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Aristoteles Organon (Organon)

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Aristoteles

Organon

(Organon)

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Die Kategorien

(Katêgoriai)

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Erstes Kapitel

Gleichnamig heissen Dinge, welche nur denNamen gemein haben, bei denen aber der dem Namenzugehörige Begriff ihres Wesens ein verschiedenerist. So heisst z.B. sowohl der wirkliche Mensch alsdas gemalte Geschöpf ein Geschöpf; beiden ist nurder Name gemeinsam, aber der dazu gehörige Begriffihres Wesens ist verschieden; denn wenn man ange-ben wollte, was das »Geschöpf sein« bei jedem vonbeiden sei, so würde man für jedes einen besonderenBegriff angeben. Einnamig heissen Dinge, bei denensowohl der Name gemeinsam, als auch der dazu gehö-rige Begriff ihres Wesens derselbe ist. So heisst derMensch und der Stier ein Geschöpf, denn sowohl derMensch wie der Stier werden mit dem gemeinsamenNamen »Geschöpf« bezeichnet und ebenso ist der Be-griff ihres Wesens derselbe, und wenn man den Be-griff von jedem derselben angeben und sagen wollte,was »Geschöpf sein« bei jedem von beiden sei, sowürde man denselben Begriff angeben. Beinamigheissen Dinge, welche nach etwas anderen benanntwerden und sich nur in der Beugung dessen Namensunterscheiden; so hat der Sprachgelehrte seinenNamen von der Sprachlehre und der Tapfere von derTapferkeit.

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Zweites Kapitel

Die Worte werden entweder in Verbindung oderohne Verbindung gesprochen; ersteres z.B. bei denWorten: der Mensch läuft; der Mensch siegt; ohneVerbindung z.B. bei den Worten: Mensch; Stier;läuft; siegt.

Von dem Seienden wird manches von einem Unter-liegenden ausgesagt, aber ohne dass es in einem Un-terliegenden ist; so wird z.B. der Mensch von einemunterliegenden einzelnen Menschen ausgesagt, aber erist in keinem unterliegenden Menschen. Anderes istdagegen in einem Unterliegenden, aber wird von kei-nem Unterliegenden ausgesagt; (mit: »in einem Unter-liegenden« meine ich, was ohne Theil eines Dinges zusein nicht getrennt von dem bestehen kann, in dem esist;) so ist diese einzelne Sprachkenntniss in der un-terliegenden Seele, aber sie wird von keinem Unterlie-genden ausgesagt und ebenso ist dieses einzelne»Weiss« zwar in diesem unterliegendem Körper(denn jede Farbe ist in einem Körper) aber es wirdvon keinem Unterliegenden ausgesagt. Manches dage-gen wird von einem Unterliegenden ausgesagt und istauch in einem Unterliegenden; so ist die Wissenschaftin der unterliegenden Seele und wird von der unterlie-genden Sprachkenntniss ausgesagt; Manches ist

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endlich weder in einem Unterliegenden, noch wird esvon einem Unterliegenden ausgesagt, z.B. »dieserMensch« und »dieses Pferd«; denn keines von diesenist in einem Unterliegenden und keines wird voneinem Unterliegenden ausgesagt. Ueberhaupt wird dasUntheilbare und der Zahl nach Eine von keinem Un-terliegenden ausgesagt, indess kann Manches davonin einem Unterliegenden sein; denn »diese einzelneSprachkenntniss« gehört zu den in einem Unterliegen-den Seienden, aber sie wird von keinem Unterliegen-den ausgesagt.

Drittes Kapitel

Wenn Etwas von einem Andern als von seinem Un-terliegenden ausgesagt wird, so wird Alles, was vondem Ausgesagten gilt, auch von seinem Unterliegen-den gelten. So wird »Mensch« von einem bestimmtenMenschen ausgesagt und »Geschöpf« wird vom Men-schen ausgesagt; folglich wird Geschöpf auch vondiesem bestimmten Menschen ausgesagt werden kön-nen; denn dieser bestimmte Mensch ist ein Menschund auch ein Geschöpf.

Bei verschiedenartigen und einander nicht unterge-ordneten Gegenständen sind auch deren Unterschiededer Art nach verschieden; so z.B. die Unterschiede bei

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den Thieren und bei der Wissenschaft; denn die Un-terschiede bei den Thieren sind das »auf dem Landelebende« und das »Zweifüssige« und das »Flügel ha-bende« und das »im Wasser lebende«; die Wissen-schaft dagegen hat keinen dieser Unterschiede; dennkeine Wissenschaft unterscheidet sich von der anderndurch das zweifüssig sein. Dagegen steht bei den ein-ander untergeordneten Gattungen dem nichts entge-gen, dass die Unterschiede bei ihnen dieselben sind;denn die oberen Gattungen werden, von den unterenausgesagt und folglich werden alle Unterschiede, diebei dem Ausgesagten bestehen, auch bei dem Unter-liegenden vorhanden sein.

Viertes Kapitel

Von den ohne Verbindung gesprochenen Wortenbezeichnen die einzelnen entweder ein Ding, oder eineGrösse, oder eine Beschaffenheit oder eine Bezie-hung, oder einen Ort, oder eine Zeit, oder einen Zu-stand, oder ein Haben, oder ein Thun, oder ein Lei-den.

Ein Ding ist, um es im Umriss anzudeuten, z.B. derMensch, das Pferd; eine Grösse ist z.B. das Zweiel-lige, oder Dreiellige; eine Beschaffenheit ist z.B.weiss, sprachgelehrt; eine Beziehung ist z.B. doppelt,

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halb, grösser; ein Ort ist z.B. im Lykeion, auf demMarkte; eine Zeit ist z.B. Gestern, vorm Jahre; einZustand z.B. das Liegen, Sitzen; ein Haben z.B.Schuhe anhaben, bewaffnet sein; ein Thun z.B. erschneidet, er brennt; ein Leiden z.B. er wird geschnit-ten, er wird gebrannt.

Jede der hier genannten Kategorien enthält an sichweder eine Bejahung noch eine Verneinung; aberdurch die Verbindung derselben mit einander entstehteine Bejahung oder Verneinung. Jede Bejahung oderVerneinung ist entweder wahr oder falsch; aberWorte, die ohne Verbindung gesagt werden, sindweder wahr noch falsch; z.B. Mensch, weiss, läuft,siegt.

Fünftes Kapitel

Von den Dingen sind die hauptsächlichsten, unddie welche auch zuerst und am meisten als Dinge gel-ten, diejenigen, welche weder von einem Unterliegen-den ausgesagt werden, noch in einem Unterliegendensind; wie z.B. dieser Mensch, oder dieses Pferd.Dinge zweiter Ordnung heissen die, in deren Artendie sogenannten Dinge erster Ordnung enthalten sindund zwar heissen so sowohl diese Arten wie die Gat-tungen dieser Arten. So ist z.B. dieser Mensch im

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Menschen, als seiner Art enthalten und die Gattung zudieser Art ist das Geschöpf. Diese Arten und Gattun-gen heissen also Dinge zweiter Ordnung, wie z.B. derMensch und das Geschöpf. Aus dem Gesagten erhellt,dass das von einem Unterliegenden Ausgesagte so-wohl nach seinem Namen, wie nach seinem Begriffevon dem Unterliegenden ausgesagt werden kann; sowird z.B. Mensch von einem unterliegenden bestimm-ten Menschen ausgesagt und er wird auch mit diesemNamen bezeichnet; denn man wird das Wort Menschvon dem einzelnen Menschen aussagen. Ebenso wirdder Begriff des Menschen von demselben ausgesagt;denn der einzelne bestimmte Mensch ist sowohl einMensch wie ein Geschöpf; so dass mithin sowohl derName wie der Begriff von dem Unterliegenden ausge-sagt werden kann. Dagegen wird in der Regel wederder Begriff noch der Name des in einem Unterliegen-den Enthaltenen von dessen Unterliegenden ausge-sagt; in einzelnen Fällen kann es wohl mit demNamen geschehen; aber mit dem Begriff ist es nichtmöglich. So wird z.B. das in einem unterliegendenKörper enthaltene Weiss auch von ihm ausgesagt(denn man nennt den Körper weiss), aber der Begriffdes »Weiss« kann niemals von einem Körper ausge-sagt werden. Alles Uebrige wird entweder von denDingen erster Ordnung als unterliegenden ausgesagt,oder ist in ihnen, als unterliegenden enthalten. Dies

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erhellt, wenn man das Einzelne zur Hand nimmt; sosagt man: Geschöpf von dem Menschen aus und eskann deshalb Geschöpf auch von diesem bestimmtenMenschen ausgesagt werden; denn wenn es von kei-nem bestimmten Menschen ausgesagt werden könnte,so könnte es auch von dem Menschen überhaupt nichtausgesagt werden. Ebenso ist die Farbe in dem Kör-per überhaupt; also auch in einem bestimmten Kör-per. Denn wenn dieses nicht wäre, so könnte sie auchnicht in dem Körper überhaupt sein. Sonach wirdalles Andere entweder von den Dingen erster Ordnungals dem Unterliegenden ausgesagt, oder es ist inihnen, als dem Unterliegenden, enthalten. Wenn alsokeine Dinge erster Ordnung wären, so könnte auchvon den Andern keines sein.

Von den Dingen zweiter Ordnung ist die Art mehrein Ding, als die Gattung, da sie den Dingen ersterOrdnung näher steht. Denn wenn Jemand angebenwollte, was ein Ding erster Ordnung sei, so wird er esdeutlicher und bezeichnender thun, wenn er dessenArt, als wenn er dessen Gattung angiebt. So wird,wenn man einen bestimmten Menschen bezeichnenwill, man es deutlicher thun, wenn man sagt, er sei einMensch, als wenn man ihn blos als ein Geschöpf be-zeichnet; denn jene Bezeichnung trifft mehr das, wasdas Eigenthümliche dieses einzelnen Menschen ist,während die Gattung mehreren Dingen gemeinsam ist.

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Ebenso wird man diesen einzelnen Baum deutlicherbezeichnen, wenn man von ihm angiebt, er sei einBaum, als, er sei eine Pflanze. Auch gelten die Dingeerster Ordnung deshalb am meisten als Dinge, weilsie allem Anderen unterliegen und weil alles Andereentweder von ihnen ausgesagt wird, oder in ihnen ist.

So wie sich hierin die Dinge erster Ordnung zuallem Anderen verhalten, so verhalten sich auch dieArten zu ihren Gattungen; denn die Art liegt der Gat-tung unter und die Gattungen werden wohl von denArten ausgesagt, aber nicht umgekehrt die Arten vonden Gattungen. Deshalb ist auch die Art mehr einDing, wie die Gattung; aber von den einzelnen Arten,so weit sie nicht Gattungen sind, ist keine mehr einDing, wie die andere; denn man wird diesen einzelnenMenschen, wenn man ihn einen Menschen nennt,nicht eigenthümlicher bezeichnen, als wenn man die-ses einzelne Pferd ein Pferd nennt. Ebenso ist keinesvon den Dingen erster Ordnung mehr als das andereein Ding; denn dieser Mensch ist nicht mehr als dieserStier ein Ding.

Ganz passend werden nach den Dingen erster Ord-nung von allen übrigen Kategorien nur die Arten undGattungen Dinge zweiter Ordnung genannt; denn sieallein von den Kategorien offenbaren das, was dieDinge erster Ordnung sind; denn wenn Jemand vondiesem bestimmten Menschen angeben will, was er

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ist, so wird er es in treffenderer Weise thun, wenn erdessen Art als dessen Gattung angiebt und er wird esdeutlicher thun, wenn er ihn als einen Menschen, alswenn er ihn als ein Geschöpf bezeichnet. Wenn er ihnaber nach einer andern Kategorie bezeichnet, so wirder nicht gehörig angegeben haben, was dieser Menschist; z.B. wenn er von ihm angäbe, dass er weiss sei,oder dass er laufe, oder sonst etwas der Art. Deshalbwerden mit Recht nur diese allein von den andern Ka-tegorien Dinge genannt. Ferner werden die Dinge er-ster Ordnung hauptsächlich deshalb Dinge genannt,weil sie das Unterliegende für alle andern Kategorienabgeben, und so wie sich die Dinge erster Ordnung zuallem Anderen verhalten, so verhalten sich die Artenund Gattungen zu allen übrigen Kategorien; denn allediese übrigen werden von ihnen ausgesagt. Dennwenn man diesen bestimmten Menschen einen sprach-gelehrten nennt, so wird man auch den Menschen unddas Geschöpf sprachgelehrt nennen. Gleiches gilt fürdie andern Kategorien.

Allen Dingen ist es gemeinsam, dass sie in keinemUnterliegenden enthalten sind; denn Dinge ersterOrdnung sind weder in einem Unterliegenden, nochwerden sie von einem Unterliegenden ausgesagt; undvon den Dingen zweiter Ordnung ist auch in folgender Weise klar, dass sie in keinem Unterliegendensind; nehmlich »Mensch« wird zwar von diesem

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bestimmten unterliegenden Menschen ausgesagt, aber»Mensch« ist in keinem Unterliegenden; denn»Mensch« ist nicht in diesem bestimmten Menschen.Ebenso kann man wohl »Geschöpf« von einem be-stimmten unterliegenden Menschen aussagen, aber esist nicht in diesem bestimmten Menschen. Auch kannvon dem in einem Unterliegenden Seienden wohl ineinzelnen Fällen der Name vom Unterliegenden selbstausgesagt werden, aber der Begriff kann es nicht. Da-gegen wird in den Dingen zweiter Ordnung sowohlder Begriff wie der Name vom Unterliegenden ausge-sagt; denn man wird von einem bestimmten Menschenden Begriff des Menschen aussagen, und ebenso denBegriff des Geschöpfes.

Somit dürften die Dinge nicht zu dem gehören, wasin einem Unterliegenden ist. Indess ist dies keine Ei-genthümlichkeit der Dinge, vielmehr sind auch dieArt-Unterschiede nicht in einem Unterliegenden; dennman sagt wohl das: auf dem Lande lebende, und: daszweifüssige von dem unterliegenden Menschen aus;allein in dem unterliegenden Menschen ist es nicht;denn in dem Menschen ist weder das zweifüssige,noch das: auf dem Lande lebende. Auch der Begriffdes Art-Unterschieds wird von demjenigen Unterlie-genden ausgesagt, von welchem der Name desArt-Unterschieds ausgesagt wird, wenn z.B. das aufdem Lande lebende vom Menschen ausgesagt wird, so

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kann auch der Begriff des auf dem Lande lebend vomMenschen ausgesagt werden; denn der Mensch ist aufdem Lande lebend. Man lasse sich übrigens nichtdurch das Bedenken beunruhigen dass doch die Theileder Dinge in ihnen als dem Ganzen enthalten seien,weil man etwa dann genöthigt sein könnte, die Theilenicht für Dinge zu erklären; denn der Ausdruck: »ineinem Unterliegenden sein« ist nicht in dem Sinne,wie die Theile einer Sache in ihr enthalten sind, ge-meint.

Den Dingen zweiter Ordnung und denArt-Unterschieden ist es gemeinsam, dass alles ein-nahmig nach ihnen benannt wird; denn alle von ihnenentlehnte Namen werden entweder von den Einzeldin-gen oder von den Arten ausgesagt. Denn von den Din-gen erster Ordnung werden keine zu Aussagen be-nutzt; diese Dinge werden von keinem Unterliegendenausgesagt; allein von den Dingen zweiter Ordnungwird der Name der Art von den Einzeldingen ausge-sagt und der Name der Gattung sowohl von den Artenwie von den Einzeldingen. Ebenso werden die Namender Art-Unterschiede von den Arten und von den Ein-zeldingen ausgesagt. Aber auch den Begriff der Artenund Gattungen nehmen die Dinge erster Ordnung an,und die Art nimmt den Begriff ihrer Gattung an, daalles, was von der Aussage gilt, auch dem Unterlie-genden beigelegt werden kann. Ebenso nehmen die

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Arten und die Einzeldinge den Begriff ihrerArt-Unterschiede an. Einnahmig sind nehmlich nachdem Frühern die Gegenstände, welche sowohl denNamen wie den Begriff gemeinsam haben und mithinwerden alle Dinge zweiter Ordnung und alleArt-Unterschiede einnahmig benannt.

Jedes Ding scheint ein bestimmtes Dieses zu be-zeichnen. Bei den Dingen erster Ordnung ist es un-zweifelhaft und wahr, dass sie ein bestimmtes Diesesbezeichnen; denn das damit Benannte ist ein Einzel-nes und der Zahl nach Eines. Bei den Dingen zweiterOrdnung scheint zwar ebenso nach der Form der Aus-sage ein bestimmtes Dieses gemeint zu sein, wennman »Mensch« oder »Geschöpf« sagt; indess ist diesnicht richtig, vielmehr wird damit mehr eine Beschaf-fenheit bezeichnet; denn das Unterliegende ist nicht,wie bei den Dingen erster Ordnung, ein Einzelnes,sondern Mensch und Geschöpf wird von vielen Ein-zelnen ausgesagt. Indess bezeichnen die Dinge zwei-ter Ordnung nicht lediglich eine Beschaffenheit, wiez.B. das Weisse thut; denn dies bezeichnet nichts An-deres als eine Beschaffenheit; dagegen bestimmt dieArt und die Gattung die Beschaffenheit eines Dingesin Bezug auf sein Wesen; denn es bezeichnet das sobeschaffene Wesen eines Dinges. Die Abgrenzungdurch die Gattung umfasst mehr Einzelne, als diedurch die Art; denn wenn man »Geschöpf« sagt, so

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begreift man mehreres, als wenn man »Mensch« sagt.Den Dingen kommt ferner zu, dass sie kein Gegen-

theil haben; denn was sollte wohl das Gegentheil voneinem Dinge erster Ordnung sein, wie z.B. von die-sem Menschen oder diesem Geschöpfe? Hier giebt eskein Gegentheil. Aber auch für den Menschen über-haupt, und für das Geschöpf überhaupt besteht keinGegentheil. Indess ist dies keine Eigenthümlichkeitder Dinge, sondern es findet sich auch bei vielem An-deren, z.B. bei den Grössen; denn vom Zweielligenund Dreielligen giebt es kein Gegentheil; auch nichtvon der Zehn, noch von andern Solchen, wenn mannicht etwa das Viele für das Gegentheil von dem We-nigen oder das Grosse für das Gegentheil vom Klei-nen erklären will. Dagegen ist von den bestimmtenGrössen keines ein Gegentheil des andern.

Die Dinge scheinen auch weder das Mehr noch dasWeniger anzunehmen. Ich will damit nicht sagen,dass kein Ding mehr oder weniger Ding sein könne,als ein anderes (denn das dies der Fall ist, habe ichbereits gesagt), sondern nur, dass kein Ding als das,was es ist, mehr oder weniger es sein kann. Wennz.B. dieses Ding ein Mensch ist, so wird er nicht ein-mal mehr, das anderemal weniger Mensch sein undzwar weder in Bezug auf sich, noch in Bezug aufeinen andern Menschen; denn kein Mensch ist mehrMensch als der andere, etwa so wie ein Weisses mehr

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oder weniger weiss, als ein anderes genannt wird,oder ein Schönes mehr oder weniger schön als ein an-deres. Bei Dergleichen gilt dies selbst für einen unddenselben Gegenstand, so sagt man von einem weis-sen Körper, dass er jetzt weisser sei als früher unddass ein warmer Körper mehr oder weniger warm sei,als früher. Aber die Dinge werden nicht mehr oderweniger Dinge genannt; denn weder ein Menschheisst jetzt mehr Mensch als früher, noch sonst einanderes Ding. Deshalb dürften die Dinge kein Mehroder Weniger annehmen.

Die hauptsächlichste Eigenthümlichkeit bei denDingen dürfte aber die sein, dass dasselbe eine Dingdas Entgegengesetzte annehmen kann, während manvon den andern Kategorien, so weit sie keine Dingesind, wohl nicht wird behaupten können, dass sie alseine einzelne das Entgegengesetzte annehmen können.So wird z.B. eine einzelne bestimmte Farbe nichtweiss und schwarz, und eine einzelne bestimmteHandlung nicht schlecht und gut werden können, wasdann auch von allen anderen Kategorien gilt, so weitsie nicht Dinge bezeichnen. Dagegen kann das Dingals bestimmtes und einzelnes das Entgegengesetzteannehmen; so wird z.B. dieser selbige einzelneMensch das eine mal weiss und das andere malschwarz, das eine mal warm und das andere mal kalt,und ebenso schlecht und gut. Bei den andern

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Kategorien zeigt sich Solches nicht, es müsste dennJemand einwerfen und behaupten wollen, dass dieRede und die Meinung das Entgegengesetzte anneh-men könnten. Derselbe Ausspruch kann allerdings an-scheinend wahr und falsch sein; wenn z.B. der Aus-spruch, dass Jemand sitze, wahr ist, so wird dieserselbe Ausspruch, wenn er aufsteht, falsch sein. Eben-so verhält es sich mit der Meinung; denn wenn Je-mand richtig meint, dass ein Anderer sitze, so wird,wenn dieser aufgestanden ist, jener, wenn er derselbenMeinung bleibt, falsch meinen. Wenn man indess diesauch zugeben wollte, so besteht hier doch in der Artund Weise ein Unterschied. Bei den Dingen verändernsich nämlich diese selbst und nehmen dadurch dasEntgegengesetzte an; denn das Ding ist aus einemwarmen ein kaltes geworden (denn es selbst hat sichverändert) und aus einem weissen ist es ein schwarzesund aus einem schlechten ein gutes Ding geworden.Ebenso kann jedes andere Ding, indem es sich verän-dert, das Entgegengesetzte annehmen. Dagegen bleibtdie Rede und die Meinung selbst durchaus und injeder Beziehung unverändert dieselbe, und nur da-durch, dass sich die Sache ändert, entsteht in Bezugauf sie das Entgegengesetzte. So bleibt die Rede, dassJemand sitze, unverändert dieselbe und nur weil dieSache sich ändert, gilt sie einmal als wahr und das an-deremal als falsch. Ebenso verhält es sich mit der

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Meinung. Sonach ist es nur den Dingen in dem Sinneeigenthümlich, dass sie vermöge ihrer eigenen Verän-derung das Entgegengesetzte annehmen können.Wenn man aber behauptete, dass auch in diesemSinne die Rede und die Meinung das Entgegenge-setzte annehmen könnten, so würde dies nicht richtigsein; denn die Rede und die Meinung sind nicht des-halb des Entgegengesetzten fähig, weil sie selbstetwas annehmen, sondern dadurch, dass bei einemAndern der Zustand sich geändert hat. Weil also dieSache sich so oder nicht so verhält, deshalb gilt dieRede für wahr oder falsch, aber nicht deshalb, weil sieselbst das Entgegengesetzte annehmen kann. Ueber-haupt ändert sich die Rede und die Meinung selbst inkeinem Stücke, und deshalb kann sie, da kein andererZustand in ihr eingetreten ist, auch nicht das Entge-gengesetzte annehmen. Aber die Dinge gelten, weilsie selbst das Entgegengesetzte annehmen, deshalbdes Entgegengesetzten fähig; denn sie nehmen dieKrankheit und die Gesundheit, die Weisse und dieSchwärze an und indem sie jedes von diesen anneh-men, sind sie dadurch fähig, das Entgegengesetzte an-zunehmen. Sonach dürfte es eine Eigenthümlichkeitder Dinge sein, dass die einzelnen und bestimmtenDinge dadurch, dass sie selbst sich verändern, dasEntgegengesetzte annehmen können.

So viel mag über die Dinge, als Kategorie, gesagt

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sein.

Sechstes Kapitel

Das Grosse zerfällt in das Getrennte und in dasStetige; ferner in ein solches, was aus Theilen besteht,die eine bestimmte Lage gegen einander haben, und inein solches, wo dies nicht der Fall ist. Ein getrenntesGrosse ist z.B. die Zahl und das Wort; ein stetigesGrosse ist z.B. die Linie, die Fläche, der Körper; undneben diesen auch die Zeit und der Raum. Denn dieTheile einer Zahl haben keine gemeinsame Grenze,wo die Theile derselben sich berührten; so berührtz.B., wenn die Fünfen die Theile der Zehn sind, dieeine Fünfe in keiner gemeinsamen Grenze die andereFünfe, sondern beide sind getrennt; auch die Drei unddie Sieben berühren sich in keiner gemeinsamenGrenze. Ueberhaupt wird man bei keiner Zahl einegemeinsame Grenze ihrer Theile auffinden; vielmehrbleiben diese immer getrennt, so dass deshalb dieZahl zu den getrennten Grössen gehört. Ebenso ge-hört auch das Wort zu den getrennten Grössen. DasWort ist offenbar eine Grösse, denn es wird nach kur-zen und langen Sylben abgemessen, ich meine näm-lich das gesprochene Wort. Seine Theile berührensich in keiner gemeinsamen Grenze; denn es besteht

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keine solche, an welcher die Sylben sich berührten,vielmehr ist jede für sich getrennt. Dagegen ist dieLinie eine stetige Grösse, denn man kann eine ge-meinsame Grenze angeben, wo ihre Theile sich berüh-ren, nämlich den Punkt; und bei der Fläche die Linie,denn die Theile der Fläche berühren sich in einer ge-meinsamen Grenze. Ebenso kann man bei den Kör-pern eine gemeinsame Grenze angeben, nämlich dieLinie oder die Fläche, wo die Theile eines Körperseinander berühren. Auch die Zeit und der Raum sindvon dieser Beschaffenheit; die gegenwärtige Zeit be-rührt die vergangene und die kommende. Ebenso ge-hört der Raum zu den stetigen Grössen, denn dieTheile eines Körpers haben einen Raum inne und be-rühren sich in einer gemeinsamen Grenze, und des-halb berühren sich auch die Theile des Raumes, wel-che die einzelnen Theile des Körpers einnehmen, inderselben gemeinsamen Grenze, in welcher die Theiledes Körpers sich berühren. Deshalb dürfte auch derRaum zu den stetigen Grössen gehören, denn seineTheile berühren sich in einer gemeinsamen Grenze.

Ferner ist manches Grosse aus Theilen zusammen-gesetzt, welche eine bestimmte Lage gegen einanderhaben, und anderes Grosse aus Theilen, welche keinesolche bestimmte Lage haben. So haben die Theileeiner Linie eine bestimme Lage gegen einander; dennjeder Theil derselben hat seine bestimmte Lage, und

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man kann bei jedem Theile unterscheiden und ange-ben, wo er in der Fläche liegt und mit welchen vonden übrigen Theilen er sich berührt. Ebenso habenauch die Theile einer Fläche eine bestimmte Lagegegen einander; denn man kann von jedem in gleicherWeise angeben, an welchem er liegt und welche Thei-le einander berühren. Das Gleiche gilt von den Thei-len eines Körpers und des Raumes. Dagegen wird beieiner Zahl Niemand zeigen können, wie die Theilederselben eine Lage zu einander haben oder wo sieliegen, und welche Theile einander berühren; undeben so wenig wird dies bei der Zeit geschehen kön-nen, da kein Theil derselben beharrt; was aber nichtbeharrt, wie könnte das wohl eine bestimmte Lagehaben? vielmehr könnte man eher sagen, dass die Zeiteine gewisse Ordnung habe, weil ein Theil der Zeitder frühere, der andere der spätere ist. Eben dasselbegilt für die Zahl, weil die Eins eher gezählt wird alsdie Zwei und die Zwei eher als die Drei; so dass dieZahl zwar eine gewisse Ordnung hat, aber manschwerlich eine Lage bei ihr annehmen kann. Auchmit dem Worte verhält es sich so, da kein Theil des-selben beharrt, sondern er wird ausgesprochen unddas Ausgesprochene kann man nicht mehr erfassen;folglich haben auch die Theile des Wortes keine Lagezu einander, weil kein Theil bleibend ist. Sonach be-steht manches Grosse aus Theilen, welche eine Lage

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gegen einander haben, anderes aus Theilen, die keineLage haben.

Diese genannten Gegenstände allein gelten eigent-lich als Grössen; alles andere gilt nur nebenbei alsgross; denn nur in Hinsicht auf jene Grössen nenntman es gross; so nennt man z.B. das Weisse gross,weil es eine grosse Fläche bedeckt, und eine Hand-lung oder eine Bewegung gross, wenn sie eine langeZeit umfasst; denn keines von diesen Dingen wird anund für sich gross genannt. Wenn z.B. Jemand voneiner Handlung angeben will, wie gross sie ist, so be-stimmt er sie der Zeit nach, indem er sie einjährigoder sonst wie nennt; und wenn Jemand angeben will,wie gross ein Weisses sei, so bestimmt er es nach derOberfläche; so gross wie diese ist wird er auch sagen,dass das Weisse sei. Sonach gelten nur die oben ge-nannten Gegenstände als eigentlich und an sich gross;alles andere dagegen gilt nicht an sich selbst alsgross, sondern wenn es geschieht, nur nebensächlichso.

Ferner hat das Grosse kein Gegentheil; denn beiden bestimmten Grössen steht offenbar denselbennichts als Gegentheil gegenüber; z.B. dem Zweielli-gen oder Dreielligen oder der Fläche oder einem ande-ren solchen; ihnen steht nichts als Gegentheil gegen-über; man müsste denn behaupten wollen, das Vielesei das Gegentheil von dem Wenigen und das Grosse

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das Gegentheil von dem Kleinen. Allein diese gehö-ren nicht zu dem Grossen, sondern mehr zu den Be-ziehungen, denn kein Gegenstand wird an sich grossoder klein genannt, sondern nur in Vergleich zu einemanderen; so nennt man z.B. einen Berg klein und einHirsenkorn gross, weil dieses grösser und jener klei-ner ist, als die andern seiner Gattung. Deshalb ist hiereine Beziehung auf Anderes vorhanden, da, wennEtwas an sich gross oder klein genannt würde, derBerg wohl nicht klein und das Hirsenkorn nicht grossgenannt werden würde. Ebenso sagt man, dass ineinem Dorfe viel Menschen seien und in Athen we-nige, obgleich deren hier vielmal mehr sind all dort;und dass in einem Hause viel Menschen, und in demTheater wenige seien, obgleich diese um vieles mehrsind, als jene. Auch das Zweiellige und das Dreielligeund jedes andere solches bezeichnet ein Grosses, aberdas Grosse und Kleine bezeichnet kein Grosses, son-dern mehr eine Beziehung; denn man betrachtet es nurin Bezug auf ein anderes als gross oder klein; offen-bar gehören sie also zu den Beziehungen. Aber magman sie als Grössen annehmen oder nicht, so habensie doch kein Gegentheil; denn wie möchte man einGegentheil von Etwas angeben, was nicht an und fürsich genommen werden kann, sondern nur auf Ande-res bezogen wird? Wenn ferner das Grosse und dasKleine Gegentheile sein sollen, so folgte, dass ein und

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dasselbe Ding des Entgegengesetzten fähig wäre, unddass es sein eigenes Gegentheil wäre. Denn es kommtvor, dass dasselbe Ding zugleich gross und klein ist,denn in Bezug auf dieses ist es klein und in Bezug aufjenes andere ist ebendasselbe gross. So ergiebt sich,dass dasselbe Ding in demselben Zeitpunkte sowohlgross, wie klein ist und also gleichzeitig das Entge-gengesetzte annimmt. Allein nichts kann zugleich dasEntgegengesetzte, wie das Ding annehmen; dies kannnehmlich das Entgegengesetzte annehmen, allein esist doch nicht zu gleicher Zeit krank und gesund, undebenso ist es nicht zu gleicher Zelt weiss undschwarz; ebenso giebt es von den übrigen Kategorienkeine, die gleichzeitig das Entgegengesetzte annähme.Auch ergäbe sich, dass das Grosse und das Kleinejedes sein eigenes Gegentheil wäre. Denn wenn dasGrosse das Gegentheil des Kleinen ist, ein und dassel-be Ding aber zugleich gross und klein ist, so würde essein eigenes Gegentheil sein. Allein es ist unmöglich,dass etwas sein eigenes Gegentheil sein kann, unddemzufolge ist also das Grosse nicht das Gegentheildes Kleinen und das Viel nicht das Gegentheil desWenigen. Daher würden sie, auch wenn man sie nichtfür Beziehungen, sondern für Grössen erklären wollte,doch kein Gegentheil haben.

Am meisten scheint das Gegentheilige bei demRaume vorhanden zu sein; denn man setzt das Oben

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als das Gegentheil von dem Unten, indem man inBezug auf die mittlere Gegend etwas Unten nennt,weil die Mitte von den Enden der Welt am meistenabsteht. Auch scheint man die Definition anderer Ge-gentheile von diesem zu entnehmen, denn Gegentheilwird als das definirt, was innerhalb einer Gattung ammeisten von einander absteht.

Das Grosse scheint auch kein Mehr oder Wenigeranzunehmen, so z.B. das Zweiellige nicht; denn keinGegenstand ist mehr zweiellig, als der andere. Diesgilt auch für die Zahlen; denn die Drei ist z.B. nichtmehr Drei als die Fünfe und die Fünfe ist nicht mehrFünfe als die Drei. Auch ist kein Zeitraum mehr Zeit-raum als ein anderer; überhaupt wird das Mehr oderWeniger von keiner der erwähnten Bestimmungenausgesagt. Sonach ist das Grosse auch des Mehr oderWeniger nicht fähig.

Am Eigenthümlichsten ist es dem Grossen, dass esals gleich oder ungleich ausgesagt wird. Jede von dengenannten Grossen wird gleich oder ungleich genannt;so wird ein Körper gleich oder ungleich genannt undein Zeitraum gleich oder ungleich; ebenso wird jedesvon den andern vorgenannten Grossen gleich oder un-gleich genannt. Von den übrigen Kategorien ausserdem Grossen dürfte das Gleich und Ungleich wohlnicht viel ausgesagt werden; so wird z.B. ein Zustandwohl nicht oft so genannt werden, sondern vielmehr

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ähnlich, und ebenso das Weiss selten gleich oder un-gleich, sondern ähnlich. Sonach dürfte es dem Gros-sen am meisten eigenthümlich sein, dass es gleichoder ungleich genannt wird

Siebentes Kapitel

Bezogen heisst Etwas, wenn es als das, was es ist,als an einem andern seiend, ausgesagt wird oder sonstwie in Bezug auf ein anderes; so wird z.B. das »Grös-ser« als das was es ist, von einem andern ausgesagt;denn man sagt: Etwas ist grösser als ein anderes; auchdas Doppelte als solches wird von einem andern aus-gesagt; denn man sagt: das Doppelte von Etwas.Ebenso verhält es sich mit den übrigen Bezogenen.

Auch solche Bestimmungen, wie das Haben, derZustand, die Wahrnehmung, das Wissen, die Lage ge-hören zu den Beziehungen; denn alle diese Bestim-mungen werden als das, was sie sind, von einem An-deren ausgesagt und nicht als etwas besonderes; denndas Haben wird als das Haben von Etwas und dasWissen als das Wissen von Etwas und die Lage alsdie Lage von Etwas ausgesagt und ebenso das übrige.Bezogen ist also etwas, wenn es als solches voneinem andern ausgesagt wird oder sonst wie in Bezugauf Anderes. So heisst ein Berg gross in Bezug auf

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einen anderen, denn der Berg heisst gross in Bezugauf etwas; und das Aehnliche wird als einem anderenähnlich ausgesagt und ebenso werden die andern sol-chen Bestimmungen in Bezug auf ein anderes ausge-sagt. Auch das Liegen und das Stehen und das Sitzensind gewisse Lagen und die Lage gehört zu den Be-ziehungen; aber das Hinlegen, das Aufstehen odersich Setzen sind zwar selbst keine Lagen, aber dieseZustände werden mit Worten bezeichnet, welche vonden obigen Lagen abgeleitet sind.

Auch Gegentheile kommen innerhalb der Bezie-hungen vor; so ist z.B. die Tugend das Gegentheilvon dem Laster, die beide zu den Beziehungen gehö-ren und Wissen ist das Gegentheil von der Unwissen-heit. Indess haben nicht alle Beziehungen ein Gegen-theil; denn das Doppelte hat kein Gegentheil und auchdes Dreifache nicht, noch sonst eine Beziehung dieserArt.

Auch das Mehr und das Minder scheinen die Be-ziehungen anzunehmen; denn man nennt etwas mehroder weniger ähnlich oder unähnlich und mehr oderweniger gleich oder ungleich, von denen jedes zu denBezogenen gehört; denn man sagt vom Aehnlichen,dass es einem Gegenstande ähnlich sei, und vom un-ähnlichen, dass es einem Gegenstande unähnlich sei.Indess nehmen nicht alle Beziehungen das Mehr oderWeniger an; denn von dem Doppelten sagt man nicht,

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dass es mehr oder weniger doppelt sei und dies giltauch von anderen solchen Beziehungen.

Alle Beziehungen werden von Gegenständen aus-gesagt, die in der Aussage sich umtauschen lassen; soheisst der Sclave Sclave des Herrn und der Herr Herrdes Sclaven und das Doppelte ist das Doppelte desHalben und das Halbe das Halbe des Doppelten unddas Grössere ist das Grössere des Kleinern und dasKleinere das Kleinere des Grösseren. Dasselbe giltfür die anderen Beziehungen, nur unterscheiden siesich beim Sprechen mitunter in der Beugung; so sagtman, die Wissenschaft ist eine Wissenschaft des Wis-sbaren und das Wissbare ist ein durch die Wissen-schaft Wissbares; und die Wahrnehmung ist eineWahrnehmung des Wahrnehmbaren und das Wahr-nehmbare ein durch Wahrnehmung Wahrnehmbares.

Indess scheint die Umkehrung manchmal nichtstattzu finden, wenn man die Beziehung nicht genau,sondern mangelhaft ausdrückt. Wenn man z.B. sagt:Der Flügel des Vogels, so lässt sich nicht umgekehrtsagen: Der Vogel des Flügels. Jener Ausdruck: DerFlügel des Vogels ist nicht genau; denn nicht insofernes ein Vogel ist, wird der Flügel als der seinige ge-nannt, sondern insofern er ein Geflügeltes ist; dennnoch vieles andere hat Flügel, was kein Vogel ist.Wenn man sich deshalb genau ausdrückt, so findetauch die Umkehrung statt; so ist der Flügel der Flügel

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des Geflügelten und das Geflügelte ist durch den Flü-gel geflügelt. Manchmal muss man auch wohl einWort dazu bilden, wenn das der genauen Ausdrucks-weise entsprechende Wort nicht vorhanden ist. Wennz.B. Jemand sagt: Das Steuerruder des Schiffs, sowäre dies kein genauer Ausdruck; denn das Steuerru-der wird von dem Schiffe nicht als Schiff ausgesagt,da es auch Schiffe ohne Steuerruder giebt, und des-halb lässt sich des Ausdruck auch nicht umkehren;denn das Schiff kann man nicht das Schiff des Steuer-ruders nennen. Dagegen würde die Aussage wohl ge-nauer sein, wenn man sich ausdrückte: das Steuerru-der ist das Steuerruder eines Besteuerruderten, oder ineiner sonst entsprechenden Weise; ein Name ist dafürnicht vorhanden. Wenn man sich in dieser Weisegenau ausdrückt, so findet auch das Umkehren statt;denn das Besteuerruderte ist durch das Steuerruderbesteuerrudert. Ebenso ist es in andern Fällen; sowürde man vom Kopfe richtiger sagen: Der Kopfeines Kopfhabenden, als der Kopf eines Thieres; dennnicht insofern es ein Thier ist, hat es einen Kopf, daes auch viele Thiere ohne Kopf giebt. In den Fällen,wo der entsprechende Name fehlt, dürfte es sich amleichtesten machen, wenn man den Namen des Einenauch für das, was sich mit ihm umkehren soll, be-nutzt, sowie in den genannten Beispielen das Geflü-gelte von dem Flügel und das Besteuerruderte von

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dem Steuerruder gebildet worden ist. Sonach lassensich also, wenn man sich genau ausdrückt, alle Bezie-hungen umkehren, während dies nicht statt hat, wennman sich nur auf's Geradewohl und nicht das eigent-lich Bezogene ausdrückt. Aber auch dann findet keineUmkehrung statt, wenn man zwar von solchenspricht, die eine Umkehrung gestatten und wo auchdie Namen dazu vorhanden sind, aber dabei die Be-ziehung durch etwas Nebensächliches ausdrückt undnicht durch das, auf welches sie eigentlich geht; sofindet z.B. keine Umkehrung statt, wenn man denSclaven nicht als den Sclaven eines Herrn bezeichnet,sondern als de Sclaven eines Menschen, oder eineszweifüssigen Geschöpfes oder in sonst einer solchenWeise; denn der Ausdruck ist dann nicht genau.Wenn dagegen etwas genau auf das, auf welches esbezogen wird, ausgedrückt wird, und dabei von allem,was nur nebenbei sich daran befindet, abgesehen wirdund blos das zurückbehalten wird, auf welches der ge-naue Ausdruck geht, so wird die Beziehung immer ansich ausgedrückt sein. Wenn z.B. der Sclave Sclave inBezug auf den Herrn genannt wird und von allem an-dern, was nebenbei dem Herrn anhaftet, abgesehenwird, wie von dem zweifüssig sein, und von dem derWissenschaft Fähigen und von dem Menschen undnur das Herr-sein zurückbehalten wird, so wird derSclave immer auf den eigentlichen Gegenstand

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bezogen sein; denn der Sclave wird dann der Sclaveseines Herrn genannt. Wenn aber nicht genau das aus-gedrückt wird, in Bezug auf welches man die Bezie-hung meint, vielmehr anderes herbeigenommen wirdund gerade das weggelassen wird, auf welches die Be-ziehung ausgesprochen werden soll, so wird die Be-ziehung nicht auf den eigentlichen Gegenstand ausge-drückt sein. Denn man bezeichne den Sclaven als deneines Menschen und den Flügel als den eines Vogelsund nehme das Herr-sein bei dem Menschen hinweg,so wird dann vom Sclaven nicht mehr in Bezug aufden Menschen gesprochen werden können, denn wennder Herr fehlt, so ist auch kein Sclave vorhanden.Ebenso nehme man von dem Vogel das Geflügeltseinhinweg, und der Flügel wird dann nicht mehr ein Be-zogenes sein, denn wo etwas kein Geflügeltes ist, dakann auch der Flügel nicht Flügel von ihm sein. Esmuss also das ausgedrückt werden, auf welches dieBeziehung sich eigentlich richtet. Ist dafür ein Namevorhanden, so ist die Beziehung leicht auszudrücken;fehlt aber der Name, so wird ein solcher gebildet wer-den müssen. Wenn der Ausdruck so geschieht, so istklar, dass alles auf einander Bezogene auch umge-kehrt ausgesagt werden kann.

Die auf einander Bezogenen sind von Natur zu-gleich vorhanden, wenigstens wird das für die meistenBeziehungen richtig sein. So ist das Doppelte

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zugleich mit den Halben und wo ein Halbes ist, da istauch ein Doppeltes und wenn ein Herr ist, so ist auchein Sclave vorhanden und wenn ein Sclave ist, so istauch ein Herr vorhanden. Ebenso verhält es sich mitandern Bezogenen. Auch heben sich die Bezogenengegenseitig auf; denn wenn kein Doppeltes ist, so istauch kein Halbes vorhanden und wo kein Halbes ist,da ist auch kein Doppeltes vorhanden. Ebenso verhältes sich mit andern dergleichen Bezogenen. Indess giltdies von Natur Zugleich-Sein der Bezogenen nicht füralle Beziehungen; so dürfte das Wissbare früher alsdie Wissenschaft gewesen sein; denn meistentheilshaben die Dinge schon vorher bestanden, ehe man dieKenntniss von ihnen erlangt und nur in seltenen Fäl-len oder niemals möchte man finden, dass mit demWissbaren zugleich auch die Kenntniss desselbenwerde. Ebenso wird mit Aufhebung des Wissbarenauch die Kenntniss desselben aufgehoben; aber dieAufhebung der Kenntniss hebt nicht das Wissbareauf. Denn wenn kein Wissbares vorhanden ist, sogiebt es auch kein Wissen (denn es wäre das Wissenvon Nichts); aber wenn auch kein Wissen besteht, sohindert dies nicht das Bestehen des Wissbaren. So ist,wenn z.B. auch die Quadratur des Kreises wissbar ist,doch die Kenntniss desselben nirgends vorhanden,während die Quadratur als Wissbares besteht. Ebensowird, wenn die Thiere weggenommen werden, keine

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Kenntniss von ihnen bestehen, während es doch vielewissbare Thiere geben kann.

Aehnlich verhält es sich mit der Wahrnehmung.Das Wahrnehmbare scheint früher als die Wahrneh-mung zu sein, denn wenn man das Wahrnehmbarewegnimmt, so fällt auch die Wahrnehmung hinweg;aber die Aufhebung der Wahrnehmung hebt nicht zu-gleich das Wahrnehmbare auf. Die Wahrnehmunggeht auf Körperliches und ist selbst in einem Körper,und wenn das Wahrnehmbare aufgehoben wird, wer-den auch die Körper aufgehoben (denn die Körper ge-hören zu dem Wahrnehmbaren) und wenn kein Kör-per ist, so fällt auch die Wahrnehmung hinweg, mit-hin hebt das Wahrnehmbare die Wahrnehmung mitauf; dagegen hebt die Aufhebung der Wahrnehmungdas Wahrnehmbare nicht mit auf; denn wenn das Ge-schöpf beseitigt wird, hört auch die Wahrnehmungauf; aber das Wahrnehmbare wird fortbestehen, wiez.B. die Körper, das Warme, das Süsse, das Bittereund alles andere, was wahrnehmbar ist. Auch entstehtdie Wahrnehmung zugleich mit dem Wahrnehmen-den; denn die Wahrnehmung entsteht zugleich mitdem Geschöpfe; dagegen ist das Wahrnehmbare so-wohl vor dem Geschöpfe, wie vor der Wahrnehmungvorhanden; denn das Feuer und das Wasser und allesSolches, aus denen auch das Geschöpf besteht, sindschon, ehe überhaupt ein Geschöpf und eine

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Wahrnehmung vorhanden ist. Sonach dürfte dasWahrnehmbare früher sein, als die Wahrnehmungdesselben.

Man kann zweifeln, ob kein Ding als Beziehungausgesagt wird wie es den Anschein hat, oder ob diesbei einigen Dingen der zweiten Ordnung Statt findenkann. In Bezug auf die Dinge erster Ordnung ist esrichtig; weder das ganze Ding, noch seine Theile wer-den als Beziehungen ausgesagt; denn ein bestimmterMensch wird nicht als Mensch von etwas ausgesagtund eben so wenig ein bestimmter Stier als Stier vonEtwas. Dasselbe gilt von den Theilen dieser Dinge;denn diese bestimmte Hand wird nicht als diese be-stimmte Hand von Etwas ausgesagt, sondern nur alsdie Hand Jemandes und dieser bestimmte Kopf wirdnicht als dieser bestimmte Kopf von Etwas ausgesagt,sondern als Kopf Jemandes. Dasselbe gilt für die mei-sten Dinge zweiter Ordnung; so wird der Menschüberhaupt nicht als Mensch von Etwas ausgesagt undeben so der Stier überhaupt nicht als Stier von Etwas;noch das Holz überhaupt als Holz von Etwas, son-dern es wird als das Eigenthum Jemandes bezeichnet.Von diesen Dingen ist es also klar, dass sie nicht zuden Beziehungen gehören. Dagegen ist dies bei eini-gen Dingen zweiter Ordnung zweifelhaft; so wird derKopf als Kopf Jemandes und die Hand als die HandJemandes ausgesagt und dasselbe gilt für ähnliche

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Dinge, so dass diese zu den Beziehungen zu gehörenscheinen. Wenn nun die Definition der Beziehungenausreichend von mir gegeben sein sollte, so würde essehr schwer oder gar unmöglich sein, zu zeigen, dasskein selbstständiges Ding als Beziehung ausgesagtwird; ist meine Definition aber nicht vollständig, son-dern wird das Bezogene als das definirt, dessen Seinnur darin besteht, dass es sich zu Etwas irgendwieverhält, so liesse sich wohl manches dafür geltendmachen. Nun ist zwar das was die erste Definition be-sagt, mit allem Bezogenen verbunden, aber dieses Be-zogen-sein derselben ist nicht dasselbe als wennetwas als das, was es ist, von einem anderen ausge-sagt wird. Hieraus erhellt, dass wenn man das eineder Bezogenen bestimmt kennt, man auch das andere,auf was es sich bezieht, bestimmt kennen wird. Dieserhellt auch aus den Beziehungen selbst. Denn wennJemand von Diesem weiss, dass es ein Bezogenes ist,und wenn das Wesen der Beziehungen darin besteht,dass das Eine sich zu dem Andern irgendwie verhält,so wird er auch das Andere kennen, zu dem jenes sichirgendwie verhält; denn wenn er überhaupt nichtweiss, zu welchem Andern das Eine sich irgendwieverhält, so wird er auch nicht wissen, ob es sich über-haupt zu Etwas irgendwie verhält. Dies erhellt auchaus den einzelnen Fällen; denn wenn Jemand z.B. be-stimmt weiss, dass etwas ein Doppeltes ist, so wird er

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auch sofort bestimmt wissen, wessen Doppeltes es ist;denn wenn er keinen bestimmten Gegenstand kennt,dessen Doppeltes es sein soll, so wird er auch über-haupt nicht wissen, dass es ein Doppeltes ist. Ebensomuss Jemand, wenn er weiss, dass Etwas schöner ist,aus demselben Grunde auch bestimmt das Anderekennen, in Vergleich zu welchem es schöner ist. Erwird nicht etwa nur unbestimmt wissen, dass es schö-ner als ein Schlechteres ist; denn dies wäre nur eineAnnahme, aber kein Wissen; auch wird er nicht ein-mal genau wissen, dass es schöner ist, als ein schlech-teres; denn es kann sich treffen, dass es nichts giebt,was schlechter wäre. Sonach ist es offenbar nothwen-dig, dass der, welcher bestimmt ein Bezogenes kennt,auch bestimmt das kennt, auf welches es bezogenwird. Von einem Kopfe aber und von einer Hand undvon anderem Einzelnen der Art, die selbstständigeDinge sind, kann man bestimmt wissen, was sie sind,ohne dass man nothwendig das genau kennen muss,auf was sie bezogen werden; denn wessen dieser Kopfund wessen diese Hand ist, braucht man nicht genauzu wissen. Deshalb gehören diese Dinge auch nichtzu den Bezogenen, und wenn dies also nicht der Fallist, so kann man mit voller Wahrheit sagen, dass keinselbstständiges Ding zu den Bezogenen gehört. Viel-leicht ist es schwer, über diese Fragen sich bestimmtauszusprechen, wenn man sie nicht wiederholt

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erwogen hat; aber wenn man die Bedenken über ein-zelne Fälle erörtert, so ist dies nicht unnütz.

Achtes Kapitel

Beschaffenheit nenne ich das, wonach etwas sooder so beschaffen genannt wird. Die Beschaffenheitgehört zu den Worten, welche in mehrfachem Sinnegebraucht werden. Als die eine Art sollen die Eigen-schaften und Zustände gelten. Die Eigenschaft unter-scheidet sich von dem Zustande dadurch, dass sie vielanhaltender und dauerhafter ist. Solcher Art sind dieKenntnisse und die Tugenden; denn die Kenntnissescheinen zu dem Bleibenden und schwer Veränderli-chen zu gehören, selbst wenn sich Jemand dieselbenauch nur in massiger Weise erworben hat, sofern nurnicht Krankheit oder sonst etwas der Art eine grosseVeränderung bewirkt. Dasselbe gilt von den Tugen-den, z.B. von der Gerechtigkeit, von der Selbstbeherr-schung und jeder anderen solchen; sie unterliegennicht leicht einer Veränderung oder einem Wechsel.Als Zustände gelten dagegen die, welche veränderlichsind und schnell wechseln, wie z.B. die Wärme, dieErkältung, die Krankheit, die Gesundheit und anderesder Art. Der Mensch verhält sich zu ihnen in einer ge-wissen Weise; aber er verändert sich dabei schnell

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und geht aus der Wärme in einen kalten Zustand undaus dem Gesundsein in das Kranksein über und eben-so ist es mit den andern Zuständen, sofern nicht vondiesen Zuständen etwan einer durch die Länge derZeit eingewurzelt und unheilbar geworden oder nurschwer zu verändern ist, wo man dann denselbenmehr für eine Eigenschaft erklären wird. Es erhelltalso, dass man nur diejenigen Beschaffenheiten Ei-genschaften nennen mag, die längere Zeit anhaltenund schwer veränderlich sind. Wenn Jemand eineWissenschaft nicht genau inne hat, sondern sie leichtwieder vergisst, so nennt man das keine Eigenschaftvon ihm, obgleich er sich irgendwie zu den Kenntnis-sen, sei es schlechter oder besser, verhält. Sonach un-terscheiden sich also die Eigenschaften von den Zu-ständen dadurch, dass die einen sich leicht verändernund die andern dauerhafter und schwer veränderlichsind. Die Eigenschaften sind auch Zustände, aber dieZustände sind nicht nothwendig Eigenschaften; dennwer eine Eigenschaft hat, verhält sich auch irgendwiezu derselben; aber die, welche sich irgendwie verhal-ten, haben deshalb nicht allemal eine Eigenschaft.

Eine zweite Art von Beschaffenheiten sind die, wo-nach Jemand als geschickt zum Faustkampf, oder alsgeschickt zum Laufen oder als gesund oder stark be-zeichnet wird; überhaupt gehört dazu alles, was sichauf ein natürliches Vermögen oder Unvermögen

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bezieht; denn diese Bestimmungen werden nichtwegen irgend eines Zustandes Beschaffenheiten ge-nannt, sondern weil in ihnen ein natürliches Vermö-gen oder Unvermögen enthalten ist, vermittelst dessenetwas leicht bewirkt wird, oder kein Erleiden statt hat.So heissen z.B. die Faustkämpfer und die Läufer nichtdeshalb so, weil sie sich irgendwie verhalten, sondernweil sie ein natürliches Vermögen haben, etwas leich-ter zu vollbringen; ebenso heisst man gesund, weilman ein natürliches Vermögen hat, vermöge dessenman von eintretenden Ereignissen nicht leicht etwaserleidet, und man heisst krank, weil man in dieserHinsicht unvermögend ist und von Zufälligkeitenleicht etwas erleidet. Ebenso verhält es sich mit demHarten und Weichen; denn man nennt etwas hart, weiles das Vermögen hat, nicht leicht zu zerreissen, undweich, weil ihm dieses Vermögen fehlt.

Eine dritte Art von Beschaffenheiten sind die lei-denden Beschaffenheiten und die leidenden Zustände.Der Art sind z.B. die Süssigkeit, die Bitterkeit, dieSäure und alles dem Verwandter auch die Wärme unddie Kälte und die Weisse und die Schwärze. Dass sieBeschaffenheiten sind, ist klar; denn das, was sie an-genommen hat, wird nach ihnen beschaffen genannt;so heisst der Honig dadurch, dass er die Süssigkeitangenommen hat, süss und ein Körper dadurch, dasser die Weisse angenommen hat, weiss. Ebenso verhält

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es sich mit den andern Beschaffenheiten dieser Art.Leidende Beschaffenheiten heissen sie nicht deshalb,weil die Dinge, welche diese Beschaffenheiten ange-nommen haben, selbst dadurch etwas erlitten hätten;denn der Honig heisst nicht süss, weil er etwas erlit-ten hat, und auch kein anderer Gegenstand deshalb so.Ebenso werden die Wärme und die Kälte nicht des-halb leidende Beschaffenheiten genannt, weil etwa dieDinge, welche sie angenommen haben, etwas erlittenhaben, sondern sie heissen deshalb leidende Beschaf-fenheiten, weil jede der genannten Beschaffenheiten inBezug auf die Sinne ein Leiden bewirkt. So bewirktdie Süssigkeit ein gewisses Leiden für den Ge-schmackssinn und die Wärme für den Gefühlssinnund ähnlich die andern Beschaffenheiten. Dagegenwerden die Weisse und die Schwärze und die andernFarben nicht in gleichem Sinne, wie die vorgenann-ten, leidende Beschaffenheiten genannt, sondern des-halb, weil sie aus einem Leiden entstanden sind. Dassviele Veränderungen der Farben in Folge eines Erlei-dens entstehen, ist klar; denn wenn Jemand sichschämt, so wird er roth, und wenn er sich fürchtet,blass und ähnliches geschieht in andern Fällen. Hatalso Jemand in Folge äusserlicher Ereignisse in natür-licher Weise so etwas erlitten, so wird er auch die ent-sprechende Farbe annehmen; denn der körperliche Zu-stand, welcher jetzt in Folge des Schämens entstanden

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ist, wird sich bei anderer Gelegenheit der natürlichenKörperconstitution gemäss in gleicher Weise wiedereinstellen und deshalb wird auch dieselbe Farbe wie-der zur Erscheinung kommen. Alle solche Zufälligkei-ten, welche von gewissen, schwer veränderlichen undbeharrenden Leidenszuständen ausgehen, heissen lei-dende Beschaffenheiten. Mag sich in Folge der natür-lichen Körperconstitution eine Blässe oder eineSchwärze gebildet haben, die man dann Beschaffen-heiten nennt (denn nun wird danach beschaffen ge-nannt) oder mag diese Blässe oder Schwärze durcheine lange Krankheit oder durch Brand entstandensein, so dass sie sich nicht leicht wieder verliert, son-dern gar lebenslang sich erhält, so nennt man auch sieBeschaffenheiten; denn man wird auch hier demge-mäss beschaffen genannt. Alles dagegen, was sichleicht wieder auflöst und schnell beseitigt werdenkann, heisst ein Zustand, und nicht eine Beschaffen-heit; denn man wird nicht danach beschaffen genannt.Weder der, welcher aus Scham erröthet, wird roth ge-nannt, noch der, welcher, aus Furcht erblasst, blass,sondern man sagt eher, dass sie etwas erlitten haben;deshalb heissen diese Fälle leidende Zustände undnicht leidende Beschaffenheiten.

In Uebereinstimmung hiermit spricht man auch vonleidenden Beschaffenheiten und Zuständen bei derSeele. Alles was gleich von der Geburt in Folge

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schwer veränderlicher Zustände entsteht, heisst eineleidende Beschaffenheit, z.B. die Raserei, der Zornund anderes Aehnliche; denn die Menschen werdendarnach beschaffene genannt, nämlich zornige oderrasende Menschen. Ebenso heissen auch alle nicht na-türlichen, sondern aus äusseren Zufällen entstandenenBeschaffenheiten so, insofern sie schwer zu vertreibenoder ganz unheilbar sind; denn man wird auch danachbeschaffen genannt. Alles dagegen, was aus schnellwieder vergehenden Erregungen entsteht, heisst einleidender Zustand, z.B. wenn Jemand, weil er geärgertwird, in Zorn geräth; man heisst dann nicht ein Zorni-ger, wenn man in solchem Zustande zornig wird, son-dern es heisst mehr, dass man etwas erlitten habe.Solche Fälle heissen deshalb leidende Zustände undkeine leidenden Beschaffenheiten.

Die vierte Art der Beschaffenheit bilden die Figu-ren und die Gestalten der einzelnen Dinge; fernerneben diesen das Gerade und das Krumme und wassonst dem ähnlich ist; denn nach allen diesen einzel-nen Bestimmungen wird etwas beschaffen genannt.So gilt das dreieckig- oder viereckig-sein als eine Be-schaffenheit; ebenso das gerade- und das krumm-sein.Auch nach der Gestalt wird ein jedes beschaffen ge-nannt. Auch das Lockere und das Dichte, sowie dasRauhe und Glatte scheint eine Beschaffenheit zu be-zeichnen, indess dürften sie wohl nicht zu den

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Eintheilungen der Beschaffenheit gehören, vielmehrscheinen sie mehr eine Lage der Theile zu bezeichnen;denn etwas ist dicht dadurch, dass seine Theile nahebei einander sind, und locker dadurch, dass sie voneinander mehr abstehen; ferner glatt dadurch, dassseine Theile gleichsam in gerader Richtung liegen,und rauh dadurch, dass sie bald hervorragen, bald zu-rücktreten.

Vielleicht fände sich wohl noch eine andere Artvon Beschaffenheiten; indess sind die bisher erwähn-ten wohl die, welche am meisten so genannt werden.

Beschaffenheiten sind also die erwähnten und be-schaffen werden die Gegenstände danach durch Ablei-tung des Namens oder sonst wie genannt. In den mei-sten Fällen und beinah überall geschieht die Bezeich-nung durch Namens-Ableitung; so heisst etwas vonder Weisse weiss, von der Sprachlehre sprachgelehrt,von der Gerechtigkeit gerecht und von andern Be-schaffenheiten ebenso. In einzelnen Fällen jedoch, wodie Beschaffenheiten keinen Namen haben, kann des-halb der Gegenstand nicht durch Namens-Ableitungdanach benannt werden; so wird z.B. Jemand, dernach seinem natürlichen Vermögen als geschickt imLaufen oder im Faustkampf genannt wird, nicht voneiner Beschaffenheit durch Namens-Ableitung so ge-nannt; denn für die Vermögen, nach denen diese Per-sonen beschaffen genannt werden, ist kein Name

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vorhanden, wie dies dagegen für die Wissenschaftender Fall ist, nach denen Jemand faustkämpferisch oderringkämpferisch in seinem Zustande genannt wird;denn die betreffende Wissenschaft heisst die Faust-kampf-Wissenschaft und die Ringkampf-Wissenschaft und die, welche sich so verhalten, wer-den durch Namens-Ableitung danach beschaffen ge-nannt. Mitunter wird selbst da, wo ein Name vorhan-den ist, doch das demgemäss Beschaffene nicht ablei-tungsweise so benannt; so ist das »sittlich« nicht vonder Tugend abgeleitet; man heisst sittlich, weil mandie Tugend besitzt, aber die Bezeichnung geschiehtnicht durch Ableitung von dem Worte Tugend. Dieskommt jedoch nicht häufig vor. Beschaffen werdenalso die Gegenstände durch Ableitung von den er-wähnten Beschaffenheitsworten, oder in sonst einerWeise nach denselben genannt.

Bei den Beschaffenheiten bestehen auch Gegen-theile; so ist die Gerechtigkeit das Gegentheil der Un-gerechtigkeit und die Weisse das Gegentheil derSchwärze u.s.w.; dies gilt auch für die demgemäss be-schaffenen Gegenstände; so ist ungerecht das Gegen-theil von gerecht und weiss das Gegentheil vonschwarz. Indess gilt dies nicht allgemein; denn für dasFeuerrothe und das Blasse und anderes solches Farbi-ge giebt es kein Gegentheiliges.

Ferner ist, wenn von den Gegensätzen der eine ein

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Beschaffenes ist, auch der andere ein solches. Dies er-giebt sich, wenn man die andern Kategorien zur Handnimmt; so ist z.B. wenn die Gerechtigkeit das Gegen-theil der Ungerechtigkeit ist und die Gerechtigkeiteine Beschaffenheit ist, auch die Ungerechtigkeit einesolche; denn keine der andern Kategorien ist auf dieUngerechtigkeit anwendbar; weder die Grosse, nochdie Beziehung, noch der Ort, noch sonst eine andere,sondern nur die Beschaffenheit. Ebenso verhält essich mit den Gegentheilen anderer Beschaffenheiten.

Die Beschaffenheiten nehmen auch das Mehr unddas Weniger an; so heisst Eines mehr oder wenigerweiss, als das Andere und gerecht Eines mehr als dasAndere; ja die eine Beschaffenheit selbst ist der Stei-gerung fähig, denn das Weisse kann weisser werden.Dies gilt zwar nicht allgemein, aber doch für die mei-sten Beschaffenheiten. So könnte man zweifeln, obbei der Gerechtigkeit ein solches Mehr oder Wenigerausgesagt werden könne; und auch bei den übrigenZuständen erhebt sich der Zweifel. Manche bestreitendies und behaupten, dass man bei der Gerechtigkeitkeine als ein Mehr oder Weniger gegen die andere be-zeichnen dürfe; auch bei der Gesundheit dürfe diesnicht geschehen, wohl aber könne der Eine wenigerGesundheit oder Gerechtigkeit haben, als der Andere;auch gelte dies für die Sprachwissenschaft und andereZustände. Allein die darnach benannten Dinge sind

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unzweifelhaft des Mehr oder Weniger fähig; denn derEine wird sprachgelehrter, oder gerechter, oder gesün-der als der Andere genannt und dies gilt auch bei allenübrigen solchen Beschaffenheiten. Dagegen scheinendas Dreieck und das Viereck und überhaupt die Figu-ren das Mehr nicht annehmen zu können; denn die Fi-guren, welche unter den Begriff des Dreiecks oder desKreises fallen, sind alle in gleicher Weise Dreieckeoder Kreise und von den Figuren, die nicht darunterfallen, ist es die eine nicht mehr als die andere; so istdas Viereck nicht mehr ein Kreis als jede andere ge-radlinige Figur, da keine von ihnen unter den Begriffdes Kreises fällt. Ueberhaupt kann dann, wenn zweiGegenstände nicht unter denselben Begriff fallen, dereine nicht mehr als der andere ein solcher genanntwerden. Sonach nimmt also nicht jede Beschaffenheitdas Mehr oder Weniger an.

Die bisherigen Bestimmungen sind keine Eigent-hümlichkeiten der Beschaffenheiten; dagegen wirddas Aehnliche und das Unähnliche lediglich von Be-schaffenheiten ausgesagt; denn kein Gegenstand isteinem andern in Bezug auf etwas anderes, als aufseine Beschaffenheit ähnlich; deshalb hat nur die Be-schaffenheit das Eigenthümliche, dass lediglich inBezug auf sie etwas ähnlich oder unähnlich genanntwerden kann.

Uebrigens sorge ich mich nicht darum, dass mir

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Jemand vorhalten könnte, ich hätte bei Abhandlungder Beschaffenheit vieles mit zu ihr hinzugerechnet,was zu den Beziehungen gehöre; denn ich habe aller-dings früher die Eigenschaften und die Zustände fürBeziehungen erklärt. Indess werden beinahe von allenBeschaffenheiten die Gattungen als Beziehungen ge-braucht, aber nicht die Beschaffenheit der einzelnenGegenstände. So wird die Wissenschaft, als Gattungs-begriff, als das, was sie ist von einem andern ausge-sagt (denn man sagt: die Wissenschaft von etwas);aber von den besonderen Wissenschaften wird keineals das, was sie ist, von einem anderen ausgesagt; sosagt man von der Sprachlehre nicht: die Sprachlehrevon Etwas, und auch nicht: die Musiklehre vonEtwas. Werden sie aber in Bezug auf den Gattungsbe-griff gebraucht, so werden auch sie als Beziehungenbehandelt und die Sprachlehre heisst dann die Wis-senschaft von Etwas, aber nicht Sprachlehre vonEtwas und die Musiklehre heisst dann die Wissen-schaft von Etwas, aber nicht die Musiklehre vonEtwas. Deshalb gehören die besondern Wissenschaf-ten nicht zu den Beziehungen. Dagegen wird derMensch als beschaffen nach den besondern Wissen-schaften bezeichnet ; denn diese besitzt er und erheisst ein Wissender dadurch, dass er irgend eine derbesondern Wissenschaften inne hat. So dürften des-halb die besondern Wissenschaften zu den

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Beschaffenheiten gehören und nach ihnen wird auchwohl der Inhaber beschaffen genannt; allein Bezie-hungen sind sie nicht. Aber selbst, wenn es sich auchträfe, das ein und dasselbe eine Beziehung und eineBeschaffenheit wäre, so wäre es doch nicht widersin-nig, dasselbe zu beiden Gattungen zu rechnen.

Neuntes Kapitel

Sowohl das Thun wie das Leiden ist des Gegen-theiligen und des Mehr oder Minder fähig; denn dasErwärmen ist das Gegentheil von dem Erkälten unddas Erwärmtwerden das Gegentheil von dem Erkältet-werden, und das Erfreutwerden ist das Gegentheil vondem Betrübtwerden; mithin nehmen diese Kategoriendas Gegentheilige an. Ebenso geschieht dies mit demMehr und Minder; denn das Erwärmen kann mehroder weniger stark geschehen und ebenso das Er-wärmt - werden. Sonach nimmt das Thun und dasLeiden sowohl das Mehr wie das Weniger an.

So viel sei über diese Kategorien gesagt. Heber dieKategorie des Zustandes habe ich schon bei der Kate-gorie der Beziehung gesagt, dass die Zustände durchWort-Ableitung von den verschiedenen Lagen be-nannt werden. Ueber die andern Kategorien, nämlichdie des Orts und der Zeit und des Habens braucht, da

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sie an sich klar sind, nichts weiter gesagt zu werden,als was im Beginn bemerkt worden ist, nämlich, dassdas Haben beispielsweise das Beschuhtsein oder dasBewaffnetsein bedeutet und der Ort z.B.: im Lykeionbedeutet und was sonst noch früher über diese Kate-gorien gesagt worden ist.

Zehntes Kapitel

Das Gesagte mag für die aufgestellten Grundbe-griffe genügen; dagegen habe ich noch bei den Ge-gensätzen darzulegen, in wie vielfacher Art sie statt-finden können. Eines kann dem Andern in vierfacherWeise gegenüberstehen; entweder als Beziehung oderals Gegentheil, oder als Beraubung und Haben, oderals Bejahung und Verneinung. Von diesen Gegensät-zen stehen sich, um es im Umriss zu bezeichnen, dieBeziehungen einander so entgegen, wie z.B. das Dop-pelte dem Halben und die Gegentheile so wie z.B. dasSchlechte dem Guten; ferner die Beraubung demHaben, sowie z.B. die Blindheit dem Gesicht; die Be-jahung der Verneinung, sowie z.B.: er sitzt, und: ersitzt nicht.

Alle, welche sich als Bezogene gegenüberstehen,werden als das, was sie sind, oder auf sonst eine Artvon dem Entgegengesetzten ausgesagt; so wird z.B.

