch, aber auf jeden Fall dennoch empfehlens-

wert und sinnvoll ist.

Diese Arbeit hat auch gezeigt, dass die Förderung der Entwicklung eigenständiger und kriti-

scher Gedanken in der Schule einen wichtigen Teil der unterrichtlichen Praxis darstellen sollte.

Diese kritischen Gedanken sind die Voraussetzung für das Argumentieren und das philosophi-

sche Gespräch und gleichzeitig das Ergebnis dieser Methoden – hier konnte ein zirkulärer Zu-

sammenhang festgestellt werden. Die Förderung des eigenständigen, kritischen Denkens in der

Schule stellt nicht nur eine Bildungsaufgabe dar, sondern dient auch der Persönlichkeitsent-

wicklung der Schülerinnen und Schüler.

Das Zusammenspiel des gesamten Prozesses – philosophisches Argumentieren, sokratisches

Gespräch, Entwickeln eigenständiger, kritischer Gedanken – dient als ideale Grundlage für die

argumentative Textsorte Erörterung im Deutschunterricht. Bei der Auseinandersetzung mit die-

ser Textsorte ist die Überschneidung mit der philosophischen Textsorte Essay klar und deutlich

hervorgetreten. Beide Textsorten – Erörterung und Essay – wurden deshalb erarbeitet und vor-

gestellt. Es hat sich gezeigt, dass die Textsorten nur minimale Differenzen aufweisen, weshalb

der in dieser Arbeit erläuterte Prozess nicht nur für die Erörterung, sondern auch für den Essay

von Bedeutung ist. Die dazu angestellten Überlegungen wurden im letzten Kapitel dargestellt

und durch einen Vergleich zweier Beispieltexte untermauert.

Eine praktische Umsetzung der theoretischen Auslegungen konnte im Zuge dieser Arbeit auf-

grund mangelnder Möglichkeiten nicht erprobt werden. Die Durchführung in der Praxis bedarf

viel Vorbereitung von der unterrichtenden Lehrperson und größere zeitliche Ressourcen im

Unterricht, damit die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, die aufgezeigten Kom-

petenzen auch zu erlangen. Die Umsetzung des gesamten erarbeiteten Prozesses könnte sich

demnach im praktischen Schulalltag als schwierig herausstellen. Jedoch ist auch die Durchfüh-

rung von den in dieser Arbeit beschriebenen Teilaspekten im Unterricht möglich und empfeh-

lenswert. Der Einsatz entsprechend motivierender und unterstützender Lehrmaterialien ist so-

wohl bei der Durchführung des gesamten Prozesses als auch bei einzelnen Methoden von gro-

ßer Bedeutung. Die Erforschung und Umsetzung entsprechender Lehrmaterialien könnte in ei-

ner an diese Ausarbeitungen anknüpfenden Arbeit erforscht werden.

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Die vorliegende Arbeit führt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz der hier vorgestellten philoso-

phischen Methoden – insbesondere das Argumentieren – didaktisch sinnvoll als Grundlage und

Vorbereitung für eine schriftliche Erörterung im Deutschunterricht genutzt werden können. Au-

ßerdem hat sich gezeigt, dass mit der Fähigkeit des philosophischen Argumentierens viele wei-

tere Kompetenzen erlangt werden können, die für das gesamte Leben der Schülerinnen und

Schüler von Bedeutung sind. Weiters konnte die Ähnlichkeit der Textsorten Erörterung und

Essay festgestellt werden, weshalb die Methoden auch als Vorbereitung für den Essay Anwen-

dung finden können. Alle Methoden erfordert einen konstruktivistischen Zugang zum Unter-

richt, der die Schülerinnen und Schüler in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördert.

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8 Literaturverzeichnis

8.1 Bücher und Zeitschriften

Aristoteles (2014): Metaphysik. Übersetzt von Hermann Bonitz. Burghard, König (Hrsg.) 7.

Auflage. Hamburg: Rowohlt.

Beisbart, Ortwin (2005): Überlegungen zu einer veränderten Didaktik argumentativen und er-

örternden Schreibens. In: Literatur und Sprache – didaktisch. Bamberger Schriftenreihe zur

Deutschdidaktik. 2. Auflage, H. 16, S. 7-42.