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das Doppelte, als das, was es ist, nehmlich als dasDoppelte von einem Andern, ausgesagt, denn es istdas Doppelte von Etwas. Auch die Wissenschaft istals Beziehung der Gegensatz von dem Wissbaren unddie Wissenschaft wird als das, was sie ist, von demWissbaren ausgesagt. Ebenso wird das Wissbare alsdas, was es ist, in Bezug auf sein Gegensätzlichesausgesagt, nämlich auf die Wissenschaft; denn dasWissbare ist das Wissbare in Etwas, nämlich in derWissenschaft.

Alles, was als Beziehung einander gegenübersteht,wird also als das, was es ist, von einem Anderen, odersonst wie bezüglich auf einander ausgesagt. Dagegenwerden die Gegentheile in keiner Weise als das, wassie sind, bezüglich von einander ausgesagt, sondernnur Gegentheile von einander genannt. Denn das Gutewird nicht das Gute des Schlechten genannt, sonderndessen Gegentheil; ebenso das Weisse nicht dasWeisse des Schwarzen, sondern dessen Gegentheil.Deshalb sind diese Gegensätze von einander verschie-den. Alle Gegentheile, welche der Art sind, dass dieGegenstände, in denen sie von Natur entstanden sind,oder von denen sie ausgesagt werden, nothwendigeines der Gegentheile an sich haben müssen, habenkein Mittleres; wo aber die Gegenstände nicht der Artsind, dass sie eines von Beiden an sich haben müssen,da giebt es allemal ein Mittleres. So sind z.B. die

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Krankheit und die Gesundheit am Körper natürlicheZustände und eines von Beiden muss nothwendig demKörper der lebenden Wesen anhaften, entweder dieKrankheit oder die Gesundheit. Ebenso wird das Un-gerade und das Gerade von der Zahl ausgesagt unddie Zahl muss eines von Beiden sein, entweder geradeoder ungerade. Bei solchen Gegentheilen giebt es keinMittleres; weder von der Krankheit und Gesundheit,noch von dem Geraden und Ungeraden. Wo aber derGegenstand nicht nothwendig eines von Beiden seinmuss, da giebt es ein Mittleres; so entsteht z.B. dasSchwarze und das Weisse zwar von Natur an einemKörper, aber es ist nicht nothwendig, dass der Körpereines von Beiden sein muss, denn nicht jeder Körperist entweder weiss oder schwarz. Auch wird dasschlechte und das gute von dem Menschen und vonvielem Anderen ausgesagt, aber es ist nicht nothwen-dig, dass entweder eines oder das andere den Gegen-ständen anhafte, von denen es ausgesagt wird; dennnicht Alles ist entweder schlecht oder gut. Auch giebtes bei solchen Gegentheilen ein Mittleres; z.B. vondem Weissen und Schwarzen das Helle und das Blas-se, und was sonst noch für andere Farben, und ebensovon dem Schlechten und dem Guten das, was wederschlecht noch gut ist. In manchen Fällen sind Namenfür das Mittlere vorhanden; wie bei dem Weissen undSchwarzen das Helle und das Blasse und etwanige

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andere Farben; in andern Fällen kann man nicht leichtdurch einen Namen das Mittlere angeben, sondernman bestimmt es durch Verneinung der beiden Ge-gentheile, wie z.B. durch: Weder gut noch schlecht,oder: Weder gerecht noch ungerecht.

Die Beraubung und das Haben wird von demsel-ben Gegenstande ausgesagt, z.B. die Blindheit unddas Gesicht von dem Auge. Allgemein wird von denGegenständen, wo das Haben der natürliche Zustandist, eines von beiden ausgesagt. Das Beraubtsein wirdvon Gegenständen, die des Habens fähig sind, dannausgesagt, wenn das Haben bei dem Gegenstande, woes der natürliche Zustand ist und zu der Zeit, wo esdies ist, dennoch nicht vorhanden ist. Deshalb nenntman Gegenstände, die keine Zähne haben, nicht zahn-los, und die kein Gesicht haben, nicht blind, sondernnur die, welche Zähne oder Gesicht dann nicht haben,wenn sie von Natur ihnen zukommen; denn das, wasseinem Entstehen nach weder Gesicht noch Zähne hat,heisst weder zahnlos noch blind. Das Beraubtwerdenund das Haben haben ist nicht dasselbe wie die Be-raubung und das Haben. Das Haben ist nämlich dasGesicht und die Beraubung die Blindheit: aber dasGesicht haben ist nicht das Gesicht und das Blindseinnicht die Blindheit; denn die Blindheit ist eine Art derBeraubung, das Blindsein aber ein Beraubtsein undkeine Beraubung. Wäre die Blindheit dasselbe wie

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das Blindsein, so könnte beides von demselben Ge-genstande ausgesagt werden; allein der Mensch wirdwohl blind genannt aber keinesweges Blindheit. In-dess steht sich auch das Beraubtsein und das Habenhaben gegensätzlich so gegenüber, wie die Beraubungund das Haben; denn die Art des Gegensatzes ist die-selbe; so wie die Blindheit dem Gesicht entgegenge-setzt ist, so ist auch das Blindsein dem Gesichthabenentgegengesetzt.

Der Gegenstand der Verneinung und der Bejahungist nicht selbst eine Verneinung oder Bejahung; denndie Bejahung ist eine bejahende Rede und die Vernei-nung eine verneinende Rede, während die Gegenstän-de der Bejahung und Verneinung keine Reden sind.Indess sagt man, dass diese Gegenstände einanderebenso entgegengesetzt sind, wie die Bejahung unddie Verneinung, denn auch bei ihnen ist die Art desGegensatzes dieselbe. Denn so wie etwa die Bejahungder Verneinung entgegengesetzt ist, z.B. das: Er sitzt,dem: Er sitzt nicht, so ist auch das Thatsächliche beijedem, das Sitzen und das Nicht-Sitzen einander ent-gegengesetzt.

Dass die Beraubung und das Haben nicht so, wiebezogene Dinge einander entgegengesetzt sind, istklar; denn jene werden als das, was sie sind, nicht vonihrem Gegensätze ausgesagt. So ist das Gesicht nichtdas Gesicht der Blindheit, noch wird es sonst

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beziehungsweise von der Blindheit ausgesagt undeben so wenig wird man die Blindheit eine Blindheitdes Gesichts nennen; vielmehr heisst die Blindheiteine Beraubung des Gesichts, aber nicht die Blindheitdes Gesichts. Auch lässt sich jede Beziehung umkeh-ren, und deshalb müsste auch die Blindheit, wenn sieeine Beziehung wäre, mit dem, von welchem sie aus-gesagt wird, sich umkehren lassen; allein dies gehtnicht an, denn das Gesicht kann man nicht das Ge-sicht der Blindheit nennen.

Die Beraubungen und das Haben sind auch nichtso, wie Gegentheile, einander entgegengesetzt, wieaus dem Folgenden erhellt. Wenn nämlich die Gegen-theile der Art sind, dass sie kein Mittleres haben, somüssen die Gegenstände, in denen solche Gegentheilevon Natur bestehen oder von denen sie ausgesagt wer-den, nothwendig immer eines derselben an sichhaben; denn wo eines von beiden dem dazu geeigne-ten Gegenstande anhaften muss, da giebt es kein Mitt-leres, wie z.B. bei der Krankheit und der Gesundheitoder bei dem Ungeraden und Geraden. Wo aber beiGegentheilen ein Mittleres vorhanden ist, da ist esniemals nothwendig, dass eines von beiden dem Ge-genstande allemal anhaften muss; denn nicht alle des-sen fähige Gegenstände müssen nothwendig weissoder schwarz sein, noch warm oder kalt sein; denn beidiesen Gegenständen kann ein Mittleres bestehen.

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Auch giebt es von solchen Gegentheilen ein Mittleres,bei denen nicht nothwendig eines von beiden demdazu fähigen Gegenstande anhaften muss, ausgenom-men, wo eines der Gegentheile einem Gegenstandevon Natur anhaftet, wie z.B. dem Feuer das Warm-sein und dem Schnee das Weiss-sein. Bei solchen Ge-genständen muss indess ein bestimmtes von beidenGegentheilen ihnen anhaften und nicht etwa eines, wiees sich gerade trifft; denn das Feuer kann niemalsKalt und der Schnee niemals schwarz werden. Sonachist nicht nothwendig, dass jedem, dieser Gegensätzeüberhaupt fähigen Gegenstande einer von beiden Ge-gensätzen anhaften müsse; dies findet nur da statt, wovon Natur eines dieser Gegentheile den Gegenständenanhaftet, und hier haftet denselben das eine bestimmteGegentheil an und es ist nicht zufällig, welches. Beider Beraubung und dem Haben gilt aber keiner dieserbesagten Sätze; hier ist es nicht nothwendig, dass demdazu befähigten Gegenstande immer eines von beideneinwohne; denn Gegenstände, die überhaupt vonNatur nicht; mit dem Gesicht versehen sind, nenntman weder blind noch sehend; sie gehören daher auchnicht zu solchen Gegentheilen, die kein Mittlereshaben; aber ebenso wenig zu denen, die ein Mittlereshaben; denn es ist nothwendig, dass zur bestimmtenZeit bei allen dazu fähigen Gegenständen entwederdas Haben oder die Beraubung bestehen muss; denn

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wenn etwas schon das Gesicht von Natur haben muss,so wird man auch von ihm sagen, dass es sehend oderblind sei, aber nicht gerade bestimmt eines von bei-den, sondern wie es sich trifft; denn es besteht keineNothwendigkeit weder für die Blindheit, noch für dasGesicht, sondern jedes kann sein, je nachdem es sichtrifft. Bei den Gegentheilen aber, die ein Mittleresneben sich haben, ist es niemals nothwendig, dass derGegenstand ohne Ausnahme eines der beiden Gegen-theile an sich habe, sondern dies gilt nur für Einzel-nes, wo aber dann der Gegenstand auch nur ein be-stimmtes von beiden Gegentheilen an sich hat. So-nach erhellt, dass die Gegensätze der Beraubung unddes Habens auf keine der Weisen, wie die Gegentheileeinander entgegengesetzt sind.

Auch kann bei den Gegentheilen, wenn ein dessel-ben fähiger Gegenstand vorhanden ist, das eine Ge-gentheil in das andere und dieses in jenes übergehen,ausgenommen, wenn einem Gegenstande von Naturnur das eine Gegentheil anhaftet, wie dem Feuer dasWarm - sein; denn das Gesunde kann krank werdenund das Weisse kann schwarz werden und das Kaltewarm; und aus dem Guten kann ein Schlechtes undaus einem Schlechten kann ein Gutes werden; dennwenn ein schlechter Mensch zu besserer Beschäfti-gung und zu besserem Verkehr geleitet wird, sowürde dies, wenn auch nur ein wenig, zu seinem

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Bessersein beitragen; und wenn er hierin nur einmaleinen, wenn auch kleinen Schritt vorwärts gethan, sowird er sich schliesslich sicherlich entweder ganz zumBesseren wenden oder doch erheblich weiter dazuvorrücken; denn er wird allmälig immer mehr für dieTugend empfänglich werden, wenn er nur überhaupteinen ersten Schritt dahin gethan hat und es ist des-halb wahrscheinlich, dass er auch noch weitere Fort-schritte dahin machen wird; und wenn er so fortfahrt,so wird er schliesslich in den entgegengesetzten Zu-stand gelangen, sofern ihm die genügende Zeit dazubleiben sollte. Dagegen ist es bei dem Haben und derBeraubung unmöglich, dass das eine in das anderesich gegenseitig verändern kann; denn das Habenkann sich wohl in die Beraubung verändern, aber dieBeraubung nicht umgekehrt in das Haben; denn derBlind-Gewordene hat niemals wieder gesehen und derKahlköpfige ist niemals wieder behaart geworden;und eben so hat der Zahnlose nie wieder Zähne be-kommen.

Alles endlich, was wie Bejahung und Verneinungeinander entgegengesetzt ist, ist es offenbar in keinerder bisher besprochenen Weisen; denn nur bei ihnenmuss immer das eine von beiden nothwendig wahrund das andere falsch sein, während bei den Gegen-theilen es nicht immer nothwendig ist, dass das einewahr und das andere falsch sei, und auch bei den

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Beziehungen und bei dem Haben und der Beraubungdies nicht nöthig ist. So sind z.B. die Gesundheit unddie Krankheit Gegentheile und doch ist keines vonbeiden wahr oder falsch. Ebenso sind das Doppelteund das Halbe einander als Bezogene entgegengesetztund doch ist keines von beiden entweder falsch oderwahr, und dasselbe gilt auch für das Haben und dieBeraubung, wie z.B. für das Gesicht und die Blind-heit. Ueberhaupt ist Alles, was ohne Verbindung ge-sprochen wird, weder falsch noch wahr und alle dieseerwähnten Gegensätze werden ohne Verbindung aus-gesagt. Indess könnte man meinen, dass dies geradebei den Gegentheilen dann vorzugsweise der Fall sei,wenn sie in einer Verbindung ausgesagt würden; wiez.B. das Gesundsein des Sokrates das Gegentheil vondem Kranksein des Sokrates sei. Allein auch dann istes nicht immer nothwendig, dass eines von beidenwahr und das andere falsch sei. Allerdings wird, wennSokrates lebt, das eine wahr und das andere falschsein, aber wenn Sokrates überhaupt nicht besteht, sosind beide Gegensätze falsch; denn weder das Krank-sein noch das Gesundsein des Sokrates ist wahr, wennüberhaupt Sokrates nicht besteht. Was aber die Be-raubung und das Haben anlangt, so ist zwar auch,wenn Sokrates überhaupt nicht vorhanden ist, keinesvon beiden wahr, aber selbst, wenn er vorhanden ist,ist nicht immer das eine wahr und das andere falsch.

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Der Satz, dass Sokrates das Gesicht habe, ist z.B.dem Satze, dass er blind sei, so wie das Haben derBeraubung entgegengesetzt und trotzdem ist es, auchwenn Sokrates lebt, nicht nothwendig, dass das einewahr und das andere falsch sei; (denn wenn Sokratesüberhaupt von Natur kein Gesicht hat, so ist beidesfalsch); ist aber Sokrates überhaupt nicht vorhanden,so ist auch dann beides falsch, sowohl dass er sehe,als dass er blind sei. Dagegen ist bei der Bejahungund der Verneinung, mag nun der Gegenstand vorhan-den sein oder nicht, immer die eine falsch und die an-dere wahr. Denn dass Sokrates krank sei oder dass ernicht krank sei, davon ist offenbar, wenn Sokratesvorhanden ist, das eine wahr und das andere falschund dies gilt auch, wenn Sokrates nicht vorhanden ist;denn bestellt Sokrates nicht, so ist sein krank - seinfalsch, aber wahr, dass er nicht krank ist. Sonach istes nur denjenigen Gegensätzen allein eigen, dassimmer einer von beiden wahr und der andere falschsein muss, welche sich wie Bejahung und Verneinunggegenüberstehen.

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Elftes Kapitel

Das Gegentheil vom Guten ist nothwendig dasSchlechte, wie sich durch Betrachtung des Einzelnenergiebt; so ist die Krankheit nothwendig das Gegen-theil von der Gesundheit und die Feigheit von derTapferkeit und dasselbe gilt für andere solche Fälle.Aber von dem Schlechten ist bald das Gute, bald dasSchlechte das Gegentheil; denn wenn der Mangel einSchlechtes ist, so ist auch das Uebermaass ein gegen-theiliges Schichte; gleichzeitig ist aber auch die Mitte,welche das Gute ist, das Gegentheil von jenen beiden.Dieser Fall wird weniger häufig vorkommen; in denmeisten Fällen ist das Gegentheil vom Schlechtenimmer das Gute.

Bei den Gegentheilen ist es nicht nothwendig, dasswenn das eine vorhanden ist, auch das andere bestehe;denn wenn alles Lebende gesund ist, so besteht zwardie Gesundheit, aber nicht die Krankheit; ebenso be-steht, wenn alles weiss ist, das Weisse, aber nicht dasSchwarze. Wenn ferner das Gesundsein des Sokratesvon dem Kranksein desselben das Gegentheil ist, undes nicht möglich ist, dass Sokrates beides zugleichsein kann, so wird es auch nicht möglich sein, dass,wenn eines von beiden besteht, dann auch das anderebestehe; denn wenn das Gesundsein des Sokrates ist,

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so wird das Kranksein desselben nicht sein.Auch erhellt, dass die Gegentheile von Natur an

Gegenständen, die zu derselben Art oder Gattung ge-hören, entstehen. So entsteht von Natur die Krankheitund Gesundheit an den Körpern der lebenden Wesen;die Weisse und die Schwärze an den Körpern über-haupt; die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit ander Seele der Menschen.

Es ist auch nothwendig, dass die Gegentheile sichentweder in derselben Gattung gegenüberstehen, oderin den gegentheiligen Gattungen oder dass sie selbstGattungen seien. So gehören das Weisse und dasSchwarze zu derselben Gattung (denn die Farbe istihre Gattung); ferner gehören die Gerechtigkeit unddie Ungerechtigkeit zu gegentheiligen Gattungen(denn die eine gehört zur Gattung der Tugend, die an-dere zu der des Lasters); das Gute und das Schlechteendlich gehört nicht zu einer Gattung, sondern sieselbst sind Gattungen.

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Zwölftes Kapitel

Früher, als ein anderes wird von etwas auf vierfa-che Weise gesagt. Erstens und hauptsächlich ge-schieht es in zeitlicher Hinsicht, wonach etwas denJahren oder dem Dasein nach älter als ein anderes ge-nannt wird; denn etwas heisst so, weil es längere Zeitbestanden hat. Zweitens heisst etwas so, wenn es inBezug auf die Folge des Seins sich nicht umkehrenlässt; so ist die Eins früher als die Zwei; denn wenndie Zwei ist, so folgt sofort, dass auch die Eins ist;aber wenn die Eins ist, so ist nicht nothwendig auchdie Zwei; deshalb gilt die Umkehrung nicht, dasswenn die Eins ist, auch die andern Zahlen seien, unddasjenige gilt als das Frühere, bei dem umgekehrt derSatz von der Folge des andern nicht statthaft ist.

Drittens heisst etwas früher in Bezug auf eine be-stimmte Ordnung, wie z.B. bei den Wissenschaftenund den Reden; denn bei den auf Beweisen ruhenden.Wissenschaften beruht das Frühere und das Spätereauf der Ordnung (denn die Elemente sind der Ord-nung nach früher als die Figuren und in der Sprach-lehre sind die Buchstaben früher, als die Sylben) undebenso verhält es sich bei den Reden, denn das Vor-wort ist der Ordnung nach früher als die Ausführung.

Neben diesen angeführten Fällen scheint auch das

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Bessere und Geehrtere der Natur nach ein Früheres zusein und die Menge pflegt von den geehrteren und vonihnen mehr geliebten Männern zu sagen, dass sie dieErsten bei ihnen seien. Indess ist diese Weise des Ge-brauchs von Früher wohl die ungewöhnlichste.

Dies sind so ziemlich die Weisen, in denen dasFrüher gebraucht wird; indess dürfte es ausser densel-ben noch eine andere Art seines Gebrauchs geben;denn von den Dingen, wo gegenseitig das Dasein deseinen aus dem Dasein des andern folgt, dürfte derGrund irgendwie mit Recht das von Natur Früheregegen die Folge genannt werden und dass dergleichenvorkommt, ist klar; denn das Dasein eines Menschengestattet die Umkehrung dahin, dass aus dem Seindesselben die Wahrheit der dies ausdrückenden Redeund aus der Wahrheit dieser das Sein desselben folgt;denn wenn der Mensch ist, so ist auch die Rede wahr,womit man ausspricht, dass der Mensch ist; und dieslässt sich auch umkehren; denn wenn die Rede wahrist, womit man ausspricht, dass der Mensch ist, so istauch der Mensch vorhanden. Nun ist aber die wahreRede keineswegs der Grund von dem Dasein des Ge-genstandes; wohl aber erscheint der Gegenstand ir-gendwie als der Grund von der Wahrheit der Rede;denn weil der Gegenstand vorhanden ist oder nichtist, gilt die Rede von seinem Dasein als wahr oderfalsch. Sonach wird also auf fünf verschiedene

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Weisen das eine als das Frühere gegen das andereausgesagt.

Dreizehntes Kapitel

Das Zugleich wird einfach und hauptsächlich vondenjenigen Dingen ausgesagt, deren Entstehung indemselben Zeitpunkt erfolgt; hier ist keines früheroder später als das andere. Dergleichen wird also als»zugleich der Zeit nach« bezeichnet; dagegen gilt das-jenige als »von Natur zugleich«, was zwar in Bezugauf die Folge des Seins des Einen aus dem Sein desAndern die Umkehrung gestattet, aber wo doch keinsdie Ursache von dem Sein des andern ist; dieser Artist z.B. das Doppelte und das Halbe; denn sie lassensich umkehren (denn wenn das Doppelte ist, so istauch das Halbe und wenn das Halbe ist, so ist auchdas Doppelte), keins von beiden ist aber die Ursachevon dem Sein des andern. Auch die verschiedenendurch Theilung entstandenen gegenseitigen Artenderselben Gattung gelten als von Natur zugleich vor-handen. Als solche Arten gelten die, welche ausderselben Theilung hervorgehn; z.B. die Vögel gegen-über den Landthieren und Wasserthieren; denn diesegegensätzlichen Arten sind aus derselben Gattungdurch eine Theilung entstanden, da die Thiere in diese

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Arten eingetheilt werden, nämlich in Vögel, Land-thiere und Wasserthiere, und keine dieser Arten istfrüher als die andere, vielmehr gelten sie sämmtlichals von Natur zugleich vorhanden. Jede dieser Artenkann wieder in Unterarten eingetheilt werden, sowohldie Landthiere, wie die Vögel und die Wasserthiere.Sonach sind also alle diejenigen Gegenstände vonNatur zugleich, welche aus derselben Gattung durchdieselbe Eintheilung derselben gewonnen worden sindDagegen sind die Gattungen immer früher als ihreArten; denn hier lässt sich der Satz, wonach aus demSein des Einen das Sein des Andern folgt, nicht um-kehren; so ist z.B. wenn ein Wasserthier da ist, auchein Thier da; aber wenn ein Thier da ist, so ist nichtnothwendig ein Wasserthier vorhanden.

Von Natur zugleich gilt also alles, wo zwar derSatz von der Folge des Seins des Einen aus dem Seindes Andern sich umkehren lässt, aber keines die Ursa-che von dem Sein des andern ist; ferner gelten als sol-che alle Arten, welche aus derselben Gattung durchdieselbe Eintheilung einander gegenüberstehen; alseinfach zugleich gilt aber Alles, was in demselbenZeitpunkt entstanden ist.

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Vierzehntes Kapitel

Von der Bewegung giebt es sechs Arten; die Ent-stehung, den Untergang, die Vermehrung, die Ver-minderung, die Veränderung und den Ortswechsel.Alle diese Arten, mit Ausnahme der Veränderung,sind offenbar von einander verschieden; denn die Ent-stehung ist kein Untergang und die Vermehrung istkeine Verminderung und auch kein Ortswechsel unddasselbe gilt von den anderen; nur bei der Verände-rung entsteht der Zweifel, ob es nicht nothwendig sei,dass die Veränderung in einer der übrigen Arten erfol-gen müsse. Indess ist dies nicht richtig, denn wir er-fahren beinahe bei allen Affekten oder wenigstens beiden meisten eine Veränderung, ohne dass wir dabei aneiner von den andern Arten der Bewegung Theil neh-men; denn der vom Affekt Ergriffene braucht deshalbweder grösser noch kleiner zu werden und eben sowenig eine andere der übrigen Arten von Bewegungzu erleiden und deshalb ist die Veränderung eine be-sondere Art der Bewegung neben den übrigen. Dennwäre dies nicht der Fall, so müsste das Veränderteentweder auch gleichzeitig grösser oder kleiner wer-den oder eine andere Art von Bewegung erleiden, wasdoch nicht nothwendig ist. Ebenso müsste auch das,was grösser geworden oder sonst eine Art von

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Bewegung erlitten hat, sich verändert haben; allein eskann etwas grösser werden, was sich doch deshalbnicht verändert. So nimmt ein Viereck, wenn man dieDiagonale um dessen Ecken herumlegt, zwar zu, aberes ist kein Anderes geworden und dasselbe gilt für an-dere Fälle dieser Art. Sonach sind die angegebenenBewegungen sämmtlich von einander verschieden.

Das Gegentheil schlechthin von der Bewegung istdie Ruhe und von den einzelnen Arten derselben sinddie einzelnen Arten der Ruhe das Gegentheil; so istdas Gegentheil von der Entstehung der Untergang,und von der Vermehrung die Verminderung und vondem Ortswechsel die Ruhe an demselben Ort. Ammeisten ist aber wohl der Wechsel der entgegenge-setzten Orte einander entgegengesetzt; z.B. der vonOben nach Unten und der von Unten nach Oben. Beiden übrigen genannten Arten der Bewegung lässt sichnicht leicht das angeben, was ihr Gegentheil ist; viel-mehr scheint hier kein Gegentheil vorhanden zu sein,wenn man nicht bei ihnen das Verharren in derselbenBeschaffenheit und den Uebergang in die entgegenge-setzte Beschaffenheit als Gegensatz aufstellen will,wie dies in Bezug auf den Ortswechsel mit der Ruhean demselben Ort oder mit dem Uebergang in den ent-gegengesetzten Ort geschieht; denn die Veränderungist ein Wechsel in der Beschaffenheit. Deshalb stehtdem Wechsel in der Beschaffenheit die Ruhe in dieser

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Beschaffenheit oder der Wechsel in die entgegenge-setzte Beschaffenheit gegenüber, wie das letztere z.B.bei dem Weiss geschieht, wenn es schwarz wird; dennbei einem solchen Wechsel verändert es sich in dieentgegengesetzte Beschaffenheit.

Fünfzehntes Kapitel

Das Haben wird in verschiedenem Sinne ge-braucht; theils bezeichnet es eine Eigenschaft odereinen Zustand, oder irgend eine andere Beschaffen-heit; denn man sagt, dass Jemand eine Wissenschaftoder Tugend besitze; theils gebraucht man das Wortbei der Grosse, z.B. wenn Jemand eine bestimmteGrosse hat; denn man sagt dann von ihm, dass er eineGrosse von drei oder vier Ellen habe; theils gebrauchtman das Wort bei der Bekleidung des Körpers z.B.bei einem Mantel oder Rock; theils bei dem, was manan einem Theile hat, z.B. bei dem Fingerringe an derHand; theils bei dem, was man als Glieder hat, z.B.die Hand und den Fuss; theils bei dem was in einemGefässe ist; so hat z.B. der Scheffel den Weitzen oderder Krug den Wein; denn man sagt, dass der Krugden Wein habe (enthalte) und der Scheffel den Weit-zen; man gebraucht von alle dem das Haben wie beidem Gefässe. Auch wird das Haben in Bezug auf das

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Vermögen gebraucht; denn man sagt, dass Jemand einHaus oder ein Ackerstück habe.

Auch sagt man: eine Frau haben und dass die Fraueinen Mann habe; diese Bedeutung von Haben ist dieallerentfernteste, denn man versteht unter »ein Frau-enzimmer haben« nichts anderes, als ihr beiwohnen.

Vielleicht lassen sich noch andere Bedeutungenvon Haben aufzeigen; indess werden die hier genann-ten wohl die gebräuchlichsten sämmtlich befassen.

Ende.

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Hermeneutikaoder

Lehre vom Urtheil

(Peri hermêneias)

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Erstes Kapitel

Zunächst habe ich festzustellen, was Hauptwortund was Zeitwort ist; dann was Bejahung und Ver-neinung und was Aussage und was Rede ist.

Die gesprochenen Worte sind die Zeichen von Vor-stellungen in der Seele und die geschriebenen Wortesind die Zeichen von gesprochenen Worten. So wienun die Schriftzeichen nicht bei allen Menschen dienämlichen sind, so sind auch die Worte nicht bei allenMenschen die nämlichen; aber die Vorstellungen inder Rede, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind,sind bei allen Menschen dieselben und eben so sinddie Gegenstände überall dieselben, von welchen dieseVorstellungen die Abbilder sind. Hierüber habe ichfrüher in meiner Schrift über die Seele mich ausge-sprochen; es gehört nämlich zu einer andern Untersu-chung.

So wie nun das einemal ein Gedanke auftritt, ohnewahr oder falsch zu sein, und das anderemal in derWeise, dass er nothwendig das eine oder das andereist, so ist es auch mit den Worten; denn bei dem Fal-schen und Wahren handelt es sich um eine Verbin-dung oder Trennung. Die Hauptworte und die Zeit-worte gleichen jenem Gedanken, bei welchen keineVerbindung oder Trennung statt hat; z.B. Mensch,

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oder: Weisses, sofern diesen nichts hinzugefügt wird.Ein solches Wort ist weder falsch noch wahr, aber esist ein Zeichen von etwas; denn auch das Wort Bock-hirsch bezeichnet etwas, allein es ist weder wahr nochfalsch, so lange man nicht das Sein oder Nicht-seindamit verbindet, sei es überhaupt oder für eine be-stimmte Zeit.

Zweites Kapitel

Das Hauptwort ist nun ein Wort, welches nachUebereinkommen etwas, aber ohne Zeitbestimmungbezeichnet und von dem kein Theil, abgetrennt, fürsich etwas bedeutet. Denn in dem Namen: Schönpferdbezeichnet Pferd, nicht wie in dem Ausspruche: Schö-nes Pferd, etwas für sich. Indess verhält es sich beiden zusammengesetzten Worten nicht so, wie bei deneinfachen; in letztern haben die Theile des Wortes garkeine eigene Bedeutung; in jenen geht wohl die Ab-sicht darauf, aber die Theile des Wortes bedeutendoch nichts Besonderes. So bezeichnet z.B. in demWorte Nachenschiff die Sylbe Schiff keinen Gegen-stand für sich.

Die Worte beruhen auf Uebereinkommen, weil esvon Natur keine Worte giebt, sondern nur dann, wennsie zu einem Zeichen gemacht werden; denn auch die

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unartikulirten Laute offenbaren zwar etwas, wie beiden Thieren, aber es fehlen ihnen doch die Worte.

Das: Nicht-Mensch ist kein Hauptwort, denn es istweder ein solches hiefür vorhanden, noch ist es einBegriff oder eine Verneinung; vielmehr soll es ein un-bestimmtes Hauptwort sein, weil es gleichmässig aufalles passt, mag es sein oder nicht-sein. Die Aus-drücke: Philo's, oder: dem Philo und alle ähnlichesind keine Hauptworte, sondern Beugungen einesHauptwortes. Der Begriff solcher Beugungen ist imUebrigen derselbe, wie der des Hauptwortes; nursagen diese- Beugungen in Verbindung mit dem: ist,oder: war, oder: wird sein kein Wahres oder Falschesaus, während dies bei den Hauptworten immer derFall ist. So sagen z.B. die Ausdrücke: Philo's ist,oder: Philo's ist nicht, niemals etwas Wahres oderFalsches aus.

Drittes Kapitel

Das Zeitwort ist ein Wort, was auch noch die Zeitbezeichnet und dessen Theile nichts besonderes be-deuten und welches immer das von einem AndernAusgesagte bezeichnet. Ich sage also, dass es auch dieZeit noch anzeigt; so ist z.B. die Gesundheit einHauptwort und das: »er ist gesund«, ein Zeitwort,

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denn es bezeichnet noch, dass das Gesunde jetzt vor-handen ist. Es ist ferner immer die Bezeichnung einesvon einem andern Ausgesagten, z.B. eines von einemUnterliegenden oder in einem Unterliegenden Ausge-sagten.

Dagegen nenne ich das: er ist nicht gesund, oder: erkrankt nicht, kein Zeitwort; es bezeichnet zwar auchdie Zeit und wird immer von Etwas ausgesagt, dochgiebt es für den Art-Unterschied desselben keinenNamen; es soll deshalb ein unbestimmtes Zeitwortheissen; weil es von allem Möglichen gleichmässigausgesagt werden kann, mag es sein oder nicht-sein.Ebenso sind das: er war gesund, und das: er wird ge-sund werden, keine Zeitworte, sondern Beugungeneines Zeitwortes. Sie unterscheiden sich von demZeitwort dadurch, dass dieses die gegenwärtige Zeitbezeichnet, jenes aber die Zeit vor oder nach der ge-genwärtigen.

Wenn die Zeitworte rein für sich ausgesprochenwerden, so sind sie Hauptworte und bezeichnen zwaretwas (denn der Sprechende hält dabei sein Denkenan und der Hörende verharrt dabei), aber sie sagennicht, ob dieses Etwas ist oder nicht ist; denn sie be-zeichnen weder das Sein, noch das Nichtsein des Ge-genstandes und dies gilt selbst dann, wenn man dasWort: Seiendes ohne Zusatz für sich ausspricht, dennals solches ist es noch nichts, vielmehr deutet es nur

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eine Verbindung im Voraus an, die man aber ohnedas damit Verbundene sich noch nicht vorstellenkann.

Viertes Kapitel

Eine Rede besteht aus Worten, welche in FolgeUebereinkommens etwas bedeuten und wo auch dieeinzelnen Theile der Rede etwas besonderes bezeich-nen; sie ist aber nur eine Aussage, und nicht schoneine Bejahung oder Verneinung. Ich meine, dass z.B.»Person« zwar etwas bedeutet, aber nicht, ob sie istoder nicht ist; wenn aber noch etwas hinzugefügtwürde, so würde es eine Bejahung oder Verneinungwerden. Dagegen bedeutet die einzelne Sylbe von Per-son nichts; auch in dem Worte: Maus, bezeichnet das»aus« nichts, sondern es ist da nur ein Laut.

In den zusammengesetzten Worten haben die Thei-le zwar eine Bedeutung, aber nicht für sich, wie ichschon gesagt habe.

Die Rede bedeutet zwar etwas, aber nicht wie einWerkzeug, sondern, wie gesagt, vermöge Ueberein-kommens. Nicht jede Rede enthält aber einen Aus-spruch, sondern nur die, in welcher das Wahr- oderFalsch-sein enthalten ist, was nicht bei jeder Rede derFall ist. So ist z.B. das Gelübde zwar eine Rede, aber

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es ist weder wahr, noch falsch. Ich lasse nun die übri-gen Arten der Rede bei Seite, da deren Betrachtungmehr zur Beredtsamkeit und Dichtkunst gehört undnur die aussagende Rede der Gegenstand meiner jetzi-gen Untersuchung ist.

Fünftes Kapitel

Die ursprünglich als eine auftretende aussagendeRede ist die Bejahung und dann die Verneinung; alleandern aussagenden Reden sind nur durch Verknüp-fung eine. Jede aussagende Rede muss nothwendigein Zeitwort oder die Beugung eines Zeitworts enthal-ten; denn die Rede »der Mensch« wäre ohne Hinzufü-gung des ist, oder des war, oder des wird sein, keineaussagende Rede. Deshalb ist auch das »auf demLande lebende zweifüssige Geschöpf« eines und nichtvieles (denn es wird nicht dadurch eines, dass dieWorte unmittelbar nach einander gesprochen werden).Indess gehört dies zu einer andern Untersuchung.

Die aussagende Rede ist eine, wenn sie Eines be-zeichnet oder wenn sie durch Verbindung eine ist; da-gegen sind die Reden viele, wenn sie nicht Eines, son-dern Vieles bezeichnen oder wenn sie unverbundensind. Das blosse Hauptwort, oder das blosse Zeitwortsind nur ein Ausgesprochenes; denn man pflegt nicht

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so zu sprechen, wenn man etwas mittheilen will, seies, dass Jemand gefragt hat, oder dass man ohneFrage von selbst etwas mittheilen will. Die Redensind entweder eine einfache Aussage, wenn sie etwasvon Etwas aussagen, oder wenn sie etwas von Etwasverneinen oder sie bestehen aus mehreren solchen ein-fachen Aussagen, wie z.B. die zusammengesetzteRede. Die einfache Aussage ist ein Sprechen, wasetwas bedeutet in Bezug auf das Sein oder Nichtseinvon etwas und zwar mit Unterscheidung der Zeiten.

Sechstes Kapitel

Bei der Bejahung wird etwas einem Gegenstandebeigelegt; bei der Verneinung wird etwas einem Ge-genstande abgesprochen. Da man nun ein Seiendesauch als ein Nicht - Seiendes aussagen kann und einNicht-Seiendes als ein Seiendes und ferner ein Seien-des als ein Seiendes und ein Nicht-Seiendes als einNicht-Seiendes und dies auch für Gegenstände ausser-halb der gegenwärtigen Zeit gilt, so ist es auch mög-lich, alles, was Jemand bejaht, zu verneinen, undalles, was er verneint, zu bejahen. Hieraus erhellt,dass jeder Bejahung eine Verneinung gegenüber stehtund jeder Verneinung eine Bejahung.

Ein Widerspruch ist also dann vorhanden, wenn

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die Bejahung und Verneinung sich entgegenstehen.Unter Entgegenstehen verstehe ich aber, dass beideAussagen in derselben Bestimmung desselben Gegen-standes sich entgegenstehen und dass die Worte dabeinicht zweideutig gebraucht werden und was sonstnoch in dieser Hinsicht gegenüber den sophistischenBelästigungen näher zu bestimmen ist.

Siebentes Kapitel

Da nun die Gegenstände theils allgemeine, theilseinzelne sind; (allgemein nenne ich, was von mehre-ren Gegenständen ausgesagt werden kann und ein-zeln, wo dies nicht geschehen kann; so ist z.B.Mensch ein Allgemeines, Kallias aber ein Einzelnes),so muss man bei der Aussage, dass etwas ist, odernicht ist, dies entweder von einem Allgemeinen odereinem Einzelnen aussprechen. Wenn man nun voneinem Allgemeinen allgemein aussagt, dass etwas inihm enthalten ist und dass es nicht, in ihm enthaltenist, so werden diese Aussagen einander entgegenge-setzt sein. Ich meine unter: »von einem Allgemeinenetwas allgemein aussagen« es so, wie z.B. jederMensch ist weiss, und: kein Mensch ist weiss. Wennaber die Aussagen zwar von einem Allgemeinen, abernicht allgemein geschehen, so sind sie einander nicht

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entgegengesetzt, obgleich das Ausgesagte mitunterentgegengesetzt sein kann. Von einem Allgemeinenetwas nicht allgemein aussagen, meine ich so, wiez.B.: der Mensch ist weiss, oder: der Mensch ist nichtweiss; denn: der Mensch ist zwar ein Allgemeines,aber er wird in der Aussage nicht als ein solches be-handelt; denn der Zusatz »jeder« bezeichnet nicht dasAllgemeine des Gegenstandes, sondern dass das vonihm Ausgesagte allgemein gelten soll.

Wollte man einem allgemein ausgesagten Allge-meinen etwas allgemein beilegen, so wäre dies nichtrichtig; denn keine Bejahung ist wahr, wo von demallgemein genommenen Allgemeinen etwas allgemeinausgesagt wird, z.B. wenn man sagte: Jeder Menschist jedes Geschöpf.

Eine Bejahung steht einer Verneinung dann wider-sprechend entgegen, wenn jene dem Gegenstandeetwas allgemein beilegt und diese nicht-allgemein;z.B. die Aussagen: Jeder Mensch ist weiss, und:nicht-jeder Mensch ist weiss; ferner: kein Mensch istweiss; und: ein einzelner Mensch ist weiss. Gegen-theilig stehen sich die allgemeine Bejahung und dieallgemeine Verneinung gegenüber; z.B.: jederMensch ist weiss, und: kein Mensch ist weiss; ferner:kein Mensch ist gerecht, und: jeder Mensch ist ge-recht. Deshalb können diese gegentheiligen Urtheilenicht beide zugleich wahr sein, während bei den,

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einem allgemeinen Urtheile widersprechend entgegen-stehenden Urtheilen es vorkommen kann, dass mehre-re davon gleichzeitig wahr sind; wie z.B. die Urtheile;nicht-jeder Mensch ist weiss, und: ein einzelnerMensch ist weiss.

So weit nun widersprechende Urtheile über ein All-gemeines allgemein lauten, muss eines von beidenUrtheilen wahr und das andere falsch sein und diesgilt auch für widersprechende Urtheile von einem Ein-zelnen; z.B. Sokrates ist weiss, und: Sokrates istnicht - weiss. Wenn aber solche Urtheile zwar überein Allgemeines, aber nicht allgemein lauten, so istnicht immer das eine wahr und das andere falsch,denn man kann in Wahrheit gleichzeitig sagen, dassder Mensch weiss und der Mensch nicht weiss ist,und dass der Mensch schön und der Mensch nichtschön ist; da, wenn er hässlich ist, er nicht schön istund wenn er erst schön wird, er noch nicht schön ist.Auf den ersten Blick könnte wohl dergleichen wider-sinnig erscheinen, weil die Aussage: der Mensch istnicht-weiss, zu bedeuten scheint, dass kein Menschweiss sei; allein diese Aussage bedeutet dies nichtund sie bedeutet auch nicht nothwendig, dass beidesgleichzeitig statt finde.

Auch ist klar, dass es von jeder Bejahung nur eineVerneinung giebt; denn die Verneinung muss genaudasselbe verneinen, was die Bejahung bejaht und von

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demselben Gegenstande, sei es ein einzelner oder einallgemeiner; oder sei von letzterem etwas allgemeinausgesagt, oder nicht. Ich meine dies so, wie z.B. So-krates ist weiss, - Sokrates ist nicht weiss. Wennaber der zweite Satz etwas Anderes oder zwar dassel-be, aber von einem andern Gegenstande aussagt, soist er nicht der Gegensatz, sondern nur ein andererSatz als der erste. Hiernach sind also Gegensätze:Jeder Mensch ist weiss, und: Nich-jeder Mensch istweiss; ferner: ein Mensch ist weiss und kein Menschist weiss; ferner: der Mensch ist weiss und derMensch ist nicht-weiss.

Somit habe ich dargelegt, dass einer Bejahung nureine Verneinung widersprechend entgegensteht undwelche dies sind und dass die gegentheiligen Sätzeandere sind und welche es sind; ebenso, dass nichtjeder widersprechende Satz entweder wahr oder falschist und weshalb nicht, und wenn er entweder wahroder falsch ist.

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Achtes Kapitel

Diejenige Bejahung und Verneinung ist eine, wel-che nur eins von Einem aussagt; mag dies von einemAllgemeinen allgemein oder nicht allgemein gesche-hen; z.B.: jeder Mensch ist weiss, - nicht jederMensch ist weiss; ferner: der Mensch ist weiss - derMensch ist nicht weiss; ferner: Kein Mensch istweiss, - ein Mensch ist weiss. Vorausgesetzt wirdhierbei, dass weiss überall nur eines bedeute. Wennaber zweierlei Dinge denselben Namen haben, ohnedass ein Gemeinsames für sie besteht, so ist weder dieBejahung noch die Verneinung nur eine; wenn z.B.Jemand dem Menschen und dem Pferde den Namen:Mantel gäbe, so wäre die Bejahung: der Mantel istweiss, nicht eine und auch die Verneinung nicht eine;denn solcher Satz unterscheidet sich nicht von derAussage: das Pferd und der Mensch ist weiss unddiese Aussage unterscheidet sich ferner nicht von derAussage: das Pferd ist weiss und der Mensch istweiss. Da nun diese Sätze Mehreres bezeichnen undauch mehrere sind so erhellt, dass auch jener Satz ent-weder mehreres oder gar nichts bedeutet; denn derMensch ist kein Pferd. Bei solchen Sätzen ist es daherauch nicht nothwendig, dass, wenn der eine Satz wahrist, der widersprechende Satz falsch sei.

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Neuntes Kapitel

Bei den seienden und gewordenen Dingen mussalso die Bejahung oder die Verneinung wahr oderfalsch sein und es muss bei den von einem Allgemei-nen allgemein ausgesagten Bejahungen und Vernei-nungen immer die eine wahr und die andere falschsein, und dies gilt auch, wie ich schon gesagt habe,dann, wenn die Bejahung oder Verneinung nur eineneinzelnen Gegenstand betrifft. Dagegen ist dies beiden von einem Allgemeinen nicht allgemein ausge-sagten Sätzen nicht nothwendig; auch hierüber habeich schon gesprochen.

Bei den einzelnen erst kommenden Dingen verhältes sich aber nicht ebenso. Denn wenn hier jede Beja-hung und Verneinung ohne Ausnahme wahr oderfalsch wäre und Alles entweder sein oder nicht-seinmüsste und nun der Eine sagte, es werde sein, der An-dere aber, es werde nicht sein, so ist klar, dass danneiner von beiden nothwendig die Wahrheit sagte,wenn nehmlich jede Bejahung und Verneinung entwe-der wahr oder falsch wäre; denn beides wird bei sol-chen Dingen nicht zugleich stattfinden. Wenn mannehmlich in Wahrheit sagen kann, dass etwas weissoder nicht weiss sei, so muss auch der Gegenstandweiss oder nicht weiss sein und ebenso muss, wennder Gegenstand weiss oder nicht weiss ist, man in

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Wahrheit dies bejahen oder verneinen können. Wennder Gegenstand nicht weiss ist, so ist die Aussagedass er weiss ist, falsch und wenn diese Aussagefalsch ist, so ist der Gegenstand nicht weiss; alsomuss nothwendig die Bejahung oder Verneinung wahroder falsch sein. Wenn nun dies auch für die erstkommenden Dinge gelten sollte, so würde oder wärenichts aus Zufall, oder so, wie es sich gerade trifft unddies gälte auch für das erst in Zukunft Werdende.Alles würde vielmehr aus Nothwendigkeit und nichtwie es sich gerade trifft. Denn entweder spricht derBejahende oder der Verneinende wahr und dem ent-sprechend wird auch der Gegenstand oder wird nicht,während das Zufällige der Art ist, dass es weder mehrso, wie nicht so sich verhält oder verhalten wird.

Auch könnte man dann, wenn jetzt Etwas weiss ist,schon vorher in Wahrheit sagen, dass es weiss werdenwerde und somit könnte man immer von jedwedemGewordenen in Wahrheit vorher sagen, dass es seioder sein werde und wenn man immer in Wahrheitvorher sagen könnte, dass Etwas sei oder sein werde,so wäre es unstatthaft, dass es nicht-sei oder nicht-sein werde. Wo aber das Nicht-werden nicht statthaftist, da ist das Nicht-werden unmöglich und das wasunmöglich nicht-werden kann, das muss nothwendigwerden. Also müsste alles Kommende mit Nothwen-digkeit werden und es könnte nichts zufällig oder wie

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es sich trifft, geschehen; denn wenn es aus Zufallwürde, so würde es nicht aus Nothwendigkeit.

Man kann dagegen auch nicht einwenden, dass manja beide Gegensätze in Wahrheit verneinen könne, so-wohl dass etwas sein werde, wie dass es nicht seinwerde. Denn erstens wäre ja dann, wenn die Bejahungfalsch wäre, auch die Verneinung nicht wahr undwenn die Verneinung falsch wäre, so wäre auch dieBejahung nicht wahr.

Zu diesen Gründen kommt hinzu, dass, wenn manin Wahrheit sagen könnte, etwas sei weiss und gross,dann auch beides so sein müsste und wenn diese Aus-sage für morgen wahr sein würde, so würde auch derGegenstand morgen so sein. Wenn aber der Gegen-stand morgen weder sein noch nicht sein könnte, sowürde er auch dann nicht etwas sein, wie es sich gera-de trifft, z.B. eine Seeschlacht; denn dann müsste jaselbst eine Seeschlacht morgen weder stattfinden nochnicht stattfinden können.

Widersinnig ist nun aber dies und andres der Art,was sich ergiebt, wenn von jeder Bejahung und Ver-neinung, sei sie eine von einem Allgemeinen allge-mein, oder von einem Einzelnen ausgesagte, nothwen-dig einer ihrer Gegensätze wahr und der andere falschsein muss, und wenn von dem, was geschieht, nichtsso, wie es sich gerade trifft, geschehen kann, sondernalles aus Nothwendigkeit sein oder werden müsste.

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Man brauchte dann auch nicht zu berathschlagen undsich zu bemühen, damit wenn man so handle, dies ge-schehen werde und wenn man nicht so handle, diesnicht geschehen werde. Dann könnte ja bis in daszehntausendste Jahr hinaus der Eine sagen, das werdesein, und der Andere, es werde nicht sein, so dassdann das geschehen müsste, was der eine von beidendamals als die Wahrheit gesagt hätte. Ja es würdedann selbst gleichgültig sein, ob man diese sich wi-dersprechenden Sätze ausspräche oder nicht; denn of-fenbar müssten dann die Dinge selbst sich so verhal-ten, auch wenn Niemand das eine behauptete und keinAnderer es verneinte; denn nicht, weil Etwas behaup-tet oder verneint worden, würde es werden oder nichtwerden und dies gilt auf das zehntausendste Jahr hin-aus eben so, wie für jede andere Zeit. Müsste Etwassich demnach für jedwede Zeit so verhalten, dasswenn einer von beiden Sätzen die Wahrheit enthielte,es nothwendig auch so geschehen müsste, so würdeauch alles schon Geschehene von der Art sein, dass esmit Nothwendigkeit geschehen wäre; denn wennEiner von Beiden in Wahrheit sagen konnte, dass essein werde, so war es nicht möglich, dass es nichtwürde und man hätte dann von dem Geschehenenimmer in Wahrheit vorher aussprechen können, dasses geschehen werde.

Allein dies ist unmöglich, denn man sieht ja, dass

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der Anfang von manchem Werdenden von demUeberlegen und einem bestimmten Handeln abhängtund dass überhaupt bei allen Gegenständen, die nichtimmer wirksam sind, deren Vermögen zu wirken undnicht zu wirken sich gleich steht; bei diesen kann daseine so gut sein wie das andere, also auch das Werdenso gut wie das Nicht-werden statt finden.

Auch ist uns ja von vielen Gegenständen bekannt,dass es bei ihnen sich so verhält. So ist es für diesenMantel möglich, dass er zerschnitten werde, aber erwird nicht zerschnitten werden, sondern noch längergetragen werden. Ebenso war es für diesen Mantelmöglich, dass er nicht zerschnitten wurde, denn erhätte ja sonst nicht länger getragen werden können,wenn das Nicht-zerschneiden desselben nicht möglichgewesen wäre. Ebenso verhält es sich mit allem An-deren, was wird, so weit dies Werden von einem sol-chen Vermögen abhängig ist. Es ist also klar, dassnicht alles mit Nothwendigkeit ist und wird, sondernmanches wird theils so, wie es sich gerade trifft, woalso von solchem weder die Bejahung noch die Ver-neinung mehr wahr ist; theils wird es so, dass zwar inden meisten Fällen das eine mehr wahr ist als das an-dere; allein trotzdem ist es möglich, dass dies anderedoch geschieht und jenes nicht.

Dass nun das Seiende ist, wenn es ist und dass dasNicht-Seiende nicht-ist, wenn es nicht ist, dies ist

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allerdings nothwendig; allein trotzdem muss nichtalles Seiende nothwendig sein, noch allesNicht-Seiende nothwendig nicht-sein; denn der Satz,dass alles bereits Seiende nothwendig ist, ist nichtderselbe Satz, mit dem, dass überhaupt Alles noth-wendig sei; und das Gleiche gilt für dasNicht-Seiende.

Auch mit den sich widersprechend entgegenstehen-den Aussprüchen verhält es sich ebenso; denn aller-dings muss nothwendig Alles entweder sein odernicht-sein und werden oder nicht-werden; aber mankann dies nicht trennen und nicht eines davon alleinfür nothwendig erklären. Ich meine, dass z.B. es noth-wendig ist, dass morgen eine Seeschlacht entwedergeschehen oder nicht-geschehen wird; aber deshalb istes nicht nothwendig, dass morgen eine Seeschlachterfolgen wird; und es ist auch nicht nothwendig, dasssie nicht-erfolgen wird; nur dass sie entweder erfolgtoder nicht-erfolgt ist nothwendig.

Da nun die wahren Aussagen sich so verhalten, wiedie Gegenstände sich verhalten, so ist klar, dass über-all da, wo die Gegenstände sich so verhalten, dass dasEntgegengesetzte, je nach dem es sich trifft, eintretenkann, nothwendig auch die einander entgegenstehen-den Aussagen sich so verhalten müssen. Dies ist nunder Fall bei Gegenständen die nicht immer sind oderdie nicht immer nicht-sind. Bei diesen muss allerdings

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nothwendig die eine der sich widersprechenden Aus-sagen wahr oder falsch sein, aber nicht gerade die be-stimmte eine oder die bestimmte andere, sondern sowie es sich trifft. Auch kann wohl die eine mehr wahrsein, aber doch nicht schon jetzt wahr oder falsch.

Hieraus erhellt, dass nicht nothwendig von jederentgegengesetzten Bejahung und Verneinung die einewahr und die andre falsch sein muss; denn so, wie mitden daseienden Dingen, verhält es sich nicht mit den-jenigen nicht-seienden Dingen, die sein oder nichtsein können, vielmehr verhalten sich diese so, wie ichgesagt habe.

Zehntes Kapitel

Da die Bejahung etwas von einem Gegenstandeaussagt und letzterer entweder einen Namen hat oderein Namenloses ist, so muss in jeder Bejahung einsvon Einem ausgesagt werden. (Ueber Namen und Na-menloses habe ich schon früher gesprochen; dennNicht-Mensch gilt mir nicht als ein Name, sondernnur als ein unbestimmter Name, da auch das unbe-stimmte irgend Eines bezeichnet; ebenso ist auch das:er geneset nicht, kein Zeitwort, wohl aber ein unbe-stimmtes Zeitwort.) Hiernach wird jede Bejahung undVerneinung entweder aus einem Namen und einem

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Zeitwort oder aus einem unbestimmten Namen undeinem unbestimmten Zeitwort bestehen. Ohne einZeitwort giebt es weder eine Bejahung noch eine Ver-neinung; denn das ist und das wird-sein und das warund das wird, sind wie alle andern Worte dieser Art,nach dem, was ich früher hierüber aufgestellt habe,Zeitworte, da sie die Zeit hinzufügen. Deshalb wirddie erste Bejahung und Verneinung sein: der Menschist; - der Mensch ist nicht; dann: der Nicht-Menschist; - der Nicht-Mensch ist nicht; weiter: jederMensch ist; - nicht jeder Mensch ist; und: jederNicht-Mensch ist; - nicht jeder Nicht-Mensch ist.Dasselbe gilt für die nicht gegenwärtigen Zeiten.

Wenn aber das ist als ein drittes hinzugefügt wird,so können die Gegensätze zweifach ausgesagt wer-den. Ich meine das so, wie z.B.: der Mensch ist ge-recht; dieses ist kann in der Bejahung dem Haupt-worte oder Zeitworte hinzutreten. Sonach werden da-durch vier Aussagen entstehen, von denen zwei inBezug auf Bejahung und Verneinung der Zusammen-stellung gemäss, sich wie Beraubungen verhalten wer-den und zwei nicht so. Ich meine das ist kann entwe-der dem gerecht, oder dem nicht-gerecht zugehören:und ebenso kann dies bei den verneinenden Sätzen ge-schehen, so dass sich also vier Sätze ergeben werden.

Dies wird man deutlicher aus den figurenartigneben einander gestellten Sätzen erkennen, wie folgt:

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Der Mensch Der Menschist gerecht ist-nicht gerecht

×Der Mensch ist Der Mensch ist-nichtnicht-gerecht nicht-gerecht

Hier gehört das Ist und das Nicht-ist einmal zu demGerechten und einmal zu dem Nicht-gerechten. DieseSätze werden so geordnet, wie in den Analytiken dar-gelegt worden ist.

Ebenso verhält es sich, wenn die Bejahung desHauptworts allgemein geschieht; also;

Jeder Mensch Nicht-jeder Menschist gerecht ist gerecht.

×Jeder Mensch ist Nicht-jeder Menschnicht-gerecht ist nicht-gerecht.

Nur stimmen hier die einander diametral gegen-überstehenden Sätze nicht ebenso in ihrem Inhalteüberein, wie in der vorigen Zusammenstellung; dochkann auch dies manchmal der Fall sein.

Diese beiden Arten von Urtheilen in der Zusam-menstellung bilden also Gegensatze; zwei andereArten beziehen sich auf den Nicht-Menschen, als Un-terliegendem, nämlich:

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Der Nicht-Mensch Der Nicht-Menschist gerecht ist nicht-gerecht.

×Der Nicht-Mensch Der Nicht-Menschist - nicht gerecht ist-nicht nicht-gerecht.

Mehr Gegensätze, als diese hier aufgeführten, wirdes nicht geben; indess werden diese letzten Arten vonUrtheilen von jenen beiden gesondert für sich beste-hen, da sie sich des Nicht-Menschen als Hauptwortesbedienen.

Wo aber bei einzelnen Worten das ist nicht an-wendbar ist, wie z.B. bei dem Urtheil: Er befindetsich wohl, oder: Er geht, da bewirkt das so beigefügteWort dasselbe, als wenn das ist hinzugesetzt wäre;z.B.: Jeder Mensch befindet sich wohl, - jederMensch befindet sich nicht wohl - jeder Nicht-Mensch befindet sich wohl, - jeder Nicht-Menschbefindet sich nicht wohl. Man darf nämlich hier nichtsagen: nicht-jeder, sondern das nicht muss als Vernei-nung dem: Mensch hinzugesetzt werden, weil dasjeder nicht den allgemein Gegenstand bezeichnet, son-dern nur, dass etwas allgemein von ihm ausgesagtwird, wie sich aus folgenden Sätzen ergiebt: DerMensch befindet sich wohl; - der Mensch befindetsich nicht wohl; - der Nicht - Mensch befindet sichwohl; - der Nicht-Mensch befindet sich nicht wohl.

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Diese Sätze unterscheiden sich von jenen nur dadurch,dass sie nicht allgemein lauten. Sonach besagt dasjeder und das keiner nur, dass die Bejahung oder Ver-neinung von dem Hauptworte allgemein gelten solle,dagegen ist das Uebrige in gleicher Weise beizufügen.

Da von dem Satze: Jedes Geschöpf ist gerecht, die-jenige Verneinung das Gegentheil ist, welche aus-drückt, dass kein Geschöpf gerecht ist, so ist klar,dass solche gegentheilige Sätze niemals beide zu-gleich von demselben Gegenstände wahr sein können;dagegen können Sätze, welche zu diesen sich wider-sprechend verhalten, manchmal zugleich wahr sein;so z.B. die Urtheile: Nicht-jedes Geschöpf ist ge-recht; - und: ein Geschöpf ist gerecht.

Das Urtheil: kein Mensch ist gerecht, tauscht sichmit dem: jeder Mensch ist nicht-gerecht aus; ebensotauscht sieh mit dem Urtheile: Ein Mensch ist gerecht,das entgegenstehende Urtheil: nicht jeder Mensch istnicht-gerecht aus, denn dann muss nothwendig einergerecht sein.

Auch erhellt hieraus, dass man bei Einzel - Urthei-len dann, wenn man das Gefragte in Wahrheit vernei-nen kann, die Antwort auch bejahend in Wahrheitausdrücken kann; so z.B. auf die Frage: Ist Sokratesweise? - Nein; - also ist Sokrates nicht-weise. Aberbei allgemeinen Sätzen gilt nicht das Gleiche; sondernbei diesen ist in solchem Falle die Verneinung wahr;

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z.B.: Ist jeder Mensch weise ? - Nein; - also, könnteman meinen, ist jeder Mensch nicht-weise; allein die-ser Satz wäre falsch; dagegen ist der Satz; Nicht-jederMensch ist weise hier der wahre. Dies ist der wider-sprechend entgegenstehende Satz, jener aller der ge-gentheilige.

Die Sätze, welche mit unbestimmten Haupt- oderZeitwörtern einander entgegenstehen, wie z.B. die mitNicht-Mensch oder nicht-gerecht, könnte man viel-leicht für Verneinungen ohne Hauptwort oder Zeit-wort halten; allein dies sind sie nicht; denn der vernei-nende Satz muss immer entweder wahr oder falschsein; wenn aber Jemand nur sagt: Nicht-Mensch, sohat er nicht mehr, sondern eher weniger etwas wahresoder falsches ausgesagt, als Derjenige, welcherMensch sagt, sofern nichts hinzugesetzt wird. Auchbezeichnet der Satz: Jeder Nicht-Mensch ist gerecht,nicht dasselbe, wie jene früheren Sätze; und dies giltauch von dem diesen entgegengesetzten Satze:nicht-jeder Nicht-Mensch ist gerecht; dagegen besagtder Satz: Jeder Nicht - Mensch ist nicht - gerecht,dasselbe wie der Satz: kein Nicht-Mensch ist gerecht.

Blosse Umstellungen der Hauptworte und der Zeit-worte in einem Satze ändern dessen Bedeutung nicht;z.B.: weiss ist der Mensch - und: der Mensch istweiss. Wäre die Bedeutung beider nicht dieselbe, sogäbe es mehrere Verneinungen ein und desselben

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Satzes, während doch gezeigt worden ist, dass es vonjeder Bejahung nur eine Verneinung giebt; denn vondem Satze: weiss ist der Mensch, ist die Verneinung:nicht-weiss ist der Mensch. Wenn nun aber der Satz:der Mensch ist weiss, nicht dasselbe bedeutete, wieder Satz: weiss ist der Mensch, so müsste die Vernei-nung desselben entweder lauten: der Nicht-Mensch istnicht-weiss, oder: der Mensch ist nicht-weiss. Alleinder erstere ist die Verneinung des Satzes: derNicht-Mensch ist weiss, und der andere ist die Ver-neinung des Satzes: der Mensch ist weiss, und esgäbe dann ja zwei Verneinungen von einem Satze.

Danach ist klar, dass auch bei Umstellung desHauptwortes und Zeitwortes die Bejahung und Ver-neinung dieselben bleiben.

Elftes Kapitel

Eines von Vielem oder vieles von Einem bejahenoder verneinen ist weder eine Bejahung noch eineVerneinung, wenn nicht das durch die Vielen Be-zeichnete eines ist. Ich nenne aber das keine Einheit,wo zwar ein Name vorliegt, aber keine Einheit ausjenen Vielen. So ist z.B. der Mensch wohl ein Ge-schöpf und zweifüssig und zahm, aber es entstehtauch aus diesen vielen eine Einheit; dagegen wird aus

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dem weissen und dem Menschen und dem zahm keineEinheit und deshalb wären auch im Fall man eine Be-stimmung von ihnen bejahte, dies nicht eine Beja-hung, sondern nur eine Aeusserung, aber mehrere Be-jahungen. Ebenso sind es viele Bejahungen, wenn Je-mand diese mehreren Worte von einem Gegenstandeaussagt. Wenn nun die dialektische, in der Form vonEntweder - Oder gefasste Frage eine Antwort ver-langt, sei es auf den Vordersatz oder auf den anderngegensätzlichen Theil, so kann, da der Vordersatz nurder eine Theil des in der Frage enthaltenen Gegen-satzes ist, auch die Antwort nicht eine sein; denn auchdie Frage ist nicht eine, selbst wenn sie in ihrem Ge-gensatze richtig ist. In der Topik habe ich hierüberverhandelt. Zugleich erhellt, dass die Frage: Was einGegenstand sei, keine dialektische Frage ist; denn beieiner solchen muss die Wahl gegeben sein, welchenvon beiden der sich widersprechenden Sätzen der Ant-wortende behaupten will; deshalb muss der Fragendebestimmter hinzufügen, ob z.B. der Mensch dieses,oder nicht dieses ist.

Da nun mehrere zusammengestellte Bestimmungenbald wie eine Aussage aller dieser besonderen Be-stimmungen ausgesprochen werden, bald nicht wieeine, so fragt sich, worin hier der Unterschied, liegt.So kann man von dem Menschen in Wahrheit beson-ders aussagen, dass er ein Geschöpf ist, und auch

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besonders dass er zweifüssig ist; aber ebenso kannman beide Bestimmungen als eines aussagen. Ebensokann man Etwas getrennt erst Mensch und dann weissnennen, aber auch beides zusammen als eines aussa-gen; allein es ist nicht zulässig, dass wenn einMensch in besonderen Sätzen Schuhmacher und gutgenannt weiden kann, er auch in einem Satze einguter Schuhmacher genannt werden kann, denn eswürde viel Verkehrtes herauskommen, wenn, weiljedes einzelne dieser Urtheile wahr ist, deshalb auchbeide zusammen wahr sein sollten. In Bezug- aufeinen einzelnen Menschen ist allerdings sowohl dieAussage: dass er ein Mensch ist wie dass er weiss istrichtig und deshalb sind auch beide vereint hier wahr.Nimmt man aber wieder das Weiss für sich und ver-bindet es mit dem Ganzen, so ergiebt sich das Urtheil,dass der weisse Mensch weiss ist und das geht ohneEnde fort. Nimmt man ferner die Bestimmungen: mu-sikalisch, weiss, und gehend, so führen auch diesedurch eine wiederholte Verbindung zu einer Reiheohne Ende. Auch wenn Socrates, sowohl Socrates,wie Mensch ist, so ergiebt sich durch die Verbindungder Satz, dass der Mensch Socrates Socrates ist undwenn jemand Mensch und zweifüssig ist, so ergiebtsich, dass der zweifüssige Mensch Mensch ist.

Es ist also klar, dass viel Verkehrtes herauskommt,wenn jemand solche Verbindungen allgemein für

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zulässig erklären wollte; wie aber die Regeln hier auf-zustellen sind, will ich jetzt sagen. So weit die ausge-sagten Bestimmungen von den Gegenständen, vondenen man sie aussagen kann, nur als nebensächlicheausgesagt werden, sei es nebensächlich in Bezug aufden Gegenstand selbst, oder sei die eine Bestimmungnebensächlich in Bezug auf die andere, so weit bildensie keine Einheit. So ist z.B. ein Mensch weiss undmusikalisch; aber weiss und musikalisch sind keineEinheit, denn sie hängen demselben Menschen nur ne-benbei an. Auch wenn man das Weisse in Wahrheitmusikalisch nennen könnte, so wäre doch das musika-lische Weisse keine Einheit, denn das Musikalischewäre nur nebenbei weiss und deshalb ist das musika-lische Weisse keine Einheit. Deshalb kann auch derSchuhmacher nicht schlechthin gut genannt werden,wohl aber kann er ein zweifüssiges Geschöpf genanntwerden, da diese Bestimmungen ihm nicht blos ne-benbei anhaften. Auch können alle Bestimmungen,welche schon in dem anderem enthalten sind, von die-sem nicht ausgesagt werden. Deshalb kann man dasWeiss nicht wiederholt weiss nennen, noch ist derMensch ein Mensch-Geschöpf oder einMensch-Zweifüssler, denn in dem Menschen ist schondas Geschöpf und das Zweifüssige enthalten. Dage-gen kann man von einem einzelnen Menschen sichüberhaupt so ausdrücken; so kann man z.B. diesen

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bestimmten Menschen einen Menschen und diesen be-stimmten weissen Menschen einen weissen Menschennennen.

Indess ist dies nicht immer zulässig; vielmehr wird,wenn in dem vorliegenden Gegenstande etwas Entge-gengesetztes enthalten ist, so dass von ihm das Wi-dersprechende ausgesagt werden würde, das Urtheildann nicht wahr sein; z.B. wenn man einen todtenMenschen einen Menschen nennen wollte. Ist aber einsolches Entgegengesetztes nicht an demselben vor-handen, so ist das Urtheil richtig; oder vielmehr:Wenn etwas Gegensätzliches in dem Gegenstandeenthalten ist, so ist das Urtheil allemal falsch; wennaber ein solches nicht darin enthalten ist, so ist dasUrtheil doch nicht allemal wahr. So sagt man z.B.:Homer ist etwas, z.B. ein Dichter. Ist nun hiernachHomer oder ist er nicht? Offenbar wird hier das istnur nebensächlich von Homer ausgesagt, nehmlichdahin, dass er ein Dichter ist, aber dies ist wird nichtan - sich von Homer ausgesagt.

Sonach kann man alles Ausgesagte, was, wennman auf seinen Begriff, statt auf den Namen achtet,mit dem Unterliegenden nicht im Widerspruche stehtund was als ein An-sich und nicht blos nebensächlichdemselben anhaftet, auch nach seinem Was schlecht-hin dem Unterliegenden in Wahrheit beilegen. Dage-gen kann man das Nicht-seiende nicht deshalb, weil

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es ein Vorgestelltes ist, in Wahrheit als ein Seiendesbezeichnen; denn die Vorstellung desselben geht nichtdahin, dass es ist, sondern dass es nicht ist.

Zwölftes Kapitel

Nachdem dies auseinander gesetzt worden, habeich zu untersuchen, wie sich die Bejahungen und Ver-neinungen des Möglich-seins und des Unmög-lich-seins, sowie die des Statthaft- und Nichtstatt-haft-seins zu einander verhalten und ebenso habe ichauch das Unmögliche und Nothwendige zu untersu-chen, denn es bestehen hier einige Bedenken. Wennnehmlich von diesen in einer Satzverbindung ausge-sprochenen Bestimmungen diejenigen einander als wi-dersprechend gegenüber stehen, welche nach demSein oder Nicht - sein einander gegenüber gestelltwerden, so ist z.B. die Verneinung von Mensch-seindie: Mensch nicht-sein und nicht die: Nicht-Menschsein; und die Verneinung von: Weisser Menschseinist: Weisser Mensch nicht-sein, aber nicht:Nicht-weisser Mensch sein. Denn wenn von allenDingen entweder die Bejahung oder die Verneinungwahr ist, so kann man auch in Wahrheit sagen, dassdas Holz ein Nicht-weisser-Mensch ist. Wenn alsodies in Wahrheit sich so verhält und wenn da, wo das

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ist nicht hinzugefügt wird, dasselbe durch das, stattdes ist gesetzten Wortes ausgedrückt wird, so ist auchdie Verneinung von: der Mensch geht, nicht die: derNicht-Mensch geht, sondern vielmehr die: der Menschgeht - nicht; da es dasselbe ist, ob man sagt: derMensch geht, oder: der Mensch ist ein Gehender.