Benjamin, Walter (1989): Nachträge. In: Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Hermann

(Hrsg.): Gesammelte Schriften. Bd. VII/2. Wissenschaft 937. Frankfurt: Suhrkamp.

Birnbacher, Dieter (2002): Philosophie als sokratische Praxis: Sokrates, Nelson, Wittgenstein.

In: Ders.; Krohn, Dieter (Hrsg.): Das sokratische Gespräch. Stuttgart: Reclam, S. 140-165.

Birnbacher, Dieter (2010): Schule des Selbstdenkens – das Sokratische Gespräch. In: Meyer,

Kisten (Hrsg.): Texte zur Didaktik der Philosophie. Stuttgart: Reclam, S. 237-254.

Blesenkemper, Klaus (2016): Das sokratische Gespräch. In: Brüning, Barbara (Hrsg.): Ethik

Philosophie Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen, S.

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Brüning, Barbara (2003): Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien. Wein-

heim, Basel, Berlin: Beltz.

Descartes, René (2011): Meditationen. Schmidt, Andreas (Hrsg.): Meditationen. Dreisprachige

Parallelausgabe Latein – Französisch – Deutsch. 2. Auflage. Sammlung Philosophie, Bd.

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Draken, Klaus (2016): Sokratisches Gespräch und Lehrgespräch. In: Pfister, Jonas; Zimmer-

mann, Peter (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts. Bern: Haupt, S. 293-

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[04.02.2019] Stichwort: Äquivokation.

Duden Online: URL: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/Regress [04.02.2019] Stich-

wort: Regress.

Duden Online: URL: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/Petitio%20principii

[04.02.2019] Stichwort: Petitio principii.

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Ruth-Cohn-Institute für tci international: URL: https://www.ruth-cohn-institute.org/tzi-kon-

zept.html [04.02.2019]

Toman, Elisabeth; Willmitzer Karin (2017): Kompetent aufsteigen… Deutsch. Aufsatztraining

für die Matura. AHS, BHS. Wien: G&G. URL: http://downloads.ggverlag.at/gug/978-3-

7074-2101-9_leseprobe.pdf [04.02.2019]

8.3 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Argumentationsschema nach Toulmin [Geiß 2017: 210.] ................................. 19

Abbildung 2: Der Aufbau eines Arguments [Tetens 2014: 33] ............................................... 22

Abbildung 3: Fehlschlüsse [Tetens 2014: 42.] ......................................................................... 23

Abbildung 4: Transzendentale Argumente [Tetens 2014: 74.] ................................................ 31

Abbildung 5: Lügnersatz [Tetens 2014: 81.]............................................................................ 32

Abbildung 6: Selbstandwendungsargumente [Tetens 2014: 94.] ............................................. 33

Abbildung 7: Kontrafaktische Überlegungen [Tetens 2014: 100.] .......................................... 35

Abbildung 8: Gedankenexperiment [Tetens 2014: 122.] ......................................................... 36

Abbildung 9: Praktischer Syllogismus [Tetens 2014: 138.]..................................................... 38

Abbildung 10: Rationalitätsprinzip für Wissen [Tetens 2014: 129.] ....................................... 39

Abbildung 11: Beurteilung von Handlungen durch Subsumtion unter einer Norm [Tetens

2014: 151.] ....................................................................................................................... 42

Abbildung 12: Moralische Beurteilung einer Handlung anhand ihrer Folgen [Tetens 2014:

154.] .................................................................................................................................. 42

Abbildung 13: Analogieargumente [Tetens 2014: 177.] .......................................................... 43

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111

Abbildung 14: Moralprinzip der Diskursethik [Tetens 2014: 164.] ......................................... 46

Abbildung 15: Hilfsregeln TZI [Ruth-Cohn-Institute] ............................................................. 63

Abbildung 16: Gesprächsregel nach Pfeifer [Pfeifer 2009: 134.] ............................................ 67

Abbildung 17: Grundaufbau eines Essays nach Pfister [Pfister 2015: 247 f.] ......................... 86

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9 Anhang

Seite 113 Erörterung aus „Kompetent aufsteigen…Deutsch.“

Seite 115 Essay: Gewinnertext der Philolympics 2017

Seite 119 Arbeitsblatt zu logischen Fehlschlüssen (mit Lösungshorizont)