Wenn dies nun überall sich so verhält, so könntewohl auch die Verneinung von Möglich-sein die sein:Möglich nicht-sein und nicht die: Nicht-möglich sein.Indess scheint doch, dass derselbe Gegenstand vermö-gend ist, zu sein und nicht-zusein; denn alles, bei demes möglich ist, dass es geschnitten werden, oder gehenkann, bei dem ist es auch möglich, dass es nicht gehtoder nicht geschnitten wird. Der Grund hiervon ist,dass alles, dem diese Möglichkeit einwohnt, nichtimmer thätig ist und deshalb wohnt ihm auch die Ver-neinung ein, da das zum Gehen Fähige auch nichtgehen und das Wahrnehmbare auch nicht wahrgenom-men werden kann. Nun ist es aber unmöglich, dassdie entgegengesetzten Aussagen von ein und demsel-ben Gegenstande wahr seien und deshalb kann dieVerneinung von: Möglich-sein nicht die sein: Mög-lich nicht-sein.

Hieraus ergiebt sich also, dass man entweder vondemselben Gegenstande dasselbe zugleich bejahenund verneinen kann oder dass durch das Sein oderNicht-sein die beigefügte Bestimmung des Möglichen

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nicht zu einer Bejahung oder Verneinung wird. Wennnun ersteres unmöglich ist, so wird man letzteres an-nehmen müssen und sonach ist die richtige Vernei-nung von: Möglich-sein die: Nicht-möglich-sein.

Ebenso verhält es sich mit dem Statthaft-sein; auchhier lautet die Verneinung: Nicht-statthaft-sein. Auchmit den anderen, wie mit dem Nothwendigen und Un-möglichen verhält es sich ebenso. In den früher be-handelten Fällen war nehmlich das Sein oderNicht-sein die hinzugefügte Bestimmung und dasWeiss oder Mensch waren die unterliegenden Gegen-stände; hier ist aber das Sein oder Nicht-sein gleich-sam das unterliegende und das Mögliche oder Statt-hafte sind die hinzugefügten Bestimmungen. So wiedort das Sein oder Nicht-sein das Wahre und das Fal-sche bezeichnet, so verhält es sich hier mit dem Mög-lich-sein und Nicht-möglich-sein. Die Verneinungvon der Aussage: Möglich nicht - sein ist also nichtdie Aussage: Nicht-möglich sein, sondern die Aussa-ge: Nicht-möglich nicht-sein. Ebenso ist von dem:Möglich sein die Verneinung nicht: Möglichnicht-sein, sondern Nicht-möglich sein. Deshalb dürf-ten auch wohl das: Möglich sein und das: Möglichnicht-sein in derselben Reihe einander folgen und sichgegenseitig austauschen. Ein und dasselbe kann mög-licherweise sein und auch nicht sein, weil die Aussa-gen: Möglich sein und Möglich nicht-sein einander

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nicht widersprechen. Dagegen kann das Möglich seinund das Nicht-möglich sein niemals bei demselbenGegenstande zu derselben Zeit wahr sein, da dieseBestimmungen einander widersprechen.

Ebenso wird niemals das Möglich nicht-sein unddas Nicht-möglich nicht-sein bei demselben Gegen-stande gleichzeitig wahr sein. Ebenso, ist die Vernei-nung von: Nothwendig sein, nicht die: Nothwendignicht-sein, sondern: Nicht-nothwendig sein; und dieVerneinung von Nothwendig nicht-sein lautet:Nicht-nothwendig nicht-sein. Auch von dem: Unmög-lich sein ist die Verneinung nicht: Unmöglichnicht-sein, sondern Nicht-unmöglich sein; und vondem Unmöglich nicht-sein ist die Verneinung:Nicht-unmöglich nicht-sein.

Ueberhaupt muss hier, wie gesagt, das Sein unddas Nicht-sein als das Unterliegende aufgefasst wer-den und dasjenige, was die Bejahung und Verneinunghervorbringt, darf nur dem Sein oder Nicht-sein hin-zugefügt werden. Sonach hat man als widerspre-chende Aussagen zu nehmen: Möglich und nicht -möglich; Statthaft, und nicht-statthaft; Unmöglichund nicht-unmöglich; Nothwendig undnicht-nothwendig; Wahr und nicht-wahr.

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104Aristoteles: Organon

Dreizehntes Kapitel

Die bisherigen Bestimmungen folgen nun einanderihrer Bedeutung nach, wenn sie, wie nachstehend, zu-sammengestellt werden; denn das Möglich - seintauscht sich mit dem Statthaft - sein aus und diesesmit jenem; ebenso tauschen sich mit ihnen dasNicht-unmöglich sein und das Nicht-nothwendig seinaus. Ferner tauschen sich das Möglich nicht-sein unddas Statthaft nicht-sein mit dem Nicht-nothwendignicht-sein und mit dem Nicht-unmöglich nicht-seinaus; ferner tauschen sich das Nicht-möglich sein unddas Nicht-Statthaft sein mit dem Nothwendignicht-sein und mit dem Unmöglich sein aus; undebenso das Nicht - möglich nicht - sein und dasNicht-statthaft nicht-sein mit dem Nothwendig seinund mit dem Unmöglich nicht-sein.

Man mag aus der folgenden Zusammenstellung er-sehen, wie ich dies meine:

Möglich sein Nicht-möglich seinStatthaft sein Nicht-statthaft seinNicht-unmöglich sein Unmöglich seinNicht-nothwendig sein Nothwendig nicht-sein

Möglich nicht-sein Nicht-möglich nicht-sein

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Statthaft nicht-sein Nicht-statthaft nicht-seinNicht-unmöglich nicht-sein Unmöglich nicht-seinNicht-nothwendig nicht-sein Nothwendig sein.

Das Unmögliche und das Nicht-unmögliche folgensich also und zwar jenes dem Nicht-Statthaften unddem Nicht-möglichen und dieses dem Statthaften undMöglichen und zwar so, dass danach die bejahendenBestimmungen sich mit den verneinenden derselbenReihe austauschen; denn mit dem Möglich-seintauscht sich die Verneinung des Unmöglichen aus undmit dem Nicht-möglich-sein tauscht sich das Unmög-lich - sein aus; denn das Unmöglich sein ist eine Be-jahung und das Nicht-möglich sein eine Verneinung.

Wir haben nun zu sehen, wie das Nothwendigesich verhält. Offenbar nicht so, wie die bisherigen Be-stimmungen; sondern hier tauschen sich die Gegen-theile aus und die einander widersprechenden Bestim-mungen nicht. Denn von dem Nothwendig nicht -sein ist die Verneinung nicht: Nicht-nothwendig sein,da beides für denselben Gegenstand wahr sein kann;denn was nothwendig nicht-ist, muss auchnicht-nothwendig sein.

Der Grund, weshalb bei dem Nothwendigen dasAustauschen sich nicht ebenso, wie bei den vorigenBestimmungen vollzieht, ist, weil das Unmöglichedem Nothwendigen entgegengestellt wird, obgleich

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sie beide ein Nothwendiges bezeichnen; denn wennetwas unmöglich ist, so ist nothwendig, zwar nicht,dass es ist, aber nothwendig, dass es nicht-ist undwenn von etwas unmöglich ist, dass es nicht-ist, somuss es nothwendig sein. Wenn also bei den vorigenBestimmungen sowohl für das Mögliche, wie dasNicht-mögliche die also austauschbaren Bestimmun-gen sich in gleicher Weise ergaben, so tauschen sichhier die entgegengesetzten Bestimmungen aus, weildas Nothwendige und das Unmögliche nicht dasselbebedeuten, aber wie gesagt, wenn sie entgegengesetztausgedrückt werden, sich austauschen lassen.

Oder sollte es etwa unmöglich sein, dass die Ver-neinung des Nothwendigen sich so verhalte? Denn esmuss ja das Nothwendige auch möglich sein; dennwenn dies nicht der Fall wäre, so müsste die Vernei-nung des Möglichen sich mit dem Nothwendigen aus-tauschen, da entweder die Bejahung oder die Vernei-nung des Möglichen sich mit dem Nothwendigen aus-tauschen muss. Dann wäre also das Nothwendigenicht - möglich, also unmöglich. Allein dass dasNothwendige nicht-möglich sei, ist widersinnig. Nuntauscht sich aber das Möglich sein mit demNicht-unmöglich sein aus und mit diesem dasNicht-nothwendig sein und somit ergäbe sich, dassdas Nothwendig sein nicht nothwendig wäre, was wi-dersinnig ist. Indess tauscht sich weder das

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Nothwendig-sein noch das Nothwendig nicht-sein mitdem Möglich-sein aus; denn bei dem Möglichen istbeides, das Sein und das Nicht-sein statthaft; aberwenn das eine z.B. das Sein bei einem von jenen bei-den wahr ist, so kann es nicht auch das andere z.B.das Nicht-sein sein. Das Mögliche kann nämlich so-wohl sein, wie nicht-sein; wenn aber Etwas nothwen-dig sein oder nicht - sein muss, so kann es nicht diesbeides sein. Sonach bleibt also nur übrig, dass das:Nicht-nothwendig nicht-sein sich mit dem Mög-lich-sein austauscht, denn dies Austauschen mit demMöglichen ist auch für das Nothwendig-sein richtig.Diese Bestimmung: Nicht-nothwendig nicht-sein istauch der Gegensatz zu dem Nothwendig nicht-sein,welcher sich mit dem Nicht-möglich sein austauscht;den mit dem Nicht-möglich sein tauscht sich das Un-möglich-sein und das Nothwendig nicht-sein aus, des-sen Verneinung das Nicht-nothwendig nicht-sein ist.Hiernach tauschen sich also diese Gegensätze in derangegebenen Weise aus und wenn sie so gestellt wer-den, ergiebt sich nichts unmögliches.

Man könnte vielleicht zweifeln, ob das Nothwen-dig sein sich mit dem Möglich sein austausche; alleinwenn dies nicht der Fall wäre, so würde die Vernei-nung, also das Nicht-mögliche sich mit dem Noth-wendigen austauschen; und wenn man dies nicht alsdie Verneinung von Nothwendig-sein gelten lassen

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wollte, so müsste man das Möglich nicht-sein als dieVerneinung von Nothwendig-sein anerkennen; alleinbeides sind falsche Gegensätze von Nothwendig sein.Indess scheint doch wieder bei ein und demselben Ge-genstande als möglich, dass er geschnitten und nichtgeschnitten werde und dass er ist und nicht-ist, sodass mithin das Nothwendig sein, wenn es sich mitdem Möglich-sein austauschte, auch fähig wäre nichtzu sein, was doch falsch ist. Es ist demnach klar, dassnicht alles Mögliche sein und gehen auch nicht seinund nicht gehen kann, sondern es giebt Mögliches,wo dies nicht richtig ist. Zunächst gehören hierher dieGegenstände, deren Vermögen kein Vernünftiges ist;so ist z.B. das Feuer vermögend zu erwärmen, abersein Vermögen ist unvernünftig. Die vernünftigenVermögen sind dagegen zu Mehrerern und zu demEntgegengesetzten vermögend; von den unvernünfti-gen aber nicht alle, sondern das Feuer z.B. ist, wie ge-sagt, nicht vermögend zu wärmen und auch nicht zuwärmen und eben dies gilt von allen Anderm, wasimmer wirkend ist. Indess kann auch Einiges mit un-vernünftigem Vermögen das Entgegengesetzte erfas-sen. Dies wird indess nur deshalb hier bemerkt, weilnicht jedes Vermögen das Entgegengesetzte bewirkenkann, selbst wenn sie auch zu derselben Art gehören.

Manche Vermögen sind jedoch zweideutiger Naturund das Mögliche hat nicht immer dieselbe

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Bedeutung. Manches heisst so, weil es wirklich undthätig ist; so ist bei Jemand das Gehen möglich, weiler geht und überhaupt heisst etwas möglich, weil esschon wirklich das ist, wozu es möglich genanntwird; anderes nennt man so, weil es in Wirklichkeittreten könnte; so nennt man bei Jemand das Gehenmöglich, weil er gehen könnte. Diese letztere Mög-lichkeit kommt nur bei den veränderlichen Dingenvor; jene dagegen bei den unveränderlichen. Für beideFälle, sowohl wenn Jemand geht und thätig ist, alswenn er blos fähig ist zu gehen, kann man in Wahr-heit sagen, dass das gehen oder sein nicht unmöglichsei. Die letztere Art von Möglichkeit kann man demschlechthin Notwendigen nicht beilegen, wohl aberdie andere. So wie nun dem Besonderen das Allge-meine zukommt, so kommt auch dem Nothwendigendas Mögliche zu; indess gilt dies nicht allgemein.Auch ist wohl das Nothwendige und dasNicht-Nothwendige der Anfang von allem Sein undNicht-Sein und man muss deshalb das Uebrige alsdiesem Nothwendigen und Nicht-nothwendigen fol-gend ansehen.

Es ist somit nach dem Gesagten klar, dass dasNothwendig-Seiende es in Bezug auf seine Wirklich-keit ist und wenn die ewigen Dinge die früheren sind,so ist auch die Wirklichkeit früher als die Möglich-keit. Manches ist wirklich, ohne die Möglichkeit, wie

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110Aristoteles: Organon

die höchsten und obersten Dinge; anderes ist wirklichund auch möglich, wie das von Natur Frühere, aberder Zeit nach Spätere; Anderes endlich ist niemalswirklich, sondern blos möglich.

Vierzehntes Kapitel

Es fragt sich, ob die Bejahung das Gegentheil derVerneinung sei, oder ob eine andere Bejahung dasGegentheil der Bejahung sei, und ob die Aussage,dass jeder Mensch gerecht ist, das Gegentheil sei vonder Aussage, dass kein Mensch gerecht ist; oder obdie Aussage, dass jeder Mensch gerecht ist, das Ge-gentheil von der sei, dass jeder Mensch ungerecht ist;wie z.B. Kallias ist gerecht; Nicht-Kallias ist gerecht- Kallias ist ungerecht.

Wenn nun die gesprochenen Worte den Gedankenfolgen und die Vorstellungen, welche das Gegenthei-lige vorstellen, selbst gegentheilig wären, wenn z.B.das: Jeder Mensch ist gerecht, das Gegentheil wärevon: Jeder Mensch ist ungerecht, so müsste es auchbei den ausgesprochenen Bejahungen sich so verhal-ten. Wenn aber hier die Vorstellung des Gegentheili-gen nicht selbst gegentheilig ist, so wird auch die Be-jahung nicht das Gegentheil der andern Bejahungsein, sondern das Gegentheil derselben ist dann die

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111Aristoteles: Organon

erwähnte Verneinung.Man muss deshalb untersuchen, welche falsche

Vorstellung das Gegentheil von der wahren ist, obdies die Vorstellung der Verneinung ist oder die Vor-stellung des gegentheilig-Seienden. Ich meine dies so:Die Vorstellung vom Guten, dass es gut ist, ist wahrund die andere dass es nicht gut ist, ist falsch; einedritte Vorstellung ist die, dass es schlecht ist. Welchevon diesen beiden letzteren ist nun das Gegentheilvon der wahren Vorstellung? und wenn nur eine vonihnen die gegentheilige ist, in Bezug auf was ist siedie gegentheilige?

Wenn man nun meint, dass man die gegentheiligenVorstellungen dadurch kennzeichnen könne, dass siedie Vorstellungen des gegentheiligen Seienden seien,so ist dies falsch; denn die Vorstellung des Guten,dass es gut ist und die Vorstellung des Schlechten,dass es schlecht ist, sind wohl beide dieselben undwahren Vorstellungen, mögen sie nun mehrere odernur eine Vorstellung sein, und doch sind das Guteund das Schlechte Gegentheile. Die Vorstellungenwerden also nicht dadurch gegentheilig, dass sie Ge-gentheile zu ihrem Gegenstande haben, sondern viel-mehr dadurch, dass sie selbst sich gegentheilig ver-halten. Wenn daher eine Vorstellung vom Gutendahin geht, dass es gut ist und eine andere, dass esnicht gut ist, und wenn es noch Anderes neben dem

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Schlechten giebt, was dem Guten nicht einwohnt undnicht einwohnen Kann, so ist keine von den Vorstel-lungen einer dieser anderen Bestimmungen, als diegegentheilige Vorstellung von der, dass das Gute gutist, anzunehmen, weder die, welche das dem Gutennicht Einwohnende als einwohnend vorstellen, nochdie, welche das ihm Einwohnende als nicht einwoh-nend vorstellen; (denn beide Arten sind unbegrenztviele, sowohl die, welche das Nicht-einwohnende alseinwohnend vorstellen, als die, welche das Einwoh-nende als nicht einwohnend vorstellen); vielmehr sindnur die Vorstellungen gegentheilig, welche den Irr-thum enthalten und dies sind alle Vorstellungen vonDingen, welche ein Werden haben; denn das Werdengeht aus dem Entgegengesetzten hervor und deshalbgehen auch die Irrthümer aus dem Entgegengesetztenhervor.

Wenn nun das Gute sowohl gut, wie nicht schlechtist und es ersteres an-sich, das letztere aber nur ne-benbei ist, (denn das Nicht-schlecht-sein ist demGuten nur nebensächlich), so ist auch von den wahrenVorstellungen eines Dinges diejenige im höherenGrade wahr, welche es an-sich vorstellt, wenn auchdas nebensächliche wahr sein sollte, und ebenso ver-hält es sich mit den falschen Vorstellungen. Nun istdie Vorstellung des Guten, dass es nicht-gut ist,falsch in Bezug auf das Gute an-sich und die

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Vorstellung, dass es schlecht ist, ist nur falsch vermö-ge eines Nebensächlichen am Guten und deshalb wirddie Vorstellung der Verneinung des Guten mehrfalsch sein, als die Vorstellung seines Gegentheils.Nun täuscht sich Derjenige am meisten, welcher voneinem Gegenstande die gegentheiliche Vorstellunghat, denn die Gegentheile sind bezüglich der betref-fenden Bestimmung am meisten von einander ver-schieden. Wenn nun die eine Vorstellung von dieserzwar gegentheilig ist, aber die Vorstellung des Wider-sprechenden noch mehr gegentheilig ist, so erhellt,dass nur letztere die gegentheilige ist. Die Vorstel-lung, dass das Gute ein Schlechtes ist, ist überdemeine zusammengesetzte, denn man muss dabei sichwohl auch nothwendig vorstellen, dass es nicht gutist.

Wenn nun es sich auch in allen anderen Fällen soverhalten muss, so wird die Richtigkeit dieser Annah-me auch dadurch bestätigt werden, dass die Vernei-nung entweder überall die gegentheilige sein mussoder nirgends. Nun ist bei allen Dingen, wofür keineGegentheile bestehen, die der wahren Vorstellung ent-gegengesetzte Vorstellung die falsche; so ist z.B. derim Irrthume, welcher einen Menschen für einenNicht-Menschen hält. Sind dies nun gegentheiligeVorstellungen, so sind es auch die andern verneinen-den Vorstellungen.

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Ferner verhalten sich die Vorstellungen des Guten,dass es das Gute ist, und die Vorstellung desNicht-Guten, dass es das Nicht-Gute ist, gleich; unddasselbe gilt auch von den Vorstellungen des Guten,dass es das Nicht-Gute sei und von der Vorstellungdes Nicht-Guten, dass es das Gute sei. Welche Vor-stellung ist nun wohl das Gegentheil von der wahrenVorstellung des Nicht-Guten, dass es das Nicht-Gutesei? Doch wohl nicht die, welche sagt, dass es dasSchlechte sei! Denn diese könnte ja gleichzeitig mitjener wahr sein, während doch die wahre Vorstellungniemals der wahren entgegengesetzt sein kann. Esgiebt nämlich auch ein Nicht-Gutes, was das Schlech-te ist und deshalb kann es kommen, dass diese beidenVorstellungen wahr sind. Eben so wenig ist aber dieVorstellung vom Nicht-Guten, dass es dasNicht-Schlechte sei, das Gegentheil; denn auch dieseist wahr und so würden auch in diesem Falle die ge-gentheiligen Vorstellungen beide wahr sein.

So bleibt nur übrig, dass zu der Vorstellung vomNicht-Guten, dass es nicht gut ist, die Vorstellung,dass es gut ist, das Gegentheil ist. Ebenso steht dieVorstellung vom Guten, dass es nicht gut ist, der Vor-stellung vom Guten, dass es gut ist, als ihr Gegentheilgegenüber.

Offenbar wird es auch keinen Unterschied ausma-chen, wenn man die Bejahung allgemein aussagt;

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denn die allgemeine Verneinung ist deren Gegentheil.So ist z.B. für die Vorstellung, welche vorstellt, dassalles, was gut ist, gut sei, das Gegentheil die Vorstel-lung, dass keines von dem, was gut ist, gut sei. Denndie Vorstellung des Guten, dass es gut sei, ist, wenndas Gute das Allgemeine ist, dieselbe mit der, welchealles, was irgend gut ist, als gut vorstellt, und diese istin Nichts von derjenigen verschieden, das alles, wasgut ist, gut sei. Ebenso verhält es sich mit der Vor-stellung des Nicht-Guten. Wenn es sich nun mit denVorstellungen so verhält und wenn die in Worten ge-schehenden Bejahungen und Verneinungen nur dieZeichen für die in der Seele sind, so ist klar, dass zuder allgemeinen Bejahung die allgemeinen Vernei-nung das Gegentheil bildet; also dass z.B. zu der Vor-stellung, dass alles Gute, gut sei oder dass jederMensch gut sei, die Vorstellung, dass Nichts oderNiemand gut sei, das Gegentheil bildet. Dagegen sinddie widersprechenden Vorstellungen die, dassnicht-alles Gute oder nicht alle Menschen gut seien.

Es erhellt also, dass das Wahre nicht das Gegen-theil vom Wahren sein kann, weder als Vorstellung,noch als ausgesprochene Verneinung; denn die gegen-theiligen Vorstellungen sagen Entgegengesetztes voneinem Gegenstande aus; aber mehrere wahre Vorstel-lungen können von demselben Gegenstande zugleichwahr sein, während Gegentheile nicht in demselben

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Gegenstande zugleich enthalten sein können.

Ende.

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Erste Analytikenoder

Lehre vom Schluss

(Analytika protera)

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Erstes Buch

Erstes Kapitel

Ich habe zunächst anzugeben, worüber die gegen-wärtige Untersuchung handelt und zu was sie gehört;sie handelt nämlich von dem Beweise und gehört zurbeweisbaren Wissenschaft. Dann habe ich zu bestim-men, was ein Satz, was ein Begriff und was einSchluss ist und welcher Schluss vollkommen undwelcher unvollkommen ist und demnächst anzugeben,was das »in einem ganzen Anderen enthalten sein«oder »nicht enthalten sein« bedeutet und was manunter »von Allen ausgesagt werden« und »von Kei-nem ausgesagt werden« versteht.

Ein Satz ist nun eine Aussage, welche etwas voneinem Anderen bejaht oder verneint; er lautet entwe-der allgemein oder beschränkt oder unbestimmt. Einallgemeiner Satz ist er, wenn er aussagt, dass etwasin allen zu einem Begriff gehörenden Einzelnen oderin keinem derselben enthalten ist; beschränkt ist einSatz, wenn er aussagt, dass etwas in einem, zu einemBegriff gehörenden Einzelnen enthalten oder nichtenthalten ist oder dass es nicht in allen Einzelnen ent-halten ist; unbestimmt ist ein Satz, wenn er das Ent-haltensein von etwas in einem Andern aussagt, ohne

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anzugeben, ob dies allgemein oder beschränkt statt-findet, z.B. wenn man sagt, dass Gegentheile der Ge-genstand ein und derselben Wissenschaft seien, oderdass die Lust kein Gut sei.

Der apodiktische Satz ist von dem dialektischenverschieden; der erstere setzt den einen von zwei sichwidersprechenden Sätzen als wahr (denn wer bewei-sen will, frägt nicht, sondern nimmt einen Satz an);der dialektische ist dagegen ein Satz aus zwei sichwidersprechenden Sätzen, worüber eine Frage gestelltworden ist. Beide unterscheiden sich insofern nicht,als aus jedem ein Schluss gebildet werden kann; dennsowohl der, welcher etwas beweisen will, wie der,welcher nur frageweise einen Satz aufstellt, zieht dar-aus einen Schluss, indem er annimmt, dass etwas ineinem Anderen enthalten oder nicht-enthalten sei.Deshalb ist überhaupt ein zum Schliessen geeigneterSatz vorhanden, wenn etwas, wie ich gesagt, voneinem Anderen bejaht, oder verneint wird, und einsolcher Satz ist ein apodiktischer, wenn er wahr undaus den obersten Grundsätzen abgeleitet ist; ein dia-lektischer aber beim Fragen, wenn die Frage auf einender sich widersprechenden Sätze gestellt wird undbeim Schliessen, wenn der Satz als ein scheinbarerund annehmbarer hingestellt wird, wie ich in derTopik gesagt habe. Was nun ein Satz ist und wie derapodiktische und der dialektische, zu einem Schluss

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geeignete Satz sich unterscheiden, wird später ge-nauer dargelegt werden; für das gegenwärtige Bedürf-niss mögen die hier gegebenen Bestimmungen genü-gen.

Einen Begriff nenne ich das, in was ein Satz aufge-löst wird, also das Ausgesagte und das, von demetwas ausgesagt wird, mag das Sein oder Nicht-seinhinzugefügt oder abgetrennt werden. Ein Schluss isteine Rede, wo in Folge von Aufstellung mehrererSätze etwas von diesen Verschiedenes nothwendigsich ergiebt und zwar dadurch, dass diese Sätze solauten. Mit den Worten »dadurch, dass diese Sätze solauten« meine ich, dass dadurch die Folge sich er-giebt, und unter dem »dass dadurch die Folge sichergiebt«, dass man keines weiteren Begriffes bedarf,um die Folge zu einer nothwendigen zu machen. Voll-kommen nenne ich einen Schluss, wenn er neben denangenommenen Sätzen nichts weiter bedarf, um alsein nothwendiger zu erscheinen; unvollkommen nenneich aber den, welcher noch eines oder mehreres dazubedarf, was zwar aus den aufgestellten Begriffen sichals nothwendig ergiebt, aber nicht in Vordersätzen an-gesetzt worden ist.

Wenn man sagt, etwas sei in einem ganzen Ande-ren enthalten, oder wenn man etwas von allen Einzel-nen eines Begriffes aussagt, so sind dies gleichbedeu-tende Ausdrücke. Etwas wird von allen ausgesagt,

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wenn keines von den in dem unterliegenden Begriffeenthaltenen Einzelnen aufgezeigt werden kann, vondem das Ausgesagte nicht gälte; und wenn etwas vonKeinem ausgesagt wird, so hat dies die entsprechendegleiche Bedeutung.

Zweites Kapitel

Jeder Satz sagt entweder ein einfaches Sein, oderein nothwendiges Sein oder ein statthaftes Sein ausund ein Satz kann in Bezug auf diesen Zusatz entwe-der bejahend oder verneinend lauten; ferner könnensowohl die bejahenden wie die verneinenden Sätzeentweder allgemein oder beschränkt oder unbestimmtlauten. Von diesen Sätzen muss nun der, welcher ein-fach allgemein und verneinend lautet, in seinen Be-griffen sich umkehren lassen; wenn z.B. keine Lustein Gut ist, so ist auch kein Gut eine Lust. Der beja-hende allgemeine Satz lässt sich zwar auch umkehren,aber er lautet dann nicht mehr allgemein, sondern be-schränkt; wenn z.B. jede Lust ein Gut ist, so ist aucheiniges Gute eine Lust. Von den beschränkten Sätzenlässt sich der bejahende in einem beschränkten um-kehren (denn wenn einige Lust ein Gut ist, so ist aucheiniges Gut eine Lust); bei verneinenden Sätzen istdies aber nicht nothwendig; denn wenn der Mensch in

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einigen Geschöpfen nicht enthalten ist, so ist dochnicht auch das Geschöpf in einigen Menschen nichtenthalten.

Zunächst soll also der Satz A B verneinend und all-gemein lauten. Wenn also hiernach A in keinem Benthalten ist, so wird auch B in keinem A enthaltensein.

Denn wenn B in einigen von A, z.B. in C enthaltenwäre, so wäre es nicht wahr, dass A in keinem B ent-halten sei, denn C ist Einiges von B.

Wenn dagegen A in allen B enthalten ist, so wirdauch B in einigen A enthalten sein; denn wäre es inkeinem A enthalten, so könnte auch A in keinem Benthalten sein. Wenn aber A in einigen B nicht ent-halten ist, so muss deshalb nicht auch B in einigen Anicht enthalten sein. Ist B z.B. das Geschöpf und Ader Mensch, so ist zwar der Mensch nicht in allen Ge-schöpfen, aber wohl das Geschöpf in allen Menschenenthalten.

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Drittes Kapitel

In derselben Weise wird es sich mit den nothwen-digen Sätzen verhalten. Der verneinende allgemeineSatz lässt sich auch hier in einen allgemeinen umkeh-ren; aber von den bejahenden allgemeinen Sätzen lau-tet der umgekehrte nur beschränkt. Denn wenn Anothwendig in keinem B enthalten ist, so muss auch Bnothwendig in keinem A enthalten sein; denn wenn esin einigen A enthalten sein könnte, so müsste auchdas A in einigen B enthalten sein.

Wenn aber das A nothwendig in allen oder einigenB enthalten ist, so muss auch B in einigen A noth-wendig enthalten sein; denn wäre dies nicht nothwen-dig, so würde auch A nicht nothwendig in einigen Benthalten sein. Dagegen findet bei dem beschränk-ten-verneinenden Satze aus dem vorher erwähntenGrunde keine Umkehrung statt.

Bei Sätzen, die nur als statthafte ausgesagt werden,wird das Statthafte in mehrfachem Sinne gebraucht.(Denn man sagt sowohl von dem Nothwendigen, wievon dem Nicht-nothwendigen und Möglichen, dass esstatthaft sei.) Bei solchen Sätzen verhält es sich, wennsie bejahend sind, ebenso, wie bei allen übrigen.Denn wenn A in allen oder in einigen B statthafter-weise enthalten ist, so ist auch das B in einigen A

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statthafterweise enthalten, denn wäre es in keinem Aenthalten, so wäre, wie ich früher gezeigt, auch das Ain keinem B enthalten.

Bei den verneinenden solchen Sätzen verhält essich aber nicht ebenso. So weit hier Etwas als statt-haft ausgesagt wird, weil es nothwendig sich so ver-hält oder weil es nicht-nothwendig sich so verhält, sofindet allerdings auch bei solchen Sätzen die Umkeh-rung ebenso, wie bei den früheren, statt. So kann manz.B. sagen: Der Mensch ist statthafterweise keinPferd, oder: das Weisse ist in keinem Mantel enthal-ten; bei dem ersten Satze ist die Verneinung einenothwendige, bei dem andern ist die Bejahung nichtnothwendig und hier findet die Umkehrung ebenso,wie bei den früheren Fällen statt; denn wenn es statt-haft ist, dass das Pferd in keinem Menschen enthaltenist, so ist auch der Mensch in keinem Pferde statthaf-terweise enthalten; und wenn das Weisse in keinemMantel statthafterweise ist, so ist auch der Mantelstatthafterweise in keinem Weissen enthalten; dennwäre er nothwendig in einigen Weissen enthalten, somüsste auch das Weisse nothwendig in einigen Män-teln enthalten sein, wie dies vorhin dargelegt wordenist. Auch mit den beschränkt verneinenden Sätzen die-ser Art verhält es sich ebenso.

Wo aber das Statthaft-sein das »Meistentheils-oder das Naturgemäss-sein« bedeutet, in welcher

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Weise ich das Statthaft-sein definirt habe, da wird essich mit der Umkehrung der verneinenden Sätze nichtebenso verhalten; vielmehr lässt sich da der allge-mein-verneinende Satz nicht umkehren, sondern nurder beschränkte. Es wird dies klar werden, wenn ichüber das Statthafte sprechen werde. Für jetzt ist zudem Gesagten nur so viel klar, dass ein Satz, welchersagt, dass etwas statthafterweise in keinem oder in ei-nigen nicht enthalten sei, die Form eines bejahendenSatzes hat, weil das Statthafte, so, wie das ist in demSatze eingestellt wird, und weil das ist da, wo es vonetwas ausgesagt wird, immer und durchaus eine Beja-hung hervorbringt, wie z.B. in den Sätzen: Es istnicht-gut, oder: Es ist nicht-weiss; oder überhaupt: Esist nicht-dieses. Auch dies wird später dargelegt wer-den. Deshalb werden sich solche Sätze in Bezug aufderen Umkehrung wie die übrigen bejahenden Sätzeverhalten.

Viertes Kapitel

Nachdem dies auseinandergesetzt worden, will ichnun darlegen, wodurch und wenn und wie alle Schlüs-se zu Stande kommen. Später habe ich dann über denBeweis zu sprechen; vor dem Beweis habe ich aberüber den Schluss zu sprechen, weil der Schluss das

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Allgemeinere ist, denn der Beweis ist wohl eine Artdes Schlusses, aber nicht jeder Schluss ist ein Beweis.

Wenn sich nun drei Begriffe so zu einander verhal-ten, dass der unterste Begriff in dem ganzen mittlerenBegriff und der mittlere in dem ganzen oberen Begriffenthalten oder nicht enthalten ist, so muss sich für diebeiden äusseren Begriffe ein Schluss ergeben. Mit-tel-Begriff nenne ich den, welcher sowohl selbst ineinem anderen, als in welchem wieder ein anderer ent-halten ist und welcher auch bei dem Ansatze der mitt-lere wird. Aeussere Begriffe nenne ich aber sowohlden, welcher in einem anderen enthalten ist, wie den,in welchem ein anderer enthalten ist. Denn wenn Avon allen B und B von allen C ausgesagt wird, somuss auch A von allen C ausgesagt werden. Wie ichdas »von allen ausgesagt werden« verstehe, habe ichbereits früher gesagt. Ebenso erhellt, dass wenn das Avon keinem B und B von allen C ausgesagt wird, A inkeinem C enthalten sein wird. Wenn aber der Oberbe-griff in dem ganzen mittleren, der Mittelbegriff aberin keinem des Unterbegriffes enthalten ist, so entstehtfür die äusseren Begriffe kein Schluss, weil bei sol-cher Beschaffenheit derselben sich nichts Nothwendi-ges ergiebt, denn der Oberbegriff kann dann ebensogut in den ganzen Unterbegriff, wie in keinem dessel-ben enthalten sein; es ergiebt sich also weder ein be-schränkter, noch ein allgemeiner Schlusssatz als

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nothwendig, und wenn aus solchen Begriffen sichnichts als nothwendig ergiebt, so ist auch keinSchluss vorhanden. Als Beispiele für die Bejahungkönnen hier dienen die Begriffe: Geschöpf, Mensch,Pferd; und für die Verneinung: Geschöpf, Mensch,Stein. Auch dann, wenn der Oberbegriff nicht in demmittleren und dieser nicht in dem Unterbegriff enthal-ten ist, giebt es keinen Schluss. Als Beispiel für denbejahenden Satz dienen: Wissenschaft, Linie, Arznei-kunde; für den verneinenden Satz: Wissenschaft,Linie, Eins. Wenn hiernach von den Begriffen etwasallgemein ausgesagt wird, so erhellt, dass dann beidieser Schlussfigur sich manchmal ein Schluss erge-ben und manchmal nicht ergeben wird; und wenn einSchluss sich ergiebt, so müssen die Begriffe sich so,wie ich angegeben, verhalten und umgekehrt muss,wenn sie sich so verhalten, ein Schluss sich ergeben.

Wird aber von dem einen Begriffe etwas allgemein,von dem anderen aber nur beschränkt ausgesagt, soergiebt sich dann ein vollkommener Schluss, wenndas Allgemeine zu dem Oberbegriff gesetzt wird, seies bejahend oder verneinend und das Beschränkte zudem Unterbegriff bejahend; dagegen entsteht keinSchluss, wenn das Allgemeine zu dem Unterbegriffgesetzt wird oder die Begriffe überhaupt sich anderszu einander verhalten. Unter den Oberbegriffe meineich den, in dessen Umfang sich der Mittelbegriff

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befindet und unter dem Unterbegriffe den, welcherunter dem mittleren enthalten ist. Es sei also A in demganzen B und B in einigen C enthalten, so muss dem-gemäss, wenn das »von allen ausgesagt werden« denfrüher angegebenen Sinn hat, das A in einigen C ent-halten sein; und wenn A in keinem B enthalten ist,aber B in einigen C, so muss A in einigen C nicht ent-halten sein; denn wie das »in keinem enthalten sein«zu verstehen ist, habe ich auch erklärt und es wirdalso auch hier ein vollständiger Schluss vorhandensein. Dasselbe gilt, wenn der Satz B C unbestimmt,aber bejahend lautet; denn der Schluss bleibt dersel-be, mag der Untersatz unbestimmt oder beschränktlauten. Wird aber das Allgemeine zu dem Unterbe-griff, sei es bejahend oder verneinend gesetzt, so giebtes keinen Schluss, mag der Obersatz bejahen oderverneinen, sobald er unbestimmt oder beschränkt lau-tet. Wenn z.B. A in einigen B enthalten, oder nichtenthalten ist, B aber in dem ganzen C enthalten ist, sokönnen als Beispiele für die Bejahung die Begriffedienen: Gut, Gemüthsrichtung, Klugheit, und für dieVerneinung: Gut, Gemüthsrichtung, Unwissenheit.Ebenso giebt es auch keinen Schluss, wenn B in kei-nem von C enthalten und A in einigen B enthaltenoder nicht enthalten ist oder wenn es nicht in demganzen B enthalten ist. Als Beispiele kann man dieBegriffe benutzen: Weisses, Pferd, Schwan, und

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Weisses, Pferd, Rabe. Dieselben Begriffe könnenauch für den Fall dienen, dass der Satz A B ein unbe-stimmter ist. Auch giebt es keinen Schluss, wennzwar der Obersatz allgemein, sei es bejahend oderverneinend, der Untersatz aber beschränkt und vernei-nend lautet, mag er unbestimmt oder ausdrücklich be-schränkt lauten; also z.B. wenn A in dem ganzen Benthalten ist, aber B in einigen C nicht, oder nicht indem ganzen C enthalten ist; denn in dem Theile desUnterbegriffes, in welchem der Mittelbegriff nichtenthalten ist, kann der Oberbegriff bald ganz, bald garnicht enthalten sein. Man setze z.B. die Begriffe: Ge-schöpf, Mensch, weiss und dann als den Theil desWeissen, in dem der Mensch nicht enthalten ist, ein-mal Schwan und dann Schnee. In diesem Falle mussdas Geschöpf von jedem Schwan ausgesagt und vonjedem Schnee verneint werden; woraus erhellt, dasshier kein Schluss vorhanden ist. Ferner soll A in kei-nem B enthalten sein und B in einigen C nicht enthal-ten sein; für diesen Fall nehme man die Begriffe Leb-los, Mensch, Weiss und dann als Theil des Weissen,in dem der Mensch nicht enthalten ist, einmal denSchwan und dann den Schnee; hier wird das Leblosevon dem ganzen nicht im Menschen enthaltenen Theildes Weissen einmal ausgesagt und das anderemal ver-neint. Da ferner der Satz, dass B in einigen C nichtenthalten sei, ein unbestimmter ist, weil sowohl dann,

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wenn B in keinem C enthalten ist, wie dann, wenn Bnicht in allen C enthalten ist, man in Wahrheit sagenkann, dass B in einigen C nicht enthalten sei, so er-giebt sich auch kein Schluss, wenn man solche unbe-stimmte Sätze so nimmt, dass B in keinem C enthal-ten ist; denn dies habe ich schon früher dargelegt.Somit erhellt, dass wenn die Begriffe sich so zu ein-ander verhalten, kein Schluss sich ergiebt. Denn auchdort ergab sich keiner. In derselben Weise kann derBeweis geführt werden, wenn der Obersatz allgemeinverneinend lautet.

Eben so wenig giebt es einen Schluss, wenn beideVordersätze beschränkt lauten, sei es bejahend oderverneinend, oder wenn der eine bejahend und der an-dere verneinend lautet, oder wenn der eine unbe-stimmt und der andere bestimmt lautet, oder wennbeide unbestimmt lauten. Als Beispiele für alle dieseFälle können dienen die Begriffe: Geschöpf, Weiss,Pferd, und: Geschöpf, Weiss, Stein.

Aus dem Gesagten ergiebt sich also, dass wenn indieser Figur ein beschränkter Schlusssatz sich erge-ben soll, die Begriffe sich so, wie ich gesagt, zu ein-ander verhalten müssen und dass, wenn sie sich an-ders verhalten, kein Schluss sich ergiebt. Auch erhellt,dass in dieser Figur alle Schlüsse zu den vollkomme-nen gehören; denn alle vollziehen sich lediglich aufGrund der gleich anfangs angenommenen

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Vordersätze. Auch werden alle Aufgaben durch dieseSchlussfigur bewiesen, sowohl dass ein Begriff inallen oder in keinem oder in einigen oder nicht in eini-gen eines anderen Begriffes enthalten ist. Ich nennediese Figur die erste.

Fünftes Kapitel

Wenn derselbe Begriff in dem anderen ganz und indem dritten gar nicht enthalten ist, oder wenn er injedem von beiden ganz oder gar nicht enthalten ist, sonenne ich eine solche Schlussfigur die zweite. Mittel-begriff nenne ich hier den, welcher von den beiden an-deren ausgesagt wird und Aussenbegriffe die, vonwelchen er ausgesagt wird. Von diesen nenne ich dendem Mittelbegriff näheren den grösseren und den vomMittelbegriff entfernteren den kleineren. Der Mittelbe-griff steht bei dieser Figur ausserhalb der Aussenbe-griffe, und ist der erste im Ansatze. Vollkommen sinddie Schlüsse in dieser Figur keineswegs; aber sie sindmöglich, gleichviel ob die Begriffe in den Vordersät-zen allgemein oder nicht allgemein genommen seien.Sind sie allgemein genommen, so ergiebt sich einSchluss, wenn der Mittelbegriff in einem der Aussen-begriffe ganz, in dem anderen gar nicht enthalten ist,wobei es gleichgültig ist, zu welchen von beiden er

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sich verneinend verhält. Verhalten sich die Begriffeanders, so giebt es keinen Schluss. So soll M von Ngar nicht, aber von dem ganzen X ausgesagt werden.Hier lässt sich der verneinende Vordersatz umkehren;so dass N in keinem M enthalten ist; M war aber indem ganzen X enthalten, folglich ist N in keinem Xenthalten; denn diese Folgerung ist bereits bewiesenworden.

Weiter soll M in dem ganzen N, aber in keinem Xenthalten sein; hier wird N in keinem X enthaltensein. Denn wenn M in keinem X enthalten ist, so wirdauch X in keinem M enthalten sein; M war aber indem ganzen N enthalten und folglich wird X in kei-nem N enthalten sein; denn es hat sich damit wiederdie erste Schlussfigur ergeben. Da nun verneinendeSätze sich umkehren lassen, so wird auch N in keinemX enthalten sein, so dass somit derselbe Schluss wieim ersten Falle sich ergiebt. Man kann übrigens dieseBeweise auch dadurch führen, dass man die Unmög-lichkeit des Gegentheils darlegt. Es ist somit klar,dass bei einem solchen Verhalten der Begriffe zu ein-ander ein Schluss sich ergiebt; aber er ist nicht voll-kommen, weil die Nothwendigkeit desselben nichtschon aus den ursprünglich angesetzten Vordersätzen,sondern erst mit Hinzunahme anderer Hülfsmittel sichvollendet.

Wenn aber M von dem ganzen N und von dem

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ganzen X ausgesagt wird, ergiebt sich kein Schluss.Als Begriff für einen bejahenden Schlusssatz nehmeman: Ding, Geschöpf, Mensch, und für einen vernei-nenden Schlussatz: Ding, Geschöpf, Zahl, wobeiDing der Mittelbegriff ist. Auch ergiebt sich keinSchluss, wenn M von keinem N und von keinem Xausgesagt wird. Als Begriffe für einen bejahendenSchlusssatz nehme man: Linie, Geschöpf, Mensch;und für einen verneinenden Schlusssatz: Linie, Ge-schöpf, Stein. Es ist also klar, dass, wenn bei allge-mein genommenen Begriffen ein Schluss sich ergebensoll, die Begriffe sich zu einander so, wie ich zuerstbemerkt, verhalten müssen; denn wenn sie sich andersverhalten, ergiebt sich keine Notwendigkeit für einenSchlusssatz.

Wenn aber der Mittelbegriff nur von einem derAussenbegriffe allgemein ausgesagt wird und diesvon dem grösseren Begriffe geschieht, sei es bejahendoder verneinend, und wenn der Mittelbegriff dabeivon dem kleineren Aussenbegriffe nur beschränkt,aber in entgegengesetzter Weise ausgesagt wird; (ichnenne es entgegengesetzt, wenn der allgemeine Vor-dersatz verneinend und der beschränkte Vordersatzbejahend lautet, oder wenn der allgemeine bejahendund der beschränkte verneinend lautet), so muss sichein verneinender beschränkter Schlusssatz ergeben.Denn wenn M in keinen N, aber in einigen X

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enthalten ist, so muss N in einigen X nicht enthaltensein. Denn der verneinende Satz M N lässt sich um-kehren und N ist also auch in keinem M enthalten; Mwar aber in einigen X enthalten, mithin wird N in ei-nigen X nicht enthalten sein; denn dieser Schluss er-giebt sich dann vermittelst der ersten Figur.

Wenn ferner M in dem ganzen N enthalten ist, aberin einigen X nicht; so muss N in einigen X nicht ent-halten sein; denn wenn N in dem ganzen X enthaltenwäre, so müsste, da M von dem ganzen N ausgesagtwird, M auch in dem ganzen X enthalten sein, wäh-rend doch angenommen ist, dass M in einigen X nichtenthalten sei. Und wenn M in dem ganzen N enthaltenist, aber nicht in dem ganzen X, so ergiebt sich derSchluss, dass N nicht in dem ganzen X enthalten ist.Der Beweis ist hier derselbe, wie vorher. Wird aberM von dem ganzen X, aber nicht von dem ganzen Nausgesagt, so ergiebt sich kein Schluss. Man nehmeals Beispiel die Begriffe: Geschöpf, Ding, Rabe; und:Geschöpf, Weiss, Rabe. Auch ergiebt sich keinSchluss, wenn M von keinem X, aber von einigen Nausgesagt wird. Als Beispiele für den bejahendenSchluss nehme man die Begriffe: Geschöpf, Ding,Eins; und für den verneinenden Schlusssatz: Ge-schöpf, Ding, Wissenschaft.

Wenn also der allgemeine Vordersatz entgegenge-setzt wie der beschränkte lautet, so ergiebt sich, wie

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gesagt, manchmal ein Schluss und manchmal nicht;lauten aber beide Vordersätze gleichförmig, alsobeide bejahend oder beide verneinend, so ergiebt sichkein Schluss. So sollen sie zuerst verneinend lautenund der grössere Aussenbegriff soll allgemein genom-men sein, so dass also M in keinem N enthalten undin einigen X nicht enthalten ist. Hier kann N sowohlganz in X, wie gar nicht in X enthalten sein. Als Be-griffe für das Nicht-enthalten sein nehme manSchwarz, Schnee, Geschöpf. Für das in dem ganzen Xenthalten sein kann man aber keine Begriffe aufstel-len, wenn M in einigen X enthalten und in einigen Xnicht enthalten ist. Denn wenn X in dem ganzen Xenthalten und M in keinen N enthalten ist, so muss Min keinem X enthalten sein, während doch angenom-men worden, dass M in einigen X enthalten sei. Eslassen sich also hierfür keine Begriffe als Beispieleaufstellen. Dagegen kann man den Beweis aus derUnbestimmtheit dieses Satzes ableiten. Denn derSatz, dass M in einigen X nicht enthalten ist, bleibtauch wahr, wenn M in keinem X enthalten ist. Fürdiesen Fall aber, dass M in keinem X enthalten war,ergab sich kein Schluss und so ist klar, dass auch hierkeiner statthaben kann.

Nun sollen ferner die Vordersätze bejahend lautenund das Allgemeine soll wie vorher angesetzt sein; essoll also M in dem ganzen N und in einigen X

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enthalten sein; hier kann es kommen, dass N in demganzen X und auch, dass es in keinem X enthalten ist.Als Begriffe für den letzteren Fall nehme man: Weiss,Schwan, Stein. Für den ersten Fall kann man aber ausdemselben Grunde, wie vorher, keine Begriffe aufstel-len, und der Beweis muss auch hier aus der Unbe-stimmtheit des Satzes entnommen werden.

Ist aber das Allgemeine zu dem kleineren Aussen-begriffe genommen und also M in keinem X enthaltenund in einigen N nicht enthalten, so kann N sowohl indem ganzen X wie in gar keinem X enthalten sein.Für das Enthaltensein dienen die Begriffe: Weiss, Ge-schöpf, Rabe; für das Nicht-enthalten sein: Weiss,Stein, Rabe. Lauten aber die Vordersätze bejahend, sonehme man für das Nicht-enthalten sein die Begriffe:Weiss, Geschöpf, Schnee, und für das Enthaltenseindie Begriffe: Weiss, Geschöpf, Schwan.

Sonach ist also klar, dass wenn die Vordersätzegleichförmig lauten, und der eine allgemein, der ande-re beschränkt, in keinem Falle ein Schluss sich er-giebt. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn der Mit-telbegriff in einigen der beiden Aussenbegriffe enthal-ten oder nicht enthalten ist, oder wenn er in einigendes einen Aussenbegriffs enthalten, in einigen des an-deren aber nicht enthalten ist, oder wenn er in keinemvon beiden enthalten ist, oder wenn dies unbestimmtausgedrückt ist. Als Begriffe für alle diese Fälle

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können dienen: Weiss, Geschöpf, Mensch, und:Weiss, Geschöpf, Leblos.

Sonach erhellt aus dem Gesagten, dass wenn dieBegriffe sich so zu einander verhalten, wie angegebenworden, nothwendig ein Schluss sich ergiebt, unddass wenn ein Schluss sich ergiebt, nothwendig dieBegriffe sich so verhalten müssen. Auch ist klar, dassalle Schlüsse in dieser Figur unvollkommen sind(denn alle werden nur vollkommen, wenn noch etwashinzugenommen wird, was entweder den Begriffennothwendig einwohnt, oder was als Voraussetzungangenommen wird) wie in dem Falle, wo der Beweisaus der Unmöglichkeit des Gegentheils geführt wird.Auch erhellt, dass in dieser Figur kein bejahenderSchlusssatz vorkommt, sondern dass alle, sowohl dieallgemeinen, wie die beschränkten verneinend lauten.

Sechstes Kapitel

Wenn in demselben Begriffe ein anderer ganz undein dritter gar nicht enthalten ist, oder wenn beideletztere in jenem ganz oder beide gar nicht enthaltensind, so nenne ich eine solche Schlussfigur die dritte.Mittelbegriff nenne ich hier denjenigen, von dem diebeiden anderen ausgesagt werden und Aussenbegriffediese ausgesagten; denjenigen von diesen, welcher am

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weitesten von dem Mittelbegriff entfernt ist, nenne ichden grösseren und den näheren den kleineren. DerMittelbegriff wird hier ausserhalb der Aussenbegriffegesetzt und ist seiner Stellung nach der letzte. Einvollkommener Schluss entsteht auch in dieser Figurnicht, aber er kann daraus abgeleitet werden, gleich-wohl ob die Aussenbegriffe all gemein, oder nicht all-gemein von dem Mittelbegriff ausgesagt werden.Wenn sie allgemein lauten und wenn P und R in demganzen S enthalten ist, so muss nothwendig P in eini-gen R enthalten sein. Denn da bejahende Sätze sichumkehren lassen, so muss S in einigen R enthaltensein, und wenn sonach P in dem ganzen S, und S ineinigen R enthalten ist, so muss auch P in einigen Renthalten sein, womit sich dann ein Schluss in der er-sten Figur ergiebt. Der Beweis lässt sich auch aus derUnmöglichkeit des Gegentheils und durch Herausset-zung führen; denn wenn beide Aussenbegriffe in demS enthalten sind und man von S einen Theil N heraus-nimmt, so wird in diesem sowohl P wie R enthaltensein, mithin wird auch P in einigen R enthalten sein.

Wenn R in dem ganzen S, P aber gar nicht in Senthalten ist, so ergiebt sich der Schluss, dass P in ei-nigen R nicht enthalten ist. Der Beweis geschieht inderselben Weise, durch Umkehrung des VordersatzesR S. Es kann aber auch durch die Unmöglichkeit dasGegentheil bewiesen werden, wie im vorhergehenden

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Falle.Wenn dagegen R gar nicht in S und P in dem gan-

zen S enthalten ist, so entsteht kein Schluss. Mannehme für die Bejahung die Begriffe: Geschöpf,Pferd, Mensch, und für die Verneinung die Begriffe:Geschöpf, Leblos, Mensch.

Auch wenn beide Aussenbegriffe von keinem Sausgesagt werden, ergiebt sich kein Schluss. Mannehme für die Bejahung die Begriffe: Geschöpf,Pferd, Leblos; und für die Verneinung: Mensch,Pferd, Leblos, wobei Leblos der Mittelbegriff ist.

Sonach erhellt, dass auch in dieser Schlussfigur,wenn die Begriffe allgemein genommen werden, baldein Schluss sich ergiebt, bald nicht. Denn wenn beideAussenbegriffe bejahend lauten, so ergiebt sich derSchluss, dass ein Aussenbegriff in einigen des ande-ren enthalten ist; lauten sie aber verneinend, so er-giebt sich kein Schluss. Lautet dagegen ein Aussenbe-griff verneinend und der andere bejahend, so ergiebtsich dann, wenn der grössere Aussenbegriff vernei-nend und der andere bejahend lautet, der Schluss dassder eine in einigen des anderen nicht enthalten ist;verhalten sie sich aber umgekehrt, so ergiebt sich keinSchluss.

Wenn aber der eine Aussenbegriff allgemein inBezug auf den Mittelbegriff lautet und der andere nurbeschränkt, so muss sich, wenn sie beide bejahend

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lauten, ein Schluss ergeben, gleichviel welcher vonbeiden allgemein lautet. Denn wenn R in dem ganzenS und wenn P in einigen S enthalten ist, so muss P ineinigen R enthalten sein. Denn in Folge der Umkeh-rung des bejahenden Satzes ist S in einigen P enthal-ten und da R in dem ganzen S enthalten ist und S ineinigen P, so wird auch R in einigen P enthalten sein,folglich auch P in einigen R.

Wenn aber R in einigen S und P in allen S enthal-ten ist, so muss P in einigen R enthalten sein. Der Be-weis geschieht hier in derselben Weise; auch kannman es durch die Unmöglichkeit des Gegentheils unddurch Heraussetzung, wie bei den früheren Fällen be-weisen.

Wenn aber von den Aussenbegriffen der eine beja-hend und der andere verneinend, und dabei jener all-gemein lautet und es der kleinere Aussenbegriff ist, soergiebt sich ein Schluss. Denn wenn R in dem ganzenS enthalten ist, P aber in einigen S nicht enthalten ist,so muss P in einigen R nicht enthalten sein. Dennwäre P in allen R enthalten, so würde, da R in allen Senthalten, P auch in allen S enthalten sein, was dochnicht angenommen ist. Dies lässt sich auch auf direkteWeise darthun, wenn man einige von S heraussetzt, indenen P nicht enthalten ist.

Lautet aber der grössere Aussenbegriff bejahend,so giebt es keinen Schluss; nämlich, wenn P in den

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ganzen S enthalten ist und R in einigen S nicht ent-halten ist. Als Begriffe für den Fall, dass denn P indem ganzen R enthalten, nehme man: Lebendig,Mensch, Geschöpf; dagegen lassen sich für den Fall,dass P gar nicht in R enthalten, keine Begriffe aufstel-len, wenn R in einigen S enthalten und in einigen Snicht enthalten ist; denn wenn P in den ganzen S undR in einigen S enthalten ist, so ist auch P in einigen Renthalten; während doch P in keinen R enthalten seinsoll. Indess muss man den Ausdruck »einigen« wiefrüher verstehn; denn der Ausdruck »in einigen nichtenthalten sein« ist zweideutig und auch von dem »inkeinem enthalten sein« kann man in Wahrheit sagen,dass es »in einigen nicht enthalten« ist, und wenn Rin keinem P enthalten, so findet, wie oben gezeigtworden, kein Schluss statt, folglich kann dann auchhier kein Schluss statt haben.

Lautet dagegen der verneinende Satz allgemein undgilt dies für den grösseren Aussenbegriff, während derkleinere bejaht, so ergiebt sich ein Schluss. Dennwenn P in keinem S, R aber in einigen S enthalten ist,so wird P in einigen R nicht enthalten sein. Es ergiebtsich nämlich auch hier eine erste Schlussfigur, wennder Vordersatz R S umgekehrt wird. Lautet dagegender kleinere Aussenbegriff verneinend, so giebt es kei-nen Schluss; denn die Begriffe: Geschöpf, Mensch,Raubthier ergeben einen bejahenden Schlusssatz und

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die Begriffe: Geschöpf, Wissenschaft, Raubthiereinen verneinenden Schlusssatz, wobei Raubthier denMittelbegriff abgiebt.

Auch wenn beide Vordersätze verneinend und dereine allgemein, der andere beschränkt lautet, giebt eskeinen Schluss. Für den Fall, dass der kleinere Begriffallgemein lautet, nehme man das einemal die Begriffe:Geschöpf, Wissenschaft, Raubthier und dann: Ge-schöpf, Mensch, Raubthier. Lautet aber der grössereBegriff allgemein, so nehme man für den verneinen-den Schlusssatz die Begriffe: Rabe, Schnee, Weiss;dagegen kann man für den bejahenden Schlusssatzkeine Begriffe aufstellen im Fall R in einigen S ent-halten und in einigen S nicht enthalten ist. Denn wennP in dem ganzen R enthalten wäre, so würde, da R ineinigen S enthalten ist, auch P in einigen S enthaltensein; während doch gesetzt ist, dass es in keinem Senthalten ist. Dagegen lässt sich der Beweiss, dass Pin allen R enthalten ist, führen, wenn man den Satz,dass R in einigen S nicht enthalten, als unbestimmtnimmt, so dass er auch den Fall befasst, wo R in kei-nem S enthalten ist.

Auch giebt es keinen Schluss, wenn beide Aussen-begriffe von einigen des Mittelbegriffs bejahend oderverneinend lauten, oder der eine bejahend und der an-dere verneinend lautet; oder wenn der eine in einigendes Mittelbegriffs enthalten und der andere nicht in

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dem ganzen Mittelbegriff enthalten ist, oder wenn dieSätze unbestimmt lauten. Für alle diese Fälle könnendienen die Begriffe: Geschöpf, Mensch, Weiss undGeschöpf, Leblos, Weiss.

Hiernach erhellt, wenn in dieser Schlussfigur einSchluss sich ergiebt und wenn nicht und dass, wenndie Begriffe sich angegebener Maassen verhalten,nothwendig auch ein Schluss sich ergiebt und dass,wenn ein Schluss statt hat, nothwendig auch die Be-griffe sich so wie angegeben verhalten müssen. Aucherhellt, dass alle Schlüsse in dieser Figur unvollkom-men sind (denn alle werden erst durch Hinzunahmevon anderem vollkommen) und dass allgemeineSchlusssätze in dieser Figur sich weder als bejahendenoch als verneinende ableiten lassen.

Siebentes Kapitel

Es erhellt auch, dass in allen drei Schlussfiguren inden Fällen, wo kein Schluss aus ihnen gezogen wer-den kann, dann überhaupt Nichts mit Notwendigkeitsich ergiebt, sofern beide Vordersätze bejahend oderverneinend lauten, lautet dagegen der eine Vordersatzbejahend und der andere verneinend und letztererdabei allgemein, so ergiebt sich wenigstens einSchluss, wonach der kleinere Aussenbegriff sich

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irgendwie zu dem grösseren verhält. Dies ist z.B. derFall, wenn A in allen oder einigen B, aber B in kei-nem C enthalten ist; denn wenn man diese Vordersät-ze umkehrt, so muss C in einigen A nicht enthaltensein, und dasselbe findet in den beiden anderenSchlussfiguren statt; denn durch die Umkehrung derVordersätze ergiebt sich immer ein Schluss. Auch istklar, dass wenn man statt des beschränkten bejahen-den Vordersatzes, denselben unbestimmt setzt, sichdann derselbe Schluss in allen Schlussfiguren ergebenwird.

Auch erhellt, dass alle unvollkommenen Schlüsseihre Vollendung durch die erste Schlussfigur erhalten;denn sie gelangen direkt zu ihrem Schlusssatz, oderindirekt vermittelst des Beweises von der Unmöglich-keit des Gegentheils; und in beiden Fällen kommtman dabei zur ersten Schlussfigur und zwar bei dendirekten Beweis, weil da alle ihren Schlusssatz erstdurch Umkehrung eines Vordersatzes erreichen unddiese Umkehrung die erste Schlussfigur herstellt; beidem Unmöglichkeitsbeweis aber deshalb, weil, wenndas Falsche angesetzt wird, auch hier der Schluss inder ersten Figur erfolgt. Wenn z.B. in der drittenFigur A und B in dem ganzen C enthalten sind, solautet der Schluss, dass A in einigen B enthalten ist;denn wäre A in keinem B enthalten, so müsste, da Bin allen C enthalten ist, A in keinem C enthalten sein,

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was unmöglich ist, da es als in allen C enthalten an-gesetzt worden ist. Aehnlich verhält es sich bei denanderen Schlussfiguren.

Auch kann man alle Schlüsse auf allgemeineSchlüsse der ersten Figur zurückführen; denn beidenen der zweiten Figur erhellt, dass sie alle erstdurch solche zu vollkommenen werden; nur geschiehtdies nicht auf die gleiche Weise bei allen, sondern beiden allgemein verneinenden durch Umkehrung undbei den beschränkten dadurch, dass bei jedem dersel-ben die Unmöglichkeit des Gegentheils nachgewiesenwird. Die beschränkt lautenden Schlüsse der erstenFigur, sind zwar in sich selbst vollkommen, dochkann man ihre Richtigkeit auch mittelst der zweitenFigur durch die Unmöglichkeit des Gegentheils be-weisen. Wenn z.B. A in dem ganzen B und B in eini-gen C enthalten ist, so kann man auf diese Weise zei-gen, dass A in einigen C enthalten ist; denn wenn Ain keinem C enthalten wäre, aber A in dem ganzen B,so würde B in keinem C enthalten sein, welchenSchluss man durch die zweite Figur erhält. Ebensolässt sich der Beweis bei dem verneinenden Obersatzführen; denn wenn A in keinem B enthalten ist, Baber in einigen C enthalten ist, so wird A in einigen Cnicht enthalten sein; denn wäre A in dem ganzen Centhalten, so würde, da A in keinem B enthalten ist, Bin keinem C enthalten sein, was ein Schluss der

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zweiten Figur ist. Wenn also alle Schlüsse der zwei-ten Figur sich auf die allgemeinen Schlüsse der erstenFigur zurückführen lassen und die beschränkt lauten-den der ersten Figur sich auf Schlüsse der zweitenFigur zurückführen lassen, so erhellt, dass auch diebeschränkt lautenden der ersten Figur sich auf die all-gemeinen Schlüsse der ersten Figur zurückführen las-sen. Was aber die Schlüsse der dritten Figur anlangt,so lassen sie sich, wenn sie allgemein lauten, sofortdurch Schlüsse der ersten Figur zu vollkommnen ma-chen; lauten sie aber beschränkt, so werden sie durchbeschränkte Schlüsse der ersten Figur zu vollkomme-nen; und da diese sich in allgemeine der ersten Figurumwandeln lassen, so gilt dies auch von den be-schränkten Schlüssen der dritten Figur. Somit erhellt,dass sich alle Schlüsse auf allgemeine Schlüsse derersten Figur zurückführen lassen.

Hiermit habe ich dargelegt, wie sich die Schlüsse,welche das einfache Sein oder Nicht-sein ausdrücken,zu einander verhalten und zwar wie sich die Schlüssederselben Figur zu einander und wie die Schlüsse ver-schiedener Figuren zu einander sich verhalten.

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Achtes Kapitel

Da das einfache Sein und das nothwendige Seinund das statthafte Sein verschieden sind (denn Vielesist zwar, aber nicht aus Nothwendigkeit und Anderesist weder aus Nothwendigkeit, noch ist es überhaupt,aber das Sein desselben ist statthaft), so erhellt, dassauch die aus diesen unterschiedenen Arten zu sein ge-bildeten Schlüsse von einander verschieden sein wer-den, und zwar auch dann, wenn die beiden Vordersät-ze in einem Schlüsse nicht gleichartig lauten, sondernder eine das nothwendige, der andere das einfacheSein oder das blos statthafte Sein ausdrückt.

Mit den Schlüssen aus nothwendigen Vordersätzenverhält es sich ziemlich so, wie mit denen aus Vorder-sätzen, die nur das einfache Sein ausdrücken; dennwenn die nothwendigen Vordersätze ebenso gestelltsind, wie die Vordersätze, welche das einfache Seinausdrücken und auch in den Bejahen oder Verneinenmit jenen übereinstimmen, so wird sich aus den noth-wendigen Vordersätzen ebenso, wie aus den, das ein-fache Sein ausdrückenden Vordersätzen, ein Schlussergeben oder nicht ergeben, und jene werden sich nurdadurch von diesen unterscheiden, dass bei ihnen dieBejahung oder Verneinung eine nothwendige ist.

Auch die Umkehrung der verneinenden Sätze findet

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bei den nothwendigen ebenso statt, und die Aus-drücke »im Ganzen enthalten sein« und »von allenausgesagt werden« haben hier den gleichen Sinn, wiedort. Es wird daher in allen Fällen, mit Ausnahme dernachfolgenden zwei, vermittelst der Umkehrung inderselben Weise die Nothwendigkeit des Schlusssat-zes dargelegt werden, wie da, wo die Schlüsse nurauf das einfache Sein lauten. Wenn dagegen in derzweiten Figur der bejahende Vordersatz allgemeinund der verneinende beschränkt lautet und wenn inder dritten Figur der bejahende Satz allgemein undder beschränkte verneinend lautet, so findet für dieNothwendigkeits-Schlüsse nicht der gleiche Beweisstatt, sondern man muss dann aus dem betreffendenBegriffe den Theil herausnehmen, in welchem jederder beiden anderen nicht enthalten ist, und in Bezugauf diesen Theil den Schluss ziehen; denn für diesenTheil wird er als ein nothwendiger sich ergeben. Istnun das für den herausgenommenen Theil der Fall, sowird er auch für Einiges vom ganzen Begriff ein noth-wendiger sein, weil der herausgenommene Theil Eini-ges vom ganzen Mittelbegriff darstellt. Dabei voll-zieht sich aber jeder Schluss in der ihm eigenthümli-chen Schlussfigur.

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Neuntes Kapitel

Es kommt mitunter vor, dass wenn auch nur einerder Vordersätze in der ersten Figur ein nothwendigerist dennoch der Schlusssatz ein nothwendiger ist; nurist es nicht gleichgiltig, welcher Vordersatz das ist,sondern es muss der Vordersatz mit dem grösserenAussenbegriff sein. Wenn z.B. angenommen wird,dass A in B nothwendig enthalten oder nicht enthaltenist, während B in C nur einfach enthalten ist, so ist,bei solcher Annahme der Vordersätze, A in C noth-wendig enthalten oder nicht-enthalten. Denn da A indem ganzen B nothwendig enthalten odernicht-enthalten ist und C einiges von B ist so erhellt,dass auch C nothwendig eines oder das andere seinmuss. Ist aber der Obersatz A B nicht nothwendig,aber der Untersatz B C nothwendig, so ist derSchlusssatz kein nothwendiger. Denn wäre dies derFall so würde vermittelst der ersten und dritten Figursich ergeben, dass auch A in einigen B nothwendigenthalten sein müsste, welcher Satz falsch wäre, dennB kann der Art sein, dass statthafterweise A in kei-nem B enthalten ist. Auch aus den Begriffen erhellt,dass in diesem Falle der Schlusssatz kein nothwendi-ger ist. Man nehme z.B. für A die Bewegung, für Bdas Geschöpf und für C den Menschen. Hier ist der

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Mensch nothwendig mit dem Geschöpf, aber die Be-wegung ist nicht nothwendig mit dem Geschöpf ver-bunden, also auch nicht mit dem Menschen. Ebensoverhält es sich wenn der Satz A B verneinend lautet;der Beweis ist der nämliche.

Bei den beschränkten Schlüssen der ersten Figurist wenn der allgemeine Satz nothwendig ist, auch derSchlusssatz nothwendig; ist aber nur der beschränkteSatz nothwendig, so ist der Schlusssatz nicht noth-wendig, mag der allgemeine Satz dabei bejahend oderverneinend lauten. Denn es sei erstens der allgemeineSatz ein nothwendiger und A soll in dem ganzen Bnothwendig enthalten sein, während B in einigen Cnur einfach enthalten ist; hier muss A nothwendig ineinigen C enthalten sein, denn C ist unter dem B be-griffen und A war in dem ganzen B nothwendig ent-halten. Ebenso verhält es sich, wenn der Schluss ver-neinend lautet, denn der Beweis ist derselbe. Lautetaber nur der beschränkte Satz nothwendig, so ist derSchlusssatz kein nothwendiger; denn es ergiebt sichdann eben so wenig, wie oben bei den allgemeinenSchlüssen, etwas unmögliches und dies gilt auch fürden Fall, dass der Obersatz verneinend lautet, wie dieBegriffe: Bewegung, Geschöpf, Weisses ergeben.

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Zehntes Kapitel

In der zweiten Schlussfigur wird, wenn der vernei-nende Vordersatz ein nothwendiger ist, auch derSchlusssatz ein nothwendiger sein; ist aber nur derbejahende Vordersatz ein nothwendiger, so ist derSchlusssatz kein nothwendiger. Denn es sei also zu-nächst der verneinende Vordersatz ein nothwendigerund A soll nothwendig in keinem B enthalten sein,aber in C soll A einfach enthalten sein. Da nun derverneinende Satz sich umkehren lässt, so ist auch Bnothwendig in keinem A enthalten, aber A ist in allenC enthalten, so dass also auch B nothwendig in kei-nem C enthalten ist, weil C unter dem A steht.