Seite 125 Sachregister

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Erörterung

Toman, Elisabeth; Willmitzer Karin (2017): Kompetent aufsteigen… Deutsch. Aufsatztraining

für die Matura. AHS, BHS. Wien: G&G. URL: http://downloads.ggverlag.at/gug/978-3-7074-

2101-9_leseprobe.pdf

Eine Familie, die zusammenhält, ein Beruf, der erfüllt, Freunde, die loyal sind und gute Ge-

spräche garantieren – Aspekte, die bei Umfragen nach Gesundheit und Zufriedenheit immer

wieder ganz oben rangieren. Denn diese Werte sind es, die wir in unserer westlichen Wohl-

standsgesellschaft dem Begriff Glück zuordnen.

Auch die Wochenzeitschrift „Lebensgenuss“ geht in ihrem Artikel „Glück – die Basis mentaler

Stärke“, der am 30. 05. 2017 von Markus Bauer publiziert wurde, der These nach, dass man

Glück durch Dritte vermitteln kann. Diese These lässt der Autor durch Experten aus unter-

schiedlichen Ressorts bestätigen.

So gehe es – laut Fabian Glöckner, Professor der Erich-Kästner-Schule in Bad Gleichen – da-

rum, den Jugendlichen zu zeigen, wie sie es schafften, ein gelungenes Leben zu führen, selbst

wenn einmal etwas nicht gelingen würde. Diesem Ansatz ist unbedingt zuzustimmen, weil die

Kinder und Jugendlichen von heute erfahren müssen, dass all die Verlockungen der Konsum-

gesellschaft – wie sehr es die Werbung auch vorzugaukeln versucht – nicht zu einem dauerhaft

zufriedenen Leben führen. Manch einer mag sicherlich die Nachhaltigkeit solcher Vorträge in

Frage stellen. Er mag damit argumentieren, dass Glück eine persönliche Erfahrung sei und sich

viele Schüler nichts über Glück von einer Lehrkraft sagen lassen würden. Doch wer so denkt,

braucht die Vorträge ja nicht zu besuchen.

Die Psychologin Petra Reichner geht noch einen Schritt weiter und verweist darauf, dass solche

Vorträge auch den Lehrkräften helfen würden. Sie tritt dafür ein, diesen in eigenen Seminaren

das Thema Glück näherzubringen, weil die dort zu erlernenden Übungen helfen würden Burn-

outs vorzubeugen. Das wäre natürlich ein toller Erfolg, denn viel zu oft liest man von Pädago-

gen, die von der zermürbenden Arbeit ausgebrannt sind. Und wenn es einen Weg gibt, der daran

vorbeiführt, ist er zu unterstützen. Schließlich steigt in der Folge mit glücklichen Lehrkräften

und Schülerinnen und Schülern auch die Qualität des Unterrichts.

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Natürlich kann man das „Glückskonzept“ hinterfragen. Kann man Selbstbewusstsein – und da-

rum geht es ja letztlich – theoretisch erlernen. Trägt allein schon Freundlichkeit dazu bei, die

Palette an Herausforderungen zu bewältigen, denen wir uns alle tagtäglich stellen müssen. Kann

man Angst, Wut und Aggression durch Training vermeiden und so ein erfülltes Leben errei-

chen?

Eine gelungene Lebensführung ist wohl auf ganz verschiedenen Wegen zu erreichen. Das ei-

gene Wohlbefinden ist das Ziel. Was gehört dazu? Ganz sicher Optimismus, Freude an der

eigenen Leistung und soziale Kompetenz. Kann ein Einzelkämpfer, der keinen Sinn für die

Gemeinschaft entwickelt und seine Freude – im schlechtesten Fall – mit niemandem teilen

kann, wirklich glücklich sein? Ob man Glück allerdings „erlernen“ kann, ist meiner Meinung

nach fraglich. Es soll Schulen geben, die Glück im Rahmen eines Schulfachs anbieten. Ob das

wirklich von Erfolg gekrönt sein kann? Wie soll da ein Lernziel formuliert sein? Worauf soll

eine Notengebung basieren? Fragen über Fragen.

Ein Konzept, das Glück möglichst breit in vielen Disziplinen implementiert, sollte durchaus

angedacht werden. Das ist das eine. Das andere wäre, Glück – und damit verbunden auch Mo-

mente des Unglücks – im Rahmen eines Projekts anzusprechen. So konzentriert man sich für

einige Stunden auf das Thema, das durchaus Aspekte wie ein positives Selbstbild durch Krea-

tivität und Produktivität entwickeln und der Frage nachgehen müsste, inwiefern man zum Wohl

der Schulgemeinde beitragen kann.

Das Fazit vor dem Hintergrund der oben angeführten Argumente kann meiner Meinung nach

nur folgendermaßen lauten: Jugendliche, die sich dessen bewusst sind, was sie wirklich glück-

lich macht, sind entspannter und motivierter im Unterricht, aber auch im sozialen Umgang, weil

sie gelernt haben, ihren eigenen Problemen entgegenzuwirken und sie selbstständig zu lösen.

Die Folge ist ganz sicher ein deutlich angenehmeres Klassenklima und eine verbesserte Lern-

haltung. Das Projekt sollte unbedingt durchgezogen und Expertinnen und Experten sollten ein-

geladen werden. Denn die eindeutig überwiegenden positiven Aspekte werden auch an unserer

Schule eine entspannende und motivierende Wirkung haben. Und wer wünscht sich nicht, sei-

nen eigenen ultimativen Weg zur Glücksfindung zu kennen?

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Essay

Berndl-Forster, Robert (2017): Dem Frieden wurden die Flügel gestutzt. Essay. Siegertext der

österreichischen Philolympics 2017. URL: https://www.philolympics.at/assets/wettbe-

werb/2017/essays/robert-2017.pdf

Philolympics 2017, Wien, Don Bosco Haus - Bundeswettbewerb

Robert Berndl-Forstner

Thema 3

Eine neue Ethik könnte bedeuten, „dass man sich diesem primären Ausgesetztsein vor dem

Anderen nicht verschließt und erlittenes Leid nicht in Rechtfertigung für neue Gewalt umwan-

delt (...) sondern statt dessen eben die Unerträglichkeit des Ausgesetztseins als Zeichen einer

geteilten Verletzlichkeit, einer gemeinsamen Körperlichkeit, eines geteilten Risikos begreift.

(...) Vielleicht liegt unsere Chance, menschlich zu werden, gerade in der Art und Weise, wie

wir auf Verletzungen reagieren.“

Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt, 2003, S. 100 f.

Dem Frieden wurden die Flügel gestutzt

Sie schwingt sich von ihrem Ansitz aus auf, fühlt den Wind durch ihre Flügel gleiten. Unter ihr

wird

die Welt immer kleiner; wo sie anfangs noch Menschen erkennen konnte, da sieht sie nur noch

kleine Punkte. Ein Teppich aus grünen Wiesen und braunem Brachland breitet sich unter ihr

aus. Sie – falls Sie sich das schon gefragt haben – ist eine Taube. Ein Symbol des Friedens –

oder zumindest haben wir Menschen sie dazu gemacht.

Eine groteske Erscheinung in einer derartigen Welt. Vor allem wenn man bedenkt, wie groß

der Hang der Menschen zu Gewalthandlungen ist, und dass sie erfahrenes Leid als Vorwand

verwenden, um selbst Leid zuzufügen. Dieser Grundsatz ist weitestgehend gesellschaftlich an-

erkannt und wird im Allgemeinen als „Vergeltung“ oder gar „Verteidigung“ bezeichnet.

Vor mehreren Jahrzehnten waren die Vorfahren der Taube dabei, als lautstark verkündet wurde:

„Seit heute Morgen wird zurückgeschossen“. Zurück-geschossen. Wie wir heute wissen, eine

dreiste Lüge. Es war nicht Polen, das das Feuer eröffnete, sondern Deutschland selbst. Der

Angriff war also nicht gerechtfertigt. Ge-recht-fertigt. Wieder so ein eigenartiges Wort, das bei

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genauerer Betrachtung völlig falsch verwendet wird. Recht war daran gar nichts, und wäre auch

– entgegen der Meinung vieler – nichts gewesen, wäre das Feuer Deutschlands tatsächlich nur

eine Reaktion gewesen. Denkt man nämlich genauer über die Aussagenach, so wird einem be-

wusst, dass die Lüge an sich nur einen Teil der Absurdität des Satzes ausmacht. Vielmehr irri-

tiert es mich, wie selbstverständlich erlittene Gewalt als legitimer Vorwand für das Erwidern

derselben akzeptiert wird.