Das Gleiche ergiebt sich, wenn die Verneinung mitC verbunden wird; denn wenn A nothwendig in kei-nem C enthalten ist, so muss auch C nothwendig inkeinem A enthalten sein; nun ist aber A in allen Benthalten, folglich muss auch C nothwendig in keinemB sein; denn auch hier ergiebt sich die ersteSchlussfigur. Mithin ist auch B nothwendig in keinemC enthalten, da der Satz sich ebenfalls umkehrenlässt.

Ist aber nur der bejahende Vordersatz ein nothwen-diger, so ergiebt sich kein nothwendiger Schlusssatz,denn es sei A in allen B nothwendig enthalten, aber in

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allen C einfach nicht-enthalten. Wenn man hier denverneinenden Satz umkehrt, so ergiebt sich die ersteSchlussfigur. Nun ist aber bereits bei dieser Figurdargelegt worden, dass wenn der den grösseren Aus-senbegriff enthaltende Vordersatz kein nothwendigerist, dann auch der Schlusssatz kein nothwendiger ist,folglich wird auch hier der Schlusssatz kein nothwen-diger sein. Auch würde, wenn der Schlusssatz einnothwendiger wäre folgen, dass dann auch C in eini-gen A nothwendig nicht-enthalten sein müsste. Dennwenn B nothwendig in keinem C enthalten wäre, somüsste auch C nothwendig in keinem B enthaltensein; nun muss aber B in einigen A nothwendig ent-halten sein, da A in allen B nothwendig enthalten ge-setzt ist, folglich muss auch C in einigen A nothwen-dig nicht-enthalten sein. Aber nichts hindert, das Aals ein solches anzunehmen, in dessen ganzem Um-fang C statthafterweise enthalten ist. Auch kann mandurch Aufstellung von Begriffen zeigen, dass derSchlusssatz nicht immer ein nothwendiger ist, son-dern nur dann, wenn diese Begriffe sich als nothwen-dig-verbundene verhalten. So sei s. B. A das Ge-schöpf, B der Mensch, C das Weisse und man stelledanach die Vordersätze auf. Hier kann das Geschöpfstatthafterweise in keinem Weissen enthalten sein;folglich wird dann auch der Mensch in keinem Weis-sen enthalten sein, also auch nicht

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nothwendigerweise; denn es ist statthaft, dass er weisswerden kann, indess nicht so lange das Geschöpf inkeinem Weissen enthalten ist. Wenn also die Begriffesich so zu einander verhalten, so muss der Schluss einnothwendiger sein, aber immer wird er es nicht sein.

Ebenso verhält es sich mit den beschränktenSchlüssen in der zweiten Figur. Wenn nämlich derverneinende Vordersatz ein allgemeiner und nothwen-diger ist, so wird auch der Schlusssatz ein nothwendi-ger sein. Lautet aber der bejahende Vordersatz allge-mein und der beschränkte verneinend, so ergiebt sichder Schlusssatz nicht als ein nothwendiger. Es sollalso zuerst der allgemein verneinende Vordersatz einnothwendiger sein und A soll nothwendig in keinemB enthalten sein, aber in einigen C einfach enthaltensein. Da nun der verneinende Satz sich umkehrenlässt, so wird auch B nothwendig in keinem A enthal-ten sein; nun ist aber A in einigen C enthalten, alsowird auch B nothwendig in einigen C nicht enthaltensein.

Nun soll aber der allgemein bejahende Vordersatzein nothwendiger und die Bejahung mit dem B ver-bunden sein. Wenn also hiernach A in allen B noth-wendig enthalten ist, aber in einigen C nicht enthaltenist, so erhellt, dass auch B in einigen C nicht enthal-ten ist, aber ohne dass dies nothwendig ist; da zumBeweis dieselben Begriffe wie bei den allgemeinen

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Schlüssen benutzt werden können. Auch wenn derverneinende beschränkte Satz ein nothwendiger ist,ergiebt sich der Schluss nicht als ein nothwendiger,denn man kann dies mittelst derselben Begriffe bewei-sen.

Elftes Kapitel

Wenn in der dritten Schlussfigur die Aussenbe-griffe sich allgemein zu dem Mittelbegriffe verhaltenund beide Vordersätze bejahend lauten, so ergiebtsich ein nothwendiger Schlusssatz, wenn auch nureiner der Vordersätze ein nothwendiger ist, gleichvielwelcher. Lautet aber der eine Vordersatz verneinendund der andere bejahend, so ist der Schlusssatz nurdann ein nothwendiger, wenn der verneinende Vorder-satz der nothwendige ist; ist aber der bejahende Vor-dersatz der nothwendige, so ist der Schlusssatz keinnothwendiger.

Es sollen also zunächst beide Vordersätze bejahendlauten und A und B sollen beide in dem ganzen C ent-halten sein, aber nur der Satz A C soll ein nothwendi-ger sein. Da nun hier B in dem ganzen C enthalten ist,so wird auch C in einigen B enthalten sein, weil die-ser allgemeine Satz sich in einen beschränkten um-kehren lässt; da nun A in allen C nothwendig

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enthalten ist und da C in einigen B enthalten ist, somuss auch A in einigen B nothwendig enthalten sein,denn B ist unter dem C enthalten. Es hat sich alsohier die erste Schlussfigur ergeben. Ebenso wird derBeweis geführt, wenn der Vordersatz B C der noth-wendige ist; denn in Folge der Umkehrung von A Cist C in einigen A enthalten und wenn also B in allenC nothwendig enthalten ist, so wird B auch in einigenA nothwendig enthalten sein.

Es sei ferner der Satz A C verneinend und der SatzB C bejahend, aber der verneinende der nothwendige.Da hier der Satz B C sich in den Satz umkehren lässt,dass C in einigen B enthalten ist, aber A nothwendigin keinem C enthalten ist, so muss auch A nothwen-dig in einigen B nicht enthalten sein, denn B ist hierunter C enthalten.

Ist aber der bejahende Satz ein nothwendiger, sowird der Schlusssatz kein nothwendiger. Denn es seider Satz B C der bejahende und notwendige, der SatzA C aber verneinend und nicht nothwendig. Da nunder bejahende Satz sich umkehren lässt, so wird C ineinigen B nothwendig enthalten sein und da A in kei-nem C enthalten ist, C aber in einigen B, so wird auchA in einigen B nicht enthalten sein, aber nicht noth-wendigerweise, denn ich habe schon bei der erstenSchlussfigur gezeigt, dass wenn da der verneinendeVordersatz kein nothwendiger ist, auch der

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Schlusssatz kein nothwendiger ist. Auch erhellt diesaus den Begriffen selbst. Denn es sei A das Gute, Bdas Geschöpf und C das Pferd. Hier braucht das Gutein keinem Pferde enthalten zu sein, aber das Geschöpfist nothwendig in jedem Pferde enthalten. Dennoch istes nicht nothwendig, dass einige Geschöpfe nicht gutseien, da es ja statthaft ist, dass alle Geschöpfe gutsind. Sollte indess dies nicht möglich sein, so nehmeman dafür das Wahre oder Schlechte, denn deren istjedes Geschöpf fähig.

Somit habe ich gesagt, in welchen Fällen bei allge-meinen Vordersätzen der Schlusssatz ein nothwendi-ger ist. Lautet dagegen ein Vordersatz allgemein, undder andere beschränkt, und dabei beide bejahend, soergiebt sich ein nothwendiger Schlusssatz, wenn derallgemeine Vordersatz ein nothwendiger ist. Der Be-weis geschieht hier eben so wie vorher; denn der be-schränkt bejahende Satz lässt sich umkehren. Istdaher B nothwendig in dem ganzen C enthalten, undist A unter dem C enthalten, so muss auch B noth-wendig in einigen A enthalten sein, und wenn dies derFall ist, so muss auch A in einigen B nothwendig ent-halten sein, da auch hier die Umkehrung stattfindet.Eben so verhält es sich, wenn des allgemeine Satz AC ein nothwendiger ist, denn B ist dann unter dem Centhalten.

Ist dagegen der beschränkte Satz ein nothwendiger,

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so ergiebt sich kein nothwendiger Schluss. Denn essei der Satz B C der beschränkte und nothwendigeund A soll in dem ganzen C enthalten, aber nichtnothwendig enthalten sein. Wenn hier der Satz B Cumgekehrt wird, so ergiebt sich diejenige ersteSchlussfigur, wo der allgemeine Vordersatz nichtnothwendig ist, aber wohl der beschränkte. Nur ergabsich da, wenn die Vordersätze sich so verhielten, keinnothwendiger Schlusssatz, und deshalb wird auch indem Falle hier ein solcher sich nicht ergeben.

Auch erhellt dies aus den Begriffen selbst. Denn essei A das Wachen, B das Zweifüssige, C das Ge-schöpf. Hier erhellt, dass B in einigen C nothwendigenthalten ist, während A statthafterweise in C enthal-ten sein kann; demnach ist A in dem Bnicht-nothwendig enthalten, da das Zweifüssige wedernothwendig schlafen noch wachen muss. Mittelstderselben Begriffe lässt sich auch der Beweis führen,wenn der Satz A C der beschränkte und nothwendigeist.

Lautet dagegen ein Vordersatz bejahend, der ande-re aber verneinend, so ergiebt sich dann ein nothwen-diger Schlusssatz, wenn der verneinende Satz ein all-gemeiner und nothwendiger ist; denn wenn A noth-wendig in keinem C enthalten ist, aber B in einigen Csich befindet, so muss A nothwendig in einigen Bnicht enthalten sein. Wird dagegen der bejahende Satz

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als ein nothwendiger gesetzt, so ergiebt sich keinnothwendiger Schlusssatz, mag er allgemein oder be-schränkt oder der verneinende Satz beschränkt lauten.Man kann nämlich hier behufs des Beweises alles so,wie in den früheren Fällen, geltend machen; nurnehme man zu Begriffen für den Fall, dass der allge-mein bejahende Satz ein nothwendiger ist, das Wa-chen, Geschöpf, Mensch, wo Mensch der Mittelbe-griff ist; ist aber der beschränkte bejahende Satz dernothwendige, so nehme man die Begriffe: Wachen,Geschöpf, Weisses; denn das Geschöpf muss noth-wendig in einigen Weissen enthalten sein, aber dasWachen kann statthafterweise in keinem Geschöpfenthalten sein und es ist nicht nothwendig, dass dasWachen in einigen Geschöpfen nicht enthalten sei. Istendlich der beschränkte verneinende Satz der noth-wendige, so nehme man zum Beweise die Begriffe:Zweifüssige, Bewegt, Geschöpf, wo Geschöpf derMittelbegriff ist.

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Zwölftes Kapitel

Hiernach erhellt, dass ein Schluss auf das einfacheSein nicht stattfindet, wenn nicht beide Vordersätzeebenfalls das einfache Sein ausdrücken; dagegen kannein Schlusssatz schon ein nothwendiger werden, wennauch nur ein Vordersatz ein nothwendiger ist. Indessmuss sowohl in den bejahenden, wie in den vernei-nenden Schlüssen der eine Vordersatz ähnlich wie derSchlusssatz lauten; worunter ich meine, dass wenn derVordersatz auf das einfache Sein lautet, auch derSchlusssatz so lauten muss, und wenn jener ein noth-wendiger ist, auch dieser ein nothwendiger sein muss.Daraus erhellt denn auch, dass ein Schlusssatz wederein nothwendiger, noch ein einfach seiender werdenkann, wenn nicht ein Vordersatz in gleicher Weise alsein nothwendiger oder einfach seiender angesetzt wor-den ist.

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Dreizehntes Kapitel

Ueber die Notwendigkeit bei den Schlüssen, wiesie sich ergiebt und wie sie sich von dem einfachenSein unterscheidet, habe ich wohl nunmehr das Notlü-ge dargelegt. Ich werde also nunmehr über das statt-hafte Sein sprechen und untersuchen, wenn und wieund durch welche Vordersätze sich hier ein Schluss-satz ergiebt. Ich nenne aber dasjenige statthaft undein statthaftes Sein, was zwar nicht nothwendig ist,aber aus dessen Annahme sich auch kein unmöglichesergiebt; in einem anderen Sinne wird nämlich auchdas Nothwendige als statthaft bezeichnet. Dass nundas Statthafte sich so verhält, erhellt aus den bejahen-den und verneinenden Gegensätzen; denn dasNicht-statthaft-Sein und das Unmöglich-Sein und dasNothwendig-nicht-Sein bezeichnen dasselbe und kön-nen sich gegen einander austauschen; folglich gilt diesauch von ihren widersprechenden Gegensätzen, näm-lich von dem Statthaft-Sein, dem Nicht-unmöglich-Sein und dem Nicht-nothwendig-Nicht-sein; auch diese bezeichnen das-selbe und können mit einander ausgetauscht werden;denn von jedem Dinge gilt entweder die Bejahungoder die Verneinung. Sonach ist also das Statthaftenicht-nothwendig und das Nicht-nothwendige

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statthaft.Es ergiebt sich auch, dass alle Vordersätze, welche

ein statthaftes Sein ausdrücken, in den entgegenge-setzten Satz umgekehrt werden können. Ich meinedamit nicht, dass die bejahenden Sätze sich in beja-hende umkehren lassen, sondern dass alle Sätze vonbejahender Form sich in die gegensätzliche Vernei-nung umkehren lassen. So kann z.B. das statthafteEnthaltensein in das statthafte Nicht-enthalten-seinumgekehrt werden; ferner das statthafteIn-allen-Enthalten-sein in das statthafteIn-keinem-Enthalten-sein, oder in das »Nicht-in-allen-Enthalten-sein«. Eben so kann dasIn-einigen-Enthalten-sein umgekehrt werden in dasIn-einigen-Nicht-enthalten-sein. Dasselbe gilt auchvon jenen anderen Ausdrücken; denn da das Statthaftenicht-nothwendig ist und das Nicht-nothwendigestatthafterweise nicht-sein kann, so erhellt, dass wennA statthafterweise in B enthalten ist, es auch statthaftist, dass A nicht in B enthalten ist; und wenn A statt-hafterweise in allen B enthalten ist, so ist es auchstatthaft, dass A in keinem B enthalten ist. Dasselbegilt auch für die beschränkten Bejahungen; denn derBeweis ist derselbe. Solche Sätze sind überhaupt be-jahende und nicht verneinende; denn das Statthaftewird eben so wie das Sein den Begriffen im Satze zu-gesetzt, wie ich schon früher gesagt habe.

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Nachdem ich dies auseinandergesetzt habe, so sageich nochmals, dass das Statthafte in einem zwiefachenSinne gebraucht wird; einmal für das, was meisten-theils geschieht und wo das Nothwendige weggelas-sen ist, z.B. für das grau werden des Menschen oderfür sein Wachsen oder für sein Abnehmen und über-haupt für sein naturgemässes Sein (denn dieses ent-hält nicht ununterbrochen das Nothwendige, weil derMensch nicht immer ist, da er nämlich bald aus Not-wendigkeit, bald nur meistentheils Mensch werdenkann.) Zweitens bezeichnet das Statthafte das Unbe-stimmte, was so und auch nicht-so sein kann, wie z.B.das Gehen bei einem Geschöpf, oder das Donnern,während man geht, oder überhaupt das zufällige Ge-schehen; denn hier neigt das Statthafte nicht mehr zudem Einem wie zu dem entgegengesetzten.

Das Statthafte lässt sich nun in seinen beiden Be-deutungen in die entgegengesetzten Aussagen umkeh-ren, indess nicht in gleicher Weise; vielmehr kann dasnaturgemässe Sein sich in das Nicht-nothwendigeSein umkehren (denn in diesem Sinne ist es statthaft,dass ein Mensch nicht grau wird); das unbestimmteStatthafte kann dagegen in das »Nicht mehr so, wienicht-so Sein« umgekehrt werden. Von dem solcherGestalt Unbestimmten giebt es keine Wissenschaftund keinen beweisenden Schluss, weil hier kein festerund gewisser Mittelbegriff gesetzt werden kann,

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dagegen giebt es eine Wissenschaft und Schlüsse fürdas Naturgemässe. Die Reden und Untersuchungenbehandeln meistentheils ein solches Statthafte. Beidem unbestimmten Statthaften vermag man wohleinen Schluss zu Stande zu bringen, indess pflegt mannicht darauf auszugeben.

Vorstehendes wird in dem Folgenden näher ausein-andergesetzt werden, jetzt will ich aber angeben,wenn und welcher Art ein Schluss aus statthaftenVordersätzen sich ergiebt. Da nun der Ausdruck, essei statthaft, dass dieses in jenem enthalten ist, inzwiefachem Sinne aufgefasst werden kann, nämlichentweder so, dass dieses in jenem enthalten ist, oderdass es in jenem statthafterweise enthalten sein kann;denn der Ausdruck: dass A in den mit B bezeichnetenDingen statthaft sei, sagt entweder: dass A in denDingen enthalten sei, von denen B ausgesagt wird,oder in denen, von welchen B statthafterweise ausge-sagt werden kann; dagegen haben der Ausdruck, dassA in den mit B bezeichneten Dingen statthafterweiseenthalten, und der Ausdruck, dass A in dem ganzen Bstatthafterweise enthalten sei, denselben Sinn; so er-hellt, dass man auch in zwiefachem Sinne sagen kann,A sei statthafterweise in dem ganzen B enthalten.

Zunächst werde ich nun sagen, ob, wenn B statthaf-terweise in den mit C bezeichneten Dingen und Astatthafterweise in den mit B bezeichneten Dingen

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enthalten ist, dann ein Schluss sich ergiebt und vonwelcher Art. Denn in dieser Weise gilt das Statthaft-sein von beiden Vordersätzen; wenn aber von denDingen, in welchen B enthalten ist, A statthaft ist, sobezeichnet der eine Vordersatz das einfache Sein, derandere das statthafte Sein. Sonach habe ich, wie inden früheren Fällen, mit den gleichartig lautendenVordersätzen zu beginnen.

Vierzehntes Kapitel

Wenn also A in dem ganzen B statthafterweise ent-halten ist und ebenso B in dem ganzen C, so ergiebtsich der vollkommene Schluss, dass A in dem ganzenC statthafterweise enthalten ist. Dies erhellt aus derobigen Begriffsbestimmung, denn ich habe das »statt-hafter Weise in dem Ganzen enthalten sein« so er-klärt. Ebenso ist, wenn A statthafterweise in keinemB, und B statthafterweise in dem ganzen C enthaltenist, A statthafterweise in keinem C enthalten. Dennwenn man setzt, dass bei den Dingen, bei welchen Bstatthaft ist, A nicht statthaft sei, so bedeutet dies soviel, als dass dann hiervon keines der Dinge, bei wel-chen B statthaft ist, eine Ausnahme mache. Wenn da-gegen A statthafterweise in dem ganzen B enthaltenist, aber B in keinem C, so ergiebt sich aus

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solchergestalt angesetzten Vordersätzen kein Schluss;kehrt man aber den Satz B C in sein statthaftes Ge-gentheil um, so ergiebt sich derselbe Schluss, wievorher. Denn wenn es statthaft ist, dass B in keinemC enthalten ist, so ist es auch statthaft, dass es inallen C enthalten ist, wie ich früher dargelegt habe,und wenn dann B in dem ganzen C, und A in demganzen B enthalten ist, so ergiebt sich derselbeSchluss, wie vorhin. Ebenso verhält es sich, wenn dieVerneinung als statthaft in beiden Vordersätzen ge-setzt wird, wenn also A statthafterweise in keinem B,und B statthafterweise in keinem C enthalten ist. Hierergiebt sich aus solchergestalt angesetzten Vordersät-zen kein Schluss, kehrt man sie aber in die bejahen-den um, so ergiebt sich derselbe Schluss, wie vorher.Es erhellt also, dass, mag man blos den Untersatzoder mag man beide Vordersätze verneinend aus-drücken, entweder kein Schluss sich ergiebt, oderdass zwar ein solcher sich ergiebt, aber kein vollkom-mener, weil die Nothwendigkeit des Schlusses erstaus der Umkehrung entsteht.

Wird aber nur ein Vordersatz allgemein genom-men, und der andere beschränkt, so ergiebt sich einvollkommener Schluss nur dann, wenn der Obersatzallgemein leitet. Ist nämlich A statthafterweise in denganzen B, und B statthafterweise in einigen C enthal-ten, so erhellt aus der Definition des Statthaften, dass

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A in einigen C statthafterweise enthalten ist. Ebensomuss, wenn A statthafterweise in keinem B, B aberstatthafterweise in einigen C enthalten ist, A in eini-gen C statthafterweise nicht-enthalten sein und derBeweis ist derselbe wie vorher. Wird aber der be-schränkte Vordersatz verneinend gesetzt, und der all-gemeine bejahend und lauten beide auf das statt-haft-sein, also dass A statthafterweise in allen B ent-halten, B aber in einigen C statthafterweise nicht ent-halten ist, so ergiebt sich, bei solcher Annahme derVordersätze kein deutlicher Schluss; kehrt man aberden beschränkten Vordersatz um und setzt man, dassB statthafterweise in einigen C enthalten ist, so er-giebt sich derselbe frühere Schlusssatz, wie in den zu-erst behandelten Fällen. Wird aber der Obersatz mitdem grösseren Aussenbegriffe beschränkt gesetzt undder Untersatz dagegen allgemein, so ergiebt sich inkeinem Falle ein Schlusssatz, mag man beide Vorder-sätze bejahend oder beide verneinend oder einen beja-hend und den andern verneinend, oder beide unbe-stimmt oder nur den beschränkten Vordersatz unbe-stimmt ansetzen. Denn dann hindert nichts, dass derUmfang des Begriffs B über den Umfang des BegriffsA hinausreicht und dass A nicht in gleicher Weisevon allen B ausgesagt werden kann; man nehme alsodann das C für den Theil von B, der über A hinaus-geht; und in diesem C kann A weder in dem ganzen,

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noch in ihm gar nicht, noch in einigen von diesemTheile, noch nicht in einigen statthafterweise enthal-ten sein, weil die auf das Statthafte lautenden Vorder-sätze sich umkehren lassen und B einen grösserenUmfang haben kann, als A. Dies ergiebt sich auch ausden Begriffen selbst, denn wenn die Vordersätze solauten, so ist offenbar der obere Aussenbegriff statt-hafterweise in dem letzten bald ganz bald gar nichtenthalten. Als Begriffe, welche für alle die Fälle gel-ten, wo der Oberbegriff in dem Unterbegriff enthaltensein muss, nehme man: Geschöpf, Weisses, Mensch;und für die Fälle, wo dies nicht sein kann: Geschöpf,Weisses, Mantel. Somit erhellt, dass bei einem sol-chen Verhalten der Begriffe sich kein Schluss ergiebt;denn jeder Schluss geht entweder auf das einfacheSein, oder auf das nothwendige oder auf das statthafteSein und es erhellt, dass der Schluss hier nicht auf daseinfache oder auf das nothwendige Sein gehen kann:denn der bejahende Schluss wird durch den vernei-nenden Schluss aufgehoben und der verneinendedurch den bejahenden. Somit bliebe nur ein Schlussauf das statthafte Sein übrig; allein ein solcher ist hierunmöglich, da gezeigt worden ist, dass bei solchemVerhalten der Begriffe der Oberbegriff sowohl in demganzen Unterbegriff, wie auch gar nicht in ihm ent-halten sein muss. Also würde auch kein Schluss aufdas statthafte Sein sich ergeben, denn das

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Nothwendige ist kein Statthaftes.Hiernach ist klar, dass wenn in den auf das Statt-

hafte lautenden Vordersätzen die Begriffe sich allge-mein verhalten, in der ersten Schlussfigur sich immerein Schluss ergiebt, mögen die Sätze bejahend oderverneinend leiten; indess sind nur die bejahendenvollkommene Schlüsse, die verneinenden aber unvoll-kommene. Man darf jedoch das Statthafte hier nicht indem Sinne eines Nothwendigen nehmen, sondern indem früher angegebenen Sinne. Bisweilen wird diesübersehen.

Fünfzehntes Kapitel

Lautet aber ein Vordersatz auf das einfache Seinder andere dagegen auf das Statthafte, so sind dieSchlüsse wenn der Obersatz auf das Statthafte lautet,sämmtlich vollkommene und sie lauten dann auf dasStatthafte in dem angegebenen Sinne. Ist aber dasStatthafte mit dem Untersatz verbunden, so sindsämmtliche Schlüsse unvollkommen und die vernei-nenden Schlüsse lauten dann nicht auf das Statthaftein dem angegebenen Sinne, sondern dahin, dass derOberbegriff nothwendig entweder in keinem odernicht in allen des Unterbegriffs enthalten sei; dennwenn etwas nothwendig in keinem oder nicht in allen

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eines Andern enthalten ist, so sagt man auch dafür essei statthaft, dass es in keinem oder nicht in allen ent-halten sei.

Demnach nehme man also an, dass A statthafter-weise in dem ganzen B und B in dem ganzen C ein-fach enthalten sei. Da nun hier C unter dem B enthal-ten ist, und in den ganzen B statthafterweise A enthal-ten ist, so erhellt, dass A auch statthafterweise in Centhalten ist. Ebenso ist es, wenn der Obersatz A Bverneinend lautet und der Untersatz B C bejahend undjener nur als ein statthafter, dieser aber als ein ein-fach-seiender angenommen wird; auch hier ist derSchluss vollkommen und zwar geht er dahin, dass Ain keinem C statthafterweise enthalten ist.

Setzt man also das einfache Sein zu dem Unterbe-griff, so erhellt, dass sich vollkommene Schlüsse er-geben. Wenn dabei aber die Vordersätze sich entge-gengesetzt verhalten, so kann durch den Beweis derUnmöglichkeit das Gegentheil dargelegt werden, dasssich Schlusssätze ergeben. Indess ergiebt sich damitauch, dass diese Schlüsse unvollkommene sind, weilder Beweis nicht geradezu aus den angesetzten Vor-dersätzen geführt werden kann.

Ich muss aber zunächst bemerken, dass sofernwenn A ist, nothwendig B sein muss, dann auch ausdem blossen Möglich-sein des A das Möglich-seindes B mit Nothwendigkeit folgt. Nun sei, wenn A und

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B sich so verhalten, das, was A bezeichnet, möglich,und das, was B bezeichnet, unmöglich. Da nun dasMögliche, weil es möglich ist, wirklich werden unddas Unmögliche, weil es unmöglich ist, nicht wirklichwerden kann, so könnte, wenn A möglich und B un-möglich wäre, A ohne das B werden und wenn eswerden kann, auch sein; denn das Gewordene ist,weil es geworden ist. Nun darf man aber das Mögli-che und Unmögliche nicht blos auf das Werden bezie-hen, sondern auch auf das wahrhafte Aussagen undauf das Sein und auf das, was sonst unter »möglich«noch verstanden wird; in allen diesen Bedeutungenwird es sich eben so verhalten. Auch darf man denSatz, dass wenn A ist, auch B sei, nicht so auffassen,als wenn B auch dann wäre, wenn A nur Eines ist.Denn aus dem Sein von Einem allein folgt keineNothwendigkeit, vielmehr müssen mindestens Zweiesein, da ja der Schlusssatz sich erst als ein nothwendi-ger ergiebt, wenn die Vordersätze sich so, wie ange-geben, verhalten. Denn wenn C zu D und D zu Z sichso verhalten, muss nothwendig C sich zu Z verhalten,und wenn beide Vordersätze nur die Möglichkeit aus-sprechen, so wird auch der Schlusssatz nur auf dieMöglichkeit lauten. Wenn man also die beiden Vor-dersätze mit A und den Schlusssatz mit B bezeichnet,so ergiebt sich nicht blos, dass wenn A auf das Noth-wendige lautet, auch B auf das Nothwendige lautet,

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sondern auch, dass wenn A blos die Möglichkeit aus-drückt, auch der Schlusssatz blos die Möglichkeitausdrücken wird.

In Folge dieser Darlegung erhellt, dass wenn etwasfalsch, aber nicht unmöglich angenommen worden ist,auch die Folge wegen dieser Annahme falsch, abernicht unmöglich sein wird. Wenn z.B. A zwar falsch,aber doch nicht unmöglich ist, und wenn A ist, auchB ist, so wird auch B zwar falsch, aber doch nicht un-möglich sein. Denn es ist gezeigt worden, dass sofernwenn A ist, auch B ist, dann B auch möglich seinwird, wenn A möglich ist; nun ist aber angenommenworden, dass A möglich ist und so wird auch B mög-lich sein; denn sollte es unmöglich sein, so wäre eszugleich möglich und unmöglich.

Nachdem dies somit festgestellt worden, soll nun Aeinfach in allen B enthalten sein, B aber in allen Cnur statthafterweise enthalten sein; hier muss also Ain allen C statthafterweise enthalten sein; denn mannehme an, es sei nicht statthaft, dass es darin enthal-ten sei und B solle in allen C einfach enthalten sein,was zwar falsch, aber doch nicht unmöglich ist. Kannalso A nicht in C enthalten sein und ist B einfach inallen C enthalten, so kann A nicht in allen B enthaltensein; denn es ergiebt sich hier ein Schluss in der drit-ten Figur. Nun war aber angenommen, dass A in allenB enthalten sein könne; folglich muss A in allen C

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statthafterweise enthalten sein; denn wenn man dasEntgegengesetzte, aber nicht Unmögliche annimmt,ergiebt sich eine unmögliche Folge.

Man kann auch den Beweis der Unmöglichkeitdurch die erste Schlussfigur führen, indem man an-nimmt, dass B in C einfach enthalten sei. Denn wennB in dem ganzen C einfach enthalten ist und A in demganzen B statthafterweise, so wird auch A in demganzen C statthafterweise enthalten sein, währenddoch bei dem Unmöglichkeitsbeweis angenommenworden war, dass es nicht in dem ganzen C enthaltensein sollte.

Man darf das »In dem Ganzen enthalten sein« nichtin dem Sinne, als auf eine gewisse Zeit beschränktnehmen; z.B. dass etwas nur jetzt, oder nur in demund dem Zeiträume in dem ganzen Anderen enthaltensei, sondern der Ausdruck ist unbeschränkt zu verste-hen, da man nur aus solchen Vordersätzen Schlüssebilden kann und kein Schluss sich ergiebt, wenn derVordersatz nur für die jetzige Zeit gilt. Denn es wäreja wohl möglich, dass der Mensch einmal in allemsich Bewegenden enthalten wäre, nämlich wenn allesAndere sich nicht bewegte; nun kann das sich Bewe-gende auch in allen Pferden enthalten sein, aber derMensch kann in keinem Pferde enthalten sein. Fernernehme man als Oberbegriff das Geschöpf, als Mittel-begriff das sich Bewegende, als Unterbegriff den

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Menschen. Hier lauten beide Vordersätze auf dasStatthafte, aber der Schlusssatz ist ein nothwendigerund nicht ein blos statthafter; denn der Mensch istnothwendig ein Geschöpf. Es erhellt also, dass mandie allgemeinen Sätze unbeschränkt ansetzen muss,und nicht auf eine Zeit beschränkt.

Nun soll weiter der allgemeine Obersatz A B ver-neinend lauten, A also einfach in keinem B enthaltensein, B soll aber statthafterweise in dem ganzen Centhalten sein. Bei solcher Annahme muss A in kei-nem C statthafterweise enthalten sein. Denn mansetze, dies sei nicht statthaft; es sei also A nothwen-dig in einigen C enthalten und B sei einfach in C ent-halten, wie vorhin. Dann muss A in einigen B enthal-ten sein, denn es liegt dann ein Schluss in der drittenFigur vor; dieser Schlusssatz ist aber nach der ur-sprünglichen Annahme unmöglich. Folglich ist Astatthafterweise in keinem C enthalten; denn wennman das Entgegengesetzte annimmt, ergiebt sichetwas Unmögliches. Dieser Schluss lautet also nichtauf das Statthafte in dem bisherigen Sinne, sonderndahin, dass A nothwendig in keinem C enthalten ist;denn dies ist der Gegensatz des bei dem Unmöglich-keitsbeweis angenommenen Satzes; es wurde nämlichda angenommen, dass A nothwendig in einigen C ent-halten sei, da der die Unmöglichkeit darlegendeSchluss auf der Annahme des widersprechend

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entgegengesetzten Satzes beruhen muss.Auch aus den Begriffen erhellt, dass der Schluss-

satz hier nicht blos auf das Statthafte lautet. Denn essei A der Rabe, das mit B bezeichnete das Denkendeund das mit C bezeichnete der Mensch. Hier ist A inkeinem B enthalten, denn der Rabe ist kein Denken-des; aber B kann statthafterweise in dem ganzen Centhalten sein, da das Denkende in allen Menschenenthalten sein kann. Dennoch ist A nothwendig inkeinem C enthalten, also lautet der Schluss nicht aufdas blos Statthafte. Indess lautet er auch nicht immerauf das Nothwendige. Denn es sei A das sich Bewe-gende, B die Wissenschaft und das, was mit C be-zeichnet wird, der Mensch. Hier ist A in keinem Benthalten, aber B kann statthafterweise in allen C ent-halten sein und der Schluss lautet hier nicht auf dasNothwendige, denn es ist nicht nothwendig, dass keinMensch sich bewege, ja nicht einmal, dass einer sichbewege. Es ist also klar, dass hier der Schluss dahingeht, dass der Oberbegriff nothwendig in keinem vondem Unterbegriffe enthalten ist. Indess müssen dieBegriffe besser gewählt werden.

Wird dagegen die Verneinung mit dem Unterbe-griff verbunden und lautet sie nur auf das Statthafte,so ergiebt sich aus den so angesetzten Vordersätzenallein kein Schluss, wenn man aber den auf das Statt-hafte lautenden Vordersatz in den bejahenden

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umkehrt, so ergiebt sich ein Schluss, wie vorhin.Denn es sei A in allen B enthalten, B aber statthafter-weise in keinem C; bei so lautenden Vordersätzen er-giebt sich keine nothwendige Folge; kehrt man aber BC um und sagt man, B sei statthafterweise in demganzen C enthalten, so ergiebt sich ein Schluss, wievorhin, da dann die Begriffe sich in ihren Ansätzenwie dort verhalten. - Dasselbe gilt für den Fall, wennbeide Vordersätze verneinend lauten, also A nicht indem B enthalten und B in keinem C statthafterweiseenthalten ist; aus diesen so angesetzten Vordersätzenergiebt sich keine nothwendige Folge; kehrt man aberden auf das Statthafte lautenden Untersatz um, so er-giebt sich ein Schluss. Denn man setze, dass A in kei-nem B enthalten sei und dass B statthafterweise inkeinem C enthalten sei; aus diesen Sätzen ergiebt sichkeine nothwendige Folge; setzt man aber, dass Bstatthafterweise in allen C enthalten sei, was ja inWahrheit geschehen kann und bleibt der Vordersatz AB ungeändert so ergiebt sich der früher dargelegteSchluss. Setzt man aber, dass es nicht-statthaft sei,dass B in dem ganzen C enthalten sei und setzt manalso nicht, dass B statthafterweise in C nicht-enthalten sei, so ergiebt sich kein Schluss, mag derObersatz bejahend oder verneinend lauten. Zum Be-weis, dass der Schlusssatz dann bejahend und noth-wendig lautet, können dienen die Begriffe: Weiss,

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Geschöpf, Schnee, und dafür, dass die Bejahungnicht-statthaft ist, Weiss, Geschöpf, Pech.

Es erhellt somit, dass, wenn die Begriffe allgemeinlauten und der eine Vordersatz auf das einfache Sein,der andere das statthafte Sein ausdrückt, dann sichimmer ein Schluss ergiebt, wenn der Untersatz als derstatthafte gesetzt wird; nur ergiebt sich der Schlussnicht immer schon aus den so angesetzten Vordersät-zen, sondern mitunter muss der Untersatz umgekehrtwerden; und ich habe gesagt, wenn jeder dieser beidenFälle stattfindet.

Wird aber der eine Vordersatz allgemein, aber derandere beschränkt genommen, so ergiebt sich, wennder Obersatz allgemein und statthafterweise angesetztwird, sei es bejahend oder verneinend und der Unter-satz beschränkt, auf das einfache Sein und bejahendlautet, ein vollkommener Schluss ebenso, als wenndie Vordersätze beide allgemein lauteten. Auch ist derBeweis hier derselbe, wie dort. Lautet aber der Ober-satz zwar allgemein, aber auf das einfache Sein undnicht auf das Statthafte, dagegen der Untersatz be-schränkt und nur auf das Statthafte, so ist der Schlussnur ein unvollkommener, mögen beide Vordersätzebejahend oder verneinend oder der eine bejahend undder andere verneinend lauten; doch wird der Beweishierfür bei einigen durch die Unmöglichkeit des Ge-gentheils, bei anderen durch Umkehrung des auf das

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Statthafte lautenden Untersatzes geführt werden müs-sen, wie dies früher auch geschehen ist. Der Schluss-satz ergiebt sich nämlich dann durch die Umkehrung,wenn der allgemeine Obersatz auf das einfache Seinoder Nicht-sein lautet und der verneinende beschränk-te Untersatz auf das Statthafte lautet, also wenn A indem ganzen B enthalten oder nicht enthalten ist, aberB in einigen C statthafterweise nicht enthalten ist;hier ergiebt sich ein Schluss auf das Statthafte, wennder Satz B C in den bejahenden umgekehrt wird.Wird aber der beschränkte Untersatz als ein ein-fach-verneinender angesetzt, so ergiebt sich keinSchluss. Für den bejahenden Fall dienen die Begriffe:Weiss, Geschöpf, Schnee; für den verneinenden Fall:Weiss, Geschöpf, Pech; denn der Beweis muss hiervermittelst des Unbestimmten der Folge geführt wer-den.

Wird aber das Allgemeine zu dem Untersatz ge-setzt und der Obersatz beschränkt angenommen, soerzieht sich kein Schluss, mag einer von beiden Sät-zen verneinend oder bejahend, und auf das Statthafteoder einfache Sein lauten, und selbst dann wird sichkein Schluss ergeben, wenn beide Vordersätze be-schränkt oder unbestimmt angesetzt werden, mögensie auf das statthafte oder auf das einfache Sein odereiner auf jenes, der andere auf dieses lauten. Der Be-weis ist auch hier derselbe, wie früher. Für die

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nothwendige Bejahung des Schlusssatzes dienen dieBegriffe: Geschöpf, Weiss, Mensch, und für die noth-wendige Verneinung des Schlusssatzes die Begriffe:Geschöpf, Weiss, Mantel.

Somit erhellt, dass wenn der Obersatz allgemeinlautet, immer ein Schluss sich ergiebt, lautet aber nurder Untersatz allgemein, so findet niemals einSchlusssatz statt.

Sechszehntes Kapitel

Lautet aber ein Vordersatz auf das nothwendigeSein und der andere auf das Statthafte, so ergiebt sichein Schluss, wenn die Begriffe sich in derselbenWeise, wie früher verhallen und zwar wird derSchluss ein vollkommener sein, wenn der Untersatzein nothwendiger ist, Der Schlusssatz wird, wenn dieVordersätze bejahend lauten, nur als statthaft undnicht als einfach seiend lauten, mögen die Vordersät-ze allgemein oder nicht allgemein lauten. Im Fall aberder eine bejahend, der andere verneinend lautet, wirdder Schluss nur ein statthafter sein und nicht das ein-fache Sein ausdrücken, sofern der bejahende Satz dernothwendige ist, ist aber der verneinende der noth-wendige, so wird der Schluss entweder ein statthafter-weise verneinender, oder ein einfach verneinender

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sein; mögen die Vordersätze allgemein lauten odernicht. Das »Statthafte« im Schlüsse ist dabei in dem-selben Sinne zu nehmen wie früher. Dagegen wirdkein Schlusssatz auf das nothwendige Nicht-sein lau-ten, denn das »nicht-nothwendig sein« ist etwas ande-res, als das »nothwendig nicht-sein.«

Dass nun, wenn die Vordersätze bejahend lauten,der Schluss kein nothwendiger wird, ist klar; denn essei A in allen B nothwendig enthalten und B sei inallen C statthafterweise enthalten; dann wird derSchluss dahin lauten, dass A statthafterweise in allenC enthalten sei, jedoch ein unvollkommener sein.Dass er dies ist, erhellt aus dem Beweise, denn dieserBeweis wird auf dieselbe Art geführt, wie in dem frü-heren Falle. Umgekehrt soll der Satz, dass A in allenB enthalten, nur ein statthafter sein und B soll in allenC nothwendig enthalten sein; hier ergiebt sich derSchluss, dass A in allen C statthafterweise enthaltenist, aber nicht, dass es in allen C einfach enthalten istund der Schluss ist ein vollkommener und nicht einunvollkommener; denn er vollzieht sich unmittelbaraus den gegebenen Vordersätzen. Sind dagegen dieVordersätze nicht gleichlautend, so soll zunächst derverneinende ein nothwendiger sein, und A soll noth-wendig in keinem B enthalten sein, B aber soll inallen C statthafterweise enthalten sein. Hier folgt,dass A nothwendig in keinem C enthalten ist. Denn

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man nehme an, dass A in allen oder in einigen C ent-halten sei und es war gesetzt, dass A in keinem B ent-halten sein könne. Nun lässt sich dieser verneinendeSatz umkehren und deshalb kann auch das B in kei-nem A enthalten sein; von A ist aber angenommen,dass es in allen oder in einigen C enthalten sei und eswürde sonach folgen, dass B in feinem oder nicht inallen C statthafterweise enthalten sein könne; allein eswar ja ursprünglich gesetzt worden, dass B in allen Cstatthafterweise enthalten sei. - Es ist aber klar, dasswenn der Schlusssatz das einfache Nicht-sein ergiebt,er auch das statthafte Nicht-sein befasst.

Ferner soll der bejahende Vordersatz ein nothwen-diger sein und es soll also A nur statthafterweise inkeinem B enthalten und B soll nothwendig in allen Centhalten sein. Hier ergiebt sich ein vollkommenerSchluss, aber er lautet nicht auf eine nothwendigeVerneinung, sondern nur auf eine statthafte Vernei-nung; denn der Obersatz wurde nur so angenommenund ein Beweis der Unmöglichkeit des Gegentheils isthier nicht zu führen; denn wenn man auch annähme,dass A in einigen C enthalten sei, so könnte, da ange-nommen ist, dass A statthafterweise in keinem B ent-halten ist, daraus nichts Unmögliches abgeleitet wer-den. Wird aber der Untersatz verneinend gesetzt undbezeichnet er nur die Statthaftigkeit, so ergiebt sichein Schluss, wenn man denselben in sein Gegentheil

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verkehrt, wie in den früheren Fällen; lautet aber derUntersatz auf das Nicht-Statthafte, so ergiebt sichkein Schluss. Ebensowenig dann, wenn beide Vorder-sätze verneinend lauten und der Untersatz nicht aufdas Statthafte lautet. Zum Beweis dessen können hierdieselben Begriffe dienen und zwar für das Enthalten-sein: das Weisse, das Geschöpf und der Schnee, undfür das Nichtenthaltensein: das Weisse, das Geschöpfund das Pech.

Ebenso wird es sich mit den beschränkten Schlüs-sen verhalten; denn wenn der verneinende Vordersatzein nothwendiger ist, so wird der Schluss auf das ein-fache Nicht-enthaltensein lauten. Wenn z.B. A noth-wendig in keinem B enthalten ist, aber B in einigen Cstatthafterweise enthalten ist, so muss der Schlussdahin lauten, dass A in einigen C nicht enthalten ist;denn wenn A in allen C enthalten wäre, in B aber garnicht sein kann, so könnte auch B in keinem A enthal-ten sein, es würde also, wenn A in allen C enthaltenwäre, kein B in C enthalten sein können, währenddoch angenommen worden, dass es in einigen C ent-halten sei. Wenn dagegen der beschränkte bejahendeSatz der nothwendige ist, also der Untersatz B C indem verneinenden Schlüsse, oder der allgemeineObersatz A B in dem bejahenden Schlüsse, so giebtes keinen einfach bejahenden Schluss. Der Beweis istderselbe, wie in den früheren Fällen. Lautet aber der

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Untersatz allgemein, sei es bejahend oder verneinendund dabei nur auf das Statthafte und der Obersatz be-schränkt und nothwendig, so giebt es keinen Schluss.Als Beispiel für die nothwendige Bejahung nehmeman die Begriffe: Geschöpf, Weisses, Mensch und fürdie nicht-statthafte Bejahung: Geschöpf, Weisses,Mantel. Ist aber der allgemeine Untersatz ein noth-wendiger und der beschränkte Obersatz nur ein statt-hafter, so nehme man für den Fall, dass der allge-meine Untersatz verneinend lautet, als Beispiel fürdas Enthaltensein die Begriffe: Geschöpf, Weisses,Rabe und als Beispiel für das Nicht-enthaltensein dieBegriffe: Geschöpf, Weisses, Pech; lautet aber derallgemeine Untersatz bejahend, so nehme man für dasEnthaltensein die Begriffe: Geschöpf, Weisses,Schwan und für das Nicht-statthafte Enthaltensein dieBegriffe: Geschöpf, Weisses, Schnee.

Auch giebt es keinen Schluss, wenn die Vordersät-ze unbestimmt, oder beide beschränkt lauten; als ge-meinsame Beispiele für das Enthaltensein können hierdienen die Begriffe: Geschöpf, Weisses, Mensch undfür das Nicht-enthaltensein: Geschöpf, Weisses, Leb-loses; denn das Geschöpf kann in einigem Weissemund das Weisse in einigem Leblosen sowohl noth-wendig enthalten sein, als auch nicht-statthaft enthal-ten sein. Dies gilt auch für das statthafte Enthalten-sein und deshalb können diese Begriffe für alle Fälle

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benutzt werden.Ans dem Gesagten erhellt sonach, dass wenn die

Begriffe so zu nothwendigen Sätzen verbunden wer-den, wie früher zu einfach-seienden Sätzen, dann auchebenso wie dort ein Schluss sich ergiebt und nicht er-giebt, ausgenommen dass dort, wenn der verneinendeVordersatz auf das einfache Verneinen lautete, derSchlusssatz hier nur auf das Statthafte lautet; lautetaber hier der verneinende Vordersatz als ein nothwen-diger, so lautet der Schlusssatz auf das statthafte undauf das Nicht-sein. Auch erhellt, dass alle dieseSchlüsse unvollkommen sind und dass sie erst vermit-telst der früher bezeichneten Schlussfiguren zu voll-kommenen werden.

Siebzehntes Kapitel

Wenn aber in der zweiten Figur beide Vordersätzenur als statthafte gesetzt werden, so ergiebt sich keinSchluss, mögen die Vordersätze bejahend oder vernei-nend und allgemein oder beschränkt lauten; drücktaber der eine Vordersatz das einfache Sein aus undbezeichnet nur der andere das statthafte Sein, so wirdsich niemals ein Schluss ergeben, wenn der bejahendeVordersatz das einfache Sein ausdrückt, und es wirdimmer ein Schluss sich ergeben, wenn der

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verneinende Vordersatz allgemein lautet. Dasselbefindet statt, wenn der eine Vordersatz als ein noth-wendiger, der andere nur als ein statthafter angesetztwird. Man muss aber auch hier das Statthafte in denSchlusssätzen in demselben Sinne wie früher nehmen.

Zunächst ist zu zeigen, dass ein Satz, welcher statt-hafterweise verneint, sich nicht umkehren lässt; wennalso A statthafterweise in keinem B enthalten ist, soist es nicht nothwendig, dass auch B statthafterweisein keinem A enthalten ist. Denn wenn man dies an-nähme, also dass B statthafterweise in keinem A ent-halten sei so würde, da statthafte Bejahungen sich instatthafte Verneinungen und zwar sowohl in die ge-gentheiligen, wie in die widersprechenden umkehrenlassen, offenbar, wenn B statthafterweise in keinem Aenthalten ist, es auch statthaft sein, dass B in allen Aenthalten ist. Dies ist aber falsch; denn wenn das einestatthafterweise in dem ganzen anderen enthalten ist,so muss nicht auch letzteres in dem ganzen ersten ent-halten sein; also lässt sich der verneinende Satz nichtumkehren.

Auch hindert nichts, dass, wenn A in keinem Bstatthafterweise enthalten ist, dennoch B in einigen Anothwendig nicht enthalten ist, so ist z.B. dass Weis-se statthafterweise in keinem Menschen enthalten(denn es kann auch in allen enthalten sein), aber vondem Menschen kann man nicht mit Wahrheit sagen,

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dass er statthafterweise in keinem Weissen enthaltensei; denn in vielen Menschen ist das Weisse nothwen-dig nicht-enthalten und das nothwendige ist nicht dasstatthafte. Auch aus der Unmöglichkeit des Gegen-theils wird die Umkehrung nicht bewiesen werdenkönnen; z.B. wenn jemand behaupten wollte, dass,wenn es falsch sei, das B statthafterweise in keinem Aenthalten sei, es dann wahr sein müsse, es seinicht-statthaft, dass B in keinem A enthalten sei, dadiese beiden Sätze sich wie Bejahung und Verneinungverhielten. Wenn es also nicht statthaft sei, dass B inkeinem A enthalten sei, so sei es auch wahr, dass Bnothwendig in einigen A enthalten sei und folglichauch A in einigen B, was doch unmöglich sei. Alleinwenn es nicht statthaft ist, dass B in keinem A enthal-ten ist, so muss es deshalb nicht in einigen A noth-wendig enthalten sein; weil der Satz es sei nicht statt-haft, dass etwas in keinem anderen enthalten sei,zweideutig ist, indem damit eben sowohl gesagt seinkann, dass etwas nothwendig in einem anderen ent-halten sei, wie dass es nothwendig in einem anderennicht enthalten sei. Denn man kann nicht in Wahrheitsagen, dass B nothwendig in einigen A nicht enthaltensei, wenn B statthafterweise in allen A nicht enthaltenist; und ebenso kann man nicht in Wahrheit sagen,dass B in einigen A nothwendig enthalten sei, weil esin allen A statthafterweise enthalten ist. Wollte also

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jemand behaupten, dass, weil ü in allen D statthafter-weise nicht enthalten sei, C in einigen D nothwendignicht enthalten sei, so würde er etwas falsches be-haupten; denn C ist in allen D enthalten; allein weil esin einigen D nothwendig enthalten ist, so sagt mandeshalb, es sei nicht in allen C statthafterweise enthal-ten. Also ist dem »Statthafterweise in allen enthaltensein«, sowohl das: »In einigen nothwendig enthaltensein«, wie das: »In einigen nothwendig nicht enthal-ten sein«, entgegengesetzt. Gleiches gilt für das: »Inkeinem statthafterweise enthalten sein.« Es ist alsoklar, dass für das statthafte und nicht-statthafte in demSinne, wie ich es im Beginne definirt habe, als Ge-gensatz nicht blos das: »In einigen nothwendig ent-halten sein« zu nehmen ist, sondern auch das: »In ei-nigen nothwendig nicht-enthalten sein.« Wenn diesgeschieht, ergiebt sich nichts unmögliches und daherauch kein Unmöglichkeitsschluss. Es erhellt also ausdem. Gesagten, dass der verneinende Satz sich hiernicht umkehren lässt.

Nachdem dies dargelegt worden, nehme man an,dass A statthafterweise in keinem B enthalten ist, aberin allen C. Hier kann durch Umkehrung kein Schlusszu Stande kommen, denn ich habe gezeigt, dass einsolcher verneinender Satz sich nicht umkehren lässt.Ebensowenig kann aus der Unmöglichkeit des Gegen-theils der Schluss begründet werden, denn wenn man

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auch annähme, dass B in allen C statthafterweise ent-halten sei, so kommt dabei nichts falsches heraus.Denn A könnte ja sowohl in allen C, wie in keinem Cstatthafterweise sein. Wenn aber überhaupt einSchluss sich ergäbe, so erhellt, dass er nur auf dasStatthafte lauten könnte, weil keiner der beiden Vor-dersätze als einfach seiend genommen worden ist.Nun wäre dieser Schluss entweder bejahend oder ver-neinend; allein keines von beiden ist zulässig; dennwenn er bejahend angenommen wird, so kann mittelstder Beispielsweise angenommenen Begriffe gezeigtwerden, dass das Enthaltensein nicht statthaft ist;wird der Schluss aber verneinend angenommen, sokann eben dadurch gezeigt werden, dass der Schlussnicht auf das Statthafte, sondern auf das Nothwendigelautet. Denn A soll das Weisse sein und B derMensch und C das Pferd. Hier kann nun A, das Weis-se in allen von dem einen und in keinem von dem an-dern statthafterweise enthalten sein. Allein B kannstatthafterweise in dem C weder enthalten noch nichtenthalten sein; denn dass B in C statthafterweise ent-halten sei, ist unmöglich, da kein Pferd ein Menschist. Aber auch dass B statthafterweise in C nicht ent-halten sei, ist falsch; denn es ist nothwendig, dasskein Pferd ein Mensch ist und das Nothwendige istkein Statthaftes. Also ergiebt sich kein Schluss. Das-selbe lässt sich zeigen, wenn die Verneinung bei den

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Vordersätzen umgewechselt wird, oder wenn beideVordersätze bejahend oder verneinend gesetzt werden,wie sich mittelst jener Beispielsweise angenommenenBegriffen ebenfalls zeigen lässt. Auch wenn der eineVordersatz allgemein und der andere beschränkt, oderwenn beide beschränkt oder unbestimmt lauten, oderwenn man wie sonst die Vordersätze aufstellen mag,wird es keinen Schluss geben und es lässt sich diesimmer durch jene Beispielsweise aufgestellten Begrif-fe zeigen. Es erhellt also, dass wenn beide Vordersät-ze nur auf das Statthafte lauten, kein Schluss sich er-giebt.

Achtzehntes Kapitel

Wenn aber bei der zweiten Figur der eine Vorder-satz das einfache Sein, und der andere das statthafteausdrückt, so kann, wenn jener bejahend und dieserverneinend lautet, niemals ein Schluss geschehen,mögen die Vordersätze allgemein oder nur beschränktgesetzt werden. Auch hier kann der Beweis durch jeneBeispielsweise aufgestellten Begriffe geführt werden.Wenn aber der bejahende Vordersatz das Statthafteund der Verneinende das einfache Sein ausdrückt, soergiebt sich ein Schluss. Denn man setze, A sei in kei-nem B einfach enthalten, aber A sei in allen C

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statthafter Weise enthalten. Kehrt man nun den ver-neinenden Satz um, so ist B in keinem A enthalten,aber A ist in allen C statthafterweise enthalten und esergiebt sich also vermöge der ersten Figur derSchluss, dass B in keinem C statthafterweise enthal-ten ist Ebenso verhält es sich, wenn die Verneinungzu dem Vordersatz mit A C gesetzt wird. Lauten aberbeide Vordersätze verneinend und ist die Verneinungbei dem einen einfach seiend und bei dem andernstatthaft gesetzt, so ergiebt sich aus diesen Ansätzenunmittelbar nichts mit Nothwendigkeit; wenn manaber den das Statthafte enthaltenen Satz umkehrt, soergiebt sich der Schluss, dass B statthafterweise inkeinem C enthalten ist, wie in den frühern Fällen,denn auch hier entsteht dann die erste Figur. Laufenaber beide Sätze bejahend, so giebt es keinen Schluss.Man nehme beispielsweise die Begriffe: Gesundheit,Geschöpf, Mensch, wo der Schluss bejahend lautenmüsste und die Begriffe: Gesundheit, Pferd, Mensch,wo der Schluss verneinend lauten müsste.

Ebenso wird es sich mit den beschränkten Schlüs-sen verhalten. Lautet der bejahende Vordersatz aufdas einfache Sein, so giebt es, mag derselbe allgemeinoder beschränkt gesetzt werden, keinen Schluss; (dieslässt sich in gleicher Weise durch die beispielsweiseaufgestellten Begriffe zeigen); lautet dagegen der ver-neinende Vordersatz auf das einfache Sein, so giebt es

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vermittelst der Umkehrung einen Schluss, wie in demfrüher erwähnten Falle. Werden aber beide Vordersät-ze als verneinende genommen und lautet der allge-meine auf das einfache Nicht sein, so ergiebt sich ausdiesen Vordersätzen, als solchen keine nothwendigeFolge, aber wenn man den das Statthaft-sein enthal-tenden Vordersatz umkehrt, so ergiebt sich, wie frü-her, ein Schluss. Wenn aber der, das einfache Seinausdrückende Satz verneinend und beschränkt lautet,so ergiebt sich kein Schluss, mag der andere Vorder-satz bejahend oder verneinend lauten; ebenso auchdann nicht, wenn beide Vordersätze unbestimmt ge-setzt werden, sei es bejahend oder verneinend oder be-schränkt; wie sich dies ebenso und mittelst derselbenangegebenen Begriffe zeigen lässt.

Neunzehntes Kapitel

Wenn aber von den Vordersätzen der eine als einnothwendiger und der andere als ein statthafter ge-setzt ist, so giebt es einen Schluss, wenn der vernei-nende Vordersatz ein nothwendiger ist, und zwar lau-tet der Schluss nicht blos auf das statthafte nicht ent-haltensein, sondern auf das einfache Nicht-enthaltensein. Dagegen giebt es keinen Schluss, wenn der beja-hende Vordersatz auf die Nothwendigkeit lautet.

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Denn es soll A nothwendig in keinem B, aber in Cstatthafterweise enthalten sein. Kehrt man hier denverneinenden Satz um, so ist auch B in keinem A ent-halten; aber A war statthaft in allen C enthalten undes ergiebt sich also hier wieder mittelst der erstenFigur, dass B statthafterweise in keinem C enthaltenist. Zugleich erhellt aber, dass B auch einfach seiendin keinem C enthalten ist; denn man nehme an, dasses einfach seiend darin enthalten sei: wenn nun Anothwendig in keinem B enthalten ist, aber B in eini-gen C enthalten ist, so ist A in einigen C nothwendignicht enthalten; allein es war ja angenommen, dass esstatthafterweise in allen C enthalten sei. In derselbenWeise kann der Beweis geführt werden, wenn derVordersatz mit B C verneinend gesetzt wird. Nun seiaber der bejahende Satz nothwendig und der anderelaute auf das blos statthafte; es sei also A statthafter-weise in keinem B enthalten aber in allen C nothwen-dig enthalten. Wenn die Begriffe sich so zu einanderverhalten, so giebt es keinen Schluss, denn es kanndann kommen, dass B in dem C nothwendig nicht ent-halten ist. Es sei z.B. A das Weisse, B der Menschund C der Schwan. Das Weisse ist hier nothwendig indem Schwane enthalten und es ist statthaft, dass es inkeinem Menschen ist; aber der Mensch ist nothwen-dig in keinem Schwane enthalten. Es ist also klar,dass der Schluss nicht auf das Statthafte lauten kann,

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denn das Nothwendige ist nicht das Statthafte. Aberder Schluss kann auch nicht auf das Nothwendige lau-ten, da dieses sich nur dann ergeben hatte, wenn ent-weder beide Sätze nothwendig lauteten, oder wenn derverneinende Vordersatz ein nothwendiger war. Ueber-dem kann es, wenn die Vordersätze so lauten, kom-men, dass B in C enthalten ist. Denn nichts hindert es,dass C unter B enthalten ist, und dass A in allen Bstatthafterweise und in C nothwendig enthalten ist. Sosei beispielsweise C das Erwachende, B das Geschöpfund A die Bewegung. Hier ist in dem Erwachendennothwendig die Bewegung enthalten und in allen Ge-schöpfen ist die Bewegung statthafterweise enthaltenund jedes Erwachende ist ein Geschöpf. Es erhelltalso, dass der Schluss auch nicht auf dasNicht-enthalten-sein gehen kann, da, wenn die Vor-dersätze sich so verhalten, der Schluss sogar auf einnothwendiges Enthaltensein lautet. Aber auch die ent-gegengesetzt lautenden Schlüsse sind deshalb nichtzulässig, mithin ist überhaupt kein Schluss hier zuziehen. Der Beweis ist hierfür ebenso zu führen,indem man den bejahenden Satz umgekehrt setzt.Lauten aber die Vordersätze gleichartig, so ergiebtsich, wenn sie verneinend lauten, immer ein Schluss,wenn der auf das Statthafte lautende Satz wie vorhinin seinen Gegentheil umgekehrt wird. Denn mannehme an, dass A nothwendig in keinem B und

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statthafterweise in keinem C enthalten sei. Kehrt mannun diesen letztern in den bejahenden Satz um, so istB in keinem A enthalten, aber A ist dann statthafter-weise in allen C enthalten und es ergiebt sich damitdie erste Figur. Dasselbe findet statt, wenn man dieVerneinung zu C setzt. Lauten dagegen die Vorder-sätze bejahend, so ergiebt sich kein Schluss. Denn derSchluss kann offenbar nicht auf das einfacheNicht-sein und auch nicht auf das nothwendigNicht-sein lauten, weil kein einfach oder nothwendigverneinender Vordersatz gesetzt worden ist. DerSchluss kann aber auch nicht auf das statthaftenicht-enthalten-sein gehen: denn wenn die Vordersät-ze so lauten, ist das B in dem C nothwendig nicht ent-halten, z.B. wenn A das Weisse, B den Schwan und Cden Menschen bedeutet. Aber auch für die entgegen-gesetzten Sätze ergiebt sich kein Schluss, da gezeigtworden ist, dass B in dem C nothwendig nicht enthal-ten ist. Es kann also überhaupt kein Schluss gezogenwerden.

Ebenso verhält es sich bei den beschränkten Vor-dersätzen; lautet nämlich der verneinende allgemeinund nothwendig, so ergiebt sich immer ein Schlussauf das Statthafte und auf das Nicht-Enthaltensein[der Beweis dafür wird durch die Umkehrung desVordersatzes geführt]; lautet aber der bejahende Vor-dersatz so, so ergiebt sich niemals ein Schluss. Es

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wird dies auf dieselbe Weise dargelegt, wie da, wodie Vordersätze allgemein lauten und zwar mittelstderselben beispielsweise angenommenen Begriffe.Auch wenn beide Vordersätze bejahend gesetzt wer-den, ergiebt sich kein Schluss; auch dies lässt sich aufdieselbe Weise, wie früher, darlegen. Lauten aberbeide Vordersätze verneinend und zwar der eine ver-neinende allgemein und nothwendig, so ergiebt sichzwar aus ihnen unmittelbar kein Schluss; aber wennder das statthafte ausdrückende Vordersatz in seinGegentheil umgekehrt wird, so ergiebt sich, wie frü-her dargelegt worden, ein Schluss; lauten aber beideVordersätze unbestimmt oder beide beschränkt, so er-giebt sich kein Schluss. Auch hier ist der Beweis dergleiche und er kann durch dieselben beispielsweisegegebenen Begriffe geführt werden.

Aus dem Gesagten erhellt sonach, dass wenn derverneinende Satz allgemein und nothwendig lautet,immer ein Schluss statt hat und zwar nicht auf einblosses statthaftes Nicht-sein, sondern auf ein einfa-ches Nichtsein; lautet aber der bejahende Vordersatzallgemein und nothwendig, so giebt es niemals einenSchluss. Lauten beide Vordersätze entweder nothwen-dig oder einfach seiend und verhalten sie sich ebenso,wie hier, so giebt es bald einen Schluss, bald keinen.Auch ist klar, dass diese Schlüsse sämmtlich unvoll-kommene sind, und erst durch die früher erwähnten

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Figuren zu vollkommenen werden.

Zwanzigstes Kapitel

In der dritten und letzten Figur giebt es einenSchluss, sowohl wenn beide Vordersätze, als wennnur ein Vordersatz auf das Statthafte lauten. Wennbeide Vordersätze nur auf das Statthafte lauten, solautet auch der Schluss nur darauf; ebenso, wenn dereine Satz auf das Statthafte und der andere auf daseinfache Sein lautet. Lautet aber der eine Vordersatzauf das Nothwendige und ist er bejahend, so lautet derSchluss weder auf die Nothwendigkeit noch auf daseinfache Sein; ist er aber verneinend, so lautet derSchluss auf das einfache Nicht-sein, wie in den frühe-ren Fällen. Aber auch bei diesen Schlüssen muss dasStatthafte in demselben. Sinne, wie bisher, genommenwerden.

Es sollen nun zunächst beide Vordersätze auf dasStatthafte lauten, und A und B sollen beide statthaf-terweise in C enthalten sein. Da nur der bejahende all-gemeine Satz sich in einen beschränkten umkehrenlässt, und B in dem ganzen C statthafterweise enthal-ten ist, so wird auch C in einigen B statthafterweiseenthalten sein. Wenn also A in allen C statthafter-weise enthalten ist und C in einigen B, so wird auch

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A in einigen B statthafterweise enthalten sein, denndieser Schluss vollzieht sich in der ersten Figur. Undwenn A statthafterweise in keinem C enthalten ist,aber B in allen C, so muss A in einigen B statthafter-weise nicht enthalten sein; denn auch hier ergiebt sichdurch Umkehrung die erste Figur. Lauten aber beideVordersätze verneinend, so ergiebt sich zwar ausihnen für sich allein kein Schluss, aber ein solchertritt ein, wenn die Vordersätze in ihr Gegentheil sowie früher verkehrt werden. Denn wenn A und B in Cstatthafterweise nicht enthalten sind, so wird, wenndafür das »statthaft enthalten sein« gesetzt wird, sichwieder die erste Figur vermittelst der Umkehrung er-geben.

Wenn aber der eine Vordersatz allgemein und derandere beschränkt lautet, beide aber sonst in Bezugauf Bejahung oder Verneinung sich gleich verhalten,so wird sich ein Schluss bald ergeben, bald nicht. Essoll also statthafterweise A in allen C und B in eini-gen C enthalten sein. Hier wird sich wieder die ersteFigur ergeben, wenn der beschränkte Vordersatz um-gekehrt wird; denn wenn A in allen C und C in eini-gen B statthafterweise enthalten ist, so ist auch Astatthafterweise in einigen B enthalten. Dasselbe er-giebt sich, wenn der Vordersatz mit B C allgemeingesetzt wird. Auch wenn der Vordersatz A C vernei-nend lautet, und B C bejahend, so findet ein Schluss

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statt; denn auch hier gelangt man durch Umkehrungzur eisten Figur. Werden aber beide Vordersätze ver-neinend gesetzt und zwar der eine allgemein und derandere beschränkt, so ergiebt sich aus ihnen für sichallein kein Schluss, wohl aber, wenn die Sätze in ihrGegentheil verkehrt werden, wie in früheren Fällen.Werden aber beide Vordersätze unbestimmt oder be-schränkt gesetzt, so ergiebt sich kein Schluss, denn esmuss dann A sowohl in allen B, wie in keinem B ent-halten sein. Als Beispiele für das Enthaltenseinnehme man die Begriffe: Geschöpf, Mensch, Weisses;und für das Nicht-enthalten-sein die Begriffe: Pferd,Mensch, Weisses, wobei Weisses der Mittelbegriffist.

Einundzwanzigstes Kapitel

Wenn aber ein Vordersatz auf das einfache Sein,der andere auf das statthafte Sein lautet, so geht derSchluss nur auf das Statthafte und nicht auf das einfa-che Sein. Der Beweis ergiebt sich in gleicher Weise,wie vorher, wenn man dieselben beispielsweise aufge-stellten Begriffe benutzt. Es seien nämlich die Vor-dersätze zunächst bejahend und A soll in allen C ein-fach, B aber in allen C statthafterweise enthalten sein.Kehrt man hier den Vordersatz B C um, so ergiebt

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sich die erste Figur und der Schluss, dass A in einigenB statthafterweise enthalten ist; denn wenn der andereVordersatz in der ersten Figur blos auf das Statt-haft-sein lautete, so ginge auch der Schlusssatz nurauf das Statthaft-sein. Wenn ferner der Satz B C daseinfache Sein und der Satz A C das statthafte Seinausdrückt, sowie wenn der Satz A C verneinend undder Satz B C bejahend lautet, aber einer von beidendas einfache Sein besagt, so wird in beiden Fällen derSchluss nur auf das statthafte Sein lauten; denn es er-giebt sich wieder die erste Figur und bei dieser ist be-reits gezeigt worden, dass wenn einer der Vordersätzenur das statthafte Sein ausdrückt, auch der Schluss-satz nur auf das Statthafte lautet. Wird dagegen derVordersatz mit dem kleinern äusseren Begriff vernei-nend gesetzt, oder werden beide Vordersätze vernei-nend gesetzt, so ergiebt sich aus denselben in solcherFassung nicht geradezu ein Schluss, aber er wird, wiein den früher erwähnten Fällen, sich ergeben, wenndie Vordersätze in ihr Gegentheil umgekehrt werden.

Ist aber einer der Vordersätze ein allgemeiner undder andere ein beschränkter, und lauten beide beja-hend, oder lautet der allgemeine verneinend und derbeschränkte bejahend, so wird es sich mit den Schlüs-sen eben so verhalten, denn alle werden durch dieerste Figur vollendet. Sonach erhellt, dass aus einemVordersatze, der auf das statthafte Sein und einen, der

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auf das einfache Sein lautet, Schlüsse abgeleitet wer-den können. Ist aber der eine ein bejahender und all-gemeiner und der andere ein verneinender und be-schränkter, so muss dies aus der Unmöglichkeit desGegentheils bewiesen werden. Denn es sei B in allenC einfach seiend enthalten, A sei aber statthafterweisein einigen C nicht enthalten, so muss A statthafter-weise in einigen B nicht enthalten sein Denn wenn Ain allen B nothwendig enthalten wäre, so müsste, daB in allen C einfach seiend gesetzt ist, A in allen Cnothwendig enthalten sein, wie früher gezeigt worden;allein es ist angenommen worden, dass A in einigen Cstatthafterweise nicht enthalten sei.