Sicherlich, es ist menschlich, zurückzuschießen. Es ist menschlich, einen Groll auf seine Peini-

ger zu hegen. Denn Menschen neigen zu Fehlern. Aber ist es nicht der Inbegriff einer höheren,

der wahren Menschlichkeit, die Fehleraffinität unseres Gegenübers, und somit deren Hang zu

Gewalt, anzuerkennen und – daraus resultierend – zu verzeihen? Und zweifelsohne, es erfordert

viel Mut, sich im Krieg seinem Gegner zu stellen und sein Land bis in den Tod zu verteidigen.

Doch wie viel mehr Stärke beweist es doch, wenn man auf eine Reaktion verzichtet, sich nicht

verteidigt und somit der Gewalt an sich widersagt? Durch das Erwidern von zugefügtem Leid

macht der Mensch nichts anderes, als sich auf die Ebene des Aggressors herabzulassen. Aus

früheren Opfern werden schlagartig Täter.

Doch zurück in die Gegenwart. Die Taube fliegt durch verschiedene Staaten. Sie hört auf poli-

tischen Veranstaltungen zu, sie lauscht verschiedensten Gesprächen. Und überall erkennt sie

dieselben Tendenzen wie ihre Vorfahren damals in Deutschland. Und je länger sie die sich ihr

bietende Szenerie beobachtet, desto mehr wird ihr bewusst: So etwas wie verletzten Stolz, Ver-

geltung oder gewaltsame Verteidigung gibt es nicht. Dabei handelt es sich um bloße menschli-

che Konstrukte, die etwas viel Roheres und gesellschaftlich nicht Anerkanntes moralisieren

sollen: die Ausübung von Macht. Dieser Begriff ist gesellschaftlich nicht unbedingt positiv be-

setzt, weswegen man die direkte Begründung einer Tat durch ihn möglichst vermeidet.

Ein Krieg jedoch besteht zu einem überaus großen Anteil aus solchen „Rache“-Akten. Es geht

zumeist ein diplomatischer Fauxpas voran, den eine der beiden Parteien als Legitimierungs-

grund für einen kriegerischen Angriff wertet. Dies nimmt die andere Partei als Vorwand, ge-

walttätig zu reagieren, woraufhin wiederum eine Gegenreaktion des ursprünglichen Aggressors

folgt. Beide Parteien verweisen also bei jedem ihrer Gewaltakte auf einen diesem vorangegan-

genen. Geht man allerdings von dem – zu meinem Bedauern sehr unwahrscheinlichen – Fall

aus, dass eine Seite auf ein kriegerisches Erwidern von ihnen zugefügtem Leid verzichtet, so

fällt der Rechtfertigungsgrund für die andere Seite weg. Der „Teufelskreis“ wäre durchbrochen,

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die Kette von Dominos könnte nicht fallen. Ein Szenario, das, so denke ich, bei weitem nicht

alle kriegerischen Konflikte lösen könnte. Aber ein Anfang wäre gemacht.

Um wirklich nachhaltig Frieden zu erlangen, ist es jedoch von zentraler Bedeutung, dass wir

Menschen erkennen, dass wir alle Bewohner des einen selben Planeten Erde, dass Staatsgren-

zen nichts als willkürlich gezogene Linien sind. Dass es kein „wir“ und „die“, sondern nur

ersteres gibt. Und dass wir eine Vielzahl von gemeinsamen Eigenschaften, darunter die von

Judith Butler erwähnte „gemeinsame Verletzlichkeit, eine gemeinsame Körperlichkeit“ besit-

zen. Und wenn wir schon nicht um unseres Gegenübers Willen kein Leid zufügen, so doch

wenigstens um unser selbst Willen – wenn wir uns in die Lage des Opfers versetzen. Denn

gerade das macht den Menschen aus: Seine Fähigkeit zu reflektieren und sich an die Stelle eines

anderen zu stellen. Erst durch den Gebrauch dieser Fähigkeit kann wahres Mitgefühl entstehen.

Dieser Ansatz mag egoistisch wirken, doch ist er unumgänglich, da dem Menschen kein anderer

Referenzrahmen zugrunde liegt, als er selbst. Er kann also eine Situation nur von seiner eigenen

Warte aus betrachten.