Werden aber beide Sätze unbestimmt oder nur be-schränkt gesetzt, so ergiebt sich kein Schluss. Der Be-weis ist hier derselbe, wie bei den allgemein lauten-den Vordersätzen und er kann durch dieselben bei-spielsweise gegebenen Begriffe geführt werden.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Wenn in der dritten Figur der eine Vordersatz einnothwendiger, der andere nur ein statthafter ist, aberbeide Sätze bejahend lauten, so ergiebt sich immer einauf das Statthafte lautender Schluss. Lautet aber dereine Vordersatz bejahend, der andere verneinend, so

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ergiebt sich ein Schluss auf das statthafteNicht-enthaltensein, wenn der bejahende ein nothwen-diger ist; ist aber der verneinende Vordersatz einnothwendiger, so ergiebt sich ein Schluss sowohl aufdas statthafte Nicht-enthalten-sein, wie auf das einfa-che Nicht-enthalten-sein. Dagegen ergiebt sich keinSchluss auf das nothwendige Nicht-enthalten-sein,wie dies auch in den andern Figuren sich nicht erge-ben hat. Es seien nun zunächst die Vordersätze beja-hend und A sei in allen C nothwendig, aber B in allenC nur statthafterweise enthalten. Da nun A in allen Cnothwendig und das C in einigen B statthafterweiseenthalten ist, so wird auch A in einigen B statthafter-weise, aber nicht einfach enthalten sein; denn so wares auch bei der ersten Figur. In ähnlicher Weise kannder Beweis geführt werden, wenn der Satz B C als einnothwendiger und der Satz A C als ein blos statthaftergesetzt wird. Nun soll aber der eine Vordersatz beja-hend, der andere verneinend lauten und der bejahendeein nothwendiger sein; A sei also statthafterweise inkeinem C enthalten, aber B sei nothwendig in allen Centhalten. Auch hier wird sich die erste Figur ergeben,da der verneinende Vordersatz nur das Statthafte be-zeichnet. Es erhellt also, dass der Schlusssatz nur aufdas Statthafte lauten wird, weil bei der ersten Figur,wenn die Vordersätze so lauteten, der Schlusssatzauch nur auf das Statthafte ging. Ist aber der

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verneinende Vordersatz ein nothwendiger, so ergiebtsich ein Schluss sowohl dahin, dass A in einigen Cstatthafterweise nicht enthalten ist, wie dahin, dass Ain einigen C einfach nicht enthalten ist. Denn es sollA nothwendig in keinem C enthalten sein; B soll aberstatthafterweise in dem ganzen C enthalten sein; wennman hier den bejahenden Satz B C umkehrt, so er-giebt sich die erste Figur wobei der verneinende Vor-dersatz ein nothwendiger ist. Wenn nun die Vorder-sätze dort sich so verhielten, so folgte, dass A in eini-gen C statthafterweise und auch einfach nicht enthal-ten war, so dass also auch hier A in einigen B einfachnicht enthalten sein muss. Wenn aber der Satz mitdem kleinern äussern Begriff B verneinend gesetztwird und zwar statthafterweise, so wird sich einSchluss ergeben, wenn dieser Vordersatz in seinenGegentheil umgekehrt wird, wie dies früher gezeigtworden ist lautet aber dieser Vordersatz auf die Noth-wendigkeit, so giebt es keinen Schluss, denn A kanndann bald in allen B, bald in keinem B enthalten sein.Man nehme beispielsweise für das »in allen enthaltensein« die Begriffe Schlaf, schlafendes Pferd undMensch; und für das »in keinem enthalten sein« dieBegriffe: Schlaf, wachendes Pferd und Mensch.

Aehnlich verhält es sich, wenn der eine Vordersatzallgemein, der andere beschränkt in Bezug auf denMittelbegriff lautet; sind beide bejahend, so wird der

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Schlusssatz auf das Statthafte und nicht auf das einfa-che Sein lauten; und dies auch dann, wenn der eineVordersatz verneinend, der andere bejahend und letz-terer als nothwendiger genommen wird. Ist aber derverneinende Satz ein nothwendiger, so lautet derSchlusssatz auf das einfache Nicht-sein. Der Beweisbleibt hier derselbe, mögen die Vordersätze allgemeinoder nicht allgemein lauten; denn die Schlüsse müs-sen hier durch die erste Figur vervollständigt werden,wie dort, und deshalb mit den dortigen zusammenfal-len. Wenn aber der verneinende und allgemeine Vor-dersatz den kleinern äussern Begriff betrifft und er aufdas Statthafte lautet, so ergiebt sich ein Schluss ver-möge der Umkehrung desselben in das Gegentheil;lautet er aber auf das Nothwendige, so giebt es keinenSchluss; der Beweis geschieht ebenso wie bei den all-gemein lautenden Vordersätzen und mittelst derselbenBeispielsweise aufgestellten Begriffe.

Sonach erhellt, wonach und wie auch in dieser drit-ten Figur ein Schluss sich ergiebt, und wenn er aufdas Statthafte und wenn er auf das einfache Sein lau-tet. Auch ist klar, dass alle diese Schlüsse unvollkom-men sind und durch die erste Figur vervollständigtwerden.

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Aus der bisherigen Darstellung ergiebt sich nun-mehr, dass alle Schlüsse in den übrigen Figuren durchdie allgemein lautenden Schlüsse der ersten Figurvollendet und darauf zurückgeführt werden. Dass esnun mit allen Schlüssen sich so verhält, wird nunmehrsich ergeben, wenn ich gezeigt haben werde, dassüberhaupt jeder Schluss in einer dieser Figuren er-folgt.

Jede Beweisführung und jeder Schluss muss dar-thun, dass Etwas in einem Andern enthalten odernicht enthalten ist und dass dies entweder allgemeinoder beschränkt stattfindet; auch muss dies entwedergeradezu oder vermittelst einer Voraussetzung darge-legt werden; zu letzterem Verfahren gehören auch dieBeweise durch die Unmöglichkeit des Gegentheils.Ich werde daher zuerst die direkten Beweise bespre-chen; ist es bei diesen dargelegt worden, so wird das-selbe auch für die Beweise aus der Unmöglichkeit desGegentheils, und für die von einer Voraussetzungausgehenden Beweise sich als gültig ergeben.

Wenn also für A in Bezug auf B ein Schluss sollgewonnen werden, sei es, dass A in B enthalten odernicht-enthalten sei, so muss Etwas in Bezug auf einAnderes angesetzt werden. Geschieht dies mit dem A

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unmittelbar in Bezug auf B, so ist dies eine ursprüng-liche Annahme. Geschieht dies aber mit dem A zwarin Bezug auf C, aber nicht mit dem C in Bezug aufein Anderes, noch mit Etwas in Bezug auf G, nochmit einem Anderen in Bezug auf A, so ergiebt sichkein Schluss, denn wenn nur Eines in Bezug auf einAnderes gesetzt wird, so ergiebt sich keine nothwen-dige Folge. Man muss also noch einen anderen Satzhinzunehmen. Wenn nun das A in Bezug auf ein An-deres gesetzt wird, oder ein Anderes in Bezug auf Aoder ein Anderes in Bezug auf C, so kann zwar einSchluss sich ergeben, aber er wird durch diese ange-nommenen Sätze nicht über B lauten und dies wirdauch dann nicht der Fall sein, wenn das C von einemAnderes und dieses wieder von einem Anderen undletzteres wieder von einem Anderen ausgesagt wird,ohne dass C mit B zusammengebracht wird; dennauch dann wird kein Schluss des A in Bezug auf Bsich ergeben. Ich sage also, dass überhaupt niemalsein Schlusssatz, welcher Eins von dem Anderen aus-sagt, sich ergeben wird, wenn nicht ein Mittleres hin-zugenommen wird, was sich zu jedem von jenen bei-den nach irgend einer Kategorie verhält. Denn derSchluss ergiebt sich überhaupt aus Vordersätzen undzwar ein Schluss über dieses aus Vordersätzen überdieses, und ein Schluss dieses Einen in Bezug aufdieses Andere aus Vordersätzen, welche dieses Eine

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von diesem Anderen aussagen. Denn unmöglich kannman einen Satz über B aufstellen, welcher von Bnichts bejaht oder verneint und ebensowenig kannman einen Satz, wonach A von dem B etwas aussagt,gewinnen, wenn man keinen beiden gemeinsamen Be-griff hinzunimmt, sondern von A und von B, nuretwas jedem eigenthümliches bejaht oder verneint. Esmuss deshalb ein Mittleres für beide gewonnen wer-den, welches diese Aussagen verknüpft, wenn einSchlusssatz von diesem auf jenes zu Stande kommensoll. Wenn also etwas beiden Gemeinsames hinzuge-nommen werden muss und dies auf dreifache Artstattfinden kann (dann entweder sagt A etwas von Cund C etwas von B aus, oder C sagt etwas von bei-den, d.h. dem A und dem B aus, oder diese beidensagen etwas von C aus), so ergeben sich die drei be-sprochenen Schlussfiguren und es erhellt also, dassjeder Schluss nur in einer dieser drei Figuren erfolgenkann. Dieser Ausspruch gilt auch, wenn die Verbin-dung des A mit dem B durch mehrere Mittelbegriffeerfolgt; denn auch bei diesen vielen Sätzen wird dieSchlussfigur dieselbe bleiben.

Es ist also klar, dass die direkten Schlüsse durchdie genannten drei Figuren vollendet werden; aberdass dies auch für die Schlüsse vermittelst der Un-möglichkeit des Gegentheils gilt, erhellt aus Folgen-den. Alle solche Schlüsse vermittelst des

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Unmöglichen erschliessen ein Falsches und beweisenden ursprünglichen Satz vermittelst einer Annahme,indem, wenn das Gegentheil desselben angenommenwird, etwas Unmögliches sich ergiebt. So wird bewie-sen, dass der Durchmesser nicht von den Seiten desQuadrats gemessen werden könne, weil, wenn manannimmt, er könne davon gemessen werden, folgt,dass das ungerade dem Geraden gleich sei. Hier wirddie Gleichheit des Ungeraden mit dem Geraden durcheinen Schluss abgeleitet und es wird so durch eineVoraussetzung gezeigt, dass der Durchmesser nichtvon den Seiten gemessen werden kann, da aus der ent-gegengesetzten Annahme etwas Falsches sich ergiebt.Das Schliessen vermittelst der Unmöglichkeit bestehtalso darin, dass man darlegt, wie aus der anfänglichangenommenen Voraussetzung etwas Unmöglichessich ergiebt. Da sonach bei den auf das Unmöglicheführenden Schlüssen der Schluss auf das Falsche di-rekt erfolgt und der ursprüngliche Satz vermittelsteiner Voraussetzung bewiesen wird, und ich vorherdargelegt habe, dass die direkten Schlüsse sich durchjene drei Figuren vollziehen, so erhellt, dass auch dievermittelst der Unmöglichkeit des Gegentheils geführ-ten Schlüsse durch diese drei Figuren sich vollziehen.Ebenso ist es auch bei den übrigen, auf einer Voraus-setzung beruhenden Schlüssen; denn in allen ge-schieht ein Schluss mit Bezug auf etwas

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Hinzugenommenes und der ursprüngliche Satz wirdvermöge eines Zugeständnisses oder vermöge eineranderen Voraussetzung gefolgert. Ist dies richtig, somuss jeder Beweis und jeder Schluss vermittelst dervorgenannten Figuren geführt werden und nachdemdies bewiesen worden, erhellt, dass jeder Schlussseine Vollendung durch die erste Figur erhält und aufdie in dieser Figur allgemein lautenden Schlüsse zu-rückgeführt wird.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Ferner muss in jedem Schluss ein Vordersatz beja-hend und einer allgemein lauten; denn ohne einen all-gemeinen Vordersatz giebt es entweder keinenSchluss, oder er geht nicht auf den aufgestellten Satzoder das zu Beweisende wird ohne Beweis als wahrbehauptet. Denn man setze als zu beweisenden Satz,dass die musikalische Lust sittlich sei. Wenn man nunbehauptet, dass die Lust sittlich sei, und nicht hinzu-sagt: jede Lust, so würde es keinen Schluss geben;wenn man aber nur setzt, dass eine Lust sittlich sei,so würde daraus für das hier Behauptete sich nichtsergeben; und wenn man die musikalische Lust selbstals sittlich setzt, so würde man den Schlusssatz ohneBeweis als wahr behaupten. Dies ergiebt sich noch

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deutlicher an geometrischen Figuren, z.B. wenn be-wiesen werden soll, dass die Winkel an der Grundli-nie des gleichschenklichen Dreiecks einander gleichseien. Es seien z.B. die Linien A und B nach demMittelpunkte eines Kreises gezogen; wenn man nundie Winkel A und C als gleich den Winkeln B und Dannimmt, ohne allgemein vorauszusetzen, dass dieWinkel, welche auf dem Halbkreis stehen einandergleich seien und wenn man ferner annimmt, dass derWinkel C gleich sei dem Winkel D, ohne zu zeigen,dass alle Winkel auf demselben Kreisabschnitt alsgleich zu nehmen sind und wenn man ferner von dengleichen ganzen Winkeln gleiche Winkel abzieht unddamit zeigt, dass die übrig Bleibenden E und F gleichsind, so wird man das zu Beweisende ohne Beweisbehaupten, wenn man nicht auch den Satz aufstellt,dass wenn Gleiches von Gleichem weggenommenwird, Gleiches übrig bleibe.

Es ist also klar, dass in allen Schlüssen das Allge-meine nicht fehlen darf und dass das Allgemeine einesSchlusses nur bewiesen wird, wenn beide Vordersätzeallgemein lauten, während der beschränkte Schluss-satz bald so, bald nicht so bewiesen wird; so dassalso, wenn der Schluss allgemein lautet, auch dieVordersätze allgemein lauten müssen; lauten aber dieVordersätze allgemein, so kann der Schlusssatz auchnicht allgemein lauten. Auch erhellt, dass bei jedem

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Schlüsse, entweder beide Vordersätze, oder wenig-stens einer mit dem Schlusssatze gleichartig lautenmüssen und zwar nicht blos in der Bejahung oderVerneinung, sondern auch in Bezug auf das nothwen-dige oder einfache oder statthafte der Sätze. Indessmuss man auch die anderen Kategorien, in denenetwas von einem Anderen ausgesagt wird, beachten.Somit erhellt, wenn es überhaupt einen Schluss giebtund wenn nicht, so wie, wenn er möglich und wenn ervollkommen ist; endlich, dass wenn ein Schluss gezo-gen werden soll, die Vordersätze sich in der angege-benen Weise verhalten müssen.

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Jeder Beweis geschieht mittelst dreier Begriffe undund nicht mehrerer, es müsste denn sein, dass dersel-be Schlusssatz durch verschiedene Begriffe bewiesenwerden könnte, wie wenn z.B. der Schlusssatz E so-wohl durch die Vordersätze A und B, wie durch dieVordersätze C und D oder durch die Vordersätze Aund B und B und C bewiesen werden könnte; da esstatthaft ist, dass mehrere Mittelbegriffe für dieselbenäusseren Begriffe eintreten können. Wenn letzteresder Fall ist, so besteht nicht blos ein Schluss, sondernmehrere. Auch ist dies der Fall wenn jeder der beiden

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Vordersätze A und B durch einen besonderen Schlussgewonnen wird, also z.B. A durch die Vordersätze Dund E und der Satz B durch die Vordersätze F und G.Ebenso sind es mehrere Schlüsse, wenn der eine Vor-dersatz durch Induktion und der andere durch einenSchluss gewonnen wird; auch in solchen Fällen sindmehrere Schlüsse vorhanden, denn es sind mehreredurch Schlüsse abgeleitete Sätze da, z.B. der Satz A,und der Satz B, und der Satz C. Sind aber nicht meh-rere Schlusssätze, sondern nur einer vorhanden, sokann dieser selbige Schlusssatz zwar aus verschiede-nen Ansätzen abgeleitet werden, aber unmöglich ausmehreren in der Form, wie der Schlusssatz C aus denVordersätzen A und B abgeleitet wird. Denn es seiz.B. der Schlusssatz E aus den vier Sätzen A, B, Cund D abgeleitet; hier müssen nothwendig einzelnevon ihnen sich zu anderen so wie das Ganze zu demTheile verhalten; denn schon früher ist gezeigt wor-den, dass wenn es einen Schluss geben soll, die Be-griffe sich so verhalten müssen. Nun mag der Satz Asich so zu dem Satz B verhalten; dann kann schon einSchlusssatz aus demselben gezogen werden, also wirddies entweder schon der Schlusssatz E oder einer vonden beiden Sätzen C und D oder sonst ein andererSatz sein. Folgt nun der Schlusssatz E schon aus denbeiden Sätzen A und B, so ist ein Schluss vorhanden,der blos aus diesen beiden Sätzen abgeleitet ist.

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Verhalten sich nun die Sätze C und D auch so wie dasGanze zu dem Theile, so wird auch aus ihnen einSchluss sich ableiten und dies wird entweder der SatzE oder einer von den beiden Sätzen A und B odersonst ein anderer Satz sein. Ist dies nun der Satz Eoder einer von den beiden Sätzen A und B, so ergebensich entweder mehrere Schlusssätze oder es war statt-haft denselben Schlusssatz aus verschiedenen Begrif-fen abzuleiten; kommt aber ein anderer Schlusssatzals der Satz E oder der Satz A und B heraus, so sinddenn mehr als ein Schluss vorhanden, die mit einan-der in keiner Verbindung stehen. Verhält sich aber derSatz C zu dem Satze D nicht so, dass ein Schluss dar-aus gezogen werden könnte, so sind diese weiterenSätze nutzlos hinzugenommen, es müsste denn sein,dass es behufs der Induktion oder eines verstecktenSchlusses oder sonst eines anderen Zweckes wegengeschehen wäre. Wenn endlich aus den Sätzen A undB nicht der Satz E, sondern ein anderer sich alsSchluss ergiebt und aus den Sätzen C und D entwedereiner von jenen Sätzen oder sonst etwas anderes, sosind mehrere Schlüsse vorhanden und sie betreffennicht die hier vorliegende Annahme; da ja angenom-men war, dass ein Schluss auf E sich ergeben sollte.Ergiebt sich aber aus den Sätzen C und D keinSchluss, so erhellt, dass sie nutzlos hinzugesetzt wor-den sind und nicht zu dem anfänglich gesetzten

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Schluss gehören.Hiernach erhellt, dass jeder Beweis und jeder

Schluss sich nur durch drei Begriffe vollzieht. Stehtdies aber fest, so erhellt auch, dass ein Schluss nuraus zwei und nicht aus mehr Vordersätzen abgeleitetwerden kann; denn diese drei Begriffe bilden zweiSätze, wenn nicht, wie im Anfang erwähnt worden ist,noch ein Mehreres zur Herstellung eines vollkomme-nen Schlusses hinzugenommen werden muss. Es istauch klar, dass wenn in einer Beweisführung die Vor-dersätze, durch welche der Hauptschlusssatz erfolgt,nicht eine gerade Zahl bilden (denn einzelne der vor-gehenden Schlusssätze können nur Vordersätze abge-ben), eine solche Beweisführung zu keinem Schlüsseführt, oder dass dann mehr Vordersätze, als zumSchluss nöthig waren, hinzugenommen worden sind.

Werden die Schlüsse nur in Bezug auf ihre eigentli-chen Vordersätze in Betracht genommen, so bestehtjeder Schluss aus einer geraden Zahl von Vordersät-zen und aus einer ungeraden Zahl von Begriffen; unddie Zahl der Begriffe ist um eins mehr als die Zahl derVordersätze. Der Schlusssätze werden dann halb soviel als der Vordersätze sein. Wenn aber vermittelstvorgängiger Schlusssätze der Schluss, oder durchmehrere nicht zusammenhängende Mittelbegriffe sichvollzieht, wenn also z.B. die Sätze A und B aus denSätzen C und D geschlossen werden, so wird die Zahl

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der Begriffe zwar ebenso die Zahl der Vordersätze umeinen übersteigen (denn der überschiessende Begriffwird entweder ausserhalb oder in die Mitte gestelltwerden; aber in beiden Fällen sind der Vordersätzeum einen weniger als die Begriffe) aber die Zahl derVordersätze ist gleich der Zahl der Ansätze. Indesswird die Zahl der Vordersätze nicht immer eine gera-de und die der Begriffe eine ungerade sein, sondern eswird sich dies austauschen; wenn nämlich die Zahlder Vordersätze eine gerade ist, so ist die Zahl der Be-griffe eine ungerade und wenn die Zahl der Begriffeeine gerade ist, so ist die der Vordersätze eine ungera-de; denn mit jedem weiterem Begriff wird ein neuerVordersatz hinzugefügt, wohin auch der Begriff ge-setzt werden mag. Wenn also in einem Schlüsse dieVordersätze der Zahl nach gerade, die Begriffe derZahl nach ungerade sind, so muss das Gerade undUngerade wechseln, wenn ein solcher Zusatz ge-schieht. Die Schlusssätze werden aber in ihrer Zahlnicht dasselbe Verhältniss zu der Zahl der Begriffeund Vordersätze einhalten; denn wenn ein weitererBegriff hinzugesetzt wird, so werden damit an weite-ren Schlusssätzen so viel sich ergeben, als Begriffevorher angesetzt waren, weniger einen; denn der neueBegriff bildet denn nur mit dem letzten Vorbegriffkeinen Schluss, aber wohl mit allen anderen. Wennz.B. zu den Begriffen A, B und C noch der Begriff D

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hinzukommt, so treten damit sofort zwei neueSchlusssätze hinzu, nämlich einer zu A und einer zuB. Ebenso verhält es sich mit den noch weiter hinzu-kommenden Begriffen. Wird aber der weitere Begriffin die Mitte gestellt, so ergiebt sich dasselbe, denn erwird nur mit einem der vorigen Begriffe keinenSchluss bilden. Es werden also in solchen Fällen vielmehr Schlüsse sich ergeben, als Begriffe und Vorder-sätze.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Nachdem wir nun wissen, um was es sich bei denSchlüssen handelt und wie und auf wie vielerlei Art injeder Figur der Beweis zu führen ist, so wird sich nunauch ergeben, welche Sätze schwer und welche leichtzu beweisen sind; diejenigen Sätze nämlich, welche inmehreren Figuren und auf mehrere Weisen erschlos-sen werden können, sind leichter zu beweisen, unddie, wo beides weniger statt hat, sind schwieriger zubeweisen. Ein allgemeiner bejahender Satz kann nurdurch die erste Figur und hier nur auf eine Art bewie-sen werden; ein verneinender allgemeiner Satz kanndurch die erste und die zweite Figur, und zwar durchdie erste nur auf eine Art, durch die zweite aber aufzwei Arten bewiesen werden. Ein

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beschränkt-bejahender Satz kann durch die erste unddritte Figur und zwar durch die erste nur auf eine Art,durch die letzte auf dreifache Art bewiesen werden.Ein beschränkt-verneinender Satz kann durch alle Fi-guren bewiesen werden, indess in der ersten nur aufeine Art, in der zweiten Figur auf zwei Arten, in derdritten auf drei Arten. Hieraus erhellt, dass ein allge-mein bejahender Satz am schwersten festzustellen undam leichtesten umzustossen ist. Ueberhaupt kann einallgemeiner Satz leichter umgestossen werden, als einbeschränkter; denn er ist widerlegt, wenn der eine Be-griff in einem oder in einigen des anderen Begriffesnicht enthalten ist, und davon kann der Fall, dass er ineinigen nicht enthalten ist, durch alle Figuren unddass er in keinen enthalten, durch zwei Figuren be-wiesen werden. Eben so verhält es sich mit den ver-neinenden Sätzen; denn sobald der eine Begriff indem ganzen anderen oder in einigen desselben enthal-ten ist, ist der aufgestellte Satz umgestossen, und dieskann in zwei Figuren geschehen. Bei den beschränk-ten verneinenden Sätzen kann es nur auf eine Weisegeschehen, wenn man zeigt, dass der eine Begriff inallen oder in keinem des anderen enthalten ist. Aufzu-stellen sind die beschränkten Sätze leichter, da dies inmehreren Figuren und auf verschiedene Art geschehenkann. Im Allgemeinen darf man nicht übersehen, dassdie Widerlegung der Sätze gegenseitig durch einander

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geschehen kann, nämlich der allgemeinen durch diebeschränkten und der beschränkten durch die allge-meinen; feststellen kann man aber die allgemeinenSätze durch die beschränkte nicht, aber wohl diesedurch jene. Zugleich erhellt, dass das Widerlegenleichter ist, als dass Aufstellen.

Aus dem Gesagten ergiebt sich nunmehr, wie jederSchluss zu Stande kommt und durch wie viel Begriffeund Sätze dieses geschieht und wie diese sich zu ein-ander verhalten müssen; ferner welche aufgestelltenSätze in jeder Figur, welche in mehreren und welchein wenigem Figuren bewiesen werden können.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Jetzt habe ich nun darzulegen, wie man zu einemaufgestellten Satze am leichtesten die zugehörendenSchlüsse finden kann und auf welchem Wege man diehöheren Vordersätze für jeden Schluss gewinnenkann. Denn man hat wohl nicht blos die Entstehungder Schlüsse in Betracht zu nehmen, sondern manmuss auch im Stande sein, dergleichen aufzustellen.

Von allem Seienden ist nun Einiges so beschaffen,dass es von keinem anderen Gegenstande in Wahrheitausgesagt werden kann; so kann dies z.B. mit demKleon und mit dem Kallias und mit dem einzelnen

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Wahrnehmbaren nicht geschehen; wohl aber kann vondemselben Anderes ausgesagt werden; (denn so istKleon und Kallias jeder ein Mensch und ein Ge-schöpf); ein anderer Theil des Seienden kann wohlvon Anderen ausgesagt werden, aber von ihm wirdAnderes, Höheres nicht ausgesagt; ein dritter Theilkann sowohl von Anderem, wie Anderes von ihm aus-gesagt werden; so z.B. Mensch von dem Kallias undGeschöpf von dem Menschen. Es ist nun klar, dassEiniges von dem Seienden seiner Natur nach von Kei-nem ausgesagt werden kann; denn wohl jedes derwahrnehmbaren Dinge ist der Art, dass es von Kei-nem ausgesagt werden kann, als höchstens zufälliger-weise; denn man sagt manchmal, dass z.B. jenesWeisse Sokrates sei und jenes Herbeikommende Kal-lias. Dass man, wenn man von dem Einzelnen zu demAllgemeinen aufsteigt, irgendwo stehen bleiben muss,werde ich noch besprechen; für jetzt mag es vorläufiggelten. Von diesen obersten Dingen kann ein von ihmAusgesagtes nicht bewiesen werden, sondern mankann es nur auf die Meinung stützen, wohl aber kön-nen sie von Anderem ausgesagt werden. Eben sowenig kann man die einzelnen Dinge von Anderemaussagen, sondern nur Anderes von ihnen. Bei den inder Mitte stehenden Dingen ist offenbar beides statt-haft; denn sie selbst werden von Anderem und Ande-res wird von ihnen ausgesagt, und die Reden und

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Untersuchungen haben meist diese Art von Dingenzum Gegenstande.

Man hat nun die Vordersätze zu einem Beweissatzein folgender Weise aufzusuchen. Zunächst hat manden Beweissatz selbst und die Definitionen und dasEigenthümliche des betreffenden Gegenstandes in Be-tracht zu nehmen; ferner das, was dem Gegenstandezukommt und umgekehrt dasjenige, welchem der Ge-genstand zukommt und ferner das, was ihm nicht zu-kommen kann. Dagegen hat man die Dinge, denen erselbst nicht zukommt, nicht aufzusuchen, weil vernei-nende Sätze sich umkehren lassen. Ferner sind diedem Gegenstande zukommenden Bestimmungen indie zu sondern, welche in seinem Begriff enthaltensind, und in die, welche ihm eigenthümlich zukom-men, und endlich in die, welche nur nebenbei von ihmausgesagt werden in jeder dieser Klassen ist wiederdas zu sondern, was nur nach der Meinung ihm zu-kommt, von dem, was ihm in Wahrheit zukommt. Je-mehr man dergleichen Bestimmungen angeben kann,desto schneller wird man zum dem Schlusssatze ge-langen, und jemehr diese Bestimmungen der Wahrheitentsprechen, desto stärker wird der Beweis werden.

Von den dem Gegenstande zukommenden Bestim-mungen darf man aber nicht solche auswählen, welcheblos einzelnen Exemplaren zukommen, sondern nursolche, welche dem ganzen Begriff des Gegenstandes

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zukommen; also z.B. nicht das, was nur einem einzel-nen Menschen, sondern das, was allen Menschen zu-kommt; da der Schluss nur durch allgemeine Vorder-sätze zu Stande kommt. Bleibt dies unbestimmt, soweiss man nicht, ob der Vordersatz allgemein geltensoll, während dies bei bestimmten Aussprüchen klarist. Aus diesem Grunde muss man auch nur solcheDinge aufsuchen, von deren ganzen Begriff die Be-stimmung ausgesagt werden kann. Dagegen brauchtdie ausgesagte Bestimmung nicht in ihrem ganzenUmfange von dem Gegenstande zu gelten, etwan so,dass von dem Menschen alles, was ein Thier ist, undvon der Musiklehre alles, was eine Wissenschaft ist,ausgesagt werden könnte, sondern es genügt, dass dieBestimmung überhaupt so, wie man zu sprechenpflegt, von dem Gegenstande ausgesagt werden kann.Das Weitere ist unnütz und unmöglich, z.B. dass alleMenschen alle Geschöpfe sind, oder dass die Gerech-tigkeit alles Gute ist. Dagegen muss die Bestimmungdem ganzen Begriff des Gegenstandes, von welchemsie ausgesagt wird, zukommen.

Wenn der Gegenstand, zu dem man die ihm zu-kommenden Bestimmungen aufsuchen soll, von einemBegriffe weiteren Umfanges befasst ist, so muss mandie vermöge dieses weiteren Begriffs ihm zukommen-den oder nicht zukommenden Bestimmungen nicht injenen weiteren Begriffen aufsuchen (denn diese

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Bestimmungen sind schon in dem Gegenstande ge-setzt, da alles, was dem Geschöpf zukommt, auchdem Menschen zukommt, und da, was jenem nicht zu-kommt, auch diesem nicht zukommt), sondern manmuss die dem Gegenstande eigenthümlichen Bestim-mungen aufsuchen, denn die Art hat ihr Eigenthümli-ches neben der Gattung, da jede ihrer verschiedenenArten ihr Eigenthümliches haben muss.

Auch darf man nicht in dem weiteren Begriffe dasaufsuchen, von welchem der engere Begriff ausgesagtwerden kann, also z.B. in dem Geschöpfe nicht das,wovon der Mensch ausgesagt werden kann; dennwenn das Geschöpf von dem Menschen ausgesagtwerden kann, so muss es auch von allem, unter die-sem Stehenden ausgesagt werden können, vielmehr istletzteres in dem Begriffe des Menschen aufzusuchen,da es diesem eigenthümlicher ist.

Ferner muss man die Bestimmungen aufsuchen,welche meistentheils dem Gegenstande zukommenund ebenso die Dinge, von denen der Gegenstandmeistentheils ausgesagt werden kann. Denn wenn derzu beweisende Satz nur das meistentheils Geltendebesagt, so kann der Schluss auf denselben auch ausVordersätzen geschehen, welche entweder alle odereinzeln nur auf das meistentheils Geltende lauten, dader Schlusssatz überall den Vordersätzen entspricht.

Endlich darf man auch nicht solche Bestimmungen

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aufsuchen, die überhaupt allen Dingen zukommen, daman daraus keinen Schluss ableiten kann; der Grunddavon wird sich aus dem später Folgenden ergeben.

Achtundzwanzigstes Kapitel

Wenn man nun den Beweis für einen allgemeinenund bejahenden Satz beschaffen will, so muss maneinmal sein Augenmerk auf Gegenstände richten, vonwelchen das Prädikat des zu beweisenden Satzes aus-gesagt werden kann und zweitens auf Gegenstände,welche von dem Subjekte des Satzes ausgesagt wer-den. Findet man unter diesen beiden Arten von Ge-genständen einen, welcher in beiden derselbe ist, somuss auch das Prädikat des zu beweisenden Satzes indessen Subjekt enthalten sein.

Soll aber kein allgemein-, sondern nur ein be-schränkt-bejahender Satz bewiesen werden, so mussman einmal Gegenstände aufsuchen, von denen dasPrädikat des Beweissatzes ausgesagt werden kann,und zweitens Gegenstände, von denen das Subjekt desBeweissatzes ausgesagt werden kann; findet sich inbeiden Arten ein und derselbe Gegenstand, so mussdas Prädikat des Beweissatzes in einigen des Subjektsenthalten sein.

Will man aber einen allgemein-verneinenden Satz

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beweisen, so muss man entweder Gegenstände aufsu-chen, welche das Subjekt des verneinenden Satzesunter sich befassen, und dann Gegenstände, in denendas verneinte Prädikat nicht enthalten sein kann; oderman muss Gegenstände aufsuchen, in welchen dasSubjekt des verneinenden Satzes nicht enthalten seinkann, und dann solche, welche von dem Prädikate desSatzes ausgesagt werden. Wenn in beiden Fällen sichein und derselbe Gegenstand in beiden Arten findet,so kann das Prädikat des Satzes in dem ganzen Sub-jekt nicht enthalten sein, denn der Schluss vollziehtsich hier in dem einen Falle in der ersten und in demanderen Falle in der zweiten Figur.

Soll endlich ein beschränkt-verneinender Satz be-wiesen werden, so muss man Gegenstände aufsuchen,welche das Subjekt des verneinenden Satzes befassen,und solche, welche in dem Prädikate des Satzes nichtenthalten sein können. Findet sich in beiden ein undderselbe Gegenstand, so muss das Prädikat des zu be-weisenden Satzes in einigen des Subjekts nicht ent-halten sein.

Vielleicht wird das hier Gesagte durch das Fol-gende noch deutlicher werden. Das, was von A ausge-sagt wird, soll B sein, und das, von dem A selbst aus-gesagt wird, soll C sein; das, was in A nicht enthaltensein kann, sei D. Ferner soll das, was in E enthaltenist, Z sein, und das, von welchem E ausgesagt wird,

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soll H sein; das, was in E nicht enthalten sein kann,sei T. Wenn sich nun unter den mit C bezeichnetenGegenständen einer findet, welcher derselbe ist, wieeiner von denen mit Z bezeichneten, so muss A inallen E enthalten sein; denn Z ist in allen E und A inallen C enthalten, also muss auch A in allen E enthal-ten sein. Ist dagegen einer von den Gegenständen desC und von denen des H derselbe, so muss A in eini-gen E enthalten sein; denn A ist in allen C und E inallen H enthalten. Ist aber einer von den Gegenstän-den des Z derselbe mit einem von denen des D, sowird A vermöge eines vorgängigen Schlusses in demganzen E nicht enthalten sein; denn der verneinendeSatz lässt sich umkehren und Z und D sind hier das-selbe; also wird A auch in keinem Z enthalten sein,aber Z ist in allen E enthalten. Wenn ferner einer derGegenstände unter B derselbe ist, mit einem der Ge-genstände unter T ist, so wird ebenfalls A in keinem Eenthalten sein; denn B ist in allen A und T ist in kei-nem E enthalten. Ist aber einer der Gegenstände unterD und unter H derselbe, so wird A in einigen E nichtenthalten sein; denn A ist dann im H nicht enthalten,weil es nicht in D enthalten ist und H ist von E be-fasst; folglich wird A in einigen E nicht enthaltensein. Ist aber einer unter den Gegenständen zu B der-selbe mit einem unter denen zu H, so wird derSchlusssatz umgekehrt lauten; denn dann ist H in dem

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ganzen A enthalten (denn B ist in allen A) und E inallen B enthalten (weil H mit B dasselbe ist). Dann istzwar keine Nothwendigkeit vorhanden, dass A in demganzen E enthalten sei, aber in einigen E muss A ent-halten sein, weil der allgemein bejahende Satz sich ineinen beschränkt bejahenden umkehren lässt.

Somit ist klar, dass man bei jedem zu beweisendenSatze auf das für beide Begriffe desselben hier Ge-sagte Acht haben muss; denn alle Schlüsse vollziehensich durch solche Mittelbegriffe. Auch muss man beidem Prädikate und dem Subjekte des Beweissatzesdie obersten und allgemeinsten Begriffe, unter denensie stehen, am meisten beachten; z.B. bei E mehr aufden über Z stehenden höheren Begriff, als blos auf Zund bei A mehr auf den über C stehenden höherenBegriff, als blos auf C achten. Denn wenn A in demhöheren über Z stehenden Begriff enthalten ist, so istes auch in Z und folglich auch in E enthalten undwenn A von jenem höheren Begriffe nicht ausgesagtwerden kann, so kann es doch möglicherweise von Zausgesagt werden. Eben so hat man bei den Subjektenvon A zu verfahren; denn wenn A von den höherenBegriffen ausgesagt werden kann, so kann A auch vonden unter denselben stehenden ausgesagt werden; undsollte A von jenen höheren nicht ausgesagt werdenkönnen, so kann es doch möglicherweise von den nie-deren Begriffen ausgesagt werden.

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Es ist auch klar, dass die Untersuchung sich aufdrei Begriffe und zwei Vordersätze erstreckt und dassalle Schlüsse sich durch die vorgenannten Figurenvollziehen. Denn man beweist, dass A in allen E ent-halten ist, wenn man unter den zu C gehörenden Ge-genständen einen findet, welcher derselbe ist miteinem unter den zu Z gehörenden Gegenständen; die-ser bildet dann den Mittelbegriff und A und E sinddann die äusseren Begriffe, und somit ergiebt sich dieerste Figur. Dagegen ist A nur in einigen E enthalten,wenn unter den zu C und H gehörenden Gegenständenein derselbiger gefunden wird; dann ist ein Schluss inder dritten Figur vorhanden und H wird hier zum Mit-telbegriff. A kommt ferner keinem E zu, wenn unterden Gegenständen von D und Z ein derselbiger gefun-den wird; denn dann vollzieht sich der Schluss in derersten oder in der zweiten Figur, und zwar in der er-sten, weil dann A in keinem Z enthalten ist, da derverneinende Satz sich umkehren lässt und Z in allen Eenthalten ist. In der zweiten Figur vollzieht sich derSchluss, weil das D in keinem A, aber in allen E ent-halten ist. Endlich kommt A einigen E nicht zu, wennsich unter den zu D und zu H gehörenden Gegenstän-den ein derselbiger findet, wo sich der Beweis dann inder dritten Figur vollzieht; denn A ist dann in keinemH und E ist in allen H enthalten. Es erhellt hieraus,dass in den vorerwähnten Figuren sich alle Schlüsse

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vollziehen; auch dass keine solche Bestimmungen ge-sucht werden dürfen, die von allen Dingen ausgesagtwerden können, weil aus solchen Sätzen kein Schlussgezogen werden kann; denn ein bejahender Schlusskann aus solchen Bestimmungen nicht abgeleitet wer-den und ein verneinender Schluss ist durch Etwas,was von Allen ausgesagt wird, auch nicht ausführbar,weil da die Bestimmung von dem Einen ausgesagtund von dem Andern nicht ausgesagt werden muss,wenn ein verneinender Schluss zu Stande kommensoll.

Es erhellt auch, dass alle anderen Erwägungen inBezug auf Aufsuchung von Begriffen für die Bildungder Schlüsse nutzlos sind; z.B. die Erwägung, obunter den Gegenständen, welche von jedem der beidenBegriffe des aufgestellten Satzes ausgesagt werdenkönnen, identische enthalten sind, oder welche vonden Begriffen, die von A ausgesagt werden können, indem E nicht enthalten sein können, oder welche Ge-genstände in beiden Begriffen des zu beweisendenSatzes nicht enthalten sein können, denn aus solchenkann kein Schluss abgeleitet werden. Denn wenn diePrädikate von beiden Begriffen des Beweis-Satzesdieselben sind, so kommen nur zwei Vordersätze zurzweiten Figur heraus, die beide bejahend lauten, undwenn die Begriffe, von denen A sich aussagen lässt,und die Begriffe, welche in dem E nicht enthalten sein

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können, dieselben sind, also das C und das T, so er-geben sich nur die Vordersätze zu der erstenSchlussfigur, wobei der Untersatz verneinend lautet;und wenn die Bestimmungen, welche von beiden Be-griffen des aufgestellten Satzes nicht ausgesagt wer-den können, dieselben sind, wie das D und T, so erge-ben sich die Vordersätze zur ersten oder zweitenFigur, die aber beide verneinend lauten, so dass inallen diesen Fällen kein Schluss gezogen werdenkann.

Es ist auch klar, dass man bei der Erwägung, wieder Beweis eines aufgestellten Satzes zu führen ist,zunächst irgend welche Bestimmungen aufsuchenmuss, die beide dieselben sind, aber nicht solche, dievon einander verschieden oder entgegengesetzt sind;denn es kommt auf die Auffindung des Mittelbegriffsan und dieser muss für beide Vordersätze gleich undnicht verschieden lauten. Ferner lassen die Fälle, woein Schluss durch Ansatz von Begriffen erfolgt, diedenen des Beweissatzes entgegengesetzt sind, odernicht in ihnen enthalten sein können, sich sämmtlichauf die vorgenannten Arten zurückführen wenn z.B. Bund Z einander entgegengesetzt sind oder nicht indemselben Begriffe enthalten sein können, so ergiebtsich zwar bei solcher Annahme der Schluss, dass A inkeinem E enthalten sein könne, allein nicht unmittel-bar aus ihnen, sondern in der früher angegebenen

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Weise; denn dann wird B in allen A und in keinem Eenthalten sein, weil B nothwendig mit Einigem von Tgleich sein muss. Wenn ferner B und H nicht in dem-selben Begriffe enthalten sein können, so ergiebt sichder Schluss, dass A in einigen E nicht enthalten ist,denn es ist dann die zweite Figur vorhanden, indem Bin allen A, aber in keinem H enthalten ist, mithin Bdasselbe mit Einigen von T sein muss. Wenn nämlichB und H in demselben Begriffe nicht enthalten seinkönnen, so ist dies eben so viel, als dass B mit Eini-gen von T dasselbe ist, denn T ist als das gesetzt wor-den, was alles befasst, was nicht in E enthalten ist.

Sonach ist klar, dass aus der Aufsuchung solcherBegriffe für sich allein kein Schluss gewonnen wer-den kann; sind aber B und Z einander entgegenge-setzte Bestimmungen, so muss B mit einigen von Tdasselbe sein und der Schluss kommt dann dadurchzu Stande. Bei solchen Erwägungen kommt es vor,dass man einen anderen, als den nothwendigen Wegeinschlägt, weil man diese Dieselbigkeit der zu B ge-hörigen Dinge mit dem zu T nicht bemerkt.

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Die Schlüsse, welche zur Unmöglichkeit des Ge-gentheils führen, verhalten sich in dieser Beziehungeben so, wie die direkten Schlüsse; denn auch jenekommen durch die Gegenstände zu Stande, welche alsPrädikate, und die, welche als Subjekte von den Be-griffen des Beweissatzes ausgesagt werden können,und deshalb ist die Aufsuchung solcher Gegenständebei beiden Schlussweisen die gleiche; denn das, wasdirekt bewiesen wird, kann auch durch die Unmög-lichkeit des Gegentheils vermittelst derselben Begriffegeschlossen werden und umgekehrt, was durch dieUnmöglichkeit des Gegentheils bewiesen wird, kannauch direkt bewiesen werden; z.B. der Satz, dass A inkeinem E enthalten ist. Denn man nehme an, dass esin einigen E enthalten sei, dann wird, da B in allen Aenthalten ist, und A in einigen E enthalten sein soll,auch B in einigen E enthalten sein, während es dochin keinem E enthalten war. Ferner soll bewiesen wer-den, dass A in einigen E enthalten ist; denn wenn A inkeinem E enthalten ist, E aber in allen H, so wird A inkeinem H enthalten sein; allein es war ja in allen Henthalten. Eben so kann man bei den übrigen aufzu-stellenden Sätzen verfahren; immer wird bei allen ausden Gegenständen, welche sich zu Prädikaten oder

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Subjekten für die Begriffe des Beweissatzes eignen,sich auch ein Beweis für die Unmöglichkeit des Ge-gentheils dieses Beweissatzes ergeben. Auch bleibtfür jeden aufgestellten Satz die Aufsuchung der Ge-genstände dieselbe, mag man einen direkten Schlussdafür aufstellen wollen oder die Unmöglichkeit desGegentheils darlegen, da beide Schlussweisen aufdenselben Begriffen beruhen. Ist also z.B. der Satz,dass A in keinem E enthalten, dadurch bewiesen wor-den, dass wenn das Gegentheil angenommen werde,die daraus sich ergebende Folge, dass B in einigen Eenthalten, unmöglich ist, so kann dies direkt bewiesenwerden, wenn man setzt, dass B in keinem E und inallen A enthalten ist; denn dann ist klar, dass auch Ain keinem E enthalten sein kann. Wenn ferner direktbewiesen worden ist, dass A in keinem E enthaltenist, so wird, wenn man annimmt, es sei in einigen Eenthalten, vermöge der unmöglichen Folge bewiesenwerden können, dass A in keinem E enthalten ist.Eben so verhält es sich mit den Unmöglich-keits-Beweisen für die anderen Sätze; bei allen mussman einen von den Begriffen des vorliegenden Be-weissatzes verschiedenen Begriff als Mittelbegriffaufsuchen, vermittelst dessen sich der Schluss auf denfalschen Satz ergiebt; wird dann dieser Schluss in seinGegentheil umgekehrt und so als Vordersatz ange-setzt, während der zweite Vordersatz unverändert

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bleibt, so ergiebt sich mittelst derselben Begriffe eindirekter Schluss. Der direkte Schluss unterscheidetsich nämlich von dem auf das Unmögliche führendennur dadurch, dass bei dem direkten beide Vordersätzeso angesetzt werden, wie es die Wahrheit ist, bei demanderen aber der eine Vordersatz als ein falscher an-gesetzt wird.

Dies wird sich in dem Folgenden noch klarer erge-ben, wenn ich über das Unmögliche sprechen werde;für jetzt ist so viel sicher, dass sowohl der, welchereinen direkten Schluss bilden will, wie der, welcherdie Unmöglichkeit des Gegentheils darthun will, aufdie angegebenen Umstände Acht haben muss. Bei denübrigen aus bedingten Sätzen abgeleiteten Schlüssen,wie z.B. bei den Schlüssen vermittelst einer Mitnah-me oder vermittelst einer Beschaffenheit wird die Er-mittelung rücksichtlich der angenommenen Begriffesich nicht auf die in dem anfangs aufgestellten Satzeenthaltenen, sondern auf die mit dazu genommenenBegriffe zu richten haben, während die Art der Erwä-gung dieselbe bleibt. Nur muss man dabei auch dar-auf Acht haben, in wie vielerlei Arten die bedingtenSchlüsse sich eintheilen.

Nun lässt sich zwar jeder aufzustellende Satz indieser Art beweisen; doch giebt es für einige Sätzeauch eine andere Art des Beweises, wie z.B. die allge-mein lautenden Sätze durch das Verfahren bewiesen

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werden können, was bei den beschränkten Sätzenstattfindet, insofern es bedingterweise benutzt wird.Denn wenn die C und die H dieselben wären, aber an-genommen wird, dass das E nur allein in denen des Henthalten sei, so würde A in allen E enthalten sein;und wenn ferner die D und die H dieselben wären,und E wieder blos von denen des A ausgesagt würde,so würde A in keinem E enthalten sein. Hieraus er-hellt, dass man auch so den Beweis suchen kann.

Auf dieselbe Weise geschieht die Ermittelung beiden nothwendigen und den auf das Statthafte lauten-den Sätzen. Die Aufsuchung des Beweises ist hierdieselbe, und mittelst derselben Begriffe und der glei-cher Ordnung derselben erfolgt der Schluss auf dasstatthafte und das einfache Sein. Bei den auf dasStatthafte lautenden Sätzen muss man aber auch Sol-ches in Ansatz bringen, was nicht ist, aber doch seinkann; denn ich habe gezeigt, dass auch durch solcheSätze ein Schluss auf das Statthafte gezogen werdenkann, und eben so wird es sich bei Schlüssen verhal-ten, wo die Modalität noch in anderer Weise ausge-drückt ist.

Aus dem Gesagten ist also nicht blos klar, dass alleSchlüsse auf diesem Wege gefunden werden können,sondern auch, dass es auf einem anderen Wege un-möglich ist. Denn ich habe gezeigt, dass alle Schlüssein einer der erwähnten Figuren geschehen, und diese

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Figuren können nicht anders gebildet werden, alsdurch die Begriffe, welche entweder sich zu Prädika-ten oder Subjekten der in dem Beweissatze enthalte-nen Begriffe eignen; denn aus diesem werden die Vor-dersätze gebildet und der Mittelbegriff entnommen, sodass also der Schluss durch andere Begriffe nicht ge-bildet werden kann.

Dreissigstes Kapitel

Der Weg zur Bildung von Schlüssen ist sonach beiAllem derselbe, sowohl innerhalb der Philosophie,wie innerhalb der theoretischen und praktischen be-sonderen Wissenschaften. Bei jedem Satze muss mandie Prädikate und die Subjekte zu jedem der betreffen-den Begriffe sorgfältig erwägen, dergleichen Bestim-mungen so viel als möglich gegenwärtig haben undsie je nach den drei Begriffen des Schlusses in Be-tracht ziehen und zwar um etwas verneinend zu be-weisen in der einen Weise und um etwas bejahend zubeweisen in der anderen Weise. Soll dabei etwas derstrengen Wahrheit gemäss bewiesen werden, so musses aus streng wahren und richtig gestellten Vordersät-zen abgeleitet werden; und bei dialektischen Schlüs-sen müssen die Vordersätze der Meinung entsprechen.

Was die Vordersätze der Schlüsse anlangt, so habe

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ich bereits im Allgemeinen dargelegt, wie sie sichgegen einander zu verhalten haben und auf welcheWeise man sie zu beschaffen habe. Man darf nichtalles Mögliche, was von den Begriffen eines Beweis-satzes sich sagen lässt, in Betracht ziehen, auch beiverneinenden und bei bejahenden Beweisen nicht aufEin und Dasselbe Acht haben, mag ein Satz allgemeinoder beschränkt zu beweisen oder zu widerlegen sein.Vielmehr muss man die Nachforschung auf Engeresund Bestimmteres richten und hiernach die Auswahlbei jedem Gegenstande, wie z.B. bei dem Guten oderder Wissenschaft treffen; denn die meisten Sätze ge-hören bei jeder Wissenschaft ihr eigenthümlich an.Deshalb ist es Sache der Erfahrung, die für den ein-zelnen Fall gültigen Sätze zu liefern; so hat z.B. dieErfahrung in Bezug auf die Gestirne die der astrono-mischen Wissenschaft angehörenden Sätze zu be-schaffen; erst nachdem man eine genügende Zahl vonErscheinungen hier beobachtet hatte, konnten die Be-weise in der Sternkunde aufgefunden werden und ebenso verhält es sich bei jeder anderen theoretischen oderpraktischen Wissenschaft. Erst wenn man das, wasden einzelnen Fall anbetrifft, erkannt hat, ist es unsereAufgabe, die Beweise klar und bereit zu machen. Nurwenn in der Beschreibung der Dinge Nichts von demwirklich Vorhandenen übersehen worden ist, werdenwir für Alles, wo Beweise möglich sind, dieselben

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auffinden und aufstellen können und da, wo die Naturder Sache keinen Beweis gestattet, auch dies klar dar-legen können.

Somit werde ich wohl vollständig gezeigt haben,wie man die Vordersätze auswählen soll; genauerhabe ich den Gegenstand in der Dialektik behandelt.

Einunddreissigstes Kapitel

Dass die Eintheilung nach Gattungen nur einenkleinen Theil des hier behandelten Verfahrens bildet,kann man leicht einsehen; denn die Eintheilung istgleichsam ein schwacher Schluss, weil sie das, wassie beweisen soll, voraussetzt, aber doch immer etwasvon den oberen Begriffen folgert. Gerade dieser erstePunkt wurde von Allen, welche sich der Eintheilungbedienten, nicht bemerkt und sie bemühten sich glau-ben zu machen, es sei mittelst der Eintheilung mög-lich, einen Beweis für das Wesen und das Was derDinge zu liefern. Deshalb sahen sie weder ein, wasmöglicherweise durch das Eintheilen bewiesen wer-den kann, noch dass dies nur in der früher angegebe-nen Weise möglich ist. Denn in den Beweisen muss,wenn ein bejahender Schluss geschafft werden soll,der Mittelbegriff, vermittelst dessen der Schluss zuStande kommt, immer enger sein, als der Oberbegriff

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und kein Allgemeines von demselben; aber dieEintheilung will das Entgegengesetzte, indem sie dasAllgemeine zum Mittelbegriffe nimmt. Es sei z.B. Adas Geschöpf, B das Sterbliche und C das Unsterbli-che und D der Mensch, von dem eine Aussage erlangtwerden soll. Nun kann man sagen: Jedes Geschöpf istentweder sterblich oder unsterblich, d.h. dass alles,was A ist, entweder B oder C ist. Ferner wird bei demEintheilen immer gesetzt, dass der Mensch ein Ge-schöpf sei, so dass also angenommen wird, A sei indem D enthalten. Dann lautet der Schluss, dass allesD entweder B oder C sei, also dass der Mensch noth-wendig sterblich oder unsterblich sei, aber der Satz,dass der Mensch ein sterbliches Geschöpf sei, folgtnicht nothwendig, sondern wird nur behauptet; abergerade dies war Das, was hätte bewiesen werden sol-len. Wenn man ferner setzt: A als sterbliches Wesen,B als: Füsse habend, und C als: ohne Füsse und D alsder Mensch, so wird ebenso angenommen, dass Aentweder in dem B oder in dem C enthalten sei (dennjedes sterbliche Wesen ist entweder mit Füssen oderohne Füsse) und dass A von dem E gelte (denn es warangenommen, dass der Mensch ein sterbliches Ge-schöpf sei). Damit ergiebt sich wohl, dass der Menschnothwendig entweder ein Geschöpf mit Füssen oderein Geschöpf ohne Füsse sein müsse; allein es folgtnicht, dass er ein Geschöpf mit Füssen sei, sondern

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dies wird nur angenommen, obgleich gerade wiederdies hätte bewiesen werden sollen. Wenn bei demEintheilen immer in dieser Weise verfahren wird, sokommt es, dass das Prädikat zum mittleren Begriffgenommen wird und dass das Subjekt, von dem etwaserwiesen werden soll, und das Prädikat in seinen Ge-gensätzen zu den äusseren Begriffen genommen wer-den; aber das, was schliesslich verlangt wurde, näm-lich dass der Mensch dieses Bestimmte sei oder wel-ches die gesuchte Bestimmung für den Menschen sei,wird bei solchem Verfahren nicht erreicht und eben sowenig dessen Nothwendigkeit dargelegt; vielmehrverfolgt man lediglich den falschen Weg, ohne zu be-merken, dass leicht richtige Wege eingeschlagen wer-den können. Somit ist klar, dass man mit diesem ein-theilenden Verfahren auch keine Widerlegung machenkann und auch nichts darüber erschliessen kann, obetwas einem Dinge nur nebenbei oder eigenthümlichzukommt; und auch nichts über die Gattung und überGegenstände, wo man nicht weiss, ob sie sich so oderso verhalten, z.B. ob der Durchmesser kein gemesse-nes Maass mit den Seiten des Quadrates habe. Dennsetzt man, dass jedes Lange ein gemeinsames Maassentweder habe oder nicht habe und dass der Durch-messer ein Langes sei, so ergiebt sich der Schluss,dass der Durchmesser ein gemeinsames Maass entwe-der habe oder nicht habe. Setzt man aber, er habe kein

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gemeinsames Maass, so behauptet man nur das, wasbewiesen werden soll. Auf diesem Wege erlangt manalso keinen Beweis; es ist dies der Weg vermittelstder Eintheilung, aber er gewährt keinen Beweis. Dasgemeinsame Messbare oder nicht-gemeinsameMessbare ist A, das Lange B, der Durchmesser C. So-nach erhellt, dass diese Weise einen Beweis zu füh-ren, nicht für jede Ermittelung passend ist und dasssie gerade in den Fällen unbrauchbar ist, wo sie ampassendsten zu sein scheint.

Somit ist klar, aus welchen Begriffen und wie dieBeweise sich bilden und auf was man bei jedem zubeweisenden Satze Acht haben muss.

Zweiunddreissigstes Kapitel

Nunmehr möchte wohl anzugeben sein, wie mandie Schlüsse auf die angegebenen Figuren zurück-führt; dieser Theil der Untersuchung ist nämlich nochübrig; da, wenn man die Entstehung der Schlüssekennen gelernt hat und sie aufzustellen vermag undwenn man auch aufgestellte Schlüsse auf die vorer-wähnten Figuren zurückzuführen vermag, dann das,was ich mir im Beginn vorgesetzt, erfüllt sein möchte.Auch wird sich ergeben, wie durch das, was ich nunsagen werde, zugleich das früher Gesagte bestätigt,

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und wie dadurch noch deutlicher werden wird, dass essich so verhält. Denn alles Wahre muss in jederWeise mit sich selbst übereinstimmen.

Zunächst muss man versuchen die zwei Vordersät-ze aus dem Schluss herauszuziehen (denn es ist leich-ter, das Grössere auszusondern, als das Kleinere, unddie Sätze sind grösser als die Begriffe, aus denen siebestehen). Dann muss man sehen, was allgemein undwas beschränkt ausgesprochen ist; und wenn nichtbeide Sätze hingestellt worden sind, so muss man denfehlenden selbst aufstellen; denn mitunter wird beimSchreiben oder Fragen nur der allgemeinere Satz auf-gestellt und nicht auch der in ihm enthaltene; oder eswerden wohl beide aufgestellt, aber die Sätze über-gangen, durch welche die Vordersätze selbst bewiesenwerden, während Anderes nutzlos gefragt wird. Manmuss also untersuchen, ob etwas Ueberflüssiges auf-gestellt und ob etwas Nöthiges ausgelassen wordenist; dieses muss man hinzufügen und jenes wegneh-men, bis man auf die zwei Vordersätze gelangt, daman ohne diese die gefragten Sätze nicht in die ent-sprechende Schlussfigur einordnen kann. In manchenFällen kann man leicht das Mangelnde erkennen, inanderen ist es verhüllter, so dass der Schein entsteht,als ergebe sich mit Nothwendigkeit ein Schluss ausden aufgestellten Vordersätzen. Z.B. wenn man setzt,dass eine Substanz nur vernichtet werden könne,

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wenn sie selbst vernichtet werde; und dass, wenn das,aus dem ein Gegenstand besteht, vernichtet werde,auch der Gegenstand vernichtet werde. Aus diesenaufgestellten Sätzen folgt nothwendig, dass auch derTheil einer Substanz eine Substanz ist. Nun ist diesaber nicht aus den aufgestellten Vordersätzen ge-schlossen worden, vielmehr sind Vordersätze ausge-lassen worden. Ein ähnlicher Fall ist es, wenn gesetztwird, dass wenn der Mensch sei, nothwendig auch einGeschöpf sei und wenn ein Geschöpf sei, nothwendigauch eine Substanz sei; denn hier hat kein Schliessenstattgefunden, weil die Vordersätze sich nicht so ver-halten, wie ich gesagt habe. Man täuscht sich in sol-chen Fällen und meint, dass weil aus den Vordersät-zen sich etwas mit Nothwendigkeit ergiebt, auch dergezogene Schluss nothwendig sei. Allein das Noth-wendige hat einen weiteren Umfang als der Schluss;denn jeder Schluss ist zwar ein Nothwendiges, abernicht alles Nothwendige ist ein Schluss. Wenn alsoauch aus zwei aufgestellten Vordersätzen etwas folgt,so darf man doch nicht sofort versuchen, dasselbe aufeine Schlussfigur zurückzuführen, sondern man musszunächst die Vordersätze in Betracht nehmen, danndiese in die Begriffe zerlegen und demnächst denjeni-gen als Mittelbegriff setzen, welcher in beiden Vor-dersätzen vorkommt, da in allen Schlussfiguren derMittelbegriff in beiden Vordersätzen enthalten sein

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muss. Im Fall nun dieser Mittelbegriff sowohl etwasaussagt, wie von ihm etwas ausgesagt wird, oderwenn er zwar etwas aussagt, aber ein Anderes vonihm verneint wird, so ist die erste Schlussfigur vor-handen. Wenn aber der Mittelbegriff von Einem beja-hend ausgesagt, von dem Anderen aber verneint wird,so ist die zweite Figur vorhanden; und wenn die bei-den anderen Begriffe von dem Mittelbegriffe ausge-sagt werden, oder der Eine von ihnen verneint und derAndere bejaht wird, so ist die dritte Figur vorhanden;denn in dieser Weise verhielt sich der Mittelbegriff inden einzelnen Figuren. Das Gleiche gilt, wenn dieVordersätze nicht allgemein lauten; auch hier bleibtdie Definition des Mittelbegriffs dieselbe. Hieraus er-hellt, dass wenn in einer Rede derselbe Begriff nichtmehrfach aufgestellt wird, kein Schluss dabei heraus-kommen kann, weil dann kein Mittelbegriff gesetztworden ist. Da wir nun schon wissen, welche aufge-stellten Sätze mittelst der einzelnen Figuren bewiesenwerden können und welche Figuren zu einem allge-meinen und welche nur zu einem beschränktenSchlusssatz führen, so erhellt, dass man nicht injedem Falle auf alle Figuren zu achten hat, sondernbei jedem aufgestellten Satz nur auf die dazu geeig-nete Figur. Wenn aber der Beweis in mehreren Figu-ren geführt werden kann, so wird man die bestimmteFigur aus der Stellung des Mittelbegriffes erkennen

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können.

Dreiunddreissigstes Kapitel

Oft täuscht man sich über die Schlüsse, weil derSchlusssatz sich als ein nothwendiger darstellt, wieich vorher bemerkt habe; mitunter aber auch wegender gleichen der Schlussform entsprechenden Stellungder Begriffe, was man auch nicht übersehen darf.Wenn z.B. das A von dem B ausgesagt wird oder dasB von dem C, so möchte man glauben, dass bei sol-chem Verhältniss der Begriffe ein Schluss vorhandensei, und doch ergiebt sich daraus weder etwas Noth-wendiges, noch ein Schluss. So soll z.B. A dasImmer-sein bezeichnen, B den gedachten Aristome-nes, C den Aristomenes. Hier ist richtig, dass das A indem B enthalten ist, denn der gedachte Aristomenesist immer; aber auch das B ist in dem C enthalten,denn Aristomenes ist ein gedachter Aristomenes; den-noch ist das A nicht in C enthalten, denn Aristomenesist vergänglich. Allein es war bei so lautenden Vor-dersätzen kein Schluss statthaft, vielmehr hätte derSatz A B allgemein lauten müssen; denn hierin liegtder Irrthum, dass man nämlich behauptete, jeder ge-dachte Aristomenes sei immer, da doch dieser Aristo-menes vergänglich ist. Ferner soll C der Mikkalos

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sein und B der musikalische Mikkalos und A das:Morgen vergehen. Nun ist es richtig, dass hier B vonC ausgesagt werden kann, denn Mikkalos ist ein mu-sikalischer Mikkalos, und eben so könnte A von Bausgesagt werden, denn der musikalische Mikkaloskönnte ja morgen vergehen. Allein es ist falsch, A vonC auszusagen. Der Fehler ist hier derselbe, wie beidem vorigen Fall; denn man kann nicht allgemein be-haupten, dass jeder musikalische Mikkalos morgenvergehen werde, und wenn das nicht als Vordersatzgesetzt werden kann, so ergiebt sich auch keinSchluss.

Diese Täuschung erfolgt allerdings in etwas Gerin-gen, und ich räume ein, dass es beinahe dasselbe ist,zu sagen: Dies ist in Jenem enthalten oder dies ist inallen Jenem enthalten.

Vierunddreissigstes Kapitel

Oft trifft es sich indess, dass man sich deshalbtäuscht, weil die Begriffe in Bezug auf die Vordersät-ze nicht richtig ausgedrückt sind; z.B. wenn A dieGesundheit ist und B die Krankheit und C derMensch. Hier kann man in Wahrheit sagen, dass dasA in keinem B enthalten sein kann (denn in keinerKrankheit ist die Gesundheit enthalten) und dass B in

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allen C enthalten ist (denn jeder Mensch kann inKrankheit gerathen); sonach könnte man meinen, esfolge, dass in keinem Menschen die Gesundheit ent-halten sein könne. Der Grund hiervon ist, dass dieBegriffe in ihrem Ausdrucke nicht richtig angesetztsind; denn wenn andere Ausdrücke statt der die Zu-stände bezeichnenden gesetzt werden, ergiebt sichkein Schluss; z.B. wenn man statt: Gesundheit dasGesunde setzt, und statt: Krankheit das Kranke. Dennman kann dann nicht in Wahrheit sagen, dass in demKranken das Gesundwerden nicht enthalten seinkönne; wenn also dies nicht gesetzt wird, so ergiebtsich auch kein Schluss als höchstens auf die Statthaf-tigkeit und dies ist nicht unmöglich, denn es ist statt-haft, dass in keinem Menschen die Gesundheit enthal-ten ist.

Auch bei der zweiten Figur kann der gleiche Irr-thum vorkommen; denn die Gesundheit kann in keinerKrankheit, aber statthafterweise in allen Menschenenthalten sein, woraus folgte, dass die Krankheit inkeinem Menschen enthalten wäre. In der dritten Figurbetrifft der Irrthum das Statthaft-sein. Denn die Ge-sundheit wie die Krankheit, die Kenntnisse wie dieUnwissenheit und überhaupt das Entgegengesetztekönnen statthafterweise in demselben Gegenstandeenthalten sein, aber unmöglich kann das eine der Ge-gentheile in dem anderen enthalten sein. Dies stimmt

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aber nicht mit dem früher Gesagten; wonach, wenn indemselben Gegenstande Mehreres statthafterweiseenthalten war, dies Mehrere statthafterweise aucheines in dem anderen enthalten war.

Es erhellt sonach, dass in allen diesen Fällen derIrrthum aus der falschen Ausdrucksweise der Begriffeentsteht; wird statt des Zustandes der damit behafteteGegenstand gesetzt, so ergiebt sich nichts Falsches.

Es ist also klar, dass bei solchen Vordersätzenimmer statt des Zustandes der damit behaftete Gegen-stand genommen und als Begriff in den Schluss ge-setzt werden muss.

Fünfunddreissigstes Kapitel

Man darf auch nicht immer die Begriffe des Schlus-ses mit einem Worte ausdrücken wollen, denn oftwird es in Redensarten geschehen, für welche es keineinzelnes Wort giebt, und deshalb ist es schwer, sol-che Schlüsse auf eine Figur zurückzuführen. Mitunterkann man auch durch solches Suchen in Irrthum gera-then, z.B. wenn der Schluss aus unvermittelten Sätzenhervorgeht. So sollen A zwei rechte Winkel sein, Bdas Dreieck und C das gleichschenkelige Dreieck. Indem C ist nun das A vermittelst des B enthalten, aberin dem B ist C unvermittelt enthalten; denn das

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Dreieck enthält an sich zwei rechte Winkel, so dasskein Mittelbegriff für den Beweis des Satzes A B be-steht. Hieraus erhellt, dass der Mittelbegriff nichtimmer als etwas Einzelnes zu setzen ist, sondern mit-unter als ein Satz, wie dies auch für obiges Beispielder Fall ist.

Sechsunddreissigstes Kapitel

Das Enthaltensein des Ersten in dem Mittleren unddieses in dem äusseren Begriffe darf man nicht soausdrücken wollen, als wenn immer eines von demanderen ausgesagt werden müsse, oder als wenn dasErste von dem Mittleren und ebenso wie dieses vondem Aeussersten ausgesagt werden müsse. Dies giltauch ebenso für das Nicht-enthalten-sein. Vielmehrmuss man festhalten, dass in wie vielerlei Sinne das»Sein« und das »für wahr erklären« gebraucht wird,eben so vielerlei Bedeutung das »enthalten sein« hat;so z.B. bei dem Satze, dass von Entgegengesetztemnur eine Wissenschaft ist; denn A sei die eine Wis-senschaft, B das einander Entgegengesetzte. Hier istdas A in dem B nicht so enthalten, als wenn das:»eine Wissenschaft sein« etwas Entgegengesetzteswäre, sondern so, wie man in Wahrheit sagen kann,dass in Bezug auf sie nur eine Wissenschaft ist.

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E kommt auch vor, dass das Erste von dem Mittle-ren ausgesagt wird, aber das Mittlere nicht in dieserWeise von dem Dritten; so ist z.B. die Weisheit eineWissenschaft und die Weisheit hat das Gute zum Ge-genstande; der Schluss ist hier, dass es von demGuten eine Wissenschaft giebt; hier ist das Gute keineWissenschaft, aber die Weisheit ist eine Wissen-schaft. Manchmal wird das Mittlere von dem Drittenausgesagt, aber das Erste nicht von dem Mittleren;wenn z.B. von Jedwedem, was es auch sei, oder vondem Entgegengesetzten eine Wissenschaft besteht unddas Gute ein Entgegengesetztes und ein irgend Etwasist, so folgt zwar als Schluss, dass eine Wissenschaftdes Guten ist (besteht), aber weder ist das Gute, nochdas Etwas, noch das Entgegengesetzte eine Wissen-schaft, wohl aber ist das Gute letzteres beides. Eskommt auch vor, dass weder das Erste von dem Mitt-leren, noch dieses von dem Dritten ausgesagt wird,während das Erste von dem Dritten bald ausgesagt,bald nicht ausgesagt werden kann. Wenn z.B. vondem, wovon es eine Wissenschaft giebt, es eine Gat-tung giebt und es von dem Guten eine Wissenschaftgiebt, so folgt der Schluss, dass es von dem Guteneine Gattung giebt. Dennoch wird keines von dem an-deren ausgesagt. Wenn aber das, wovon es eine Wis-senschaft giebt, eine Gattung ist und es eine Wissen-schaft des Guten giebt, so folgt als Schluss, dass das

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Gute eine Gattung ist; hier wird das Erste von demLetzten ausgesagt, aber die Aussenbegriffe werdennicht von einander ausgesagt. In derselben Weise sinddie Fälle aufzufassen, wo es sich um dasNicht-Enthaltensein handelt.

Nicht immer bedeutet nämlich der Satz, dass diesesin Jenen nicht enthalten sei, so viel, als dass diesesnicht Jenes sei, sondern manchmal bedeutet es, dassdies nicht zu jenem gehört oder dass Dieses Jenesnicht ist; z.B. der Satz, dass es keine Bewegung derBewegung giebt, oder kein Werden des Werdens,aber wohl eine Bewegung und ein Werden der Lust;deshalb ist aber die Lust kein Werden. Ferner ist, weiles ein Zeichen des Lachens giebt, aber kein Zeichendes Zeichens, das Lachen kein Zeichen. Ebenso ist esin allen andern Fällen, wo der Beweis-Satz verneintwird, weil die Geltung von ihm in einer gewissenWeise ausgedrückt wird; z.B. dass die Gelegenheitnicht die gehörige Zeit ist, weil es für Gott zwar Gele-genheit giebt, aber keine gehörige Zeit, indem es fürGott nichts Nützliches giebt. Man hat hier zwar alsdie Begriffe des Schlusses: Gelegenheit, gehörige Zeitund Gott zu setzen, aber der Vordersatz muss derBeugung des Hauptwortes gemäss angesetzt werden;denn so spricht man schlechthin von allen Dingen,mithin sind die Begriffe immer den Nominativ desHauptwortes entsprechend anzusetzen; also z.B.:

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entsprechend den Nominativ: der Mensch oder: dasGute oder: die Gegentheile, aber nicht entsprechendder Beugung: des Menschen, des Gutes oder der Ge-gentheile; dagegen sind die Vordersätze entsprechendder Beugung eines jeden Hauptwortes anzusetzen;also dass Etwas diesem einwohnt, z.B. das Gleiche,oder dass es dessen ist, z.B. das Doppelte, oder dasses diesen ist, z.B. schlagend oder sehend, oder dass esdieses ist, z.B. der Mensch ein Geschöpf, oder wiesonst der Beugungsfall des Hauptworts sich nach derSatzverbindung gestaltet.

Siebenunddreissigstes Kapitel

Das Enthaltensein von diesem in jenem und deswahrhaft Ausgesagtwerden dieses von jenem ist in sovielerlei Sinne zu nehmen, als derselbe Satz in ver-schiedener Modalität ausgedrückt werden kann, unddiese verschiedenen Modalitäten entweder bezie-hungsweise oder schlechthin, ferner als für beide Vor-dersätze gleich oder verschieden lautend, ausgedrücktwerden können. Dasselbe gilt für dasNicht-enthaltensein. Doch ist dies noch genauer zuuntersuchen und zu bestimmen.

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Achtunddreissigstes Kapitel

Das in den Vordersätzen mehrfach Ausgesagtemuss zu dem Oberbegriffe und nicht zu dem Mittelbe-griffe gesetzt werden. Ich meine z.B., wenn einSchluss dahin lautete, dass es von der Gerechtigkeitein Wissen giebt, dass sie ein Gut sei, so ist der Zu-satz, dass sie ein Gut sei oder »dass sie irgendwie einGut sei«, zu dem Oberbegriff zu setzen. Denn es seiA das Wissen, dass etwas ein Gut ist, B das Gut, Cdie Gerechtigkeit; dann wird A von B mit Wahrheitausgesagt, denn vor dem Guten besteht das Wissen,dass es ein Gut ist; ebenso B von C, denn die Gerech-tigkeit ist ja doch ein Gut. Auf diese Weise geschiehtdie Auflösung der Rede. Setzt man dagegen den Zu-satz; »dass sie ein Gut ist«, zu B, so giebt es keinenSchluss; denn A wird dann zwar in Bezug auf B wahrsein, aber nicht B in Bezug auf C; denn von der Ge-rechtigkeit auszusagen, sie ist »ein Gut, dass sie einGut ist«, enthält eine Unwahrheit und ist unverständ-lich. Ebenso ist zu verfahren, wenn bewiesen werdensoll: dass das Gesunde ein Wissbares dahin sei, dasses ein Gut ist; oder: dass der Bockhirsch ein Gemein-tes dahin sei, dass er nicht existirt; oder: dass derMensch vergänglich sei, insoweit er ein Sinnliches ist.In allen diesen Sätzen mit zusätzlichen Aussagen ist

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dies Mehrfache immer zu dem äusseren Begriff zusetzen.

Der Ansatz der Begriffe äst nicht der gleiche, jenachdem der Schlusssatz einfach lautet, oder dahin,dass etwas dieses in einer Bejahung oder in einer ge-wissen Weise sei; also je nachdem z.B. bewiesenworden, dass das Gute einfach ein Wissbares ist, oderdass es ein Wissbares dahin ist, dass es gut ist. Ist derBeweis blos einfach dahin geführt, dass es einWissbares ist, so muss man bei der Zurückführungdes Beweises auf eine Schlussfigur als Mittelbegriffnur das einfache Sein setzen, ist aber bewiesen, dassdas Gute ein Wissbares dahin sei, dass es gut ist, somuss zu dem Sein das Was hinzugefügt und es so alsMittelbegriff gesetzt werden. Es sei nämlich A dasWissen, dass etwas so beschaffen; B das so beschaf-fen Seiende und C das Gute. Hier kann mit WahrheitA von B ausgesagt werden; denn das Wissen vonetwas Beschaffen-Seienden ist, dass es so beschaffen.Aber auch B kann von C ausgesagt werden, denn derGegenstand des C ist etwas Beschaffenes. Folglichkann auch A von C ausgesagt werden, denn es giebtein Wissen vom Guten, dass es gut ist, und das Be-schaffensein ist das Zeichen des Eigenthümlichen aneinem Dinge. Wäre aber das blosse Sein als Mittelbe-griff gesetzt worden und der Oberbegriff nur einfachund nicht mit seiner Beschaffenheit gesetzt worden,

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so würde der Schluss nicht dahin lauten, dass vomGuten ein Wissen dahin besteht, dass es gut ist, son-dern nur dahin, dass vom Guten ein Wissen, dass esist, bestehe; es würde dann z.B. A bezeichnen dasWissen, dass Etwas ist; B das Seiende und C dasGute. Hieraus erhellt auch, dass bei den beschränktenSchlüssen die Begriffe ebenso angesetzt werden müs-sen.

Neununddreissigstes Kapitel

Man muss auch mitunter Bezeichnungen, welchedieselbe Bedeutung haben, mit einander vertauschen,z.B. Hauptworte mit Hauptworten, Sätze mit Sätzenund Hauptwort und Satz, aber dabei immer statt desSatzes ein Hauptwort nehmen, denn dadurch wird dieHeraushebung der Begriffe im Schlüsse erleichtert.Wenn es also z.B. keinen unterschied macht, ob mansagt, dass das Vermuthete nicht der Gattungsbegriffvon dem Gemeinten sei; oder ob man sagt, dass dasGemeinte nicht ein Vermuthetes sei (denn der Sinnbeider Sätze ist derselbe), so sind vielmehr statt jenesangeführten Satzes das Vermuthete und das Gemeinteals Begriffe in den Schluss anzusetzen.

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Vierzigstes Kapitel

Da es nicht dasselbe ist, ob man sagt: die Lust seigut, oder: die Lust sei das Gute, so darf man diese Be-griffe nicht als gleichbedeutend behandeln, sondernwenn der Schluss dahin geht, dass die Lust das Gutesei, so muss man als Begriff »das Güte« setzen undwenn er dahin geht, sie sei gut, nur den Begriff »gut«.Ebenso muss man in anderen Fällen verfahren.

Einundvierzigstes Kapitel

Es ist weder in der Sache noch im Sprechen dassel-be, ob man sagt: In dem, worin B enthalten ist, inAllem von diesem ist A enthalten, oder ob man sagt:In dem, in dessen Allen B enthalten ist, in dessenAllen ist auch A enthalten; denn es kann ja sein, dassB in dem C enthalten ist, aber nicht in dem ganzen C.So sei z.B. B das Schöne und C das Weisse. Wennnun in einigem Weissen das Schöne enthalten ist, sokann man in Wahrheit sagen, dass das Schöne imWeissen enthalten sei, aber man wird wohl nichtsagen können, dass es in dem ganzen Weissen enthal-ten sei. Wenn nun A in dem B enthalten ist, aber nichtin dem ganzen B, so ist es, mag B in dem ganzen C

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oder nur überhaupt in C enthalten sein, weder noth-wendig, dass A in allen C, noch dass es überhaupt inC enthalten ist. Wenn aber B in dem Ganzen vondem, von welchen es in Wahrheit ausgesagt wird, ent-halten ist, so folgt, dass A auch in Allen denen, vonwelchen B ausgesagt wird, ebenfalls enthalten seinwird. Wenn jedoch A von Allen denen ausgesagtwild, von welchen B nur überhaupt ausgesagt wird,so kann es kommen, dass in dem C zwar B enthaltenist, aber A entweder nicht in dem ganzen C oder auchgar nicht im C. Für alle drei Begriffe ist also klar,dass wenn man sagt: In dem, worin B enthalten ist, indem allen ist A enthalten, dies bedeutet, dass A vonallen den einzelnen C ausgesagt wird, von welchen Bausgesagt wird. Wird also B von allen eines Begriffesausgesagt, so kann dann auch A so ausgesagt werden;wird aber B nicht von allen des Begriffes ausgesagt,so ist es nicht nothwendig, dass A von dem ganzen Cgelte.

Mann darf indess nicht glauben, dass bei dem Auf-stellen von Beispielen etwas Widersinniges heraus-komme; denn ich gebrauche sie nicht so, als wennwirklich das Eine in dem Anderen enthalten wäre,sondern so, wie der Geometer eine Linie einen Fusslang und gerade und ohne Breite nennt, obgleich siees nicht ist; denn er bedient sich der hingezeichnetenLinie nicht nach ihrer Wirklichkeit, wenn er daraus

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etwas durch Schluss folgert. Ueberhaupt kann, wennetwas sich nicht als Ganzes zu einem anderen als sei-nem Theile verhält und ein Anderes zu diesem alssein Theil, aus dergleichen nichts bewiesen werden,folglich auch kein Schluss sich ergeben. Solcher Bei-spiele bedient man sich, wie des Vorzeigens und sinn-lich wahrnehmbar Machens, wenn man zu Schülernspricht; aber nicht in dem Sinne, als wenn ohnedemnicht bewiesen werden könnte, wie aus Vorhergehen-dem der Schluss hervorgeht.

Zweiundvierzigstes Kapitel

Auch darf man nicht übersehen, dass bei derselbenSchlussfolgerung sich die sämmtlichen in ihr enthalte-nen Schlusssätze nicht in einer Figur zu vollziehenbrauchen, vielmehr kann der eine mittelst dieser, derandere mittelst jener Figur gefolgert werden. Es istalso klar, dass die Zurückführung der geführten Be-weise auf ihre Schlussfiguren danach zu bewirken ist.Da nun nicht jeder aufgestellte Satz sich nach allenFiguren beweisen lässt, sondern nur nach einer oderder anderen, so muss man aus dem jedesmaligenSchlusssatze entnehmen, auf welche Figur der Beweiszurückzuführen ist.

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Dreiundvierzigstes Kapitel

Was nun die Reden anlangt, welche auf Begrün-dung einer Definition abzwecken, so ist, wenn dieseReden nur ein Besonderes von dem betreffenden Be-griffe behandeln, nicht den ganzen Begriff, sondernnur das, worüber die Rede gehandelt hat, als Begriffin Ansatz zu bringen; denn dann wird die Heraushe-bung der Schlussform weniger durch die lange Be-zeichnung der Begriffe erschwert werden. Wenn z.B.Jemand gezeigt hätte, dass das Wasser eine trinkbareFlüssigkeit sei, so wird man nur die Begriffe: Trink-bar und Flüssigkeit in den Schlusssatz aufzunehmenhaben.

Vierundvierzigstes Kapitel

Auch muss man nicht versuchen, die auf Voraus-setzungen beruhenden Schlüsse auf Schlussfigurenzurückzuführen. Denn dies kann aus den hierbei auf-gestellten Vordersätzen nicht geschehen, da siesämmtlich nicht durch Schlüsse bewiesen sind, son-dern in Folge von Uebereinkunft zugestanden sind.Wenn z.B. man annähme, dass, wenn nicht eine unddieselbe Kraft für gegentheilige Dinge bestehe, es

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auch nicht eine Wissenschaft davon geben könne undwenn dann gezeigt wird, dass nicht eine Kraft für dieGegentheile bestehe, wie z.B. für das Gesunde unddas Kranke; weil dann derselbe Gegenstand zugleichgesund und krank sein würde. Hier ist nun zwar ge-zeigt, dass nicht für alle Gegentheile nur eine Kraftbesteht, aber es ist nicht bewiesen, dass nicht eineWissenschaft für dieselben besteht. Dennoch ist esnothwendig, auch letzteres zuzugeben; aber nicht ver-möge eines Schlusses, sondern weil es so vorausge-setzt worden ist. Man kann also den letzteren Satznicht auf eine Schlussfigur zurückführen, sondern nurden ersteren Satz, dass nicht eine Kraft für die Gegen-theile bestehe; dieser Satz ist vielleicht auf einenSchluss gestützt worden, aber jener Satz ist nur alseine zugestandene Voraussetzung angenommen wor-den.

Aehnlich verhält es sich mit den vermittelst der Un-möglichkeit des Gegentheils bewiesenen Schlusssät-zen; solche Beweise kann man nicht auf Figuren zu-rückführen, wohl aber kann man den Beweis, welcherauf das unmögliche führt, so zurückführen; (denn die-ser Beweis ist durch einen Schluss geführt worden)aber bei jenem geht es nicht, weil er aus einer Voraus-setzung abgeleitet wird. Diese Schlüsse unterscheidensich von vorigen darin, dass man dort vorher sichüber einen Satz vereinigen muss, wenn man nachher

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eine Uebereinstimmung erreichen will; also z.B. überden Satz, dass, wenn gezeigt worden, dass für Gegen-theile nur eine Kraft bestehe, auch die Wissenschaftvon ihnen nur eine sei; hier stimmt man dagegen auchohne vorherige Uebereinkunft zu, weil die falscheFolge klar erkennbar ist, wie z.B. bei Annahme, dassder Durchmesser eines Quadrats ein gemeinsamesMaass mit den Seiten des Quadrats habe, dies für diedaraus sich ergebene Folge, dass das Ungerade demGeraden gleich ist, gilt.

Auch vieles Andere wird auf Grund von Vorausset-zungen geschlossen; auf solche Schlusssätze mussman Acht haben und sie klar bezeichnen. Späterwerde ich darlegen, welche Unterschiede hier beste-hen und in wie vielerlei Art ein Satz aus Vorausset-zungen abgeleitet werden kann. Für jetzt haben wirnur als richtig anzunehmen, dass solche Schlüssenicht auf Schluss-Figuren zurückgeführt werden kön-nen; auch habe ich bereits gesagt, weshalb nicht.

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Fünfundvierzigstes Kapitel

Alle in mehreren Figuren beweisbaren Sätze kannman, wenn der Satz in der einen Figur bewiesen ist,auf einen Schluss in der andern Figur zurückführen.So kann z.B. der in der ersten Figur bewiesene ver-neinende Schluss in die zweite Figur und der Schlussin der zweiten Figur in einen der ersten Figur umge-wandelt werden; zwar nicht bei allen, aber doch beieinigen Schlussarten. Dies wird aus dem Folgendenerhellt. Wenn nämlich A in keinen B, aber B in demganzen C enthalten ist, so ist auch A in keinem C ent-halten; dies ist ein Schluss in der ersten Figur; kehrtman nun den verneinenden Satz um, so ergiebt sichdie zweite Figur; denn B ist dann in keinem A, aberim ganzen C enthalten. Ebenso verhält es sich, wennder Schluss nicht allgemein, sondern beschränkt lau-tet; z.B. wenn A in keinem B, aber B in einigen Centhalten ist; kehrt man hier den verneinenden Satzum, so- ergiebt sich die zweite Figur.

Von den Schlüssen der zweiten Figur können dieallgemeinen in die erste Figur übergeführt werden,von den beschränkten aber nur die eine Art. Denn essei A in keinen B, aber in allen C enthalten; kehrtman hier den verneinenden Satz um, so ergiebt sichdie erste Figur, denn dann ist B in keinem A enthalten

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und A in allen C. Lautet aber der Satz A B bejahendund der Satz A C verneinend, so muss C als ersterBegriff gesetzt werden; dann ist C in keinem A, undA in allen B enthalten, also C in keinem B, und auchB in keinem C; weil der verneinende Satz sich um-kehren lässt. Lautet aber der Schluss nur beschränkt,so kann er, wenn der Satz mit dem grösseren Aussen-begriff verneinend lautet, auf die erste Figur zurück-geführt werden; z.B. wenn A in keinem B enthaltenist, aber in einigen C. Kehrt man hier den verneinen-den Satz um, so ergiebt sich die erste Figur; denn Bist in keinem A und A in einigen C enthalten; lautetaber der Satz mit dem grösseren äusseren Begriff be-jahend, so lässt er sich nicht auf die zweite Figur zu-rückführen; z.B. wenn A in dem ganzen B, aber nichtin dem ganzen C enthalten ist; denn hier lässt sich derSatz mit A und B nicht allgemein umkehren und oh-nedem giebt es keinen Schluss.

Auch die Schlüsse der dritten Figur lassen sichnicht sämmtlich in die erste Figur umwandeln, aberdie in der ersten sämmtlich in die dritte. Es sei z.B. Ain allen B enthalten und das B in einigen C. Da hierder beschränkt bejahende Satz sich umkehren lässt, soist C in einigen B enthalten und A war in allen B ent-halten; mithin ergiebt sich die dritte Figur. Lautet derSchluss verneinend, so gilt dasselbe; denn der be-schränkt bejahende Satz lässt sich umkehren, mithin

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ist dann A in keinen B und C in einigen B enthalten.Von den Schlüssen der dritten Figur lässt sich nur

einer nicht in die erste Figur umwandeln, nämlich der,wo der verneinende Satz nicht allgemein lautet; dage-gen lassen sich alle andern darin umwandeln. So sollA und B von dem ganzen C ausgesagt werden; hierwird jeder dieser Sätze sich in einen beschränkten um-wandeln lassen; deshalb ist C in einigen B enthalten;es ergiebt sich also damit die erste Figur, wenn A indem ganzen C und C in einigen B enthalten ist. Das-selbe gilt, wenn A in dem ganzen C und B in einigenC enthalten ist, denn der letztere Satz lässt sich um-kehren. Wenn aber B in dem ganzen C und A in eini-gen C enthalten ist, so muss man B zu den obern Be-griff nehmen; denn B ist in dem ganzen C und das Cin einigen A enthalten, folglich auch B in einigen A;und da der beschränkte Satz sich auch umkehren lässt,so wird auch A in einigen B enthalten sein. Ebenso istzu verfahren wenn der Schluss verneinend lautet, aberdie Vordersätze allgemein lauten. Denn es sei B indem ganzen C und das A in keinem C enthalten, sowird C in einigen B, A aber in keinen C enthaltensein, so dass C der Mittelbegriff wird. Ebenso verhältes sich, wenn der verneinende Satz allgemein lautetund der bejahende beschränkt; denn man kann danndie Vordersätze so fassen, dass A in keinem C, C aberin einigen B enthalten ist. Lautet aber der verneinende

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Satz beschränkt, so kann man ihn nicht umwandeln;z.B. wenn B in allen C enthalten, aber A in einigen Cnicht enthalten ist, denn wenn der Satz mit B und Cumgekehrt wird, so lauten beide Sätze beschränkt.

Es erhellt, dass wenn die Figuren in einander über-geführt werden sollen, der Vordersatz mit dem klei-nern äussern Begriff sich in beiden letzten Figurenumkehren lassen muss, denn durch dessen Umkeh-rung geschah die Umwandlung.

Von den Schlüssen der zweiten Figur kann eine Artin die dritte Figur umgewandelt werden, eine andereArt aber nicht. Es kann nämlich geschehen, wenn derallgemeine Satz verneinend lautet; denn wenn A inkeinem B enthalten ist, aber in einigen C, so lassensich diese beiden Vordersätze umkehren, so dass B inkeinem A und C in einigen A enthalten ist; hier istalso A der Mittelbegriff geworden. Wenn aber A inallen B enthalten, aber in einigen C nicht, so giebt eskeine Umwandlung, denn keiner von den Vordersät-zen lautet bei dieser Umkehrung allgemein.

Die Schlüsse der dritten Figur lassen sich in dieder zweiten Figur umwandeln, wenn der verneinendeVordersatz allgemein lautet, wenn z.B. A in keinem Centhalten ist, aber B in einigen C, oder in dem ganzenC; denn auch C ist dann in keinem A, aber in einigenB enthalten. Lautet aber der verneinende Vordersatzbeschränkt, so kann keine Umwandlung geschehen,

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weil verneinende beschränkte Sätze sich nicht umkeh-ren lassen.

Somit erhellt, dass bei diesen beiden Figuren dieje-nigen Schlüsse sich nicht aus der einen in die andereFigur umwandeln lassen, bei welchen auch keine Um-wandlung derselben in die erste Figur geschehen kannund dass, wenn diese Schlüsse der beiden letzten Fi-guren in die erste Figur umgewandelt werden, sie ihreVollendung dann nur durch die Darlegung der Un-möglichkheit des Gegentheils erhalten.

Aus dem Bisherigen erhellt sonach, wie man dieBeweise auf Schlüsse zurückzuführen hat und dassdie Figuren sich in einander umwandeln lassen.

Sechsundvierzigstes Kapitel

Bei den Beweisen und Widerlegungen macht eseinen Unterschied, ob man annimmt, das: Diesesnicht-sein und das: Nicht-dieses sein bedeuten dassel-be oder verschiedenes wie z.B. das: Weiss nicht-seinund das: Nicht-weiss sein. Indess bezeichnen dieseSätze nicht dasselbe und eben so wenig ist das:Nicht-weiss sein die Verneinung von Weiss sein; son-dern dessen Verneinung ist das: Weiss nicht sein. DerGrund hiervon ist folgender: Es verhält sich nämlichdas: er kann gehen, zu dem: er kann nicht-gehen,

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ebenso wie das: es ist weiss, zu dem: es istnicht-weiss, und wie das: er kennt das Gute, zu dem:er kennt das Nicht-Gute. Denn der Satz: er weiss dasGute, und der Satz: er ist ein das Gute-Wissendersind nicht verschieden; ebenso sind die Sätze: er kanngehen, und: er ist ein Gehen-Könnender, nicht ver-schieden; mithin sind auch die entgegengesetztenSätze: er kann-nicht gehen, und: er ist nicht einGehen-Könnender, von einander nicht verschieden.

Wenn nun der Satz: er ist-nicht einGehen-Könnender dasselbe bezeichnete, wie der Satz:er ist ein Nicht-gehen Könnender, so können sie beidevon demselben Gegenstande zugleich ausgesagt wer-den. (Denn derselbe Mensch kann gehen undnicht-gehen und kennt das Gute und das Nicht-Gute.)Aber eine Bejahung und die ihr widersprechende Ver-neinung können nicht zugleich in demselben Gegen-stande enthalten sein. Wie man das Nicht-Kennen desGuten und das Kennen des Nicht-Guten nicht dassel-be bedeuten, so gilt dies auch eben so von dem:Nicht-gut sein und von dem gut nicht-sein. Dennwenn von sich gleich verhaltenden Sätzen das einePaar gleich oder verschieden ist, so gilt das auch vondem anderen Paare. Auch das Nicht-gleich sein istnicht dasselbe wie das: gleich nicht-sein; dem jenen,dem nicht-gleich Seienden liegt etwas unter, nämlichdas Ungleiche; diesem aber liegt nichts unter.

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Deshalb ist auch nicht alles gleich oder ungleich; aberalles ist gleich oder ist-nicht gleich. Auch das: esist-nicht weisses Holz, und das: es ist-nicht weissesHolz kann nicht zugleich in demselben Gegenstandestattfinden; denn was weisses Holz nicht-ist, mussnicht nothwendig Holz sein und damit erhellt, dassauch von dem: es ist gut, die Verneinung nicht lautet:es ist nicht-gut. Da nun von jedem einzelnen Gegen-stande entweder die Bejahung oder die Verneinungwahr ist, so erhellt, dass wenn dieser Satz keine Ver-neinung ist, er irgendwie eine Bejahung enthält. Nungiebt es aber von jeder Bejahung eine Verneinung unddeshalb wird für diesen Satz die Verneinung dahinlauten: es ist-nicht nicht-gut.

Diese Sätze haben folgende Stellung zu einander:A sei das: ist gut; B das: ist nicht-gut; C, was unter Bsteht, sei das: ist nicht-gut und D, was unter A steht,das: ist-nicht nicht-gut. Hier wird jedem Gegenstandeentweder A oder B zukommen und keinem Gegen-stande werden sie zugleich zukommen. Eben so wirdC oder D jedem Gegenstande zukommen und beidekönnen nicht zugleich demselben Gegenstande zu-kommen. Auch muss allen Gegenständen, denen Czukommt, auch B zukommen denn wenn man inWahrheit sagen kann: es ist nicht-weiss, so ist auchwahr, dass es weiss nicht-ist; denn es ist unmöglich,dass etwas zugleich weiss und nicht-weiss ist, oder

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dass etwas nicht-weisses Holz und weisses Holz ist;mithin gilt die Verneinung, wenn die Bejahung nichtgilt. Dagegen kann von den Gegenständen, denen Bzukommt, C nicht immer ausgesagt werden; denn wasüberhaupt kein Holz ist, kann auch kein nicht-weissesHolz sein. Ebenso kann von allem, dem A zukommt,auch D ausgesagt werden; denn von A muss entwederC oder D gelten; da nun aber A nicht zugleich weissund nicht-weisses Holz sein kann, so muss dem A dasD zukommen; denn von dem, was weiss ist, kann manin Wahrheit aussagen, dass es nicht-weiss nicht-ist.Aber A kann nicht von allem ausgesagt werden, vondem D ausgesagt wird; denn von dem, was überhauptkein Holz ist, kann man nicht in Wahrheit sagen, dasses weisses Holz ist; folglich kann man von einem Ge-genstande das D in Wahrheit aussagen, aber nicht dasA, wonach es weisses Holz sein soll. Auch erhellt,dass A und C nicht zugleich von demselben Gegen-stande ausgesagt werden können; wohl aber kann Bund D in demselben Gegenstande enthalten sein.

In gleicher Weise verhalten sich die Verneinungenzu den Bejahungen bei dieser Zusammenstellung;dann ist z.B. A das Gleiche, B das nicht Gleiche, Cdas Ungleiche und D das nicht Ungleiche.

Wenn ferner bei mehreren Dingen dieselbe Bestim-mung einigen davon zukommt, anderen aber nicht, sowird sowohl die Verneinung, dass diese Dinge nicht

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alle weiss sind, wie die, dass nicht jedes von ihnenweis ist, gleichmässig wahr sein; aber falsch wäre zusagen, dass jedes nicht weiss ist, oder dass alle nichtweiss sind. Ebenso ist von dem Satze: jedes Geschöpfist weiss, die Verneinung nicht: jedes Geschöpf istnicht-weiss (denn diese Sätze sind beide falsch), son-dern Nicht-jedes Geschöpf ist weiss.

Wenn sonach klar ist, dass das: es ist nicht-weiss,und das: es ist-nicht weiss, Verschiedenes bedeuten,und dass das eine eine Bejahung, das andere eine Ver-neinung ist, so erhellt auch, dass beide Sätze nicht ingleicher Weise bewiesen werden können; z.B. derSatz: Alles, was Geschöpf ist, ist-nicht weiss oderist-statthafterweise-nicht weiss, und der Satz, dassman in Wahrheit sagen könne, Alles, was Geschöpfist, sei nicht-weiss; denn letzterer Satz bejaht dasNicht-weiss. Die beiden Sätze, dass man in Wahrheitsagen könne, es sei etwas weiss, und es sei etwasnicht-weiss, sind beide bejahend und man kann beidedurch den bejahenden Schluss der ersten Figur bewei-sen, weil das »in Wahrheit sagen« dem »ist« des Sat-zes gleich behandelt wird; denn von dem wahrhaftsagen, dass etwas weiss sei, bildet nicht das wahrhaftsagen, dass etwas nicht-weiss sei, das Gegentheil,sondern das nicht-wahrhaft sagen, dass etwas weisssei. Wenn man also in Wahrheit sagen kann, dassAlles, was Mensch ist, musikalisch oder

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nicht-musikalisch sei, so ist als Obersatz zu nehmen,dass Alles, was Geschöpf ist, musikalisch odernicht-musikalisch ist und auf diese Weise wird jenerSatz bewiesen. Dagegen wird der Satz, welcher beiallem, was Mensch ist, das musikalische verneint,durch einen verneinenden Schluss nach den drei frü-her genannten Weisen bewiesen.

Ueberhaupt wird, wenn A und B sich so verhalten,dass beide nicht zugleich in ein und demselben Ge-genstande sein können, aber jedem Gegenstande einesvon Beiden zukommen muss, und wenn ferner C undD sich ebenso verhalten, und wenn A von allen, demC zukommt, ausgesagt werden kann, aber dieser SatzA C sich nicht umkehren lässt, so wird auch D vonallen ausgesagt werden, denen B zukommt, aber derSatz B D wird sich nicht umkehren lassen und A undD können dann in demselben Gegenstande enthaltensein, aber nicht B und C. Dass hier erstens D dem Bzukommt, erhellt daraus, dass jedem Dinge entwederC oder D nothwendig zukommen muss; nun kannaber den Dingen, welchen B zukommt, das C nichtzukommen, weil C mit dem A sich verträgt und A undB nicht in demselben Gegenstande enthalten sein kön-nen; hieraus erhellt, dass D dem B zukommen wird.

Da ferner A und C sich nicht austauschen, aberjedem Gegenstande, entweder C oder D zukommenmuss, so ist es statthaft, dass A und D demselben

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Gegenstande zukommen. Dagegen ist dies mit B undC nicht statthaft, weil A dem C zukommt, also dannetwas Unmögliches sich ergäbe. Es erhellt auch, dassB sich nicht mit D austauschen lässt, da es statthaftist, dass D und A zugleich in einen Gegenstande ent-halten sein können.

Es kommt indess auch bei einer solchen Anord-nung der Begriffe mitunter vor, dass man sich täuscht,weil man die sich widersprechenden Begriffe, vondenen einer nothwendig jedem Dinge zukommenmuss, nicht richtig auswählt. Wenn z.B. A und Bnicht zugleich in demselben Dinge sein können undnothwendig demselben, wenn ihm das eine nicht zu-kommt, das andere zukommen muss; und wenn fernerC und D sich eben so verhalten, aber A von jedem,dem C zukommt, ausgesagt wird. Hier könnte gefol-gert werden, dass allen dem D zukommt, nothwendigdas B zukomme; allein das wäre falsch. Denn mannehme Z als die Verneinung von A und B und T alsdie Verneinung von C und D, dann muss jedem Dingeentweder A oder Z zukommen, nämlich entweder dieBejahung oder die Verneinung; und ebenso mussjedem Dinge das C oder T zukommen, d.h. entwederdie Bejahung oder die Verneinung, und Allen, wel-chem C zukommt, kommt auch A zu, folglich mussallem, dem Z zukommt, auch T zukommen. Da nuneines von Z und B allen Dingen zukommen muss und

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ebenso eines von T und D, aber T dem Z zukommt, sowird auch B dem D zukommen, wie aus dem Frühernbekannt ist, also wenn A dem C zukommt, so wird,könnte man sagen, auch B dem D zukommen. Dies istaber falsch, denn bei den Begriffen, die sich so ver-halten, war das Zukommen gerade ein umgekehrtes.Es ist nämlich nicht nothwendig, dass allen Dingenentweder A oder Z zukomme und auch Z oder B; denndas Z ist nicht die Verneinung von A, da von demGuten das Nicht-Gute die Verneinung ist und dasNicht-Gute ist nicht dasselbe mit dem, was weder gutnoch nicht-gut ist. Ebenso verhält es sich mit C undD; denn es sind in dem obigen Falle von einer Beja-hung zwei Verneinungen angenommen worden.

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Zweites Buch

Erstes Kapitel

Ich habe somit durchgegangen und ermittelt, in wieviel Figuren und durch welche und durch wie vieleVordersätze ein Schluss und wie er zu Stande kommt;ferner auf was man bei dem Beweisen und Widerle-gen zu sehen hat und wie man nach jedweder Metho-de für einen aufgestellten Satz das Nöthige zu suchenhat; endlich auf welchen Wegen man zu den oberstenGrundsätzen für jeden Satz gelangen kann.

Die Schlüsse lauten entweder allgemein oder be-schränkt und davon erschliessen die allgemeinensämmtlich mehr, und von den beschränkten erschlies-sen die bejahenden mehr, die verneinenden aber nurgerade den Schlusssatz. Denn alle andern Vor-der-Sätze lassen sich umkehren, nur die verneinendennicht und der Schlusssatz sagt etwas von einem An-dern aus, weshalb die andern Schlüsse mehr erschlies-sen. Z.B. wenn bewiesen worden, dass A allen odereinigen B zukommt, so muss auch B nothwendig ineinigen A enthalten sein; und wenn A keinem B zu-kommt, so kommt auch B keinem A zu, welcher Satzetwas anderes besagt, als der vorhergehende. Wennaber A in einigen B nicht enthalten ist, so ist es nicht

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nothwendig, dass auch B in einigen A nicht enthaltenist, vielmehr ist es statthaft, dass es in allen A enthal-ten ist.

Dieser Grund gilt sowohl für die allgemeinen, wiefür die beschränkten Schlüsse. Für die allgemeinenSchlüsse kann man es jedoch noch in anderer Weisedarlegen. Denn von allem, was unter den Mittelbegriffoder das Subjekt des Schlusssatzes fällt, gilt derselbeSchlusssatz, wenn man dasselbe an Stelle des Mittel-begriffs oder Unterbegriffs in den Schluss einstellt.Wenn z.B. der Schlusssatz A B durch C vermitteltwird, so muss von Allem, was unter B oder C fällt,nothwendig A ausgesagt werden; denn wenn z.B. D indem Umfange von B und B in dem Umfange von Aenthalten ist, so ist auch D in dem Umfange von Aenthalten. Wenn ferner E in dem Umfange von C undC in dem Umfange von A enthalten ist, so ist auch Ein dem Umfange von A enthalten. Ebenso verhält essich, wenn der Schlusssatz verneinend lautet.

Bei der zweiten Figur kann der Schlusssatz nur aufdie unter dem Subjekt enthaltenen Dinge ausgedehntwerden. Wenn z.B. A in keinem B, aber in allen. Centhalten ist, so lautet der Schlusssatz, dass B in kei-nem C enthalten ist. Wenn nun D unter das C fällt, soist klar, dass B auch nicht in D enthalten sein kann;dass aber B nicht in den unter A fallenden Dingenenthalten ist, erhellt aus dem Schlusssatze nicht.

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Dennoch wird B nicht in E enthalten sein, wenn Eunter A enthalten ist. Aber das Nicht-enthalten-seindes B in dem C ist durch den Schluss gezeigt worden;dass dagegen B nicht in dem A enthalten, ist ohne Be-weis nur angenommen worden und deshalb beruht derSatz, dass B nicht in dem E enthalten, nicht auf demSchlusssatze.

Bei den beschränkten Schlüssen ergiebt sich für dieunter das Subjekt des Schlusssatzes fallenden Dingekeine Nothwendigkeit (denn es ergiebst sich keinSchluss, wenn der mit diesem Begriff gebildete Satznur beschränkt lautet, aber für alle unter den Mittelbe-griff fallenden Dinge gilt der Schlusssatz, nur beruhtdies nicht auf dem Schlüsse. Wenn z.B. A in demganzen B und B in einigen C enthalten ist, so kannfür die unter C fallenden Dinge kein Schluss gezogenwerden, wohl aber für die unter B fallenden, abernicht vermittelst des vorausgegangenen Schlusses.Ebenso verhält es sich mit den beschränkten Schlüs-sen in den anderen Figuren; es ergiebt sich auch dafür die unter den Subjekt-Begriff des Schlusssatzesfallenden Dinge keine Nothwendigkeit, aber wohl fürdie unter den anderen Begriff fallenden Dinge; nur er-giebt sich dies nicht aus dem Schlusssatze, wie auchschon bei den allgemeinen Schlüssen gezeigt wordenist, dass die Ausdehnung auf die unter den Mittelbe-griff enthaltenen Dinge nur auf dem unbewiesenen

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Obersatz beruht. Entweder gilt dies also auch nichtfür die allgemeinen Schlüsse, oder wenn es dort gilt,so gilt es auch für die beschränkten.

Zweites Kapitel

Es kann vorkommen, dass die Vordersätze, durchwelche der Schluss erfolgt, wahr sind, oder dass siefalsch sind, oder dass der eine wahr und der anderefalsch ist; dagegen muss der Schlusssatz nothwendigwahr oder falsch sein. Aus wahren Vordersätzen kannnun kein Falsches geschlossen werden, aber aus fal-schen Sätzen kann Wahres geschlossen werden, je-doch nicht deshalb weil sie falsch sind, sondern weiles sich so trifft; denn das Falsche in den Vordersätzenist nicht die Ursache von dem wahren Schlüsse; wiein dem später Folgenden gezeigt werden wird.

Zunächst erhellt, dass aus wahren Vordersätzennichts Falsches geschlossen werden kann, daraus,dass wenn aus dem Sein von A nothwendig das Seinvon B folgt, auch nothwendig ist, dass wenn Bnicht-ist, auch A nicht-ist. Wenn nun A wahr ist, somuss auch B wahr, sein, oder es würde folgen, dassdasselbe zugleich sein und nicht sein könnte, wasdoch unmöglich ist. Doch darf man nicht glauben,dass, weil A als ein Begriff gesetzt ist, es möglich sei,

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dass aus dem Sein eines Begriffes nothwendig etwasAnderes folgen müsse; das ist nicht möglich, vielmehrist das nothwendig Folgende der Schlusssatz unddamit dieser sich als eine nothwendige Folge ergebe,sind wenigstens drei Begriffe nöthig, und zwei ver-bundene Glieder oder Vordersätze. Wenn es nun wahrist, dass A in allem enthalten ist, worin B enthalten istund B in allem, worin C enthalten ist, so muss auch Ain allem, worin C enthalten ist, enthalten sein und esist unmöglich, dass dieser Schluss falsch sei; dennsonst müsste dasselbe A zugleich in C enthalten undnicht-enthalten sein. Denn das A gilt als eines, indemdie beiden Vordersätze in den Schlusssatz zusammen-gezogen sind. Ebenso verhält es sich mit den vernei-nenden Sätzen, denn man kann aus wahren Vordersät-zen nichts Falsches beweisen.

Dagegen kann man aus falschen Vordersätzeneinem wahren Satz folgern, sowohl wenn beide Vor-dersätze falsch sind, als wenn nur einer es ist; aberdies darf nicht jedweder sein, sondern muss der zweiteVordersatz sein, sofern auch er in seinem ganzen Um-fange falsch ist; ist aber dies Falsche nicht für seinenganzen Umfang vorhanden, so kann jeder von beidenSätzen der falsche sein. Es sei also A in dem ganzenC enthalten und in keinem B und auch B nicht in C.Nun ist aber ein Ansatz statthaft; wie z.B. das Ge-schöpf ist in keinem Steine und der Stein in keinem

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Menschen enthalten. Setzt man nun, dass A in allen Bund B in allen C enthalten ist, so ist auch A in allen Centhalten, mithin ergiebt sich aus beiden falschenVordersätzen ein wahrer Schlusssatz; denn jederMensch ist ein Geschöpf. Ebenso verhält es sich mitdem verneinenden Satze; A soll also in C nicht ent-halten sein und auch B nicht in C, aber A soll in allenB enthalten sein; z.B. wenn man zu den obigen Be-griffen den Menschen als Mittelbegriff setzt, dennweder das Geschöpf, noch der Mensch ist in demSteine enthalten, aber das Geschöpf ist in allen Men-schen enthalten. Nimmt man nun an, dass der Mittel-begriff in dem nicht enthalten ist, dem er doch zu-kommt, und dass er in allen dem enthalten ist, dem ernicht zukommt, so wird sich aus beiden falschen Vor-dersätzen ein wahrer Schlusssatz ergeben. Diese Dar-legung bleibt dieselbe, wenn jeder der beiden Vorder-sätze theilweise falsch ist. Ist aber nur ein Vordersatzfalsch, so kann, wenn der Obersatz, also der Satz AB, in seinem ganzen Inhalte falsch ist, der Schlusssatznicht wahr sein, wohl aber dann, wenn der UntersatzB C falsch ist. Ich verstehe unter: ganz falsch den ge-gentheiligen Satz; z.B. wenn von Etwas, was in kei-nem enthalten ist, angenommen wird, es sei in allementhalten und von dem, was in allem enthalten, dasses in keinem enthalten. Es soll also A in keinem Benthalten sein und B in dem ganzen C. Wenn hier der

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aufgestellte Vordersatz B C ein wahrer ist, aber derVordersatz A B, dass A in allen B enthalten sein soll,ganz falsch ist, so kann unmöglich der Schlusssatzwahr sein; denn A kann in keinem C enthalten sein,wenn A in Wahrheit in keinem B und B in allen Centhalten ist. Eben so verhält es sich, wenn A in demganzen B und B in dem ganzen C wahrhaft enthaltenist und der Vordersatz B C hiernach so aufgestelltwird, wie er in Wahrheit lautet, aber der Vordersatz AB ganz falsch aufgestellt wird, also dass A in keinemB enthalten sein soll; auch dann wird der Schlusssatzfalsch sein; denn A muss in dem ganzen C enthaltensein, wenn A in dem ganzen B und B in dem ganzenC enthalten ist. Hieraus erhellt, dass wenn der Ober-satz ganz falsch angesetzt wird, mag dies bejahendoder verneinend geschehen, und der andere Vorder-satz nach seinem wahren Sachverhalte, kein wahrerSchluss sich ergiebt. Wird aber der Obersatz nichtganz falsch angesetzt, so kann ein wahrer Schlusssich ergeben. Denn wenn A in dem ganzen C und ineinigen B enthalten ist, und B in allen C, wie z.B. dasGeschöpf in allen Schwanen und in einigem Weissen,das Weisse aber in allen Schwanen enthalten ist, sowird, wenn man ansetzt, dass A in allen B und B inallen C enthalten, A auch in allen C in Wahrheit ent-halten sein, denn jeder Schwan ist ein Geschöpf. Das-selbe findet statt, wenn der Satz A B verneinend

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lautet; denn es ist statthaft, dass A in einigen B und inkeinem C und B in allen C enthalten ist; so ist z.B.das Geschöpf in einigem Weissen, aber in keinemSchnee enthalten, aber das Weisse in jedem Schnee.Nimmt man nun an, dass A in keinem B, und B inallen C enthalten ist, so ergiebt sich der Schluss, dassA in keinem C enthalten ist.

Wird aber der Vordersatz A B ganz wahr ange-setzt, und der Vordersatz B C ganz falsch, so kannsich ein wahrer Schlusssatz ergeben; denn es kannkommen, dass A in dem ganzen B und in dem ganzenC enthalten ist, aber B in keinem C, wie z.B. die ne-bengeordneten Arten ein und derselben Gattung; denndas Geschöpf ist sowohl in dem Menschen, wie indem Pferde enthalten, aber das Pferd ist in keinemMenschen enthalten; wird nun hier angenommen, dassA in allen B und B in allen C enthalten sei, so kommtein Schluss heraus, der wahr ist, obgleich der Vorder-satz B C ganz falsch ist. Ebenso verhält es sich, wennder Vordersatz mit A B verneinend lautet; denn eskann sein, dass A sowohl in keinem B, wie in keinemC enthalten ist und auch B in keinem C, wie z.B. eineGattung rücksichtlich der nebengeordneten Arteneiner anderen Gattung; denn das Geschöpf ist wederin der Musik noch in der Arzneikunde enthalten unddie Musik auch nicht in der Arzneikunde. Setzt mannun, dass A in keinem B, aber B in allen C enthalten

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sei, so kommt ein wahrer Schluss heraus. Auch wennder Untersatz mit B C nicht ganz falsch, sondern nurtheilweise falsch ist, kann sich ein wahrer Schluss er-geben. Denn es kann sein, dass A in dem ganzen Bund in dem ganzen C enthalten ist, und B nur in eini-gen von C, wie z.B. die Gattung in der Art und in derunterscheidenden Artbestimmung; denn das Geschöpfist in allen Menschen und in allen Füsse habendenenthalten; aber der Mensch ist nur in einigen Füssehabenden und nicht in allen enthalten. Setzt man nun,dass A in allen B und B in allen C enthalten sei, soergiebt sich, dass A in allen C enthalten ist, was rich-tig ist. Eben so verhält es sich bei einem verneinendenVordersatze A B, denn es kann sein, dass A in keinemB und in keinem C, aber B in einigen C enthalten ist;z.B. die Gattung in Bezug auf die Art und dem speci-fischen Unterschied einer anderen Gattung; denn dasGeschöpf ist in keiner Klugheit und in keinem erken-nenden Vermögen enthalten, aber die Klugheit in ei-nigen des erkennenden Vermögens. Setzt man nun,dass A in keinem B, aber B in allen C enthalten sei,so folgt, dass A in keinem C enthalten ist, was richtigist.

Bei beschränkt lautenden Schlüssen kann es sein,dass wenn auch der Obersatz ganz falsch ist, der Un-tersatz aber wahr ist, der Schlusssatz ein wahrer istund dass der Schlusssatz auch dann ein wahrer ist,

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wenn der Obersatz theilweise falsch, der Untersatzaber ganz wahr ist oder wenn jener wahr und diesertheilweise unwahr ist, oder endlich wenn beide falschsind. Denn es kann sein, dass A in keinem B, aber ineinigen C, und B in einigen C enthalten ist; so ist dasGeschöpf in keinem Schnee, aber in einigem Weissenund der Schnee in einigem Weissen enthalten. Nimmtman nun den Schnee zum Mittelbegriff und das Ge-schöpf zu dem Oberbegriff und setzt man, dass A indem ganzen B und B in einigen C enthalten sei, so istder Obersatz A B ganz falsch und der Untersatz B Cwahr und auch der Schlusssatz ist wahr. Dasselbe fin-det statt, wenn der Obersatz A B verneinend lautet,denn es kann sein, dass A in dem ganzen B enthalten,aber in einigen C nicht enthalten ist und B in einigenC enthalten ist; so ist z.B. das Geschöpf in allen Men-schen enthalten, aber kann von einigem Weissen nichtausgesagt werden und der Mensch ist in einigemWeissen enthalten; setzt man hier den Menschen alsMittelbegriff und dass A in keinem B enthalten sei,aber B in einigen C, so wird der Schlusssatz ein wah-rer sein, obgleich der Obersatz ganz falsch ist. Auchwenn der Obersatz mit A B nur theilweise falsch ist,ergiebt sich doch ein wahrer Schlusssatz. Denn es iststatthaft, dass A sowohl in einigen B, wie in einigenC enthalten ist und dass auch B in einigen C enthaltenist; so kann z.B. das Geschöpf in einigem Schönen

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und in einigem Grossen enthalten sein und ebenso dasSchöne in einigen Grossem. Setzt man nun, dass A inallen B und B in einigen C enthalten sei, so ist derObersatz zum Theil unwahr, aber der Untersatz wahrund der Schlusssatz ebenfalls wahr. Eben so verhältes sich, wenn der Obersatz verneinend lautet; mankann hier dieselben Begriffe und in derselben StellungBehufs des Beweises benutzen.

Ist ferner der Obersatz A B wahr und der UntersatzB C falsch, so kann der Schlusssatz wahr sein. Dennes ist statthaft, dass A in dem ganzen B und in einigenC enthalten und dass B in keinem C enthalten ist, soist z.B. das Geschöpf in allen Schwanen und in eini-gen Schwarzen, der Schwan aber in keinem Schwar-zen enthalten. Setzt man nun, dass A in allen B und Bin einigen C enthalten ist, so ergiebt sich ein wahrerSchlusssatz, obgleich der Untersatz B C falsch ist.Dasselbe gilt, wenn der Obersatz verneinend ange-nommen wird. Denn A kann in keinem B enthaltenund auch in einigen C nicht enthalten sein und B inkeinem C, wie z.B. die Gattung im Verhältniss zu derArt einer anderen Gattung und zu dem Zufälligenihrer eigenen Arten; so ist das Geschöpf in keinerZahl, aber in einigem Weissen enthalten und die Zahlist in keinem Weissen enthalten. Nimmt man nun dieZahl zum Mittelbegriff und setzt man, dass A keinemB zukomme, aber B einigen C, so wird A einigen C

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nicht zukommen, was richtig ist, obgleich der Ober-satz wahr, der Untersatz aber falsch ist.

Auch wenn sowohl der Obersatz wie der Untersatztheilweise falsch sind, kann der Schlusssatz wahrsein. Denn nichts hindert, dass A in einigen B und ineinigen C enthalten ist und B in keinem C; z.B. wennB und C Gegentheile sind und beide zu derselbenGattung gehören; so ist das Geschöpf in einigemWeissen und in einigem Schwarzen, das Weisse aberin keinem Schwarzen enthalten. Setzt man nun, dassA in allen B und B in einigen C enthalten sei, so wirdder Schlusssatz wahr sein. Eben dasselbe gilt, wennder Obersatz verneinend lautet, da dieselben Begriffebenutzt und in gleicher Weise gestellt werden können,um dies darzulegen. Auch wenn beide Vordersätzefalsch sind, kann der Schlusssatz wahr sein; denn eskann sein, dass A in keinem B, aber in einigen C, undB in keinem C enthalten ist; z.B. die Gattung inRücksicht auf die Art einer anderen Gattung, und denzufälligen Bestimmungen ihrer eigenen Arten. So istdas Geschöpf in keiner Zahl, aber in einigen Weissenund die Zahl in keinem Weissen enthalten. Setzt mannun, dass A in allen B und B in einigen C enthaltenist, so ergiebt sich ein wahrer Schluss, obgleich beideVordersätze falsch sind. In gleicher Weise verhält essich, wenn der Obersatz verneinend lautet. Denn es iststatthaft, dass A in dem ganzen B, aber in einigen C

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nicht enthalten ist und B in keinem C; so ist z.B. dasGeschöpf in jedem Schwan enthalten und in einigemSchwarzen nicht und der Schwan in keinem Schwar-zen. Setzt man nun, dass A in keinem B und B in ei-nigen C enthalten, so wird A in einigen C nicht ent-halten sein, welcher Schlusssatz wahr ist, währendbeide Vordersätze falsch sind.

Drittes Kapitel

In der zweiten Figur kann es in allen Fällen vor-kommen, dass aus Falschem Wahres geschlossenwird, mögen beide Vordersätze ganz falsch angesetztwerden, oder beide theilweise falsch; oder mag dereine ganz wahr, der andere ganz falsch sein und zwargleichviel welcher von beiden; oder mögen beide Vor-dersätze theilweise falsch sein oder der eine ganzwahr, der andere aber theilweise falsch, oder der eineganz falsch, der andere zum Theil wahr, und mögendabei die Schlüsse allgemein oder beschränkt lauten.Denn wenn A in keinem B, aber in allen C enthaltenist, wie z. B das Geschöpf in keinem Steine, aber injedem Pferde enthalten ist, so wird, wenn man dieVordersätze entgegengesetzt lautend aufstellt undsomit angenommen wird, dass A in allen B und inkeinem C enthalten sei, aus diesen ganz falschen

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Vordersätzen ein wahrer Schlusssatz sich ergehen.Dasselbe gilt, wenn A in allen B, aber in keinem Centhalten ist, denn der Schluss bleibt derselbe. Ehenso wenn der eine Satz ganz falsch und der andereganz wahr ist, denn A kann in allen B und allen Centhalten sein, aber B in keinem C, wie z.B. die Gat-tung in Bezug auf die ihr untergeordneten Arten. Soist das Geschöpf in allen Pferden und in allen Men-schen enthalten, aber kein Mensch in einem Pferde.Setzt man nun, dass das Geschöpf in dem Einen ganz,in dem anderen gar nicht enthalten sei, so ist der eineVordersatz ganz falsch, der andere ganz wahr und derSchlusssatz ist wahr, mag man den Ober- oder denUntersatz falsch ansetzen. Dies gilt auch, wenn dereine Vordersatz theilweise falsch, der andere aberganz wahr ist. Denn A kann in einigen B und in demganzen C enthalten sein, aber B in keinem C; so istz.B. das Geschöpf in einigem Weissen und in allenRaben enthalten, aber das Weisse in keinem Raben.Setzt man nun, dass A in keinem B und in dem gan-zen C enthalten sei, so ist der Obersatz theilweisefalsch und der Untersatz ganz wahr, und dabei derSchlusssatz wahr. Dasselbe findet statt, wenn der ver-neinende Satz umgestellt wird; der Beweis lässt sichmit denselben Begriffen führen. Dasselbe gilt auch,wenn der bejahende Vordersatz theilweise falsch undder verneinende ganz wahr ist; denn es kann sehr

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wohl sein, dass A in einigen B enthalten und in demganzen C nicht enthalten ist und dass B in keinem Centhalten ist. So ist z.B. das Geschöpf in einigemWeissen, aber in keinem Pech und das Weisse auch inkeinem Pech enthalten. Nimmt man hier nun an, dassA in dem ganzen B und in keinem C enthalten ist, soist der Obersatz zum Theil falsch, aber der Untersatzganz wahr und der Schlusssatz ist ebenfalls wahr.Auch wenn beide Vordersätze theilweise falsch sind,kann der Schlusssatz doch wahr sein. Denn es kannsehr wohl sein, dass A in einigen B und in einigen Centhalten ist, aber B in keinem C; wie z.B. das Ge-schöpf in einigem Weissen und in einigem Schwar-zen, aber das Weisse in keinem Schwarzen enthaltenist. Setzt man hier nun, dass A in allen B und in kei-nem C enthalten sei, so sind beide Vordersätze theil-weise falsch, aber der Schlusssatz ist wahr. Dasselbegilt, wenn die Verneinung gewechselt und zu dem an-deren Vordersätze genommen wird.

Auch bei den beschränkten Schlüssen ist dies klar;denn es kann sehr wohl sein, dass A in allen B und ineinigen C nicht enthalten ist; so ist z.B. das Geschöpfn allen Menschen und in einigen Weissen enthaltenund der Mensch ist in einigen Weissen nicht enthal-ten. Setzt man nun, dass A in keinem B, aber in eini-gen C enthalten ist, so ist der allgemeine Vordersatzganz falsch und der beschränkte wahr, und der

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Schlusssatz auch. Dasselbe findet statt, wenn derObersatz A B bejahend gesetzt wird, da es sein kann,dass A in keinem B enthalten und ebenso wie B in ei-nigen C nicht enthalten ist; z.B. ist das Geschöpf inkeinem Leblosen enthalten und auch in einigen Wei-sen nicht enthalten und das Leblose wird in einigenWeissen nicht enthalten sein. Setzt man nun, dass Ain allen B enthalten, in einigen C aber nicht enthaltenist, so ist der allgemein lautende Obersatz ganz falschund der Untersatz wahr und auch der Schlusssatzwahr. Eben dies findet statt, wenn man den allgemei-nen Satz so setzt, wie er wahr ist, aber den beschränk-ten falsch. Denn es kann sein, dass A von keinem Bund von keinem C ausgesagt werden kann, aber das Bin einigen C nicht enthalten ist, so ist z.B. das Ge-schöpf in keiner Zahl und in keinem Leblosen enthal-ten und die Zahl kann von einigem Leblosen nichtausgesagt werden. Setzt man nun, dass A in keinemB, aber in einigen C enthalten ist, so ergiebt sich einwahrer Schluss, wo der allgemeine Vordersatz wahrund der beschränkte falsch ist. Ebendasselbe ergiebtsich, wenn der allgemeine Vordersatz bejahend ge-setzt wird; denn A kann in allen B und allen C enthal-ten sein, aber B von einigen C nicht ausgesagt wer-den, wie z.B. die Gattung in Bezug auf die Art undden Art-Unterschied, so kann das Geschöpf von allenMenschen und allen Füsse-Habenden ausgesagt

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werden, aber der Mensch nicht von allenFüsse-Habenden. Nimmt man aber an, dass A in allenB enthalten, aber in einigen C nicht enthalten sei, soist der allgemeine Vordersatz wahr, aber der be-schränkte falsch, und der Schlusssatz ist dennochwahr. Auch erhellt, dass selbst, wenn beide Vorder-sätze falsch sind, der Schlusssatz richtig sein kann;denn es ist statthaft, dass A sowohl ganz in B wieganz in C enthalten ist, aber B von einigen C nichtausgesagt werden kann. Setzt man nun, dass A in kei-nem B, aber in einigen C enthalten, so sind beideVordersätze falsch, aber der Schlusssatz wahr. Das-selbe ergiebt sich, wenn der allgemeine Vordersatzbejahend lautet und der beschränkte Vordersatz ver-neinend. Denn A kann von keinem B aber von allen Causgesagt werden und B in einigen C nicht enthaltensein; so wird z.B. das Geschöpf von keiner Wissen-schaft, aber von jedem Menschen ausgesagt, aber dieWissenschaft nicht von jedem Menschen. Setzt mannun hier, dass A in allen B enthalten ist, aber von ei-nigen C nicht ausgesagt werden kann, so sind beideVordersätze falsch, aber der Schlusssatz wahr.

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Viertes Kapitel

Auch in der dritten Figur kann man aus falschenVordersätzen Wahres schliessen, und zwar wennbeide Vordersätze ganz falsch, als wenn sie theilweisefalsch sind, oder wenn der eine ganz wahr und der an-dere ganz falsch ist, oder wenn der eine theilweisefalsch und der andere ganz wahr ist, oder umgekehrt,oder wie vielfach sonst man die Vordersätze wechselnkann. Denn es kann sehr wohl A wie B in keinem Centhalten sein, und A dabei in einigen B enthaltensein. So kann z.B. der Mensch und das Fuss-Habendevon keinem Leblosen ausgesagt werden, während derMensch doch in einigen Füsse-Habenden enthaltenist. Setzt man nun, dass A und B in dem ganzen Centhalten sind, so sind zwar diese Vordersätze ganzfalsch, aber der Schlusssatz dennoch wahr. Ebensoverhält es sich, wenn der eine Vordersatz verneinend,der andere bejahend lautet. Denn es ist statthaft, dassB in keinem C, aber A in allen C enthalten ist unddabei das A in einigen B nicht enthalten ist; so istz.B. das Schwarze in keinem Schwane, aber das Ge-schöpf in allen Schwanen enthalten und dabei ist dasGeschöpf nicht in allem Schwarzen enthalten. Setztman nun, dass B in allen C und A in keinem C enthal-ten ist, so wird A in einigen C nicht enthalten sein;

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hier ist also der Schluss wahr, aber die Vordersätzesind falsch. Auch wenn jeder der beiden Vordersätzenur theilweise falsch ist, kann der Schlusssatz wahrsein. Denn A und B können in einigen C enthaltensein und doch das A in einigen von B; so kann z.B.das Weisse und das Schöne in einigen Geschöpfenenthalten und dabei das Weisse in einigen Schönenenthalten sein. Setzt man nun, dass A und B beide indem ganzen C enthalten sein, so sind diese Vordersät-ze theilweise falsch, aber der Schlusssatz ist wahr.Dasselbe geschieht, wenn der Satz mit A und C ver-neinend lautet. Denn nichts hindert, dass A in einigenC nicht enthalten und B in einigen C enthalten ist unddass A nicht in dem ganzen B enthalten ist; so ist z.B.das Weisse in einigen Geschöpfen nicht enthalten,und das Schöne ist in einigen enthalten und dabei istdas Weisse nicht in allem Schönen enthalten. Setztman nun, dass A in keinem C und B in allem C ent-halten sei, so sind beide Vordersätze theilweisefalsch, aber der Schlusssatz ist wahr. Dasselbe findetstatt, wenn der eine Vordersatz ganz falsch und derandere ganz wahr angesetzt wird. Denn es ist statt-haft, dass A und B von dem ganzen C ausgesagt wer-den und dass doch A in einigen B nicht enthalten ist;so ist der erste Satz ganz wahr und der letzte ganzfalsch und es ergiebt sich dennoch ein wahrer Schluss.Dasselbe findet statt, wenn der erste Satz ganz falsch

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und der andere wahr ist; auch hier können dieselbenBegriffe, schwarz, Schwan, Lebloses, zum Beweisebenutzt werden. Selbst wenn beide Vordersätze beja-hend genommen werden, gilt dasselbe. Denn nichtshindert, dass B von dem ganzen C ausgesagt werde,aber A in dem ganzen C nicht enthalten ist, und dassdoch A in einigen B enthalten sein kann; so ist z.B.dass Geschöpf in allen Schwanen enthalten und dasSchwarz ist in keinem Schwan enthalten und dasSchwarze ist in einigen Geschöpfen enthalten. Setztman nun, dass A und B in dem ganzen C enthaltenseien, so ist der Satz B C ganz wahr und der Satz A Cganz falsch und der Schluss ist doch wahr. Dasselbeergiebt sich, wenn der Satz A C wahr ist; der Beweiskann durch dieselben Begriffe geführt werden. Auchergiebt sich das Gleiche, wenn der eine Vordersatzganz wahr und der andere zum Theil falsch ist. Dennes ist statthaft, dass B in allen C und A in einigen Centhalten ist und dabei A in einigen B; so ist z.B. derZweifüssige in allen Menschen, das Schöne aber nichtin allen enthalten und das Schöne ist in einigen Zwei-füssigen enthalten. Setzt man nun hier, dass sowohl Awie B in dem ganzen C enthalten sei, so ist der Satz BC ganz wahr und der Satz A C zum Theil falsch, aberder Schlusssatz ist wahr. Dasselbe ergiebt sich, wennder Satz A C wahr und der Satz B C theilweise falschangesetzt wird; denn stellt man dieselben Begriffe um,

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so ergiebt sich der Beweis. Ebenso verhält es sich,wenn der eine Vordersatz verneinend und der anderebejahend lautet; denn es ist statthaft, dass B in demganzen C und A in einigen C enthalten ist und in sol-chem Falle ist A nicht in allen B enthalten; setzt mannun, dass B in dem ganzen C, A aber in keinem Centhalten, so ist der verneinende Satz zum Theilfalsch, und der andere ganz wahr und ebenso derSchluss wahr. Da ferner gezeigt worden, dass wenn Ain keinem C enthalten ist, aber B in einigen C, esstatthaft ist, dass A in einigen B nicht enthalten ist, soerhellt, dass wenn auch der Satz A C ganz wahr ist,aber der Satz B C falsch, es statthaft ist, dass derSchluss wahr sei. Denn wenn man sagt, dass A in kei-nem C und B in allem C enthalten, so ist der ersteSatz ganz wahr und der zweite zum Theil falsch.

Es erhellt ferner, dass auch bei den beschränktenSchlüssen in allen Fällen aus falschen Vordersätzenwahre Schlusssätze gefolgert werden können. Man hatdann dieselben Begriffe, wie bei den allgemein lau-tenden Vordersätzen, zu benutzen und zwar bejahend,wo sie dort bejahend lauten und verneinend, wo siedort verneinend lauten; denn es ist für die Aufstellungder Begriffe gleich, ob man setzt, dass das, was inkeinem enthalten ist, in allem enthalten sei, oder dassdas, was in einigem enthalten ist, in allen enthaltensei. Eben so verhält es sich mit den verneinenden

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Sätzen.Es erhellt sonach, dass wenn der Schlusssatz falsch

ist, nothwendig die Sätze, aus denen er gefolgert wor-den, alle oder einige falsch sein müssen; ist aber derSchlusssatz wahr, so ist es nicht nothwendig, dass dieVordersätze zum Theil oder sämmtlich wahr seien,vielmehr kann es sein, dass wenn auch kein Vorder-satz wahr ist, doch der daraus gefolgerte Schlusssatzwahr ist. Doch ist dies nicht nothwendig, weil, wennzwei Dinge sich so zu einander verhalten, dass, wenndas erste ist, nothwendig auch das zweite ist, dann,wenn letzteres nicht ist, auch das erste nicht ist; aberwenn das zweite ist, nicht nothwendig das erste zusein braucht. Dagegen kann für die beiden Fälle, dassdas erste ist, und dass es nicht ist, unmöglich ein unddasselbe als notwendige Folge bestehen, z.B. dasswenn A weiss ist und B dann nothwendig gross ist,auch wenn A nicht weiss ist, B ebenfalls nothwendiggross sein müsste. Denn wenn im Fall A weiss ist, Bnothwendig gross sein muss, und wenn B gross ist, Cnicht-weiss ist, so folgt, dass wenn A weiss ist, noth-wendig C nicht-weiss ist. Und wenn von zwei Dingendas zweite nothwendig sein muss, wenn das erste ist,so muss auch, wenn das zweite nicht ist, das erste,also das A, nicht sein; wenn also B nicht gross ist, sokann auch A nicht weiss sein; wenn aber doch für denFall, dass A nicht weiss ist, B nothwendig gross sein

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müsste, so würde nothwendig folgen, dass, obgleichB nicht gross ist, dasselbe B doch gross wäre, wasdoch unmöglich ist. Denn wenn B nicht gross ist, somuss A nothwendig nicht weiss sein. Wenn aber B,auch wenn A nicht weiss ist, gross sein müsste, sowürde wie bei den drei Begriffen des Schlusses fol-gen, dass wenn das B nicht-gross ist, es doch grossist.

Fünftes Kapitel

Das im Kreise oder das gegenseitig aus einanderBeweisen besteht darin, dass man mittelst desSchlusssatzes und des in seinen Begriffen umgekehr-ten einen Vordersatzes den anderen Vordersatz be-weist, den man in dem vorhergehenden Schlüsse auf-gestellt hatte. Wenn z.B. bewiesen werden sollte, dassA in allen C enthalten sei und dies durch den Mittel-begriff B bewiesen worden ist, und wenn man nunweiter bewiese, dass A in dem B enthalten, indemman setzte, dass A in dem C und C in dem B enthal-ten sei, also auch A in B, so ist dies ein Zirkelbeweisoder ein Beweis durch einander. Vorher hatte manumgekehrt angenommen, dass B in dem C enthaltensei. Oder wenn bewiesen werden sollte, dass B in demC enthalten und man setzte, dass A in dem C

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enthalten sei, was der Schlusssatz war, und dass B inA enthalten sei, während vorher umgekehrt angenom-men war, dass A in B enthalten sei, so ist dies auchein Zirkelbeweis.

In anderer Weise kann man die einzelnen Sätze desSchlusses nicht gegenseitig aus einander beweisen;denn entweder nimmt man dann einen anderen Mittel-begriff, und dann ist es kein Beweis im Kreise, dennes wird dann nichts aus dem ursprünglichen Schlüsseentnommen, oder man nimmt etwas daraus, und danndarf es nur ein Vordersatz sein; denn wenn man beidenimmt, so bleibt es bei demselben Schlusssatze, wäh-rend doch ein anderer Schlusssatz sich ergeben soll.

Wo nun die Sätze sich nicht umkehren lassen, dawird der Zirkel-Schluss aus einem unbewiesenen Vor-dersatz abgeleitet, denn mit solchen Begriffen lässtsich nicht beweisen, dass der dritte Begriff in demmittleren oder der mittlere in dem ersten enthalten ist.Wo aber die Sätze sich umkehren lassen, kann Alles,und zwar eines durch das andere bewiesen werden,wenn also sich A und B und C mit einander verwech-seln lassen. Es sei nämlich der Satz A C durch B be-wiesen worden dann wird der Satz A B durch denSchlusssatz und durch den umgekehrten Vordersatz BC bewiesen werden; ferner wird der Vordersatz B Cdurch den Schlusssatz und den umgekehrten Vorder-satz A B bewiesen. Es muss hierzu also der

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Vordersatz C B und der Vordersatz B A bewiesenwerden, da man nur diese beiden als unbewieseneVordersätze benutzt hat. Wird nun angenommen, dassB in allen C und C in allen A enthalten ist, so ergiebtsich der Schluss, dass B in allen A enthalten ist. Wirdaber ferner angenommen, dass C in allen A und A inallen B enthalten ist, so muss das C in allen B enthal-ten sein. Aber in diesen beiden Schlüssen wird derVordersatz, dass C in allen A enthalten sei, ohne Be-weis angenommen, denn die anderen waren schon be-wiesen. Hat man daher diesen Satz bewiesen, so wer-den sie alle durch einander bewiesen sein. Wenn nungesetzt wird, dass C in allen B und B in allen A ent-halten ist, so sind damit die beiden Vordersätze alsbewiesene genommen und es muss dann nothwendigC in allen A enthalten sein.

Es ist also klar, dass Beweise im Zirkel und durcheinander nur da geführt werden können, wo die Vor-dersätze sich umkehren lassen und in anderen Fällennur so, wie ich gesagt habe.

Aber auch in jenen Schlüssen geschieht es, dassdas schon Bewiesene selbst zu dem Beweise benutztwird. Denn das C wird von dem B und das B von demA bewiesen, wenn man setzt, dass C von dem A gelte,und dieser Satz, dass C von dem A gelte, wird durchjene Vordersätze bewiesen, so dass man also sich desSchlusssatzes zu dem Beweise der Vordersätze

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bedient.Bei den verneinenden Schlüssen geschieht der

wechselseitige oder Zirkel-Beweis in folgender Art. Bsoll in allen C enthalten sein und A in keinem B; hierergiebt sich der Schluss, dass A in keinem C enthaltenist. Wenn dann weiter mitbewiesen werden soll, dassA in keinem B enthalten ist, was man bei dem vorher-gehenden Schlüsse angenommen hatte, so wird zudem Behufe A in keinem C und C in allen B enthaltensein müssen; denn so ist der eine Vordersatz umge-kehrt. Soll aber gefolgert werden, dass B in allen Centhalten ist, so darf der Satz A B nicht in gleicherWeise umgekehrt werden, denn es ist derselbe Satz,mag er lauten, B ist in keinem A oder A in keinem Benthalten. Vielmehr ist noch die Voraussetzung zumachen, dass in dem, wo A in keinem enthalten ist, Bin allen enthalten ist. Es soll also A in keinem C ent-halten sein, wie der erste Schlusssatz lautete; nun sollgesetzt werden, dass B in Dem ganz enthalten sei, inwelchem A gar nicht enthalten ist; also muss noth-wendig B in allen C enthalten sein. Von den drei Sät-zen ist sonach jeder ein Schlusssatz geworden und dasim Zirkel beweisen besteht darin, dass man denSchlusssatz und den umgekehrten einen Vordersatznimmt und daraus den anderen Vordersatz schliesst.