Doch anstatt dies zu erkennen und umzusetzen, distanzieren uns wir Menschen immer weiter

voneinander. Mittlerweile teilen wir selbst einen Staat in noch weitere kleinere Untergruppen,

nur damit die Gruppierung, der wir uns selbst zuordnen, einen Machtgewinn daraus ziehen

kann. Unter all der Kritik an der Europäischen Union und den verschiedensten Separationsbe-

wegungen scheinen wir den ursprünglichen europäischen Gedanken aus dem Blick zu verlieren.

Dass in der Vergangenheit Ein-, und nicht Zwietracht zu wahrem Wohlstand und Glück in einer

Gesellschaft geführt hat, vergessen wir viel zu leicht. Der Friede hat es wahrlich nicht leicht

mit uns.

Plötzlich fühlt die Taube einen unerwartet heftigen Stich in ihrem linken Flügel. Ehe sie weiß,

wie um sie geschieht, gelangt sie ins Trudeln, rast unkontrolliert auf den Boden zu. Schmerz-

erfüllt versucht der Vogel zu begreifen, was soeben geschehen war. Bei einem Blick auf ihre

Schwinge erkennt er, dass eine Kugel diese durchbohrt hat. Der Boden kommt immer näher,

bis die Taube schließlich aufprallt. Sie kommt noch mit dem Schrecken davon, da sie ver-

gleichsweise sanft im Dickicht landet. Nach einer Weile findet man sie, sie wird in einen Käfig

gesteckt und zur Sicherheit flugunfähig gemacht. Sie hat überlebt – doch zu welchem Preis?

Wir haben dem Frieden die Flügel gestutzt.

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Und ähnlich wie der Taube ist es schon vor 2000 Jahren einem Menschen ergangen, der sagte,

wenn man auf die linke Wange geschlagen wird, so solle man auch die rechte hinhalten. Man

hat ihn

gekreuzigt. Ähnlich wie ihr ist es einem Menschen ergangen, der die Gleichberechtigung und

den Frieden zwischen Schwarzen und Weißen forderte. Man hat ihn erschossen. Ähnlich wie

ihr ist es im

Zweiten Weltkrieg einem Geschwisterpaar ergangen, das durch Flugblätter das Gewaltregime

kritisierte. Man hat die beiden zum Tode verurteilt. Und doch verbleibt ihre Botschaft bis heute:

Nicht Gewalt ist die Antwort auf Gewalt, sondern Friede und Verzeihung. Wie Judith Butler

sagte: „Vielleicht liegt unsere Chance, menschlich zu werden, gerade in der Art und Weise, wie

wir auf Verletzungen reagieren“. Ein Satz, der mich überauspositiv stimmt: Er spricht uns eine

Chance auf Menschlichkeit zu. Wir müssen es nur wagen, zu vergeben. Trauen wir uns.

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Diese Zeichnung zeigt einen klassischen Fehlschluss. Du fragst dich, welcher Fehlschluss

das ist? Das und alles Weitere, was du zu logischen Fehlschlüssen Wichtiges wissen musst,

erfährst du auf diesem Arbeitsblatt. Viel Spaß!!

WAS SIND LOGISCHE FEHLSCHLÜSSE?

Ein Fehlschluss ist ein Argumentationsfehler. Beim Erstellen von Argumenten können Feh-

ler passieren, die sich auf das Argument und vor allem die Schlüssigkeit des Arguments

auswirken. Solche Fehlschlüsse kommen häufig vor und es gibt die unterschiedlichsten

Arten von Fehlschlüssen. Wichtig beim Umgang mit Argumenten ist es, ein Gespür dafür

zu entwickeln, wann du es mit Fehlschlüssen zu tun hast.

Man unterscheidet formale und informale Fehlschlüsse:

FORMALER FEHLSCHLUSS: Das Argument ist aufgrund seiner Form ungültig. Das bedeutet,

dass die Ableitung des Arguments nicht stimmt, also eine ungültige Ableitung für das

Argument verwendet wird.

INFORMALER FEHLSCHLUSS: Das Argument ist aufgrund seines Inhaltes ungültig. Das be-

deutet, dass beispielsweise eine der Prämissen sachlich falsch ist, auch wenn die Form des

Arguments stimmt.