Bei den beschränkten Schlüssen kann der allge-meine Vordersatz durch die anderen nicht bewiesen

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werden, aber wohl der beschränkte durch jenen. Dassder allgemeine Vordersatz nicht bewiesen werdenkann, ist klar, denn Allgemeines kann nur durch All-gemeines bewiesen werden; aber der Schlusssatz lau-tet hier nicht allgemein, obgleich doch aus diesem unddem anderen Vordersatz der Beweis geführt werdenmuss. Auch ergiebt sich überhaupt kein Schluss,wenn der allgemeine Vordersatz umgekehrt wird, dadann beide Vordersätze beschränkte sind.

Dagegen kann der beschränkte Vordersatz bewie-sen werden. Es sei nämlich der Satz, dass A in eini-gen C enthalten, durch B bewiesen. Setzt man nun,dass B in allen A enthalten sei und lässt man denSchlusssatz unverändert, so folgt, dass B in einigen Centhalten ist; denn es entsteht dann die erste Figur undA wird der Mittelbegriff.

Lautet der Schlusssatz verneinend, so kann der all-gemeine Vordersatz nicht bewiesen werden; weshalbnicht, ist früher gesagt worden. Ebenso kann der be-schränkte Vordersatz nicht bewiesen werden, wennauch der Satz A B hier sich ebenso wie bei den allge-meinen Schlüssen umkehren lässt. Wenn man abernoch eine Voraussetzung hinzunimmt, so kann manihn beweisen, nämlich wenn man annimmt, dass B ineinigen von dem enthalten ist, wo A in einigen nichtenthalten ist; denn ohnedem ergiebt sich kein Schluss,weil der beschränkte Vordersatz verneinend lautet.

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Sechstes Kapitel

Bei der zweiten Figur kann der bejahende Vorder-satz auf diese Weise nicht bewiesen werden, wohlaber der verneinende. Ersteres ist nicht zu beweisen,weil dann beide Vordersätze verneinend lauten; dennder Schlusssatz lautet verneinend und ein bejahenderSchlusssatz kann nur aus Vordersätzen, die beide be-jahend lauten, abgeleitet werden. Aber der vernei-nende Vordersatz kann wie folgt bewiesen werden. Asoll in allen B enthalten sein, aber in keinem C; hierlautet der Schlusssatz, dass B in keinem C enthaltenist. Setzt man nun, dass B in allen A enthalten, aberin keinem C, so muss nothwendig A in keinem C ent-halten sein; denn, es entsteht dann die zweite Figurund B wird der Mittelbegriff.

Wird aber der Vordersatz A B verneinend genom-men und der andere bejahend, so ergiebt sich die ersteFigur: denn C ist in allen A enthalten und B in kei-nem C, also auch B in keinem A, mithin auch A inkeinem B. Sonach lässt sich vermittelst des Schluss-satzes und des einen Vordersatzes kein Schluss bil-den, nimmt man aber den anderen Vordersatz zu ihmhinzu, so kommt ein Schluss zu Stande.

Wenn der Schlusssatz nicht allgemein lautet, sokann der allgemeine Vordersatz aus der früher

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angegebenen Ursache nicht bewiesen werden, aberwohl der beschränkte, sofern der allgemeine Satz be-jahend lautet. Denn es sei A in allen B, aber in eini-gen C nicht enthalten; hier lautet der Schlusssatz,dass B in einigen C nicht enthalten sei. Setzt mannun, dass B in allen A, aber in einigen C nicht enthal-ten sei, so wird A in einigen C nicht enthalten seinund B bildet den Mittelbegriff. Lautet aber der allge-meine Vordersatz verneinend, so kann der VordersatzA C durch Umkehrung von dem Satze A B nicht be-wiesen werden; denn es ergiebt sich dann, dass entwe-der beide Vordersätze oder einer von ihnen vernei-nend lauten und deshalb kein Schluss statt hat. Dage-gen kann ebenso wie bei den allgemeinem Schlüsseder Beweis geführt werden, wenn man die Vorausset-zung hinzunimmt, dass A in denjenigen Einigen ent-halten sei, in welchen B nicht enthalten ist.

Siebentes Kapitel

Bei der dritten Figur findet kein wechselseitigeroder Zirkelbeweis statt, wenn beide Vordersätze all-gemein lauten; denn Allgemeines kann nur durch All-gemeines bewiesen werden, während der Schlusssatzin dieser Figur immer beschränkt lautet, so dass of-fenbar die allgemein lautenden Vordersätze in dieser

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Figur sich nicht im Zirkel beweisen lassen. Dagegenkann, wenn der eine Vordersatz allgemein und der an-dere beschränkt lautet, letzterer manchmal bewiesenund manchmal nicht bewiesen werden. Lauten näm-lich beide Vordersätze bejahend und ist der mit demengeren Aussenbegriff ein allgemeiner, so kann es ge-schehen; lautet aber der andere Vordersatz allgemein,so kann es nicht geschehen. Denn A sei in allen C undB sei in einigen C; hier ergiebt sich der Schlusssatz,dass A in einigen B enthalten sei. Setzt man nun, Csei in allen A enthalten, so ergiebt sich wohl der Be-weis, dass C in einigen B enthalten ist, aber nicht derBeweis, dass B in einigen C enthalten; indess muss,wenn C in einigen B enthalten, nothwendig auch B ineinigen C enthalten sein. Es ist aber nicht dasselbe,ob dieses jenem und jenes diesem zukommt; vielmehrmuss man auch die Vorausetzung hinzunehmen, dass,wenn dieses in einigen von jenem enthalten ist, auchjenes in einigen von diesem enthalten sei. Nimmt manaber diesen Satz noch hinzu, so wird der Schlussnicht blos aus dem Schlusssatz und dem anderen Vor-dersatz gebildet.

Wenn aber B in allen C und A in einigen C enthal-ten ist, so kann der letztere Satz bewiesen werden,wenn man setzt, dass C in allen B, aber A nur in eini-gen B enthalten; denn wenn C in allen B und A in ei-nigen B enthalten ist, so muss A in einigen C

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enthalten sein: der Mittelbegriff ist hier B.Ist der eine Vordersatz bejahend und der andere

verneinend, und lautet der bejahende allgemein, sokann der andere bewiesen werden. Denn es sei B inallen C enthalten, aber A in einigen C nicht; hier er-giebt sich der Schlusssatz, dass A in einigen B nichtenthalten ist. Setzt man nun noch, dass C in allen Benthalten sei, so muss nothwendig A in einigen Cnicht enthalten sein; auch hier ist B der Mittelbegriff.Lautet aber der verneinende Vordersatz allgemein, sokann der andere nicht bewiesen werden, wenn mannicht, wie vorher, die Voraussetzung noch hinzu-nimmt, dass wenn das Eine in einigen eines Begriffesnicht enthalten, das Andere in diesen einigen diesesBegriffes enthalten sei. Wenn z.B. A in keinem C ent-halten, aber B in einigen C enthalten ist, so lautet derSchlusssatz, dass A in einigen B nicht enthalten ist.Nimmt man nun hinzu, dass C in einigen von dementhalten sei, wo A in einigen nicht enthalten ist somuss C in einigen B enthalten sein. Auf eine andereArt kann man mit Umkehrung des allgemeinen Vor-dersatzes den anderen Vordersatz nicht beweisen, dasonst kein Schluss dabei sich bildet.

Es erhellt also, dass in der ersten Figur der wech-selseitige Beweis vermittelst der ersten und drittenFigur geschieht; lautet der Schlusssatz bejahend, sogeschieht es durch die erste Figur, und lautet er

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verneinend, durch die dritte; denn man nimmt dieVoraussetzung hinzu, dass wenn das Eine in Keinemeines Begriffes enthalten das Andere in allen diesesBegriffs enthalten sei. In der zweiten Figur erfolgt,wenn der Schluss ein allgemeiner ist, der Zirkelbe-weis durch dieselbe Figur und durch die erste Figur;lautet aber der Schlusssatz nur beschränkt, so erfolgtder Beweis mittelst der zweiten und dritten Figur. Inder dritten Figur werden alle Beweise durch dieselbeFigur geführt.

Es erhellt auch, dass in der zweiten und drittenFigur die Beweise, welche nicht durch die gleicheFigur geführt werden, entweder überhaupt keine Zir-kelbeweise sind, oder dass sie unvollkommen sind.

Achtes Kapitel

Das Umkehren eines Schlusses bestellt darin, dassman den Schlusssatz umändert und damit einenSchluss bildet, wonach entweder der Oberbegriffnicht in dem mittleren oder dieser nicht in dem Unter-begriff enthalten ist. Denn wenn der Schlusssatz inseinem entgegengesetzten umgekehrt wird und derzweite Vordersatz unverändert bleibt, so muss der an-dere Vordersatz aufgehoben werden; denn bliebe ergültig, so würde auch der Schlusssatz derselbe

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bleiben. Es ist aber ein unterschied, ob man denSchlusssatz in einem widersprechenden oder nur ineinem gegentheiligen umstellt; denn je nachdem mandies oder jenes thut, ergiebt sich ein verschiedener wi-derlegender Schluss, wie aus dem Folgenden sich er-geben wird. Unter einem widersprechenden Gegen-satz verstehe ich den, wo das »in Allem-sein«, dem»nicht in Allem-sein« und das »in Einigen sein« dem»in Keinem sein« entgegengestellt wird; unter gegen-theiligen Gegensatz den, wo das »in Allem sein« dem»in Keinem sein« und das »in Einigen sein« dem»nicht in Einigen sein« entgegengestellt wird. So sollA in Bezug auf C durch den Mittelbegriff B bewiesensein. Würde hier nun gesetzt, dass A in keinem C ent-halten sei, aber in allen B, so folgte, dass B in keinemC enthalten ist; setzt man aber, dass A in keinem Centhalten, B aber in allen C enthalten ist, so folgtenur, dass A nicht in allen B, aber nicht, dass es in kei-nem B enthalten sei; da man mittelst der dritten Figurkeinen allgemeinen Satz beweisen kann. Ueberhauptkann der Vordersatz mit dem grösseren Aussenbegriffnicht allgemein durch die Umkehrung widerlegt wer-den; denn die Widerlegung erfolgt immer durch diedritte Figur, weil beide Vordersätze sich immer aufden Unterbegriff beziehen müssen.

Lautet der zu widerlegende Schluss verneinend, soverhält es sich ebenso. Denn es sei bewiesen worden,

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dass A vermittelst des B in keinem C enthalten sei;setzt man hier, dass A in allen C enthalten und in kei-nem B, so wird das B in keinem C enthalten sein; undwenn das A und das B in allen C enthalten ist, sowird A in einigen B enthalten sein; allein der Ober-satz lautete, dass es in keinem B enthalten sei.

Wird dabei der Schlusssatz widersprechend umge-kehrt, so werden auch die Schlüsse widersprechendund nicht allgemein lauten; denn der erste Vordersatzlautet dann beschränkt und deshalb wird auch derSchlusssatz beschränkt lauten. Es soll also derSchluss bejahend lauten und in dieser Weise umge-kehrt sein; wenn also danach A nicht allen C, aberallen B zukommt, so wird B nicht allen C zukommen.Wenn ferner A nicht allen C, aber B allen C zu-kommt, so wird A nicht allen B zukommen. Eben soist es, wenn der Schluss ein verneinender ist. Dennwenn A in einigen C enthalten ist, aber in keinem B,so wird B in einigen C nicht enthalten sein, aber nichtallgemein in keinem C; und wenn das A in einigen Cund B in allen C enthalten ist, wie im Anfang ange-nommen worden ist, so wird A in einigen B enthaltensein.

Wenn dann bei den beschränkten Schlüssen derSchlusssatz widersprechend umgekehrt wird, so wer-den beide Vordersätze aufgehoben, geschieht es abernur in gegentheiliger Weise, so wird keiner

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aufgehoben; denn wenn der Schlusssatz bei seinerUmkehrung abnimmt, so trifft es sich, dass eine Auf-hebung wie bei den allgemeinen Schlüssen nicht statt-findet, sondern es findet gar kein Aufheben statt.Denn es sei bewiesen, dass A von einigen C ausge-sagt werden kann, Wenn nun gesagt wird, dass A inkeinem C enthalten ist, B aber in einigen C, so wirdA in einigen B nicht enthalten sein, und wenn A inkeinem C, aber in allem B enthalten ist, so wird B inkeinem C enthalten sein, mithin werden beide Vorder-sätze aufgehoben. Wird aber der Schlusssatz, dass Ain einigen C enthalten war, in sein Gegentheil umge-kehrt, so wird keiner von beiden Vordersätzen aufge-hoben. Denn wenn A in einigen C nicht enthalten ist,aber in allen B, so wird B in einigen C nicht enthaltensein. Aber es ist dadurch das im Anfang Angenom-mene nicht aufgehoben; denn es ist statthaft, dass B ineinigen C enthalten und in einigen C nicht enthaltenist. Gegen den allgemeinen Vordersatz A B ergiebtsich aber überhaupt kein Schluss durch Umkehrung,weil wenn A in einigen C nicht enthalten ist, und B ineinigen C enthalten ist, keiner der Vordersätze allge-mein lautet. Ebenso ist es, wenn der Schluss vernei-nend lautet, denn wenn gesetzt wird, dass A in allen Centhalten ist, so werden beide Vordersätze aufgeho-ben, und wenn gesetzt wird, dass A in einigen C ent-halten, wird keiner aufgehoben; der Beweis wird hier

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in gleicher Weise geführt.

Neuntes Kapitel

In der zweiten Figur kann der Vordersatz mit demgrösseren Aussenbegriffe nicht gegentheilig aufgeho-ben werden, wie auch die Umkehrung des Beweissat-zes erfolgt; denn der Schluss wird sich dann immer inder dritten Figur vollziehen, wo kein allgemeinerSchluss gezogen werden kann. Dagegen kann manden anderen Vordersatz durch die Umkehrung desSchlusssatzes in in gleicher Weise aufheben, wo ichunter »in gleicher Weise« meine, dass bei einer ge-gentheiligen Umkehrung die Aufhebung durch dasGegentheil und bei einer widersprechenden Umkeh-rung durch den widersprechenden Satz erfolgt. Dennes sei A in allen B und in keinem C enthalten, hierlautet der Schlusssatz, dass B in keinem C enthalten.Setzt man nun, dass B in allen C enthalten und bleibtder Satz A B unverändert, so wird A in allen C ent-halten sein; denn es entsteht dann die erste Figur.Wenn aber B in allen C und A in keinem C enthaltenist, so wird A nicht in allen B enthalten sein; denn esist dies die dritte Figur. Wird aber der Satz B C nunin sein Gegentheil umgekehrt, so wird der Satz A B ingleicher Weise widerlegt werden, der Satz A C aber

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nur vermittelst des widersprechenden Gegensatzes.Denn wenn B in einigen C und A in keinem C enthal-ten sei, so wird A in einigen B nicht enthalten seinund wenn wieder B in einigen C und A in allen B ent-halten ist, so wird A in einigen C enthalten sein, sodass also der Schluss sich widersprechend gestaltet.Aehnlich kann der Beweis geführt werden, auch wenndie Vordersätze umgekehrt lauten.

Lautet dagegen der Schluss nur beschränkt, sowird, wenn der Schlusssatz nur in sein Gegentheilumgekehrt wird, keiner von den beiden Vordersätzenaufgehoben, wie dies auch in der ersten Figur nichtgeschah; wird der Schlusssatz aber in den widerspre-chenden Gegensatz umgekehrt, so werden beide Vor-dersätze aufgehoben. So soll A in keinem B, aber ineinigen C enthalten sein, der Schlusssatz lautet dann,dass B in einigen C nicht enthalten. Setzt man nun,dass B in einigen C enthalten sei, und lässt man denSatz A B unverändert, so ergiebt sich als Schlusssatz,dass A in einigen C nicht enthalten ist; damit ist aberder in Anfang gesetzte Vordersatz nicht aufgehoben,denn A kann zugleich in einigen C enthalten und ineinigen C nicht enthalten sein. Wenn dagegen B ineinigen C und A in einigen C enthalten ist, so ergiebtsich daraus kein Schluss, denn von diesen aufgestell-ten Sätzen lautet keiner allgemein; folglich wird derVordersatz, dass A in keinem B enthalten, nicht

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aufgehoben. Geschieht aber die Umkehrung in denwidersprechenden Gegensatz, so werden beide Vor-dersätze aufgehoben; denn wenn B in allen C und Ain keinem B enthalten ist, so ist auch A in keinem Centhalten, während es als in einigen C angenommenworden war. Wenn ferner das B in allen C und das Ain einigen C enthalten gesetzt wird, so wird A in eini-gen B enthalten sein. Der Beweis bleibt hier derselbe,wenn auch der allgemeine Satz bejahend angenom-men wird.

Zehntes Kapitel

Bei der dritten Figur wird, wenn die Umkehrungdes Schlusssatzes nur in sein Gegentheil erfolgt, kei-ner von beiden Vordersätzen aufgehoben, der Schlussmag lauten wie er will; geschieht aber die Umkehrungin den widersprechenden Gegensatz, so werden beideVordersätze und zwar in allen Schlüssen dieser Figuraufgehoben. So soll bewiesen sein, dass A in einigenB enthalten ist und C soll als Mittelbegriff genommenworden sein und die Vordersätze sollen allgemein lau-ten. Wird hier nun gesetzt, dass A in einigen B nichtenthalten sei, B aber in allen C enthalten sei, so er-giebt sich für A zu C kein Schluss. Eben so ergiebtsich, wenn A in einigen B nicht enthalten, aber in

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allen C enthalten, daraus kein Schluss, wie B sich zuC verhält. Dasselbe lässt sich zeigen, wenn einer derVordersätze des ursprünglichen Schlusses nicht allge-mein lautet; denn entweder lauten dann beide Vorder-sätze des umgekehrten Schlusses beschränkt, oder derallgemeine Vordersatz befasst nur den kleineren Aus-senbegriff. Bei solchen Vordersätzen ergiebt sich aberweder in der ersten noch in der zweiten Figur einSchluss. Kehrt man aber die Vordersätze in ihre wi-dersprechende Gegensätze um, so werden beide auf-gehoben. Denn wenn A in keinem B, aber B in allenC enthalten ist, so ist A in keinem C enthalten, undwenn wieder A in keinem B und in allen C enthaltenist, ist B in keinem C enthalten. Eben so verhält essich, wenn der zweite Vordersatz nicht allgemein lau-tet. Denn wenn A in keinem B und das B in einigen Centhalten, so ist auch A in einigen C nicht enthalten,wenn aber A zwar in keinem B, aber A in allen C ent-halten ist, so wird B in keinem C enthalten sein. Ebenso ist es, wenn der Schluss verneinend lautet. So sollbewiesen sein, dass A in einigen B nicht enthaltenund der Vordersatz B C soll bejahend, der VordersatzA C aber verneinend lauten; denn dann ergiebt sichder obige Schlusssatz. Setzt man nun blos das Gegen-theil des Schlusssatzes, so ergiebt sich kein Schluss;denn wenn A in einigen B und B in allen C enthalten,folgt kein Schluss, wie A zu C sich verhält. Eben so

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findet, wenn A in einigen B, aber in keinem C enthal-ten, kein Schluss darüber statt, wie B zu C sich ver-hält; mithin werden die Vordersätze nicht aufgehoben;erfolgt aber die Umkehrung in den widersprechendenGegensatz, so werden sie aufgehoben. Denn wenn Ain allen B und B in allen C enthalten, so ist auch A inallen C enthalten, während es doch in keinem enthal-ten sein sollte. Wenn wieder A in allen B, aber in kei-nem C enthalten ist, so ist auch B in keinem C enthal-ten, während es doch in allen enthalten war. Eben solässt sich der Beweis führen, wenn die Vordersätzenicht allgemein lauten. Der Vordersatz A C wird danndurch die Umkehrung allgemein verneinend und derandere beschränkt und bejahend. Ist nun A in allen Bund B in einigen C enthalten, so folgt, dass auch A ineinigen C enthalten ist, während es in keinem enthal-ten war. Wenn weiter A in allen B und in keinem Centhalten ist, so ist B in keinem C enthalten, währendes als in einigen enthalten angenommen war. Wennaber A in einigen B und B in einigen C enthaltensind, so ergiebt sich kein Schluss; und eben so dannnicht, wenn A in einigen B und in keinem C enthaltenist.

Aus dem Gesagten erhellt sonach, wie durch Um-kehrung des Schlusssatzes in jeder Figur ein Schlusssich ergiebt, und wenn der neue Schlusssatz sich zudem Vordersatz als Gegentheil und wenn als

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widersprechend verhält. Ferner erhellt, dass in der er-sten Figur diese umgekehrten Schlüsse sich in derzweiten und dritten Figur vollziehen und dass derVordersatz mit dem kleinern Aussenbegriff immervermittelst der zweiten Figur aufgehoben wird, wäh-rend bei dem Obersatz dies durch die dritte Figur ge-schieht. In der zweiten Figur geschieht die Aufhebungdurch die erste und dritte Figur und zwar erfolgt siefür den Vordersatz mit dem kleineren Begriff immerin der ersten Figur und bei dem Vordersatz mit demgrösseren Begriffe durch die letzte Figur. In der drit-ten Figur erfolgt die Aufhebung in der ersten undzweiten Figur, und zwar bei dem Vordersatz mit demgrösseren Aussenbegriffe immer in der ersten Figur,und bei dem Vorsatze mit dem kleineren Aussenbe-griffe in der zweiten Figur.

Elftes Kapitel

Es ist nun klar, was die Umkehrung ist, wie sie injeder Figur geschieht und welcher Schluss dabei ent-steht. Der Beweis bei dem Schluss vermittelst des Un-möglichen erfolgt, wenn der widersprechende Gegen-satz des Schlusssatzes als Vordersatz gesetzt wirdund der eine Vordersatz hinzugenommen wird, unddieser Schluss kann in allen Figuren geschehen; denn

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er gleicht der Umkehrung, ausgenommen dass dieUmkehrung stattfindet, wenn der Schluss gebildetworden und die Vordersätze aufgestellt sind, währenddie Abführung in das Unmögliche nicht nach vorher-gängigem Einverständniss über den widersprechendenGegensatz erfolgt, sondern weil dessen Wahrheit of-fenbar ist. Dagegen verhalten sich die Begriffe in bei-den gleich und werden auch in gleicher Weise be-nutzt. Wenn z.B. A in allen B enthalten ist und C denMittelbegriff bildet, und wenn dann angenommenwird, dass A entweder nicht in allen B oder in keinemB enthalten sei, aber in allen C, welches letztere rich-tig war, so folgt, dass A entweder in keinem B odernicht in allen B enthalten ist; diess ist aber unmög-lich, und deshalb ist die Annahme falsch und mithinder widersprechende Gegensatz wahr. Aehnlich ver-hält es sich bei den anderen Figuren. So weit sie eineUmkehrung gestatten, so weit gestatten sie auch einenBeweis durch die Unmöglichkeit. Alle aufgestelltenSätze lassen sich durch diese Unmöglichkeit in allenFiguren beweisen, doch kann ein allgemein bejahen-der Satz dadurch blos in der zweiten und dritten Figurbewiesen werden, aber in der ersten geht dies nichtan. Denn man setze, dass A entweder nicht in allenoder in keinem B enthalten sei, und man nehme einenVordersatz, welcher es sei, hinzu, entweder dass C inallen A, oder das B in allen D enthalten sei, so würde

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dies die erste Figur sein. Lautet nun der erste Vorder-satz dahin, dass A nicht in allen C enthalten sei, soergiebt sich kein Schluss, von woher man auch denzweiten Vordersatz hinzunehme. Lautet aber der ersteVordersatz dahin, dass A in keinem B enthalten sei,und nimmt man den Satz B D hinzu, so wird zwar einfalscher Schluss gebildet, aber der aufgestellte Satzwird damit nicht bewiesen; denn wenn A in keinem Bund B in allen D enthalten ist, so folgt nur, dass A inkeinem D enthalten ist. Dies sei nun unmöglich undfolglich falsch, dass A in keinem B enthalten. Alleinwenn dies falsch ist, so ist der Satz, dass A in allen Benthalten, deshalb noch nicht wahr. Nimmt man aberden Satz, dass C in allen A enthalten, hinzu, so giebtes keinen Schluss, selbst dann nicht, wenn angenom-men wird, dass A nicht in allen B enthalten sei. Hier-aus erhellt, dass das »in allen enthalten sein« in derersten Figur durch einen Schluss auf das Unmöglichenicht bewiesen werden kann.

Aber das »enthalten sein in Einigem« oder »in Kei-nem« oder »in Nicht-allen« lässt sich dadurch bewei-sen. Denn man nehme an, um den Satz: A in einigenB durch die Unmöglichkeit zu beweisen, A sei in kei-nen B enthalten und man nehme, B sei entweder inallen C, oder in einigen C enthalten, so folgt, dass Ain keinem C oder nicht in allen C enthalten ist. Diesist aber unmöglich; denn es soll als wahr und offenbar

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gelten, dass A allen C zukommt; wenn also jenerSchluss dies als falsch ergiebt, so folgt, dass A in ei-nigen B enthalten sein muss. Nimmt man aber zu demersten Satz mit A den andern Vordersatz, so giebt eskeinen Schluss Auch giebt es keinen, wenn man dasGegentheil vom Schlusssatz annimmt, d.h. das »in ei-nigen nicht sein«. Damit erhellt, dass man den wider-sprechenden Gegensatz annehmen muss.

Es soll nun wieder A in einigen B enthalten sein,und man nehme, dass C in allen A enthalten; hierfolgt, dass C in einigen B enthalten ist; dies soll aberunmöglich sein, folglich ist das Angenommene falsch,und ist dies der Fall, so ist der Satz wahr, dass C kei-nen A zukommt. Ebenso verhält es sich, wenn derSatz C A verneinend gesetzt wird. Nimmt man aberden Vordersatz mit B, so giebt es keinen Schluss.Nimmt man nur das Gegentheil behufs Führung desUnmöglichkeitsbeweises an, so ergiebt sich zwar einSchluss und etwas Unmögliches, aber es wird damitnicht das Beabsichtigte bewiesen. Denn man setze,dass A in allen B enthalten sei und nehme den Satz Cin allen A hinzu, so folgt, dass C in allen B enthaltenist. Nun ist aber dies unmöglich folglich falsch, dassA in allen B enthalten sei. Aber wenn sonach auch Anicht in allen B enthalten ist, so folgt daraus nochnicht, dass es in keinem B enthalten, Aehnlich verhältes sich, wenn der andere Vordersatz mit B

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hinzugenommen wird; auch hier giebt es zwar einenSchluss und ein Unmögliches, aber keine Widerle-gung des angenommenen Satzes. Man muss deshalbden widersprechenden Gegensatz voraussetzen. Umaber zu beweisen, dass A nicht in allen B enthalten,muss man annehmen, es sei in allen B enthalten.Denn wenn A in allen B und das C in allen A enthal-ten, so ist auch C in allen B enthalten; ist nun dies un-möglich, so folgt, dass der angenommene Obersatzfalsch ist. Aehnlich verhält es sich, wenn zu demSatze mit B der andere Vordersatz hinzugenommenwird. Auch wenn der Satz C A verneinend lautet, fin-det dasselbe statt, da auch dann ein Schluss sich er-giebt. Ist aber der Satz mit B verneinend, so kannnichts bewiesen werden. Wenn angenommen wird,dass A nicht in allen, sondern in einigen B enthaltensei, so wird damit nur bewiesen, dass A in keinem B,aber nicht, dass A nicht in allen B enthalten sei. Dennwenn A in einigen B und C in allen A enthalten, sowird C auch in einigen B enthalten sein. Wenn diesunmöglich ist, so ist es auch falsch, dass A in einigenB enthalten, folglich wahr, dass A in keinem B ent-halten ist. Mit diesem Beweis wird aber auch derwahre Satz aufgehoben, denn A war zwar in einigenB enthalten, aber auch in einigen B nicht. Auch kannein Unmögliches nicht aus der Annahme hier sieh er-geben, denn dann müsste diese Annahme A in einigen

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B falsch sein, da man aus Wahrem nichts Falschesschliessen kann. Nun ist sie aber wahr, denn A ist ineinigen ü enthalten. Man muss demnach nicht anneh-men, dass A in einigen B, sondern in allen B enthal-ten sei. Aehnlich verhält es sich, wenn mau beweisenwill, dass A in einigen B nicht enthalten ist; denn daes dasselbe ist, ob Etwas in Einigen von einem An-dern nicht ist, oder ob es nicht in allem Andern ent-halten ist, so bleibt der Beweis für diese beiden Fällederselbe.

Es erhellt also, dass man bei allen diesen Unmög-lichkeits-Schlüssen nicht das Gegentheil, sondern denwidersprechenden Gegensatz ansetzen muss; denn nurso ergiebt sich eine Nothwendigkeit und wird der an-genommene Satz glaubwürdig; da, wenn die Beja-hung und die Verneinung Alles umfasst und gezeigtworden, dass die Verneinung nicht wahr ist, nothwen-dig die Bejahung wahr sein muss; und wenn umge-kehrt die Bejahung nicht als- wahr angenommen wird,so ist es natürlich, die Verneinung als wahr anzuset-zen. Dagegen kann man das Gegentheil in beidenFällen nicht als wahr ansetzen, weil es nicht nothwen-dig ist, dass, wenn das »in Keinem enthalten sein«falsch ist, dann das »in Allen enthalten sein« wahr istund es auch nicht annehmbar ist, dass wenn das Einefalsch ist, das andere wahr sei.

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Zwölftes Kapitel

Sonach erhellt, dass in der ersten Figur sich alleaufzustellenden Sätze mittelst der Unmöglichkeit desGegentheils beweisen lassen mit Ausnahme der allge-mein bejahenden. Aber in der zweiten und dritten las-sen sich auch diese beweisen. Denn gesetzt, A seinicht in allen. B enthalten, aber man nehme an, dassA in allen C enthalten sei; wenn also A nicht in allenB, aber in allen C enthalten ist, so ist C nicht in allenB enthalten. Dies ist aber unmöglich, denn es soll klarsein, dass C in allen B enthalten ist, so dass jene An-nahme mithin falsch ist und folglich ist wahr, dass Ain allen B enthalten ist. Nimmt man aber das Gegen-theil als wahr an, so giebt es wohl einen Schluss undman kommt auch auf das Unmögliche, aber der aufge-stellte Satz wird damit nicht bewiesen. Denn wenn Ain keinem B, aber in allen C enthalten ist, so ist C inkeinem B enthalten; dies ist nun zwar unmöglich, mit-hin der Satz, dass A in keinen B enthalten, falsch; al-lein daraus folgt nicht, dass nun A in allen B enthal-ten. Wenn aber A in einigen B enthalten ist, so nehmeman an, dass A in keinem B enthalten sei, aber inallen C. Dann muss C in keinem B enthalten sein undda dies unmöglich ist, so muss A in einigen B enthal-ten sein. Wenn aber angenommen wird, dass A in

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einigen B nicht enthalten sei, so ist dies derselbe Fallwie in der ersten Figur. Man setze weiter, dass A ineinigen B enthalten sei, aber in keinem C; also mussC in einigen B nicht enthalten sein; nun war es aber inallen enthalten, mithin ist diese Annahme falsch undes wird also A in keinem B enthalten sein. Wenn aberA nicht in allen B enthalten ist, so nehme man an,dass A in allen B enthalten sei und A in keinem C;dann muss C in keinem B enthalten sein; dies ist aberunmöglich, mithin ist es wahr, dass A nicht in allen Benthalten ist.

Es erhellt somit, dass alle Arten von Schlusssätzendurch den Unmöglichkeitsbeweis in der zweiten Figurbewiesen werden können.

Dreizehntes Kapitel

Ebendies findet bei der dritten Figur statt. Dennman setze, dass A in einigen B nicht, aber C in allenB enthalten sei; dann wird A in einigen C nicht ent-halten sein. Wenn nun dies unmöglich ist, so ist esfalsch, dass A in einigen B nicht enthalten sei, aberwahr, dass es in allen B enthalten. Nimmt man aberan, dass A in keinem B enthalten sei, so ist wohl einSchluss vorhanden und ergiebt sich eine Unmöglich-keit, aber der aufgestellte Satz wird nicht bewiesen;

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denn wenn man nur das Gegentheil annimmt, so hatman denselben Fall, wie früher. Dagegen kann mandiese Annahme für den Beweis, dass A in einigen Benthalten ist, benutzen. Denn gesetzt, A wäre in kei-nem B enthalten, so wäre, da C in einigen B enthal-ten, das A nicht in allen C enthalten. Da nun diesfalsch ist, so ist erwiesen, dass A in einigen B enthal-ten ist. Wenn aber A in keinem B enthalten ist, sosetzt man, dass es in einigen enthalten sei, und mannehme auch den Satz hinzu, dass C in allen B enthal-ten sei. Hier muss dann A in einigen C enthalten sein;allein es war in keinem C enthalten, mithin ist esfalsch, dass A in einigen B enthalten sei. Wenn abergesetzt würde, dass A in allen B enthalten sei, sokann der aufgestellte Satz dann nicht bewiesen wer-den, aber zum Beweis, dass A nicht in allen B enthal-ten, kann diese Annahme benutzt werden. Denn setztman, A sei in allen B, und C in einigen B enthalten,so wäre A in einigen C enthalten; allein dies ist nichtder Fall, mithin ist die Annahme, dass A in allen Benthalten sei, falsch; und ist dies, so ist es wahr, dasses nicht in allen B enthalten. Setzt man aber, dass Ain einigen B enthalten sei, so tritt dasselbe ein, wiebei den früheren Figuren.

Es erhellt also, dass in allen Unmöglich-keits-Schlüssen der widersprechende Gegensatz ange-setzt werden muss. Es ist auch nunmehr klar, dass auf

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eine gewisse Art sich in der mittleren Figur ein beja-hender Satz und in der letzten Figur ein allgemeinerSatz beweisen lässt.

Vierzehntes Kapitel

Der Unmöglichkeits-Beweis unterscheidet sich vondem direkten Beweis dadurch, dass jener einen Satzannimmt, den er widerlegen will, indem er daraus einanerkannt Falsches ableitet; dagegen geht der direkteBeweis von als wahr zugestandenen Vordersätzenaus. Beide nehmen zwei zugestandene Vordersätzean; allein der direkte Beweis nimmt diese so an, dassaus ihnen der zu beweisende Satz als Schluss gezogenwird; der Beweis durch das Unmögliche nimmt abernur einen davon und als den anderen den widerspre-chenden Gegensatz des Schlusssatzes. Ferner brauchtbeim direkten Beweis der Schlusssatz nicht bekanntzu sein und man braucht nicht im Voraus anzuneh-men, dass der Schlusssatz so sei oder nicht so sei;aber bei dem Schluss aufs Unmögliche muss manetwas annehmen, was nicht so ist, wie der Satz, wel-cher bewiesen werden soll. Dagegen unterscheiden siesich nicht darin, ob der Schlusssatz bejahend oderverneinend lautet, sondern hier verhalten sich beidegleich. Jedes direkt Bewiesene kann auch durch den

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Unmöglichkeits-Beweis bewiesen werden und dasdurch diesen Bewiesene kann auch direkt durch die-selben Begriffe, aber nicht in denselben Figuren be-wiesen werden. Geschieht nämlich der Unmöglich-keitsschluss in der ersten Figur, so erfolgt der direkteBeweis dafür in der zweiten oder dritten Figur; derverneinende Satz wird dann in der zweiten und derbejahende in der dritten Figur bewiesen. Wird aberder Unmöglichkeits-Beweis in der zweiten Figur ge-führt, so erfolgt der direkte Beweis dafür in der erstenFigur und zwar für alle Arten von aufzustellendenSätzen.

Geschieht der Unmöglichkeits-Schluss in der drit-ten Figur, so erfolgt der direkte Beweis in der erstenund zweiten Figur, nämlich für die bejahenden Sätzein der ersten, für die verneinenden in der zweitenFigur.

So soll in der ersten Figur durch den Unmöglich-keitsschluss bewiesen sein, dass A keinem B odernicht allen B zukomme. Hier wurde nun, um diesenSatz durch einen Unmöglichkeitsschluss zu beweisen,angenommen, dass A in einigen B enthalten sei.Dann war dabei angenommen, dass C in allen A ent-halten sei, aber in keinem B; denn so entstand derSchluss und ergab sich das Unmögliche. Nun ist diesaber die zweite Figur, wenn man setzt, dass C in allenA und in keinem B enthalten sei und es ergiebt sich

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daraus, dass A in keinem B enthalten ist. Aehnlichwird verfahren, wenn direkt bewiesen worden ist, dassA nicht in allen B enthalten ist. Hier lautet die Ge-genannahme, dass A in allen B enthalten, aber von Cwar gesetzt, dass es in allen A enthalten sei, abernicht in allen B. Auch wenn der Satz C A verneinendgenommen wird, ist es ebenso, denn auch dann ge-schieht der Schluss in der zweiten Figur.

Ferner soll bewiesen sein, dass A in einigen B ent-halten. Hier lautet die Gegenannahme, dass A in kei-nem B enthalten; von dem B war aber angenommen,dass es entweder in allen C oder in einigen C enthal-ten sei; denn so ergiebt sich das Unmögliche. Nun istes die dritte Figur, wenn A und B beide in dem gan-zen C enthalten sind, und es ergiebt sich mittelstderselben, dass A in einigen B enthalten sein muss.Ebenso ist es, wenn angenommen wird, dass B oder Ain einigen C enthalten ist.

Es sei nun weiter in der zweiten Figur bewiesen,dass A in allen B enthalten. Hier war die Gegenan-nahme, dass A nicht in allen B enthalten sei, dabeiwar aber gesetzt worden, dass A allen C und C allenB zukomme; denn so ergiebt sich das Unmögliche.Dasselbe ergiebt sich in der ersten Figur, wenn A inallen C und C in allen B gesetzt wurde. Ebenso ist es,wenn bewiesen worden, dass A in einigen B enthaltenist. Der anzunehmende Gegensatz war hier, dass A in

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keinem B enthalten sei, es war aber gesetzt, dass A inallen C und C in einigen B enthalten sei. Lautet aberder Schluss verneinend, so lautet die entsprechendeGegenannahme, dass A in einigen B enthalten sei.Nun war aber in dem direkten Schluss gesetzt, dass Ain keinem C und C in allen B enthalten sei, und so er-giebt sich die erste Figur.

Lautet der Schluss nicht allgemein und ist bewie-sen, dass A in einigen B nicht enthalten, so ist esebenso; denn die Gegenannahme lautet dann, dass Ain allen B enthalten; nun ist aber im direkten Beweisangenommen worden, dass A in keinem C und das Cin einigen B enthalten sei, denn so ist die erste Figurvorhanden.

Es sei weiter in er dritten Figur gezeigt worden,dass A in allen B enthalten. Hier war die Gegenan-nahme, dass A nicht in allen B enthalten sei; es istaber angenommen worden, dass C in allen B und A inallen C; denn so ergiebt sich das Unmögliche und dasist die erste Figur. Dasselbe gilt, wenn der Beweis nurdahin gegangen ist, dass A in einigen B enthalten;denn hier lautet die Gegenannahme, dass A in keinemB enthalten, aber es ist angenommen worden, dass Cin einigen B und A in allen C enthalten sei.

Lautet aber der Schluss verneinend, so lautet dieGegenannahme, dass A in einigen B enthalten; es istaber angenommen, dass C in keinem A, aber in allen

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B enthalten sei und das ist die zweite Figur. Ebensoverhält es sich, wenn der Beweis nicht allgemein er-folgt ist. Denn dann lautet die Gegenannahme dahin,dass A in allen B enthalten ist; es ist aber angenom-men worden, dass C in keinem A und in einigen Benthalten und dies ist die zweite Figur.

Hieraus erhellt, dass man mittelst derselben Begrif-fe jeden aufgestellten Satz sowohl direkt, als durchdie Unmöglichkeit des Gegensatzes beweisen kann.Ebenso kann man auch, wenn der Schlusssatz direktabgeleitet worden, den Unmöglichkeits-Beweis mit-telst derselben Begriffe führen, wenn man den wider-sprechenden Gegensatz des Schlusssatzes als Vorder-satz nimmt. Es bilden sich dann dieselben Schlüsse,wie bei der Umkehrung der Schlüsse und man kannsomit auch sofort die Figuren erfahren, in welchenjeder Schluss sich vollzieht.

Somit ist klar, dass jeder aufgestellte Satz sich aufbeide Arten beweisen lässt, sowohl vermittelst desUnmöglichen wie direkt und man kann die eine Artvon der andern nicht trennen.

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Fünfzehntes Kapitel

In welchen Figuren aber aus entgegengesetztenVordersätzen geschlossen werden könne, und in wel-chen nicht, ergiebt sich aus Folgendem:

Mit dem: »Entgegengesetzte Vordersätze« bezeich-ne ich dem Ausdrucke nach vier Arten; also wenndem Allen das Keinem, oder wenn dem Allen dasNicht-Alle, oder wenn dem Einigen das Keinem, oderwenn dem Einigen das Nicht-Einigen entgegensteht.In Wahrheit sind es aber nur drei, denn das »Einigeist dem Nicht-Einigen« nur im Ausdrucke entgegen-gesetzt. Von diesen Gegensätzen stehen die allgemei-nen sich als Gegentheile gegenüber, nämlich dem »inAllem enthalten sein«, das »in keinem Enthaltensein.« Z.B.: jede Wissenschaft ist gut und: keine Wis-senschaft ist gut; die übrigen sind widersprechendeGegensätze.

In der ersten Figur giebt es nun keinen Schluss ausentgegengesetzten Vordersätzen, und zwar wedereinen bejahenden noch einen verneinenden; ersteresnicht, weil beide Vordersätze dazu bejahend lautenmüssen und verneinend nicht, weil diese Gegensätzenur ein und dasselbe von einem Gegenstande bejahenund verneinen, während in der ersten Figur der Mittel-begriff nicht von beiden Aussenbegriffen ausgesagt

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wird, sondern in dem einen Satze etwas von ihm ver-neint wird und in dem andern er selbst von etwas be-jaht wird, solche Aussagen sind aber keine Gegen-sätze.

In der zweiten Figur kann aus widersprechendenund aus gegentheiligen Gegensätzen ein Schluss ge-bildet werden. So sei A das Gute, B und C die Wis-senschaft. Setzt man nun, dass jede Wissenschaft gutsei und dass keine gut sei, so ist A in allen B und inkeinem C enthalten, also B in keinem C, folglich istkeine Wissenschaft eine Wissenschaft. Ebenso verhältes sich, wenn man sagt, dass jede Wissenschaft gutsei und jede Heilwissenschaft nicht gut sei; dann ist Ain allen B aber in keinem C enthalten, so dass eineeinzelne Wissenschaft nicht Wissenschaft ist. Undwenn A in allen C und in keinem B enthalten ist unddabei B die Wissenschaft und C die Heilwissenschaftund A die Vermuthung ist; so hat man dann gesetzt,dass keine Wissenschaft eine Vermuthung sei, abereine besondere Wissenschaft sei Vermuthung. DieserFall unterscheidet sich von den vorigen nur dadurch,dass die Begriffe hier gewechselt sind; vorher war dasbejahende bei B, jetzt aber bei C. Auch wenn der eineVordersatz nicht allgemein lautet, giebt es einenSchluss; denn Mittelbegriff ist immer der, welchervon den Einen verneinend, von den andern bejahendausgesagt wird. Somit kann also aus zwei

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Gegensätzen ein Schluss gezogen werden; indessnicht immer und nicht durchaus, sondern nur wenn diebeiden unter dem Mittelbegriff stehenden Begriffesich so verhalten, dass sie entweder ganz oder zumTheil dasselbe sind. Ohnedem ist ein Schluss der hierbesprochenen Art unmöglich, denn dann sind die Vor-dersätze weder gegentheilige noch widersprechendeGegensätze.

In der dritten Figur kann aus entgegengesetztenVordersätzen niemals ein bejahender Schluss gebildetwerden und zwar aus dem schon bei der ersten Figurerwähnten Grunde. Aber ein verneinender Schluss iststatthaft, mögen die Vordersätze allgemein oder be-schränkt lauten. Denn es seien B und C die Wissen-schaft und A die Heilwissenschaft. Setzt man nun,dass jede Heilwissenschaft eine Wissenschaft sei undkeine Heilwissenschaft eine Wissenschaft, so ist Bvon allen A und C von keinem A gesetzt: mithin wirdeine einzelne Wissenschaft keine Wissenschaft sein.

Ebenso verhält es sich, wenn der Vordersatz A Bnicht allgemein lautet; denn wenn eine einzelne Heil-wissenschaft eine Wissenschaft ist und wieder keineHeilwissenschaft eine Wissenschaft ist, so folgt, dasseine einzelne Wissenschaft keine Wissenschaft ist.Werden dabei die Begriffe allgemein gesetzt, so sinddie Vordersätze Gegentheile; wird aber der eine Be-griff nur beschränkt gesetzt, so sind die Vordersätze

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widersprechende Gegensätze.Man muss hier beachten, dass es statthaft ist, die

Vordersätze anzunehmen, wie ich z.B. gesagt, dassjede Wissenschaft gut sei und wieder, dass keine gutsei, oder eine nicht gut, was allerdings nicht unbe-merkt zu bleiben pflegt. Man kann aber auch aufeinem andern Weg, durch Fragen den einen Gegen-satz erschliessen, oder ihn so, wie in den Topiken ge-sagt worden, erlangen.

Da es von den bejahenden Sätzen drei Gegensätzegiebt, so kann man die gegensätzlichen Vordersätzesechsfach aufstellen; nämlich nach: Allem und kei-nem; dann nach Allem und nicht allem und endlichnach Einigen und keinem; und bei jedem dieser dreiGegensätze können die Begriffe gewechselt werden;z.B.: A ist in allen B, aber in keinen C enthalten; undA ist in allen C, aber in keinen B enthalten; ferner Aist in allen B, aber nicht in allen C enthalten und mankann bei diesen Sätzen die Begriffe wechseln. Dieskann auch bei der dritten Figur geschehen und damiterhellt, wie vielmal und in welchen Figuren einSchluss aus entgegengesetzten Vordersätzen gebildetwerden kann.

Auch erhellt, dass man zwar aus falschen Vorder-sätzen Wahres schliessen kann, wie früher gezeigtworden; aber aus Gegensätzen kann kein Wahres ge-schlossen werden, da der Schluss immer gegen den

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Sachverhalt ausfällt, z.B. dass das, was gut ist, nichtgut sei, oder dass das, was ein Geschöpf ist, kein Ge-schöpf sei. Der Grund davon ist, dass der Schluss aussich widersprechenden Vordersätzen hervorgeht unddass die benutzten Begriffe in beiden Vordersätzenentweder ganz oder zum Theil dieselben sind. Auchist offenbar, dass auch bei Fehlschlüssen ein Wider-spruch mit der ersten Annahme hervorgehen kann,z.B. dass das, was ungerade ist, nicht ungerade sei;denn aus entgegengesetzten Vordersätzen ergab sichein dem Sachverhalt entgegengesetzter Schluss; setztman also solche Vordersätze, so lautet der Schluss aufeinen Widerspruch mit dem als wahr Angenommenen.

Man muss indess beachten, dass man auf dieseWeise aus einem Schlusse in bejahender Form Ge-gentheiliges nicht erschliessen kann, z.B. dahin, dassdas, was nicht gut ist, gut sei oder Anderes der Art,wenn nicht gleich der Vordersatz so angenommenwird; z.B. dass jedes Geschöpf weiss und nicht weisssei und dass der Mensch ein Geschöpf sei. Oder manmuss die Verneinung hinzunehmen, z.B. dass jedeWissenschaft eine Vermuthung sei, und dann setzen,dass die Heilwissenschaft zwar eine Wissenschaft ist,aber keine Vermuthung; also In der Weise, wie dieWiderlegungen geschehen. Oder man kann vermittelstzweier Schlüsse Entgegengesetztes in bejahenderForm schliessen. Sollen aber die Vordersätze in

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Wahrheit gegentheilig lauten, so kann dies in einemSchlüsse nicht anders geschehen, als auf die vorherangegebene Weise.

Sechzehntes Kapitel

Das zu Beweisende vom Anfang ab zu fordern oderanzusetzen gehört, um es nach der Gattung zu be-zeichnen, zu den verfehlten Beweisen, die in vielfa-cher Weise vorkommen; so wenn überhaupt nicht ge-schlossen wird, ferner, wenn es aus unbekannterenoder gleich unbekannten Vordersätzen geschieht, fer-ner, wenn die Vordersätze auf spätere Sätze gestütztwerden, während die Beweisführung aus Glaubwürdi-gerem und Früherem zu erfolgen hat.

Indess gehört das gleich anfängliche Setzen des zuBeweisenden nicht zu diesen Fehlern. Da nämlichManches von Natur durch sich selbst erkennbar ist,alles Uebrige aber durch Anderes erkannt wird (denndie obersten Grundsätze sind durch sich selbst er-kennbar, aber das, was unter diese fällt, wird durchAnderes ernannt), so ist das gleich anfängliche Setzendes zu Beweisenden dann vorhanden, wenn man ver-sucht, das, was nicht durch sich selbst erkennbar ist,doch durch sich zu beweisen. Dies geschieht in derWeise, dass man den vorliegenden Satz gleich als

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einen wahren ansetzt; es kann aber auch so gesche-hen, dass man auf Anderes übergeht, was sich durchjenen Satz beweisen lässt und durch dieses dann wie-der jenen Satz beweist; wenn z.B. A durch B bewie-sen würde und B durch C und dabei C so geartetwäre, dass es durch A bewiesen werden könnte; dennwenn so geschlossen wird, geschieht es, dass A durchsich selbst bewiesen wird. So verfahren die, welcheglauben Parallellinien zu ziehen; denn sie bemerkennicht, dass sie dabei dergleichen voraussetzen, da mansie nicht beweisen kann, wenn sie nicht schon Paral-lellinien sind. Es begegnet denen, welche so schlies-sen, zu sagen, dass jedes ist, wenn es ist. Auf dieseWeise könnte jedes Ding durch sich selbst erkanntwerden, was doch unmöglich ist.

Wenn nun unbekannt wäre, ob A in C enthaltenund ebenso, ob A in B enthalten und jemand setztesofort, dass A in B enthalten sei, so ist zwar nochnicht klar, ob er den zu beweisenden Satz ohne weite-res setzt, aber es ist doch klar, dass er keinen Beweisführt; denn man kann keinen Beweis mit einem Satzeanfangen, der ebenso unbekannt ist, wie der zu bewei-sende Satz. Wenn jedoch B zu C sich so verhält, dassbeide dasselbe sind, indem entweder beide sich aus-tauschen lassen, oder das eine in dem andern enthal-ten ist, so wird das erst zu Beweisende schon voraus-gesetzt; denn man könnte durch diese Sätze beweisen,

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dass A in dem B enthalten ist, wenn man sie aus-tauscht. So geht aber dieses nicht an, ohne dass gera-de die Form des Schlusses es hinderte. Wenn manaber dies doch thäte und durch B und C beweisenwollte, dass A in B enthalten sei, so würde man denangegebenen Fehler begehen und man vollzöge dieUmkehrung gleichsam durch drei Begriffe.

Ebenso ist es, wenn man setzte, dass B in C enthal-ten sei, obgleich dies ebenso unbekannt ist, als ob Ain C enthalten; man setzt hier zwar nicht das zu Be-weisende schon voraus, aber es kommt doch der Be-weis nicht zu Stande. Ist aber A und B dasselbe, ent-weder weil A und B ausgetauscht werden können,oder weil A von B ausgesagt werden kann, so wirdaus demselben Grunde der anfangs aufgestellte zu be-weisende Satz gefordert. Was aber dies sei, ist bereitsgesagt worden, nämlich wenn das, was nicht durchsich selbst klar ist, doch durch sich bewiesen wird.

Wenn also das Fordern eines im Anfange gesetztenVordersatzes, ein Beweisen des nicht durch sichselbst Klaren durch sich selbst ist, und wenn es keinBeweisen ist, insofern das zu Beweisende und das,wodurch es bewiesen werden soll, gleich ungekanntist, weil entweder dieselben Bestimmungen demsel-ben als Subjekt einwohnen, oder weil ein und dieselbeBestimmung denselben Subjekten einwohnt, so wirdin der zweiten und dritten Figur dieses Fordern des

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erst zu Beweisenden auf beiderlei Weise statt habenkönnen. Für bejahende Sätze kann es nur in der drit-ten und in der ersten Figur geschehen; lauten aber dieSchlüsse verneinend, so kann es in diesen Figuren nurgeschehen, wenn dieselben Bestimmungen von dem-selben Gegenstande verneint werden und beide Vor-dersätze sich nicht gleich verhalten. Ebendies giltauch für die zweite Figur weil bei den verneinendenSchlüssen sich die Begriffe nicht austauschen lassen.

Uebrigens wird bei den strengen Beweisen durchdie Voraussetzung des erst zu Beweisenden etwas ge-fordert, was sich wahrhaft so verhält; bei den dialekti-schen Schlüssen aber nur etwas, was der Meinungentspricht.

Siebzehntes Kapitel

Die Behauptung, »dass hieraus das Falsche sichnicht ergäbe,« wie man bei den Besprechungen ofteinzuwenden pflegt, kommt zunächst in den Schlüs-sen auf das Unmögliche vor, wenn diese Behauptungsich gegen den bei dem Unmöglichkeitsbeweis aufge-stellten widersprechenden Satz richtet, durch welchenindirekt der ursprüngliche Schlusssatz bewiesen wer-den soll. Denn wenn solcher widersprechender Satznicht aufgestellt worden, kann die Entgegnung, dass

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hieraus das Unmögliche nicht folge, nicht erhobenwerden, sondern man kann nur sagen, dass etwas Fal-sches gegen das Frühere angenommen worden. Aucherhebt man diesen Einwand nicht bei einem direktenBeweise, wo die Verneinung des zu beweisenden Sat-zes gar nicht als Vordersatz aufgestellt wird. Auchwenn etwas direkt durch die Begriffe A, B, C wider-legt wird, kann man nicht sagen, dass der Schlussnicht aus dem Gegebenen folge. Denn diesen Ein-wand, dass der Schluss nicht aus dem Gegebenenfolge, stellt man nur dann auf, wenn trotz der Beseiti-gung des Widersprechenden nichtsdestoweniger derSchluss sich vollzieht, was bei den direkten Schlüssennicht der Fall ist, da, wenn die Ansätze widerlegtsind, es daraus auch keinen Schluss giebt. Es erhelltalso, dass dieser Einwand nur gegen die Unmöglich-keitsbeweise aufzustellen ist und zwar dann, wenn dieauf das Unmögliche abzielende anfängliche Annahmesich so verhält, dass das Unmögliche in gleicherWeise folgt, mag diese Annahme wahr oder falschsein.

Der offenbarste Fall für den Einwand, dass das Fal-sche nicht aus dem aufgestellten Satze folge, ist der,wenn der Schluss auf das Unmögliche aus der ange-nommenen Voraussetzung mit den Mittelbegriffen garnicht zusammenpasst, wie in den Topiken gezeigtworden ist. Denn in solchem Falle wird etwas als

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Grund gesetzt, was gar keinen Grund hier abgebenkann; z.B. wenn jemand beweisen wollte, dass dieDiagonale eines Quadrats kein gemeinsames Maassmit den Seiten desselben habe; und er nun versuchte,den Satz Zeno's zu beweisen, dass es keine Bewegunggebe und er das Unmögliche auf diesen Satz gründete;denn hier hat der sich ergebende falsche Satz nichtden mindesten Zusammenhang mit den im Anfangaufgestellten Obersatze.

Ein anderer Fall ist der, wo das Unmögliche zwarmit dem aufgestellten Obersatze zusammenhängt,aber doch nicht aus demselben sich ergiebt. Dies kannsowohl da der Fall sein, wo man diesen Zusammen-hang oben oder unten dem Unmöglichkeitsbeweiseansetzt. Wenn z.B. gesetzt ist, dass A in B enthaltenund B in C und C in D und es falsch oder unmöglichwäre, dass B in dem D enthalten sei; denn wenn manhier auch A bei Seite lässt, so würde doch nicht min-der B in C und C in D enthalten sein und das Falschewürde also nicht durch den anfänglich aufgestelltenSatz herbeigeführt. Oder wenn man das mit der zu be-weisenden Behauptung Zusammenhängende zu demSchluss hinzusetzte, wenn man z.B. setzte, dass A inB und E in A und Z in E enthalten sei und das Fal-sche wäre, dass Z in A enthalten sei; denn das Un-mögliche würde nicht weniger bleiben, wenn manauch den anfänglichen Satz hinzunähme. Es muss

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vielmehr das Unmögliche mit den im Aufgang gesetz-ten Begriffen zusammenhängen, denn nur so wird esdurch den Ansatz sich ergeben; also wenn man z.B.vor den unteren Sätzen das Zusammenhängende an-setzt, so muss es mit dem Begriff, welcher etwas vondem andern aussagt, zusammenhängen; denn wenn esunmöglich ist, dass A in D enthalten sei, so hört dieseUnmöglichkeit auf, wenn man A bei Seite lässt. Wirdaber das Zusammenhängende oben angesetzt, so musses mit dem Begriffe, von dem etwas ausgesagt wird,zusammenhängen; denn wenn es nicht möglich ist,dass Z in B enthalten, so fällt das Unmögliche weg,wenn man B weglässt. Dasselbe gilt auch, wenn dieSchlüsse verneinend lauten.

Somit erhellt, dass, wenn das unmögliche nicht fürdie anfänglich gesetzten Begriffe gilt, die Unrichtig-keit des Obersatzes nicht aus dem Ansatze folgt undselbst wenn dies so geschieht, wird das Falsche nichtimmer aus der entgegengesetzten Annahme hervorge-hen. Denn wenn man nicht setzt, dass A in dem B,sondern dass A in dem K enthalten sei und dass K inC enthalten und dieses in D, so wird auch so das Un-mögliche bleiben, ebenso ist es, wenn das Zusammen-hängende von Unten nach Oben in den Begriffen ge-setzt wird, so dass, wenn, die Annahme mag wahroder nicht wahr sein, das Unmögliche doch folgte, esalso nicht aus dem Ansatz folgen würde.

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Der Einwand, dass, wenn auch der widerspre-chende Obersatz nicht angesetzt werde, dennoch einFalsches sich ergäbe, ist nicht so zu verstehen, dassdas Unmögliche sich ergeben werde, wenn eine ande-re Voraussetzung angenommen werde, sondern dass,wenn auch diese Voraussetzung bei Seite gelassenwerde, sich doch aus den übrigen Vordersätzen der-selbe unmögliche Schlusssatz ergäbe, da ja sehr wohldasselbe Falsche aus verschiedenen Annahmen sichergeben kann; z.B. dass Parallellinien zusammentref-fen, sowohl dann, wenn der innere Winkel grösser ist,als der äussere, wie dann, wenn das Dreieck mehr alszwei rechte Winkel enthält.

Achtzehntes Kapitel

Der falsche Schluss kommt von einem vorausge-henden falschen Vordersatze her, denn jeder Schlussbesteht entweder aus zwei Vordersätzen oder ausmehreren. Ist ersteres der Fall, so müssen bei einemfalschen Schlüsse nothwendig ein Vordersatz oderbeide falsch sein; denn aus wahren Sätzen kann keinfalscher Schluss abgeleitet werden. Wird der Schlussaber aus mehreren abgeleitet; z.B. der Satz C durchdie Sätze A und B, und diese durch die Sätze D, E, Z,H, so wird in einem von diesen Vordersätzen etwas

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Falsches enthalten sein und daraus der Schluss folgen;denn die Sätze A und B werden aus jenen gefolgert,mithin ergiebt sich der Schluss und das Falsche ausjenen.

Neunzehntes Kapitel

Um nicht durch Schlüsse des Gegners widerlegt zuwerden, muss man Acht haben, dass wenn- der Be-weis ohne Schlussfolgerungen blos durch Fragen vonihm geführt wird, man nicht in den Vordersätzenzweimal denselben Begriff zugebe, da man ja weiss,dass ohne einen Mittelbegriff kein Schluss gezogenwerden kann und der Mittelbegriff der ist, welchermehrmals ausgesprochen wird. Wie man aber beijedem Schlusssatze auf den Mittelbegriff zu achtenhabe, ergiebt sich aus der Kenntniss der Art, wie injeder Figur der Beweis geschieht, und dies wird Nie-mandem verborgen sein, wenn er weiss, wie maneinen Satz aufrecht zu erhalten habe.

Aber das, wovor man sich nach meiner Anweisungbei Antworten in Acht zu nehmen hat, darf man, wennman selbst etwas durchführen will, möglichst nichtbemerken lassen. Dies geschieht zunächst dann, wenndie vorhergehenden Schlusssätze nicht hintereinander,wie sie zuletzt zu dem Beweissatze führen, gefragt

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werden, sondern bei Annahme der dazu nöthigen Vor-dersätze jene unbekannt gelassen werden. Fernerdann, wenn man in der Schlussreihe nicht die zu-nächst einander folgenden Sätze abfragt, sondernmöglichst solche, die durch Mittelbegriffe noch nichtverknüpft sind. So soll z.B. bewiesen werden, dass Avon Z auszusagen sei; die Mittelbegriffe sollen B, C,D, E sein; man hat also zu fragen, ob A in B enthaltensei, aber dann nicht, ob B in C enthalten, sondern obD in E und erst dann, ob B in C enthalten sei und soweiter. Vollzieht sich der Schluss nur durch einenMittelbegriff, so muss man mit dem Mittelbegriff an-fangen; denn so bleibt das Ziel dem Antwortenden ammeisten verborgen.

Zwanzigstes Kapitel

Nachdem ich dargelegt habe, wann ein Schluss sichergiebt und wie die Begriffe sich dabei verhalten müs-sen, so erhellt damit auch, wenn eine Ueberführungstattfindet und wenn nicht. Sofern nämlich Alles zu-gegeben wird, oder sofern die Antworten abwechselndertheilt werden, also die eine verneinend, die anderebejahend, so kann eine Ueberführung stattfinden.Denn ein Schluss ergab sich, wenn die Vordersätzesich in einer dieser Weisen verhielten, und ist dabei

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der aufgestellte Satz das Gegentheil von dem zu wi-derlegenden Schlusssatze, so muss sich eine Widerle-gung ergeben, da die Widerlegung die Verneinung deszu widerlegenden Satzes erschliesst. Wird aber keinVordersatz zugegeben, so ist die Widerlegung un-möglich, da aus lauter verneinenden Sätzen keinSchluss gezogen werden kann, also auch keine Wider-legung; denn zu jeder Widerlegung gehört einSchluss, aber nicht jeder Schluss enthält nothwendigeine Widerlegung. Dasselbe gilt, wenn kein allgemei-ner Satz in Folge der Beantwortung angesetzt werdenkann; da die Definition der Widerlegung und die desSchlusses auch hierin übereinstimmt.

Einundzwanzigstes Kapitel

So wie man mitunter in der Ansetzung der Begriffegetäuscht wird, so kann es auch bei der Annahme vonSätzen geschehen; z.B. wenn eine und dieselbe Be-stimmung mehreren Dingen unmittelbar zukommt undman bei einem dies nicht bemerkt und meint, dass siein keinem solchen Dinge enthalten sei, während manvon den anderen Dingen es weiss. So soll A in B undin C unmittelbar enthalten sein und diese beiden sol-len in dem ganzen D enthalten sein; wenn man nunglaubt, dass A in allen B enthalten sei und dass dieses

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in D enthalten, und wenn man weiter glaubt, dass Ain keinem C enthalten sei und dass C in dem ganzenD enthalten sei, so wird man über das Enthaltenseinderselben Bestimmung A in demselben GegenstandeC ein Wissen und ein Nicht-Wissen haben.

Eben dahin gehört der Fall, wenn Jemand sich überdie Sätze innerhalb derselben Reihenfolge irrte; wennz.B. A in B enthalten ist, und dieses in C und das Cin D und man meinte, A sei zwar in dem ganzen B,aber in keinem C enthalten; denn dann wird man zugleicher Zeit wissen, dass A in C enthalten, und an-nehmen, dass es nicht darin enthalten. Wäre derglei-chen wohl etwas Anderes, als zu fordern, dass mandas, was man weiss, nicht annehmen solle? Denn manweiss doch gewissermaassen, dass A in dem C ver-mittelst des B enthalten ist, da in dem Allgemeinender Theil enthalten ist; also würde gefordert, dass mandas, was man gewissermaassen weiss, nicht anneh-men soll, was doch unmöglich ist. Was den vorher er-wähnten Fall anlangt, so geht es, wenn der Mittelbe-griff nicht aus derselben Schlussreihe genommenwird, nicht an, die Vordersätze beider Schlüsse inBezug auf beide Mittelbegriffe für wahr anzunehmen,also dass z.B. anzunehmen, dass A in dem ganzen Bund in keinem C enthalten und dass so diese beiden indem ganzen D; denn dann wurde in dem einen Ober-satz das Gegentheil des anderen entweder allgemein

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oder theilweise gesetzt werden. Denn wenn man an-nimmt, dass dem Ganzen, dem B einwohnt, A ein-wohne und man weiss, dass B in dem D enthalten, soweiss man auch, dass A im D enthalten ist, und wennman weiter meint, A sei in keinem von dem enthalten,dem C einwohnt, so glaubt man auch, dass in dem,bei welchem B in einigen enthalten ist, A nicht ent-halten sei. Aber das Glauben, dass Etwas in dem,welchen B zukommt, ganz enthalten sei, und wiederdas Glauben, dass es in einigen dessen, welchen B zu-kommt, nicht enthalten sei, sind Gegensätze und zwarentweder gänzlich oder theilweise.

So darf man also die Voraussetzungen nicht neh-men; aber wohl kann man in einem Vordersätze derbeiden Schlüsse denselben Mittelbegriff ansetzen,oder in den Vordersätzen der beiden Schlüsse ver-schiedene Mittelbegriffe ansetzen; so kann man z.B.setzen, dass A in dem ganzen B und B in D enthaltensei und daneben dass A in keinem C enthalten sei.Denn ein solcher Irrthum gleicht dem Irrthum überEinzelnes. Wenn z.B. A in dem ganzen B und B indem ganzen C enthalten, so wird A in dem ganzen Centhalten sein. Wenn man nun weiss, dass A in allen-von dem enthalten, in dem B enthalten, so weiss manauch, dass A in dem C enthalten, allein es kann sein,dass man C nicht kennt, z.B. wenn A zwei rechteWinkel bezeichnet und B das Dreieck und C ein

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einzelnes, sinnlich wahrnehmbares Dreieck. Hierkönnte man wohl meinen, dass C kein Dreieck sei,obgleich man weiss, dass jedes Dreieck zwei rechteWinkel enthält und man würde dann dasselbe zu-gleich wissen und nicht wissen. Denn das Wissen,dass jedes Dreieck zwei rechte Winkel enthält, istkein einfaches Wissen, sondern besteht darin, dassman sowohl das Wissen des Allgemeinen hat als auchdas Wissen des darunter enthaltenen Einzelnen. Wennman daher zwar von dem C in seinem allgemeinenBegriffe weiss, dass es zwei rechte Winkel enthält,aber den einzelnen Fall nicht erkennt, so wird mannicht das Entgegengesetzte zugleich wissen.

Aehnlich verhält es sich mit dem Beweis in Plato'sMenon, wonach das Lernen ein Wiedererinnern sei.Denn es wird dort keineswegs gefolgert, dass man dasEinzelne schon früher gewusst habe; sondern dassman bei Vorführung des Einzelnen es gleichsam alsin dem Allgemeinen enthalten wiedererkenne; dennManches wisse man sofort, wie z.B. dass die Gestaltzusammen zwei rechte Winkel enthalte, wenn manwisse, dass sie ein Dreieck sei. Ebenso verhält es sichauch in andern Fällen.

Durch das Wissen des Allgemeinen weiss man alsodas Besondere, aber nicht durch ein, diesem Besonde-ren eigenthümliches Wissen. Deshalb kann man auchdarüber sich irren, aber nicht so, dass man

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Entgegengesetztes zugleich weiss, sondern dass mandas Wissen des Allgemeinen hat und sich in dem Be-sonderen irrt. Ebenso ist es nun in den vorhin bespro-chenen Fällen; auch hier ist der Irrthum in Bezug aufden Mittelbegriff kein Gegensatz von dem Wissen desSchlusses; und auch die Annahme je eines der Mittel-begriffe enthält keinen widersprechenden Gegensatz.Denn es kann sein, dass man weiss, A sei in dem gan-zen B und dieses wieder in dem ganzen C enthaltenund dass man doch glaubt, A sei nicht in C enthalten.So kann man wissen, dass alle Mauleselinnen keineJungen gebären und doch glauben, dass diese Maul-eselin gebäre; denn man weiss nicht, dass A in dem Centhalten ist, weil man den in beiden Sätzen enthalte-nen Mittelbegriff nicht mit in Betracht nimmt. Alsoist klar, dass man sich täuschen wird, wenn man deneinen Satz weiss und den andern nicht, nämlich nicht,wie das Wissen des Allgemeinen sich zu dem Wissendes Besondern verhält. Denn von den sinnlichen Din-gen, die nicht in die Wahrnehmung fallen, wissen wirnichts; ja selbst dann, wenn man sie wahrnehmensollte, weiss man nur, dass man das Allgemeine undauch das Besondere weiss, aber man weiss es nichtdurch ein gleichsam thätiges Wissen. Denn das Wis-sen wird in einem dreifachen Sinne gebraucht; entwe-der als ein Wissen des Allgemeinen, oder als ein Wis-sen des Besondern, oder als ein thätiges Wissen;

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deshalb hat auch das Irren diesen dreifachen Sinn.Deshalb kann das Wissen und das Irren bei Ein undDemselben stattfinden, nur nicht in entgegengesetzterWeise. Dies ist dann der Fall, wenn man jeden derbeiden Vordersätze weiss, aber sie nicht vorher näherin Betracht gezogen hat; denn wer annimmt, dass eineMauleselin gebäre, hat nicht das thätige Wissen unddeshalb liegt in seiner Annahme kein Irrthum, welcherseinem Wissen entgegengesetzt ist; denn nur wenn erseinen Irrthum erschlossen hätte, wäre dieser dem All-gemeinen entgegengesetzt.