Abbildung 18:Ritter: https://bookofbadarguments.com/de/

LOGISCHE FEHLSCHLÜSSE

BEIM ARGUMENTIEREN

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HÄUFIGE FEHLSCHLÜSSE

Hier sind nun einige logische Fehlschlüsse aufgelistet, die immer wieder vorkommen. Die

Liste erhebt aber keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit.

Naturargument

Definition: Wenn etwas natürlich ist, dann muss es stimmen.

Beispiel: Menschen sind von Natur aus egoistisch, deshalb stecken sie in einer Kon-

kurrenz aller gegen alle.

Die große Natur wird als untrügliche Autorität dargestellt: Was von Natur aus ist, muss

stimmen. Wichtig ist zu erkennen, dass es sich bei diesen Beispielen um streitbare An-

sichten und nicht um logische Argumente handelt.

Äquivokation

Definition: Ein gleichlautendes Wort wird in verschiedenen Bedeutungen verwendet.

Beispiel: 1. Der durchschnittliche Haushalt in Österreich besteht aus 2,2 Personen.

2. Dies ist ein durchschnittlicher Haushalt.

3. Dieser Haushalt besteht aus 2,2 Personen.

Der Begriff „durchschnittlich“ wird in diesem Argument in zwei verschiedenen Bedeutun-

gen verwendet. In der ersten Prämisse ist eine Zahl gemeint, die man erhält, wenn die

Anzahl aller Menschen durch die Anzahl aller Haushalte geteilt wird. In der zweiten Prä-

misse ist damit ein Haushalt gemeint, der sich nicht besonders von anderen unterschei-

det.

Petitio principii

Definition: Die Konklusion wird implizit oder explizit bereits als Prämisse vorausgesetzt.

Beispiel: 1. Unser ganzes Wissen ist unsicher.

2. Die Ergebnisse der Forschung sind unsicher.

Die Konklusion, die eigentlich zu beweisen wäre, wird mit der Prämisse bereits vorausge-

setzt.

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Autoritätsargument

Definition: Die Wahrheit einer Aussage wird damit begründet, dass die Person, die die

Aussage behauptet, eine Autorität auf dem Gebiet ist.

Beispiel: Pyrotechnik in Fußballstadien ist mit Recht verboten, sonst hätte der ÖFB

das nicht beschlossen.

In der Wissenschaft und auch bei Argumentationen sind Verweise auf Experten üblich.

Solange es allerdings keinen Bezug zur inhaltlichen Qualität der vermeintlichen Experten

gibt, bleiben diese Verweise Fehlschlüsse.

Ignoranzargument

Definition: Eine Aussage wird als wahr angenommen, weil das Gegenteil nicht bewie-

sen wurde.

Beispiel: Keiner konnte bis jetzt beweisen, dass Feen nicht existieren. Deshalb exis-

tieren sie.

In der Wissenschaft kann die Abwesenheit von Beweisen nichts belegen. Denn das würde

fast jede Behauptung möglich machen.

Zirkularität

Definition: Die Konklusion ist bereits in einer der Prämissen enthalten.

Beispiel: Es steht geschrieben, dass jede Schrift von Gott gegeben sei. Deshalb ist

die Bibel Gottes Wort.

Die Konklusion (die Bibel ist Gottes Wort) ist bereits in der Prämisse (alle Schrift sei von

Gott gegeben) enthalten. Auf diesem Weg kann nichts bewiesen werden, auch wenn man

natürlich daran glauben kann.

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UND JETZT BIST DU AN DER REIHE…

Einzelkinder sind egoistisch, weil sie ohne Geschwister aufgewachsen sind und nicht ge-

lernt haben zu teilen. Wirft man einen Blick auf Familien mit Einzelkindern sieht man,

dass diese Eltern die Wünsche ihres Kindes oft uneingeschränkt erfüllen.

Weist dieses Argument Schwachstellen auf? Wenn ja, welche? Diskutiert zu zweit und

schreibt die Ergebnisse hier auf!

Welcher logische Fehlschluss versteckt

sich hier?

Abbildung 19: Eichhörnchen: https://bookofbadarguments.com/de/

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rerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/bs/6bg/6bg1/4_argumentieren/doc/themenein-

heit_argumen-

tieren_und_diskutieren.pdf#%5B%7B%22num%22%3A64%2C%22gen%22%3A0%7D

%2C%7B%22name%22%3A%22XYZ%22%7D%2C68%2C771%2C0%5D [

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Pfister, Jonas (2015): Werkzeuge des Philosophierens. Stuttgart: Reclam. 37-43.

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gische-fehlschluesse/[ 04.02.2019]

Abbildungsverzeichnis

ABBILDUNG 1:RITTER: HTTPS://BOOKOFBADARGUMENTS.COM/DE/ .................................................. 113 ABBILDUNG 2: EICHHÖRNCHEN: HTTPS://BOOKOFBADARGUMENTS.COM/DE/.................................... 113

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Lösungshorizont

Einzelkinder sind egoistisch, weil sie ohne Geschwister aufgewachsen sind und nicht ge-

lernt haben zu teilen. Wirft man einen Blick auf Familien mit Einzelkindern sieht man,

dass diese Eltern die Wünsche ihres Kindes oft uneingeschränkt erfüllen.

Weist dieses Argument Schwachstellen auf? Wenn ja, welche? Diskutiert zu zweit und

schreibt die Ergebnisse hier auf!

Die These „Einzelkinder sind egoistisch“ ist eine Verallgemeinerung und beruht auf einem Vor-

urteil. Der erste Teil des Arguments ist eine inhaltliche Wiederholung des Begriffs „Einzelkin-

der“ („weil sie ohne Geschwister aufgewachsen sind“). Der zweite Teil des Arguments („und

nicht gelernt haben zu teilen“) ist nicht zwangsläufig wahr – Teilen lernt man nicht nur unter

Geschwistern. Die Stützung des Arguments („Eltern erfüllen die Wünsche ihres Kindes oft un-

eingeschränkt“) steht in keinem engen Bezug zum Argument, dass Einzelkinder nicht gelernt

haben zu teilen. Die Stützung begründet das Argument nicht.

Welcher logische Fehlschluss versteckt

sich hier?

Ignoranzargument

Weil die Eichhörnchen noch nie etwas an-

deres als rundes Essen bzw. Essen mit

Kanten gesehen haben, schließen sie dar-

aus, dass es nur solches Essen gibt. Das

Gegenteil wurde für sie noch nicht bewie-

sen.

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Sachregister

Analogieargumente 42, 43, 44, 110

Äquivokation 26, 109, 120

Argumentationsmuster 7, 9, 16, 17, 24,

29, 30, 31, 33, 35, 36, 37, 41, 42, 43, 44,

48, 103

Argumentieren mit Rationalitätsannahmen

37

Aufklärung 13, 74

Aussageformen 21

backing 19

Begriffs-Bildung 12

Daten 14, 18, 27, 75

Deskriptive Argumente 22

Dialog-Handeln 11

Diskursethik 45, 46, 64, 69, 70, 111

Extensionale Kontexte 38

Fehlschlüsse 16, 17, 23, 24, 28, 103, 110,

119, 120, 121, 123

Gedankenexperimente 35, 36, 37, 108

Infiniter Regress 27

Intensionale Kontexte 38

Konklusion 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26,

39, 43, 120, 121

Kontrafaktische Annahmen 34

Kreatives und spielerisches Denken 72

Kritisches Denken als

Persönlichkeitsmerkmal 75

Leere Behauptung 28

Lügnerparadoxie 32

Maieutik 50

Metagespräch 55, 57, 61

Modale Argumente 34

Mögliche Welt 34, 35

Nachdenken 15, 53, 55, 63, 67, 69, 72, 79,

90, 95

Nachvollziehendes Denken 72

Normativen Aussagen im engeren Sinne

22

Normativen Aussagen im weiteren Sinne

22

Petitio principii 26, 109, 120

Prämissen 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26,

27, 39, 119, 121

Prämissenerweiterung 16, 17, 23, 24

Problemlösendes Denken 72

Rationales Denken 74

Reflektierendes Denken 72

Regression 53

Rekonstruktion 16, 17, 23, 24

Schlussfolgerungen 8, 12, 16, 18, 93, 94

Selbstanwendungsargumente 32, 33

Selbstgesteuertes Denken 74

Sich-Wundern 13

Skeptisches Denken 74

Staunen 14, 15

Transzendentale Argumente 30, 31, 110

Verlorener Gegensatz 27

Verstehensargumente 18

warrant 18

Weiterdenken 15

Zweifeln 14, 15, 79