Man könnte wohl einwenden, dass, wer annimmt,das Gut-sein sei das Schlecht-sein, auch annähme,dass beides dasselbe sei. Denn A soll das Gut-seinbedeuten, B das Schlecht-sein und C wieder dasGut-sein. Wenn jemand nun B und C für dasselbehält, so wird er auch annehmen, dass C das B ist undebenso, dass B das A ist, also auch C das A. Denn sowie, wenn es wahr ist, dass B von dem C und A vondem B gelte, auch wahr sei, dass A von dem C gelte,so wird dies auch gelten, wenn diese Sätze blos ange-nommen werden; und ebenso wird dies auch für dasSein gelten; denn wenn C und B dasselbe sind undebenso B und A, so ist auch C und A dasselbe; folg-lich gelte dies auch für das blosse Meinen.

Dieser Einwand wäre indess nur begründet undfolgte nur dann aus dem Vorstehenden mit

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Nothwendigkeit, wenn man den ersten Satz zugebenmüsste; allein hier dürfte das Falsche liegen, nämlichdass jemand annähme, das Schlecht-sein sei dasGut-sein, ausgenommen wenn dies nur beziehungs-weise behauptet wird, da man solchen Ausspruch invielerlei Sein auffassen kann. Indess bedarf dies einergenauem Untersuchung.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Wenn die äusseren Begriffe sich austauschen las-sen, so lässt sich auch- der Mittelbegriff mit beidenaustauschen; wenn also A von C vermittelst B ausge-sagt werden kann, so findet, wenn der Austauschstatthaft ist und also C in allen A enthalten ist, auchder Austausch von B mit A statt und B ist dann ver-mittelst C in allen A enthalten; ferner tauscht sich Cmit B vermittelst A um. Dasselbe gilt für die vernei-nenden Sätze; wenn also B in dem C enthalten ist undA in B nicht enthalten ist, so wird auch A nicht in Centhalten sein. Wenn nun B mit A sich austauschenlässt, so wird auch C sich mit A austauschen lassen.Denn es sei also B in A nicht enthalten, so ist auch. Cnicht in A enthalten, denn B war in allen C enthalten.Wenn ferner C sich mit B austauschen lässt, so lässtes sich auch mit A; denn von allem, wovon B

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ausgesagt werden kann, kann es auch C. Und wenn Csich mit A austauschen lässt, so lässt sich auch B mitA austauschen, denn C ist in allen B enthalten; aberin dem, worin C enthalten, ist A nicht enthalten. Nurin diesem letzten Falle fängt man bei verneinendenSchlüssen mit dem Schlusssatze an, in den übrigenFällen aber nicht so und auch nicht so wie bei dembejahenden Schlusse.

Wenn ferner A und B sich austauschen lassen undebenso C und D und wenn jedem Dinge entweder Aoder C zukommen muss, so wird dies auch für B undD gelten, dass eines von beiden allen Dingen zu-kommt. Denn wenn allem, dem A zukommt, das Bund allem, dem C zukommt, das D zukommt undwenn allen Dingen entweder A oder C zukommt undnicht beiden zugleich, so ist es klar, dass auch B oderD, aber nicht beide zugleich, allen Dingen zukom-men. Wenn z.B. das Unentstandene unvergänglichund das Unvergängliche unentstanden ist, so muss dasEntstandene vergänglich und das Vergängliche ent-standen sein; denn zwei Schlüsse werden hier verbun-den.

Wenn ferner in allen Dingen entweder das A oderdas B enthalten ist und ebenso entweder das C oderdas D, und beide nicht zugleich in allen Dingen ent-halten sein können, so wird, wenn A und C sich aus-tauschen lassen, auch B und D sich austauschen

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lassen; denn wenn in einem Gegenstande, in welchemC enthalten, B nicht enthalten wäre, so ist klar, dassA darin enthalten sein müsste; und wenn dies mit Ader Fall wäre, so wäre es auch mit C der Fall, dennsie lassen sich austauschen. Es wäre also zugleich Cund D in einem Dinge enthalten; dies ist aber unmög-lich.

Wenn aber A in allen B und in allen C enthalten istund A von keinem andern Dinge ausgesagt werdenkann, und wenn B auch in allen C enthalten ist, somüssen A und B sich austauschen lassen. Denn da Anur von B und C ausgesagt wird und da B nur vonsich selbst und von C ausgesagt wird, so erhellt, dassvon allen Dingen, von welchen A ausgesagt wird,auch B ausgesagt werden kann, mit Ausnahme des Aselbst.

Wenn ferner A und B in dem ganzen C enthaltenist, C aber mit B sich austauschen lässt, so muss A inallen B enthalten sein; denn wenn A in allen C enthal-ten ist und C in allen B, weil sie sich austauschen las-sen, so wird auch A in allen B enthalten sein.

Wenn ferner von zwei Dingen A und B, A wün-schenswerther ist, als B und beide einander entgegen-gesetzt sind und ebenso D wünschenswerther als C,so ist, wenn A und C zusammen wünschenswerthersind als B und D zusammen, das A wünschenswertherals das D. Denn A ist ebenso zu begehren, wie B zu

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fliehen, da sie Gegensätze sind und dasselbe gilt vonD und C, da auch diese einander entgegengesetzt sind.Wenn nun A ebenso stark zu begehren wäre wie D, sowäre auch B so stark zu fliehen wie C. Denn jedesvon beiden ist seinem Gegensatze gleich stark entge-gengesetzt, nämlich das zu Fliehende dem zu Begeh-renden. Folglich wären dann beide A und C zusam-men den beiden B und D gleich. Da nun aber nach derersten Annahme A und C zusammen wünschens-werther sind als B und D, so können sie nicht in glei-chem Maasse wünschenswerth sein, sonst würde auchB und D gleich wünschenswerth sein wie A und C.Wäre aber das D wünschenswerther als das A, sowäre auch das B weniger zu fliehen als das C, denndas Geringere ist dem Geringeren entgegengesetzt.Nun ist aber das grössere Gut und das geringereUebel wünschenswerther als das geringere Gut unddas grössere Uebel, also wäre auch B und D zusam-men wünschenswerther als A und C zusammen. Dieskann aber, der ersten Annahme zu Folge auch nichtsein, also ist A wünschenswerther als D und C weni-ger zu fliehen als B.

Wenn also jeder Liebende in Bezug auf den Ge-liebten lieber wünschte, dass der Geliebte ihm zuWillen sein möchte (das A), wenn er ihm auch nichtwirklich zu Willen wäre (das C), als dass der Gelieb-te ihm wirklich zu Willen wäre (das D), ohne dies zu

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mögen (das B), so erhellt, dass ein Verhalten in derWeise das A wünschenswerther ist, als das zu Willensein. Deshalb ist die liebende Gesinnung des Gelieb-ten wünschenswerther, als der sinnliche Genuss.Wenn dies nun meistentheils der Fall ist, so ist esauch das Ziel der Liebe. Der sinnliche Genuss ist alsoüberhaupt nicht das Ziel der Liebe, oder er ist es nurals Mittel um geliebt zu werden; denn auch die übri-gen Bestrebungen und Künste verhalten sich so.

Es ist nun klar, wie sich die Begriffe in Bezug aufdie Umkehrung und in Bezug auf das Wünschens-werthere oder das mehr zu Fliehende verhalten. Nun-mehr habe ich wohl darzulegen, dass nicht blos diedialektischen und die beweisenden Schlüsse sich inden vorerwähnten Figuren vollziehen, sondern auchdie Schlüsse der Redner und dass überhaupt jedeUeberzeugung darauf beruht, mag das Verfahrendabei sein, welches es wolle; denn die Ueberzeugungberuht in allen Dingen entweder auf Schlüssen oderauf der Induktion.

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Die Induktion und der Schluss aus der Induktion istnun ein Schliessen des Oberbegriffs durch den Unter-begriff vermittelst des Mittelbegriffs. Wenn z.B. vonden Begriffen A und C, B der Mittelbegriff ist, so istdie Induktion ein Zeichen vermittelst des Begriffes C,dass A in B enthalten ist; denn so vollzieht man dieInduktionen. Es sei z.B. A das Langlebende, B daskeine Galle Habende und C das einzelne Langle-bende, wie der Mensch, das Pferd, das Maulthier. Indem ganzen C ist nun das A enthalten, denn alles Ein-zelne, was keine Galle hat, ist langlebend; allein auchB, das keine Galle Habende ist in dem ganzen C ent-halten. Wenn nun C mit B sich austauschen lässt undC nicht über den Mittelbegriff hinausgeht, so muss Ain B enthalten sein; denn ich habe vorher gezeigt,dass, wenn zwei Begriffe demselben dritten zukom-men und mit einem dieser beiden Begriffe der Aussen-begriff ausgetauscht werden kann, dass dann in demaustauschbaren Begriffe auch der andere von den bei-den ausgesagten Begriffen enthalten ist. Man mussaber unter C den Inbegriff aller einzelnen darunterenthaltenen Dinge verstehen; denn die Induktion ge-schieht durch alle diese Einzelnen.

Ein solcher induktiver Schluss geht von einen

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ersten und unvermittelten Vordersatz aus; denn beiSätzen, die einen Mittelbegriff haben, geschieht derSchluss durch diesen; wo aber dieser Mittelbegrifffehlt, geschieht der Schluss durch Induktion. Auchbildet in einer Art die Induktion einen Gegensatz zumSchluss; letzterer zeigt vermittelst des Mittelbegriffs,dass der Oberbegriff dem Unterbegriff zukomme; dieInduktion zeigt dagegen durch den Unterbegriff, dassder Oberbegriff dem Mittelbegriff zukomme. DerNatur nach früher und begreiflicher ist der Schlussdurch den Mittelbegriff, für uns ist aber der Schlussdurch Induktion der deutlichere.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Ein Beispiel ist es, wenn vermittelst eines dem Un-terbegriff Gleichen gezeigt wird, dass der Oberbegriffdem Mittelbegriff einwohnt. Es muss aber bekanntsein, dass der Mittelbegriff in dem Unterbegriff undder Oberbegriff in dem Gleichen enthalten ist. Es seiz.B. A das Schlechte und B das Erheben des Kriegesgegen ein Nachbarvolk, und C der Krieg der Athenergegen die Thebaner, und D der Krieg der Thebanergegen die Phokäer. Wenn man nun zeigen will, dasses schlecht sei, wenn man die Thebaner bekriegt, somuss man den Satz annehmen, dass es schlecht ist,

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die Nachbarn zu bekriegen; dieser Satz wird aberdurch die gleichen Fälle glaubwürdig, wie durch denKrieg der Thebaner gegen die Phokäer. Da nun derKrieg gegen die Nachbarvölker schlecht ist und derKrieg gegen die Thebaner gegen ein Nachbarvolkgeht, so erhellt, dass der Krieg gegen die Thebanerschlecht ist. Dass hier B dem C und dem D einwohnt,ist klar (denn beide sind ein Kriegführen gegen Nach-barvölker); ebenso dass A in D enthalten ist (dennden Thebanern brachte der Krieg gegen die Phokäerkeinen Nutzen); dass aber A in dem B enthalten ist,wird durch D gezeigt. Ebenso verfährt man, wenndurch mehrere ähnliche Fälle glaubwürdig gemachtwerden soll, dass von dem Mittelbegriffe der Oberbe-griff ausgesagt werden kann. Es erhellt also, dass dasBeispiel sich nicht wie der Theil zum Ganzen, auchnicht wie das Ganze zu dem Theil verhält, sondernwie ein Theil zu einem anderen Theile, insofern beidezwar unter demselben Begriffe enthalten sind, aberdas Beispiel der bekanntere Fall ist. Vor der Indukti-on unterscheidet sich das Beispiel dadurch, dass jeneaus allem Einzelnen beweist, dass der Oberbegriff indem mittleren enthalten ist und dass sie den Schlussnicht für den Unterbegriff zurecht macht; aber dasBeispiel thut dies und führt den Beweis auch nichtaus allen Einzelnen.

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Die Apagoge findet statt, wenn es klar ist, dass derOberbegriff in dem mittleren enthalten ist, aber un-kannt, ob der mittlere in dem unteren enthalten ist,aber dabei letzteres doch glaubwürdig ist, oder wenig-stens glaubwürdiger, als das, was der Schlusssatz be-sagt. Ferner wenn nur wenige Zwischenglieder zwi-schen dem Unterbegriff und dem Mittelbegriff sind,denn dann ist das Wissen, dass der Oberbegriff indem Unterbegriff enthalten, näher. So sei z.B. A dasLehrbare, B das Wissen, C die Gerechtigkeit. Hier istklar, dass das Wissen lehrbar ist, aber es ist unbe-kannt, ob diese Tugend der Gerechtigkeit ein Wissenist. Wenn nun der Satz B C eben so glaubwürdig odernoch mehr es ist als der Satz A C, so ist dies eineApagoge, denn man kommt dem Wissen von A C,was man bisher nicht hatte, näher, wenn man dasWissen von B C zu Hülfe nimmt. Ebenso auch dann,wenn der Mittelbegriffe für B in C nur wenige sind,denn auch dann kommt man dem Wissen von A Cnäher. So sei z.B. D die Quadratur, E die geradlinigeFigur, Z der Kreis; wenn nun für den Satz E Z, näm-lich dass der Kreis sich in eine geradlinige Figur um-wandeln lässt, nur ein Mittelsatz nöthig wäre, näm-lich, dass der Kreis vermittelst der Halbmonde einer

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geradlinigen Figur gleich werde, so würde man demWissen, dass die Quadratur des Kreises geschehenkönne, näher stehen. Ist aber der Satz B C nichtglaubwürdiger als der Satz A C, oder sind der Zwi-schenglieder nicht blos wenige für B in C, so nenneich solchen Fall nicht eine Apagoge; eben so dannnicht, wenn der Satz B C unvermittelt ist; denn einsolches ist ein Wissen.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Der Einwurf ist ein Satz, welcher das Gegentheileines Vordersatzes aussagt. Von dem Vordersatzeeines Schlusses unterscheidet er sich darin, dass derEinwurf beschränkt lauten kann, während bei demVordersatze dies entweder überhaupt nicht statthaftist oder wenigstens nicht bei Schlüssen, die allgemeinlauten. Der Einwurf kann auf doppelte Weise und inzwei Figuren angebracht werden; doppelt, weil jederEinwurf entweder allgemein oder beschränkt lautenkann, und in zwei Figuren, weil er als Gegensatzgegen den Vordersatz aufgestellt werden muss, undGegensätze nur in der ersten und dritten Figur gefol-gert werden können. Denn wenn der Vordersatz be-hauptet, dass Etwas in allen enthalten sei, so kannman einwerfen, dass es in keinem enthalten oder in

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einigen nicht enthalten sei und davon kann das »inkeinem« nur in der ersten Figur, und das »in einigennicht« nur in der dritten Figur geschlossen werden. Essei z.B. A der Satz: Eine Wissenschaft sein, und Bseien: Gegentheile. Wenn nun Jemand behauptet, vonGegentheiligem gebe es nur eine Wissenschaft, somacht man entweder den Einwurf, dass überhaupt esnicht ein und dieselbe Wissenschaft über Entgegenge-setztes gebe und zu dem Entgegengesetzten gehörtendie Gegentheile, so dass also die erste Figur sich er-giebt; oder dass es von Bekanntem und Unbekanntemnicht eine Wissenschaft gebe, was die dritte Figur ist;denn von dem C, welches das Bekannte und Unbe-kannte bezeichnen soll, ist es zwar wahr, dass es Ge-gentheile enthält, allein falsch ist es, dass es davoneine Wissenschaft gebe.

Eben so verhält es sich auch, wenn der Vordersatzverneinend lautet. Denn behauptet Jemand, dass esvon den Gegentheilen nicht ein und dieselbe Wissen-schaft gebe, so könne man einwerfen, entweder: dassvon allen widersprechenden Gegensätzen oder von ei-nigen Gegentheilen es eine Wissenschaft gebe, z.B.von dem Gesunden und Kranken; das Erstere wirdnun in der ersten und das Letztere in der dritten Figurbewiesen. Ueberhaupt muss man, wenn man den Ein-wurf allgemein aufstellen will, den Gegensatz gegenden allgemein gefassten Vordersatz aufstellen; wenn

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also behauptet wird, dass es von allen Gegentheileneine Wissenschaft nicht gebe, so muss man einwer-fen, dass es von allen Gegensätzen eine Wissenschaftgebe; dann muss der Einwurf nothwendig in der er-sten Figur aufgestellt werden; denn Mittelbegriff wirdhier der allgemeine, in Verhältniss zu dem in der Be-hauptung gesetzte Begriff. Lautet aber der Einwurfnur beschränkt, so muss er sich auf das Allgemeine,von dem der Vordersatz ausgesagt wird, beziehen;z.B. dass es von Bekanntem und Unbekanntem nichteine Wissenschaft gebe; denn der Begriff: »Gegen-theil« ist dazu das Allgemeine, und es ergiebt sichdann die dritte Figur. Der Mittelbegriff ist hier der be-schränkte Begriff, wie hier das Bekannte und das Un-bekannte. In den Figuren, in welchen das Entgegenge-setzte geschlossen werden kann, in diesen versuchtman auch die Einwürfe einzukleiden, und deshalbkann man sie nur in diesen beiden Figuren anbringen,denn nur in diesen gehen die Schlüsse auf das Entge-gengesetzte, da in der zweiten Figur die Schlusssätzenicht bejahend lauten. Dies gilt auch dann, wenn derin der zweiten Figur aufgestellte Einwurf etwa einerweiteren Begründung bedürfte; wenn z.B. nicht zuge-geben würde, dass A in B enthalten sei, weil das Cvon dem A nicht ausgesagt werde; denn dies kann erstaus anderen Vordersätzen dargelegt werden. Alleinman darf den Einwurf nicht auf Anderes ausdehnen,

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sonderen den anderen Vordersatz, der zum Beweisdes Einwurfs nöthig ist, als einen selbstverständlichenbei der Hand haben. Deshalb kann auch kein Zeichenaus der zweiten Figur erschlossen werden.

Man muss jedoch auch auf die anderen zu erheben-den Einwürfe Acht haben, wie z.B. auf die aus demGegentheilen und aus dem Aehnlichen und aus derMeinung; eben so ob man nicht den beschränktenEinwurf in der ersten Figur und dem verneinenden inder zweiten Figur begründen könne.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Das Wahrscheinliche und das Zeichen sind nichtdasselbe. Wahrscheinlich ist ein der Meinung entspre-chender Satz; denn das, wovon man weiss dass esmeistentheils geschieht oder nicht geschieht, oderdass es meistentheils ist oder nicht ist, das ist wahr-scheinlich; also z.B. dass die Neidischen hassen unddass die Verliebten freundschaftlich zu dem Geliebtengesinnt sind. Das Zeichen will dagegen ein durchausgewisser und nothwendiger oder auch ein der Mei-nung entsprechender Satz sein; denn dasjenige, aufGrund dessen Seins oder Gewordenseins eine Sachevorher ist oder nachher wird, ist ein Zeichen des Ge-wordenseins oder des Seins der Sache. Das

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Enthymem ist nun ein Schluss aus Wahrscheinlichemoder aus Zeichen. Das Zeichen wird aber in dreifacherWeise angesetzt, so vielfach, wie der Mittelbegriff inden Figuren; man kann daher das Zeichen setzen, ent-weder wie in der ersten Figur, oder wie in der zwei-ten, oder wie in der dritten Figur. Wenn man z.B. be-weisen will, dass eine Frau schwanger ist, weil sieMilch hat, so benutzt man das Zeichen in der erstenFigur; denn der Mittelbegriff ist das Milch-haben; Aist das Schwanger-sein, B das Milch-haben, C dieFrau. Aber der Satz, dass die Weisen gut sind, dennPittakos war ein Weiser, wird in der dritten Figur be-wiesen; A ist da das Gute, B die Weisen und C Pitta-kos. Es ist nun zwar richtig, dass A und B von C aus-gesagt werden kann, aber man spricht den einen Vor-dersatz nicht aus, weil er bekannt ist und nimmt nurden andern Vordersatz herbei. Wenn dagegen dasSchwangersein einer Frau daraus entnommen wird,weil sie blass ist, so will man das Zeichen in derzweiten Figur benutzen; denn da schwangere Frauenblass sind und es auch bei dieser sich zeigt, so glaubtman bewiesen zu haben, dass sie schwanger ist. DasBlass-sein ist hier A, das Schwanger-sein B und dieFrau C. Spricht man blos den einen Vordersatz aus,so ist es ein blosses Zeichen; nimmt man aber auchden zweiten Vordersatz hinzu, so wird es ein Schluss.Letzteres geschieht z.B. wenn man sagt: Pittakos ist

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freigebig; denn die Ehrliebenden sind freigebig undPittakos ist ehrliebend; oder: die Weisen sind gut,denn Pittakos ist gut, aber auch ein Weiser. In dieserWeise werden die Schlüsse gezogen. Dabei ist abernur der Schluss in der ersten Figur unwiderleglich,wenn seine Vordersätze wahr sind; (denn er lautet all-gemein); dagegen kann der in der dritten Figur gezo-gene Schluss widerlegt werden, wenn auch derSchlusssatz wahr ist, weil der Schluss weder allge-mein ist, noch die Sache trifft; denn wenn auch Pitta-kos gut ist, so müssen es deshalb nicht auch die übri-gen Weisen sein. Der Schluss mittelst der zweitenFigur ist immer und durchaus widerlegbar; denn wenndie Begriffe sich so zu einander verhalten, giebt esniemals einen Schluss, da, wenn auch die Schwangernblass sind und diese Frau blass ist, sie doch nichtschwanger zu sein braucht. Es kann deshalb zwarWahres in allen Zeichen enthalten sein, aber sie unter-scheiden sich dabei in der angegebenen Weise.

Man könnte die Zeichen auch so unterscheiden,dass das, welches als Mittelbegriff benutzt wird, alsKennzeichen gilt (denn man sagt, dass das Kennzei-chen das Wissen bewirkt und dieses Wissen bewirkehauptsächlich der Mittelbegriff), oder dass nur dieZeichen, welche als Aussenbegriffe bei dem Schlüssebenutzt werden, Zeichen genannt werden, aber das,welches als Mittelbegriff dient, Kennzeichen; denn

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das Zeichen, welches in der ersten Figur benutzt wer-den kann, ist das wahrscheinlichste und am meistenwahre.

Das Schliessen aus körperlichen Zeichen auf See-lenzustände ist möglich, wenn man zugiebt, dass derKörper und die Seele sich gleichzeitig verändern, soweit es sich um natürliche Zustände handelt; denn werz.B. die Musik erlernt hat, mag sich auch vielleichtetwas in seiner Seele verändert haben; allein ein sol-cher Zustand gehört nicht zu den uns natürlichen Zu-ständen, es muss vielmehr eine natürliche Verände-rung sein, wie Zorn und Begierden. Gäbe man alsojenen Satz zu und eben so, dass es nur ein Zeichenvon jedem einzelnen Seelen-Zustande giebt und hätteman das, zu jeder nicht weiter in verschiedene Artenzerfallenden Gattung von Geschöpfen gehörende Zei-chen erkannt, so würde man Physionomik üben kön-nen. Wenn nämlich jeder nicht weiter in verschiedeneArten zerfallenden Gattung ein Zustand eigenthümlichist; wie z.B. den Löwen die Tapferkeit, so muss esdann auch ein Zeichen dafür geben; denn es ist einge-räumt, dass Körper und Seele mit einander eine Ver-änderung erleiden. Dies Zeichen soll nun der Besitzvon grossen Gliedmaassen sein, was zwar auch beianderen Gattungen vorkommen kann; aber nichtdurchaus und allgemein in allen Einzelnen andererGattungen; denn das Zeichen ist in dieser Weise

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eigenthümlich, dass der zugehörige Seelenzustand derganzen Gattung eigenthümlich ist, und nicht blos beieinzelnen Exemplaren vorkommt; auch stimmt der ge-wöhnliche Sprachgebrauch damit überein. Es kanndeshalb derselbe Seelenzustand zwar auch in einer an-deren Gattung vorkommen; der Mensch oder ein an-deres Geschöpf kann tapfer sein, aber dann wird erauch das entsprechende Zeichen besitzen; da nur einZeichen für einen Zustand besteht. Ist dies der Fall,so wird man auch diese Zeichen von denjenigen Ge-schöpfen entnehmen können, bei welchen blos einsolcher Seelenzustand ihnen eigenthümlich ist; jederSeelenzustand hat dann sein Zeichen , da er einshaben muss und so wird man Physiognomik übenkönnen. Hat aber eine Gattung zwei eigenthümlicheSeelenzustände, wie der Löwe die Tapferkeit und dieGrossmuth, wie wird man da erkennen können, wel-ches von dem ihm eigenthümlichen Zeichen demeinen und welches dem anderen Seelenzustande ange-hört? Indess wird dies dann geschehen können, wennauch in einer anderen Gattung beide Zustände beiEinzelnen, aber nicht bei Allen vorkommen, undwenn bei Einzelnen nur einer von beiden Zuständenvorkommt, indem sie den einen Seelenzustand haben,aber den anderen nicht. Wenn also in einer anderenGattung ein Einzelnes zwar tapfer, aber nichtgrossmüthig ist, es aber von den beiden Zeichen nur

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das eine hat, so ist klar, dass dieses Zeichen auch beidem Löwen das Zeichen der Tapferkeit ist. Bei derPhysiognomik wird also in der ersten Figur geschlos-sen; der Mittelbegriff muss dabei mit dem Oberbegrif-fe sich austauschen lassen, aber über den Unterbegriffhinausreichen und sich mit ihm nicht austauschen las-sen. Es seien z.B. A die Tapferkeit, B die grossenäusseren Gliedmaassen und C der Löwe. Hier ist indem ganzen C das B enthalten; allein B kommt auchnoch Anderen zu. Dagegen ist in dem ganzen B das Aenthalten, aber A in keinem weiter, vielmehr lassen Aund B sich austauschen, denn wenn dies nicht der Fallwäre, so gehörte nicht blos ein Zeichen zu einem See-lenzustande.

Ende.

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Zweite Analytikenoder

Lehre vom Erkennen

(Analytika hystera)

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Erstes Buch

Erstes Kapitel

Aller Unterricht und alles Lernen geschieht, soweitbeides auf dem Denken beruht, mittelst eines schonvorher bestandenen Wissens. Es erhellt dies, wennman die sämmtlichen Wissenschaften betrachtet; dennman erlangt die mathematischen Wissenschaften aufdiese Weise und ebenso jede andere Wissenschaft.Ebenso verhält es sich mit den Begründungen durchSchlüsse und durch Induktion; bei beiden geschiehtdie Belehrung vermittelst eines schon vorher bestan-denen Wissens; bei jenen werden Sätze angenommen,wie sie bei allen Verständigen gelten; bei diesen wirddas Allgemeine aus der Kenntniss des Einzelnen ab-geleitet. Auch die Redner überzeugen auf gleicheWeise; entweder durch Beispiele, also durch Indukti-on, oder durch glaubhafte allgemeine Sätze, was einSchliessen ist.

Man muss aber in zweifacher Weise ein Voraus-wissen haben; bei manchen muss man voraussetzen,dass es ist; bei anderen muss man wissen, was dasAusgesagte ist; bei manchen muss beides vorhandensein. So muss man schon wissen, dass von jedemDinge entweder die Bejahung oder die Verneinung

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wahr ist; bei dem Dreieck aber, was es bedeutet; undbei der Eins muss man beides vorherwissen, sowohldass sie ist, als was sie bedeutet. Von diesen Bestim-mungen ist nämlich nicht jede uns in gleicher Weisebekannt; manches lernt man kennen wo man schonvorher etwas davon wusste, manches auf einmal, wiez.B. das, was unter einem Allgemeinen steht, welchesman schon kannte. So wusste man schon, dass dieWinkel jedes Dreiecks zweien rechten gleich sind;aber dass diese, in dem Halbkreis eingezeichneteFigur ein Dreieck ist, erkennt man gleichzeitig mitdem Vorgeführtwerden. Von Manchem geschieht dasLernen auf diese Weise und man lernt das Besonderenicht durch einen Mittelbegriff kennen; nämlich alles,was als Einzelnes ist und nicht sich auf ein unterlie-gendes bezieht. Ehe es aber vorgeführt wird, oder derSchluss gezogen wird, findet in einer gewissen Weiseschon ein Wissen statt, in einer anderen Weise abernicht. Denn wenn man nicht weiss, ob etwas über-haupt besteht, wie kann man da wissen, dass dessenWinkel überhaupt zweien rechten gleich sind? Viel-mehr ist klar, dass man zwar so weit weiss, als mandas Allgemeine kennt; dass man es aber nicht im vol-len Sinne weiss. Wäre dies nicht so, so geriethe manin die im Menon dargelegte Schwierigkeit, dass manentweder nichts lernen kann, oder nur das, was manschon weiss.

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Diese Schwierigkeit ist also nicht so zu lösen, wieEinige versucht haben, indem sie die Frage stellten:Weisst Du also, dass jede Zwei gerade ist? oderweisst Du es nicht? Bejahte man nun die Frage, soführten sie eine Zwei an, von welcher der Gefragtenicht glaubte, dass sie bestehe, also auch nicht, dasssie gerade sei. Sie lösen nämlich die Schwierigkeit inder Weise, dass sie nicht behaupten, von jeder Zweizu wissen, dass sie gerade sei, sondern nur von denen,die sie als eine Zwei kennen. Allein sie wissen dochdas, wovon sie den Beweis innehaben und erlangthaben, und sie haben denselben nicht so erlangt, dassjener Satz nur von denjenigen Dreiecken gelte, vondenen sie wissen, dass sie Dreiecke oder dass sie Zah-len sind, sondern als von allen Zahlen oder allenDreiecken geltend; denn kein Obersatz wird so ange-setzt, dass er nur von den Dir bekannten Zahlen, odervon den Dir bekannten geradlinigen Figuren gelte,sondern, dass er von allen gelte. Sonach steht dem,wie ich glaube, nichts entgegen, dass man das wasman lernt, gewissermaassen schon weiss und gewis-sermaassen doch nicht weiss. Widersinnig ist es nicht,wenn man das, was man lernt, gewissermaassenschon weiss, sondern nur, wenn man es in der Bezie-hung und in der Weise schon wusste, in der man eslernt.

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Zweites Kapitel

Man glaubt dann einen Gegenstand voll und nichtim sophistischen Sinne in blos nebensächlicher Weisezu wissen, wenn man die Ursache zu kennen glaubt,durch welche der Gegenstand ist, so dass jene die Ur-sache von diesem ist und dass sich dies nicht andersverhalten kann. Es ist klar, dass das Wissen solcherArt ist, denn von den Nicht-Wissenden und Wissen-den glauben jene und wissen diese, dass dasjenige,was sie vollständig wissen, sich unmöglich andersverhalten kann. Ob es nun noch eine andere Art desWissens, neben dem Wissen auf Grund eines Bewei-ses giebt, werde ich später sagen; jetzt sage ich, dasses auch ein Wissen auf Grund eines Beweises giebt.Unter Beweis verstehe ich aber einen wissenschaftli-chen Schluss, und wissenschaftlich nenne ich den,durch dessen Innehaben man weiss. Wenn nun dasWissen so ist, wie ich hier angenommen habe, somuss nothwendig die beweisbare Wissenschaft ausSätzen hervorgehen, welche wahr sind, und welchedie ersten und unvermittelt und bekannter und frühersind, und welche die Gründe für den Schlusssatz sind;denn so werden sich auch die eigenthümlichen ober-sten Grundsätze für das Bewiesene verhalten. EinSchluss kann allerdings auch ohne solche Grundsätze

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zu Stande kommen, aber nicht ein Beweis; denn ohne-dem wird der Schluss keine Erkenntniss bewirken.Diese Bestimmungen müssen also wahr sein, weilman das Nicht-Seiende nicht wissen kann, wie z.B.die Messbarkeit der Diagonale des Quadrats durch dieSeite desselben; sie müssen ferner oberste und unbe-weisbare Bestimmungen sein, denn sonst müsste mandie Kenntniss ihres Beweises haben, um sie zu wis-sen, da das Wissen der Dinge, wofür ein Beweis undzwar nicht blos in nebensächlicher Beziehung vorhan-den ist, darin besteht, dass man ihren Beweis innehat.Ferner müssen jene Bestimmungen die Gründe bildenund bekannter und früher sein; und zwar die Gründedeshalb, weil man etwas erst dann weiss, wenn manseine Ursache kennt und sie müssen früher sein, weilsie Ursachen sind und vorher bekannt, nicht blos inder Weise eines Verstehens, sondern auch in derWeise des Wissens, dass sie sind. Denn das der Naturnach Frühere ist nicht dasselbe mit dem Früheren füruns und ebenso ist das der Natur nach Bekannterenicht dasselbe mit dem für Uns Bekannterem. Unterdem für Uns Früheren und Bekannteren verstehe ichdas, was der sinnlichen Wahrnehmung näher liegt;unter dem schlechthin Früheren und Bekannteren dasdavon Entferntere. Am entferntesten ist das am mei-sten Allgemeine; am nächsten das Einzelne; beidesind einander entgegengesetzt. Aus den Ersten

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abgeleitet ist das, was aus seinen eigenthümlichenobersten Grundsätzen abgeleitet ist; denn Erstes undoberster Grundsatz sind dasselbe. Ein obersterGrundsatz ist der unvermittelte Vordersatz eines Be-weises und unvermittelt ist ein Vordersatz, dem keinanderer vorausgeht. Vordersatz ist die Aussage deseinen von zwei entgegengesetzten Sätzen wodurchetwas einem andern Gegenstande beigelegt wird; erist dialektisch, wenn von diesen beiden Sätzen dereine oder der andere beliebig angenommen wird; er istbeweisend, wenn einer von beiden bestimmt als derwahre hingestellt wird. Aussage ist der eine oder derandere von diesen entgegengesetzten Sätzen. Ein Ge-gensatz sind solche zwei Sätze, welche kein Dritteszwischen sich gestatten. Theile eines Gegensatzessind jeder dieser beiden Sätze, von denen der eineetwas von einem Gegenstande bejaht und der anderees verneint. Den unvermittelten Obersatz einesSchlusses, der nicht zu beweisen ist, nenne ich These,wenn der Lernende ihn nicht innezuhaben braucht;wenn aber der, welcher irgend etwas lernen will, ihnnothwendig innehaben muss, so ist es ein Axiom. Sol-cher giebt es einige und man hat sie gemeiniglich mitdiesem Namen bezeichnet. Nimmt man beliebig einenvon den beiden Theilen eines Gegensatzes als Ober-satz, z.B. wenn ich sage, dass Etwas ist, oder dass esnicht ist, so ist dies eine Hypothese; ohne dem ist es

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eine Definition, denn die Definition ist zwar eineThese, so lautet z.B. die arithmetische Definition,dass die Eins das der Grösse nach Untheilbare sei;aber eine Hypothese ist dies nicht, denn die Angabe,was die Eins ist und die Angabe, dass die Eins ist,sind nicht dasselbe.

Da die Ueberzeugung und die Erkenntniss inBezug auf einen Gegenstand darauf beruht, dass mandafür einen solchen Schluss habe, welchen man Be-weis nennt und ein solcher Schluss es dadurch ist,dass die Sätze, aus denen er sich ableitet, wahr sind,so muss man die obersten Grundsätze, entwedersämmtlich oder einige vorher nicht blos kennen, son-dern auch in einen höherem Grade kennen; denn das,durch welches ein anderes ist, ist immer in höheremGrade; so liebt man dasjenige, weshalb man ein ande-res liebt, in höherem Grade. Wenn also unsre Ueber-zeugung und unser Wissen auf den obersten Grund-sätzen ruht, so wissen wir diese auch in höheremGrade und vertrauen ihnen in höherem Maasse, weilwir erst durch diese Grundsätze das Weitere wissen.Es ist nämlich nicht möglich, dasjenige, was mannicht weiss und das wozu man sich nicht besser ver-hält, als wenn man es wüsste, mehr zu wissen, alsdas, was man wirklich weiss. Dies würde aber ge-schehen, wenn man nicht schon ein Wissen vor dem-jenigen Wissen hätte, auf welches man vermittelst des

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Beweises vertraut. Nothwendig muss also den ober-sten Grundsätzen, entweder den sämmtlichen oder ei-nigen mehr vertraut werden, als der Schlussfolgerung.Wer also ein Wissen mittelst des Beweises erwerbenwill, der muss nicht blos die obersten Grundsätzemehr kennen und ihnen mehr vertrauen, als dem, wasbewiesen wird, sondern es darf ihm auch das, wasdiesen Grundsätzen widerspricht und woraus auf dasEntgegengesetzte und Falsche geschlossen werdenkönnte, weder glaubhafter noch bekannter sein; dennder Wissende muss schlechthin unerschütterlich inseiner Ueberzeugung sein.

Drittes Kapitel

Manche meinen, dass es überhaupt keine Wissen-schaft gebe, weil man vorher schon die oberstenGrundsätze wissen müsse; Andere erkennen zwar dieWissenschaften an, aber behaupten auch, dass Allesbeweisbar sei. Indess sind diese beiden Meinungenweder wahr, noch nothwendig. Die, welche das Wis-sen überhaupt bestreiten, behaupten, dass man dabeiin das Endlose gerathe, da man das Folgende durchdas Frühere nicht wissen könne, wenn es kein Erstesgebe. In diesem Punkte haben sie Recht, denn mankann das Endlose nicht bis zum Ende durchgehen.

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Wollte man aber, sagen sie weiter, bei einem Satzestehen bleiben und ihn als Ersten nehmen, so könnedieser nicht als ein gewusster gelten, weil er nicht be-wiesen sei, und weil nur das Bewiesene nach ihnenals gewusst gelten kann. Könne man also die oberstenGrundsätze nicht wissen, so könne man auch das ausihnen Abgeleitete weder überhaupt, noch im eigentli-chen Sinne wissen, sondern nur bedingt, sofern näm-lich jene obersten Sätze wahr seien.

Die Andern stimmen zwar darin mit jenen, dass sienur ein Wissen, was auf Beweisen ruht, als solchesanerkennen, allein sie behaupten, dass trotzdem Allesbewiesen werden könne, weil der Beweis auch im Zir-kel geschehen und die Sätze gegenseitig aus einanderbewiesen werden könnten.

Ich behaupte dagegen, dass jede Wissenschaft zwarauf Beweisen beruhen muss, aber dass das Wissen derunvermittelten Grundsätze nicht beweisbar ist. Unddass dies nothwendig so sein muss, ist klar. Denn daein Wissen von den früheren Sätzen, aus welchen derBeweis geführt wird, nothwendig ist, man aber einmalbei unvermittelten Sätzen anhält, so müssen diesenothwendig unbeweisbar sein. Dies ist meine Ansichtund ich behaupte, dass es nicht blos Wissenschaftengiebt, sondern auch oberste Grundsätze derselben,durch welche wir die Begriffe des Schlusses kennenlernen.

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Dass aber ein vollständiger Beweis im Zirkel nichtmöglich ist, ist klar, wenn der Beweis aus Früheremund Bekannterem geführt werden muss; denn diesel-ben Sätze können nicht zugleich die früheren und diespäteren von sich sein, wenn man sie nicht in ver-schiedenen Sinne nimmt, wie z.B. einmal als das Frü-here für Uns, und das anderemal als das Frühere ansich, welcher Doppelsinn durch die Induktion deutlichwird.

Wenn es sich nun so verhält, so wäre das volleWissen von jenen Andern nicht richtig definirt, son-dern es wäre dann zwiefach, oder das Wissen aus derzweiten Art des Beweises, welche von dem Uns Be-kannteren ausgeht, wäre kein volles Wissen. Diejeni-gen, welche einen Beweis im Zirkel behaupten, gera-then indess nicht blos in die eben erwähnte Schwie-rigkeit, sondern sie sagen auch im Grunde weiternichts, als dass dieses ist, wenn dieses ist; in welcherWeise allerdings alles leicht zu beweisen ist. Es istklar, dass dies herauskommt, wenn man drei Begriffesetzt, denn es macht keinen Unterschied, ob man sagt,der Beweis biege sich durch viele oder wenige Begrif-fe im Kreise um, und eben so wenig ob durch wenigeoder durch zwei Begriffe. Wenn nämlich, sofern A ist,B sein muss, und wenn dieses ist, C sein muss, sowird, wenn A ist, auch C sein. Wenn nun, sofern Aist, B sein muss, und sofern B ist, A sein muss (denn

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dies ist der Beweis im Zirkel), so kann auch A für Cgesetzt werden. Sagt man also, dass sofern B sei, Asei, so sagt man damit, dass C sei und zwar deshalb,weil sofern A ist, C ist; aber C ist dasselbe mit A.Wer also einen Beweis im Zirkel behauptet, behauptetnichts anderes, als dass wenn A ist, A ist. In dieserWeise lässt sich alles leicht beweisen. Indess ist diesdoch nur da möglich, wo zwei Begriffe wechselseitigvon einander ausgesagt werden können, wie dies beiden einander eigenthümlich zugehörigen der Fall ist.Setzt man also blos Eines, so habe ich bereits gezeigt,dass dadurch niemals nothwendig wird, dass ein An-deres sei. (Unter »Eines« verstehe ich, dass das ebenGesagte gilt, sowohl wenn man nur einen Begriff, alswenn man nur einen Satz ansetzt.) Dagegen kann diesgeschehen, wenn mindestens zwei Sätze angesetztwerden und dann kann man auch schliessen. Wennalso A von B und C ausgesagt wird und wenn dieseletzteren jedes von dem andern und auch von A aus-gesagt werden, so kann man allerdings alles Verlang-te durch einander in der ersten Figur beweisen, wieich in den Büchern über die Schlüsse gezeigt habe.Ich habe aber auch dort gezeigt, dass in den übrigenFiguren dann kein Schluss zu Stande kommt, wenig-stens nicht in Bezug auf die angenommenen Vorder-sätze.

Bei Begriffen aber, die nicht wechselseitig

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voneinander ausgesagt werden können, ist kein Zir-kelbeweis möglich. Da nun dergleichen Begriffewenig in den Beweisen vorkommen, so erhellt, dassdie Behauptung, bei den Beweisen werde Eines wech-selweise durch das Andere bewiesen und in dieserWeise könne der Beweis von Allem geführt werden,leer und unmöglich ist.

Viertes Kapitel

Da sonach Alles, von dem ein volles Wissen be-steht, sich nicht anders, als dieses Wissen es besagt,verhalten kann, so wird alles zur beweisbaren Wis-senschaft gehörende Wissen ein nothwendiges sein,und beweisbar ist das Wissen, was man dadurch innehat, dass man dessen Beweis besitzt. Der Beweis istaber ein Schluss aus Nothwendigem. Es ist also zuuntersuchen, aus welchen Bestimmungen ein Beweissich ergiebt und wie diese beschaffen sein müssen.Vorher werde ich aber noch angeben, was ich unter:»von Allem«, unter: »An sich« und unter: »das Allge-meine« verstehe.

Unter »Von Allem« verstehe ich das, was nichtblos von einigen gilt und von anderen nicht und wasnicht blos zu einer Zeit gilt und zu einer andern Zeitnicht. Wenn also das Geschöpf von allen Menschen

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gilt und es wahr ist, dass dieser ein Mensch ist, so istauch wahr, dass er ein Geschöpf ist und dass wenn erjetzt das eine ist, er auch jetzt das andere ist; und dasswenn in jeder Linie der Punkt enthalten ist, diesessich ebenso in jeder Linie zu jeder Zeit so verhält.Man kann dies daran erkennen, dass wenn gefragtworden, ob nicht etwas von Allen gelte, man die Ein-würfe dagegen so macht, dass es entweder bei Einigenoder zu einer Zeit nicht gelte.

An sich nennt man alle Bestimmungen, welche indem Was eines Gegenstandes enthalten sind, wie z.B.die Linie in dem Dreieck und der Punkt in der Linie;(denn das Wesen der Gegenstände besteht aus diesenBestimmungen und sie sind in dem Begriffe, welcherihr Was angiebt, enthalten.) Ebenso wohnt diesen Be-stimmungen, die dem Gegenstande einwohnen, dieserGegenstand selbst in deren Begriffe, welcher ihr Wasangiebt, ein. So ist das Gerade und das Krumme inder Linie enthalten und das ungerade und Gerade inder Zahl und auch das Einfache und Zusammenge-setzte, das Gleichseitige und Ungleichseitige; aberebenso wohnt allen diesen Bestimmungen in ihremBegriffe, welcher ihr Was angiebt, dort die Linie undhier die Zahl ein. Ebenso nenne ich das, was bei allenandern Gegenständen denselben in dieser Weise ein-wohnt das An sich, was aber nicht so beiderseitig ein-wohnt, nenne ich das »Nebensächliche«; wie z.B. das

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Musikalische und das Weisse in dem Geschöpf. Auchist An-sich das, was nicht von einem andern Unterlie-genden ausgesagt wird, wie dies z.B. bei dem »Ge-henden« geschieht, wo ein Anderes ist, was geht undweiss ist; dagegen ist das Wesen und alles, was dasWas angiebt, nicht an einem Anderen als das, was esist. Ich nenne also dasjenige, an-sich, was nicht voneinem andern Unterliegenden ausgesagt wird; dage-gen ist das, was von einem solchen ausgesagt wird,das Nebensächliche. - Auch nenne ich noch in ande-rer Weise An sich dasjenige, was jedem Gegenstandedurch ihn selbst einwohnt, und das, was ihm nichtdurch sich selbst einwohnt, das Nebensächliche.Wenn es z.B. während jemand geht, blitzt, so ist diesein Nebensächliches, weil das Blitzen nicht durch dasGehen geschehen ist, sondern es hat sich nur, wie mansagt, so getroffen. Ist aber etwas durch solches ge-schehen, so ist dies ein An sich; z.B. wenn etwas, wasgeschlachtet wird, stirbt, so geschieht es in Folge desSchlachtens an sich, weil es durch das Schlachtenstirbt und weil es sich nicht blos so trifft, dass dasGeschlachtete stirbt. Dasjenige also, was bei dem vollWissbaren das An sich genannt wird, indem es demAusgesagten einwohnt und das Ausgesagte in ihm, istdurch sich und aus Nothwendigkeit. Denn es kannnicht sein, dass es seinem Gegenstande überhauptnicht, oder nicht als Entgegengesetztes einwohne; so

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wohnt z.B. der Linie das Gerade oder das Krummeund der Zahl das Gerade oder Ungerade nothwendigein, da das Gegentheilige entweder eine Beraubungoder Verneinung innerhalb derselben Gattung ist, wiez.B. das Gerade bei Zahlen, so weit es von ihnen aus-gesagt wird, das Nicht-Ungerade ist. Ist es also noth-wendig, dass das An sich von einem Gegenstandederselben Gattung entweder bejaht oder verneint wer-den muss, so muss das An sich auch nothwendig ein-wohnen.

Das »Von Allem« und das »An sich« soll also indieser Weise bestimmt sein. Allgemein nenne ich aberdas, was in allem Einzelnen und auch in ihren an sichund als solches enthalten ist. Daraus erhellt, dassjedes Allgemeine nothwendig in den es betreffendenDingen enthalten ist. Das An sich und das Als solchessind dasselbe; so ist z.B. der Punkt und das Gerade inder Linie an sich enthalten und in ihr als Linie. Ebenso sind in dem Dreieck als solchem zusammen zweirechte Winkel enthalten und das Dreieck an sich ist inseinen Winkeln zweien rechten gleich. Das Allge-meine ist dann in dem Gegenstande enthalten, wennes an dem nächsten besten und an dem obersten sichdarlegen lässt. So ist das »zwei rechte Winkel enthal-ten« kein Allgemeines der Figur, da man zwar aneiner Figur zeigen kann, dass sie zwei rechte Winkelenthalte, aber nicht an jeder, wie es sich trifft. Auch

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benutzt der Beweisende nicht jede beliebige Figur,denn das Viereck ist auch eine Figur, aber es enthältkeine zwei rechten Winkel. Ein gleichschenklichesDreieck, was man zufällig trifft, enthält zwar auchzwei rechte Winkel, aber es ist nicht das oberste Drei-eck, sondern das Dreieck überhaupt ist früher. Wennalso an dem ersten besten Dreieck gezeigt wird, dasses zwei rechte Winkel enthalte, oder wenn dies ansonst einen andern Dreieck ebenso geschieht, sowohnt diese Bestimmung dem obersten Gegenstandeals eine allgemeine ein und der Beweis dieses Allge-meinen geschieht an sich, während er bei den andernDreiecken in gewisser Weise nicht an sich geschieht;denn diese Bestimmung ist nicht blos ein Allgemeinesvon dem gleichschenklichen Dreieck, sondern auchvon andern Dreiecken.

Fünftes Kapitel

Man darf nicht übersehen, dass man oft einen Feh-ler begeht, und dass das oberste Allgemeine in der Artnicht besteht, wie es scheint bewiesen worden zu sein.Man geräth in diesen Irrthum, wenn entweder nichtsHöheres über das Einzelne oder die Einzelnen zu er-fassen ist, oder wenn dies zwar der Fall ist, aber dasHöhere von den der Art nach verschiedenen Dingen

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keinen Namen hat, oder wenn es sich trifft, dass dasGanze in den Theilen enthalten ist und man jenes andiesen Theilen beweisst; denn hier wird wohl der Be-weis für die einzelnen Theile und damit für alle gel-ten, aber dennoch wird dies nicht ein Beweis für dasoberste Allgemeine sein. Ich nenne es nämlich danneinen Beweis des obersten Allgemeinen als solchen,wenn er gerade dies oberste Allgemeine beweist;wenn also z.B. jemand bewiese, dass die Linien anzwei gegenüberliegenden rechten Winkeln nicht zu-sammentreffen und meinte dies sei der Beweis, dersich auf alle Linien mit zwei rechten Winkeln er-strecke. Allein dies ist nicht der Fall, da der Beweisnicht so geführt werden darf, dass die Winkel in die-ser Weise gleich seien, sondern darauf, dass die Lini-en nicht zusammentreffen, wie auch die beiden Win-kel zusammen zweien rechten gleich sein mögen.Oder wenn man keine andern Dreiecke als nur diegleichschenklichen betrachtete und man glaubte, derSatz, dass die Winkel eines Dreiecks zweien rechtengleich sein, gelte nur, weil sie gleichschenklich seien.Ebenso würde es sich mit dem Satze verhalten, dassdie Glieder einer Proportion sich versetzen lassen,mögen diese Glieder Zahlen oder Linien, oder Körper,oder Zeiten sein, wenn dieser Satz etwa für jede dieserArten besonders bewiesen würde, während es dochausführbar ist, dass der Satz für alle Arten durch

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einen Beweis dargelegt werden kann. Da jedoch dieZahlen, Längen, Zeiten und Körper für das, worin siealle Eins sind, keinen Namen haben und da sie selbstder Art nach verschieden sind, so wurde es an deneinzelnen Arten bewiesen; jetzt wird aber der Beweisallgemein geführt, denn jene Bestimmung wohntihnen nicht als Linien oder Zahlen ein, sondern inso-fern sie das sind, was als Allgemeines in ihnen ent-halten angenommen wird. Wenn daher auch jemandfür einzelne Dreiecke durch einen oder durch ver-schiedene Beweise darlegte, dass jedes zwei rechteWinkel enthält und dies besonders für das gleichsei-tige und besonders für das ungleichseitige und beson-ders für das gleichschenkliche bewiese, so würde erdeshalb doch nicht wissen, dass das Dreieck zweirechte Winkel enthalte, als höchstens in dem sophisti-schen Sinne und er würde das allgemeine Dreiecknicht kennen und nicht wissen, ob es neben jenennoch andere Dreiecke gebe; denn er weiss den Satznicht von dem Dreieck als solchen, noch von allenDreieken als nur der Zahl nach, aber nicht von allender Art nach und er weiss nicht, ob nicht noch einesbesteht, was er nicht kennt. Wenn würde er nun dasAllgemeine nicht wissen und wenn würde er esschlechthin wissen? Offenbar würde er auch in jenemFalle das Allgemeine wissen, wenn das allgemeineDreieck dasselbe wäre, wie das gleichschenkliche

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oder wie das einzelne oder wie alle einzelnen. Ist diesaber nicht der Fall, sondern sind sie verschieden undgilt der Satz nur für das Dreieck als solches, so weisser es nicht. Gilt nun der Satz vom Dreieck als sol-chen, oder von dem gleichschenklichen als solchen?und wenn gilt er von diesen als obersten Allgemei-nen? und welches Allgemeine ist zu beweisen? Offen-bar gilt der Satz dann vom Allgemeinen, wenn nachWegnahme jener Nebenbestimmungen er in jenemObersten enthalten ist. So sind z.B. in dem gleich-schenklichen ehernen Dreieck zwei rechte Winkel ent-halten, allein sie sind es auch noch dann, wenn dasGleichschenkliche und Eherne weggenommen wordenist; aber sie sind auch nicht in der Figur oder in denBegrenzten überhaupt enthalten und nicht in ihnen,als den obersten Begriffen. Welches ist nun für siedas oberste? Wäre dies das Dreieck überhaupt, sosind die zwei rechten Winkel in Bezug auf dieses inden besondern Dreiecken enthalten und der Beweis istalso auf dieses Allgemeine zu richten.

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Sechstes Kapitel

Wenn nun die beweisbare Wissenschaft aus noth-wendigen obersten Grundsätzen sich ableitet (denndas, was man weiss, kann sich nicht anders verhalten)und da die zum An sich gehörenden Bestimmungenals nothwendige in den Dingen enthalten sind (denndiese Bestimmungen sind in dem Was der Dinge ent-halten, und die Dinge selbst sind in dem Was dieserBestimmungen enthalten, von welchen nothwendigdie eine von den entgegengesetzten Bestimmungen inden Dingen enthalten sein muss), so erhellt, dass aussolchen zum An sich gehörenden Bestimmungen derbeweisende Schluss besteht; denn alles ist entwederals ein An sich oder als ein Nebenbei in den Dingenenthalten, und das Nebenbei ist nicht nothwendig.

Man muss also entweder so sich ausdrücken, oderman muss als obersten Grundsatz aufstellen, dass derBeweis das Nothwendige enthalte und dass, wennetwas bewiesen ist, es nicht möglich sei, dass es sichanders verhalte. Somit muss der Schluss aus nothwen-digen Bestimmungen sich ableiten. Aus wahren Sät-zen kann man allerdings, wenn man nicht beweisenwill, Schlüsse ableiten ; aus nothwendigen Sätzenkann es aber nicht anders, als behufs des Beweisesgeschehen; denn dies gehört schon zu dem Beweise.

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Ein Zeichen, dass der Beweis aus nothwendigen Sät-zen zu führen ist, ist, dass man die Einwürfe gegendiejenigen, welche etwas glauben bewiesen zu haben,in der Art erhebt, dass die Sache nicht nothwendigsich so verhalte, mag man dabei glauben, dass siesich überhaupt anders verhalte, oder anders, wie be-hauptet worden. Hieraus erhellt, wie einfältig diejeni-gen verfahren, welche, wenn der Vordersatz glaubhaftund wahr ist, meinen, dass sie dann die oberstenGrundsätze richtig aufstellen, wie z.B. die Sophistendies thun, wenn sie sagen, dass das Wissen so vielsei, als die Wissenschaft inne haben; denn nicht dasGlaubhafte oder Nichtglaubhafte ist ein Grundsatz,sondern als ein solcher kann nur der oberste Satz derGattung gelten, innerhalb welcher der Beweis geführtwird und das Wahre ist nicht immer auch das Eigent-hümliche einer Sache.

Auch ergiebt sich aus Folgendem, dass der Schlussaus Nothwendigen hervorgehen muss. Wenn nämlichder, welcher den Grund, durch welchen ein Beweisgeführt worden, nicht inne hat, kein Wissender ist undder Beweis so beschaffen wäre, dass A in C nothwen-dig enthalten, aber B, der Mittelbegriff, durch wel-chen bewiesen worden nicht nothwendig in A und Centhalten wäre, so würde er den Grund, weshalb essich so verhält, wie bewiesen worden, nicht kennen;denn der Schlusssatz hat dann seinen Grund nicht in

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diesem Mittelbegriff, da dieser Begriff auch nicht-seinkann, der Schlusssatz aber ein nothwendiger sein soll.

Ferner hat derjenige, welcher jetzt nicht als einWissender gelten kann, obgleich er den Schlusskennt, und welcher eben sowohl, wie die Sache fort-besteht und welcher den Schluss nicht vergessen hat,auch vorher kein Wissen gehabt; denn das Mittlerehätte können zu Grunde gehen, wenn es kein noth-wendiges ist; er wird deshalb wohl den Beweis innehaben, wenn er sowohl, wie die Sache bestehen blei-ben, aber ein Wissen hat er nicht, und deshalb hat eres auch früher nicht gehabt. Aber wenn das Mittlereauch nicht zu Grunde geht, aber doch zu Grundegehen kann, so wäre der Schlusssatz daraus doch nuretwas Mögliches und Statthaftes; und Dinge die sichso verhalten, kann man unmöglich wissen.

Wenn aber auch der Schlusssatz ein nothwendigersein sollte, so braucht trotzdem der Mittelbegriff,durch den der Beweis geführt wurde, kein nothwendi-ger zu sein; denn man kann das Nothwendige auchaus nicht-nothwendigen Sätzen schliessen, wie jaauch aus Nicht-wahrem Wahres geschlossen werdenkann. Ist aber der Mittelbegriff nothwendig, so ist esauch der Schlusssatz, wie ja aus Wahrem auch immernur Wahres geschlossen werden kann. Denn es sei Ain Bezug auf B nothwendig und ebenso B in Bezugauf C; hier muss auch A in C nothwendig enthalten

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sein. Ist aber der Schlusssatz kein nothwendiger, sokann auch der Mittelbegriff kein nothwendiger sein;denn es sei A in C nicht nothwendig enthalten; wärenun A in B und dieses in C nothwendig enthalten, sowürde auch A in C nothwendig enthalten sein, wäh-rend dies nicht angenommen worden ist.

Wenn sonach bei dem auf Beweis beruhenden Wis-sen das Eine in dem Andern nothwendig enthaltensein muss, so erhellt, dass der Beweis aus einem noth-wendigen Mittelbegriff abgeleitet sein muss; dennsonst weiss man weder warum etwas ist, noch dass esnothwendig so sein muss, sondern man wird es entwe-der nur glauben, aber nicht wissen, im Fall man dasNicht-Nothwendige für nothwendig hält, oder manwird es nicht einmal glauben zu wissen, sei es, dassman nur das »dass« durch Mittelbegriffe weiss, oderdass man das »dadurch« ohne Vermittlung weiss.

Von den einer Sache nebenbei und nicht an sich indem Sinne, wie das An sich definirt worden, angehö-renden Bestimmungen, giebt es kein beweisbaresWissen, da man den Schlusssatz hier nicht aus Noth-wendigem ableiten kann, weil das Nebenbei einerSache Anhängende auch nicht-sein kann; denn einsolches nebenbei Anhängende meine ich. Indesskönnte man vielleicht sich wundern, dass man solcheFragen auf das Nebenbei stelle, wenn der Schlusssatzdaraus kein nothwendiger sei; da es doch gleichgültig

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sei, wenn aus auf das gerade Wohl erfragten Vorder-sätzen jemand einen Schlusssatz zieht. Allein manwill nicht deshalb solche Vordersätze durch Fragen zuerhalten suchen, damit dann der Schlusssatz durch diegefragten Vordersätze ein nothwendiger werde, son-dern weil, wenn jemand auf Befragen solche Vorder-sätze aufstellt, er auch den daraus gezogenen Schlussanerkennen muss und auch als einen wahren, wenndiese Vordersätze wahr sind.

Da nun in jedem Gebiet alles, was darin an-sich istund inwiefern es solches ist, nothwendig ist, so er-hellt, dass die Beweise, welche zu einem Wissen füh-ren, das An-sich-Seiende betreffen und aus solchemabgeleitet werden. Denn das Nebenbei-Seiende istnicht nothwendig, und man braucht deshalb auch beiSchlusssätzen über Nebensächliches nicht zu wissen,warum es sich so verhält, und zwar selbst dann nicht,wenn es immer bestände, aber nicht als ein An sich,wie dies z.B. bei den Schlüssen der Fall ist, welcheaus Zeichen abgeleitet werden; denn das an sich Sei-ende wird man bei solchen Schlüssen nicht als einAn-sich erkennen und auch nicht warum es so ist. Das»warum etwas ist« Wissen ist ein Wissen vermittelstdes Grundes; es muss also auch der Mittelbegriff indem Unterbegriff und der Oberbegriff in dem mittle-ren an sich enthalten sein.

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Siebentes Kapitel

Folglich darf man auch Behufs eines Beweises,nicht in ein anderes Gebiet übergreifen; so darf z.B.das Geometrische nicht durch arithmetische Sätze be-wiesen werden. Denn die Beweise enthalten dreierlei;dass eine ist der bewiesene Schlusssatz, welcher voneiner Gattung etwas aussagt, was an sich in ihr ent-halten ist; das zweite sind die aufgestellten Vordersät-ze, aus denen der Schlusssatz folgt; das dritte ist dieGattung, um die es sich handelt, von welcher der Be-weis die Zustände und das ihr an sich Zukommendeoffenbar macht.

Die Vordersätze, aus denen der Beweis abgeleitetwird, können dieselben für mehrere Beweise sein,wenn sie indess verschiedenen Gattungen angehören,z.B. der Arithmetik, oder der Geometrie, so kann mandann den arithmetischen Beweis nicht auf die Bestim-mungen, die zur geometrischen Grösse gehören an-wenden, wenn diese Grössen nicht selbst Zahlen sind.Ich werde später darlegen, wie dies bei einigen aus-führbar ist. Der arithmetische Beweis hält sich dage-gen immer innerhalb der Gattung, um deren Beweises sich handelt und ebenso ist dies bei den anderenWissenschaften der Fall. Deshalb muss der Beweissich entweder durchaus innerhalb derselben Gattung

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halten, oder doch in einer gewissen Weise, sofern derBeweis in eine andere Gattung übergreifen will. Injeder anderen Weise ist dies aber unmöglich, wie diesklar sich daraus ergiebt, dass sowohl die äusseren Be-griffe, wie der mittlere zu derselben Gattung gehörenmüssen; denn wenn sie nicht als ein An sich zuderselben Gattung gehören, so sind sie nur ein Neben-bei. Aus diesem Grunde kann die Geometrie nicht be-weisen, dass die Wissenschaft von Gegentheilen nureine ist, und auch nicht, dass die Summe zweier Ku-bikzahlen wieder eine Kubikzahl ist. Ebenso kannauch jede andere Wissenschaft nicht die Sätze einerandern beweisen, sie müssten sich denn so zu einan-der verhalten, dass die eine der anderen untergeordnetist, wie das z.B. mit der Optik in Bezug auf die Geo-metrie und mit der Harmonielehre in Bezug auf dieArithmetik der Fall ist. Auch kann die Geometrienicht das beweisen, was den Linien nicht als Linienoder nicht vermöge ihrer eigenthümlichen oberstenGrundsätze einwohnt; z.B. nicht die Frage, ob die ge-rade Linie die schönste von allen Linien sei, oder obsie das Gegentheil zu dem Kreisumring bilde; denndiese Bestimmungen gehören als solche nicht zuderen eigenthümlichen Gattungsbegriffe, sondern siesind etwas, was auch anderen Gattungen gemeinsamist.

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Achtes Kapitel

Auch erhellt, dass wenn die Vordersätze aus denender Schluss gezogen ist, allgemein lauten, derSchlusssatz eines solchen Beweises, wie überhauptjedes wahrhaften Beweises immer gilt. Es giebt des-halb keinen Beweis und keine wahre Wissenschaftvon den vergänglichen Dingen, als nur so, wie neben-bei, weil das Vergängliche nicht zu dem Allgemeinender Dinge gehört, sondern nur zu Zeiten oder in ge-wisser Weise an ihnen sich befindet. Lautet also einSchluss in dieser Weise, so muss der eine der Vorder-sätze kein allgemeiner sein und zu den vergänglichengehören, und zwar zu den vergänglichen, weil auchder Schlusssatz es ist, und zu den nicht allgemeinen,weil das Ausgesagte später in einigen, von denen esausgesagt wird, enthalten und in anderen nicht enthal-ten sein wird; man kann deshalb den Schlusssatznicht allgemein folgern, sondern nur für die Gegen-wart.

Ebenso verhält es sich mit den Definitionen; denndie Definition ist entweder der Obersatz des Bewei-ses, oder ein Beweis, der sich nur in der Aufstellungvon ihm unterscheidet, oder ein Schlusssatz aus einemBeweise. Die Beweise und Wissenschaften von dem,was oft geschieht, wie z.B. von den

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Mondfinsternissen sind offenbar insoweit, als siewirkliche Beweise und Wissenschaften sind, immergültig; so weit aber ihre Sätze nicht für immer gelten,haben sie nur beschränkte Gültigkeit, und wie dies fürdie Verfinsterungen gilt, so auch für andere Gegen-stände solcher Art.

Neuntes Kapitel

Da somit erhellt, dass Jedwedes nur aus seinenobersten Grundsätzen bewiesen werden kann, soferndas Bewiesene in dem Gegenstande als solchem ent-halten ist, so ist dieses Wissen dann noch nicht vor-handen, wenn es auch aus wahren und unbeweisbarenoder unvermittelten Sätzen bewiesen worden ist. Dieswäre nur ein Beweis, wie der, welchen Bryson für dieQuadratur des Kreises führte; denn solche Sätze die-nen als Beweis für das Gemeinsame mehrerer Gebie-te, was also auch in andern Dingen enthalten ist. Des-halb passen solche Beweise auch auf andere, nichtverwandte Dinge und deshalb weiss man den Gegen-stand nicht als solchen, sondern nur nach nebensächli-chen Bestimmungen, da sonst der Beweis nicht auchfür eine andere Gattung von Dingen passen würde.

Man weiss nehmlich darum einen Gegenstand nichtblos in Bezug auf seine nebensächlichen

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Bestimmungen, wenn man ihn in Bezug auf jenes,was sein Ansich ist, aus den obersten Grundsätzen,welche für ihn als solche gelten, erkennt; z.B. wennman die Eigenschaft, Winkel zu haben, welche zwei-en rechten gleich sind, bei dem Gegenstande, demdiese Eigenschaft an sich zukommt, aus den für ihngeltenden obersten Grundsätzen weiss. Mithin muss,wenn diese Bestimmung dem Gegenstande ansich ein-wohnt, der Mittelbegriff nothwendig aus demselbenverwandten Gebiete genommen sein, und ist diesnicht der Fall, so müssen sich die obersten Grundsät-ze doch so verhalten, wie bei den, durch die Zahlen-lehre innerhalb der Harmonielehre geschehenden Be-weisen. In solchem Falle wird der Beweis zwar eben-so geführt, aber es ist doch ein Unterschied vorhan-den; denn das Dass gehört hier einer anderen Wissen-schaft an (denn das zu Grunde liegende Gebiet ist einanderes) aber das Warum gehört der höheren Wissen-schaft an, zu deren Ansich die betreffenden Bestim-mungen gehören. Also auch aus diesen Fällen erhellt,dass jedwedes vollständig nur aus seinen eigenenobersten Grundsätzen bewiesen werden kann; dieseobersten Grundsätze befassen nur hier ein beidenWissenschaften gemeinsames Gebiet.

Ist dies nun klar, so erhellt auch, dass die eigent-hümlichen obersten Grundsätze eines jeden Gebietesnicht bewiesen werden können; und diese obersten

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Grundsätze bilden zusammen die Grundsätze fürAlles und die Wissenschaft dieser obersten Grundsät-ze ist die oberste von allen. Denn der, welcher etwasaus höheren Grundsätzen weiss, weiss es in höheremGrade; denn er weiss es aus Früherem, wenn er es ausGründen weiss, die selbst nicht mehr begründet sind.Wenn also ein solcher in höherem Grade oder ammeisten als ein Wissender gelten muss, so wird auchjene Wissenschaft die höchste sein und die, welcheam meisten das Wissen gewährt. Der Beweis kannalso nicht auf Dinge einer anderen Gattung ausge-dehnt werden, als nur so, wie es mit den geometri-schen Beweisen für die Mechanik oder Optik, und mitden arithmetischen Beweisen für die Harmonielehreangegebener Maassen geschehen kann.

Es ist indess schwer zu erkennen, ob man etwasweiss oder nicht, da es schwer zu erkennen ist, obman Etwas aus dessen eigenthümlichen Grundsätzenweiss oder nicht, während doch nur im ersten Falleein volles Wissen vorhanden ist. Man glaubt zwarschon zu wissen, wenn der Satz aus wahren und ober-sten Grundsätzen gefolgert ist; allein dies genügtnicht, vielmehr muss der Satz mit den oberstenGrundsätzen auch zu ein und demselben Gebiete ge-hören.

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Zehntes Kapitel

Ich nenne aber oberste Grundsätze eines Gebietesdie, bei denen man das: Dass sie sind, nicht beweisenkann. Was nun die obersten Grundsätze und das dar-aus Abgeleitete bedeuten, wird offenbar angenom-men; dass sie aber die Wahrheit enthalten, muss beiden obersten Grundsätzen ebenfalls angenommenwerden, während das Uebrige bewiesen werden muss.So wird vorausgesetzt was die Eins und was das Ge-rade und das Dreieck bedeuten; auch muss man an-nehmen, dass die Eins und die Grösse sind; alles an-dere aber wird bewiesen.

Die obersten Grundsätze, deren man sich in den be-weisenden Wissenschaften bedient, sind theils der be-treffenden Wissenschaft eigenthümlich, theils sind esgemeinsame und zwar gemeinsame vermöge einerAehnlichkeit, da dies in so weit geschehen kann, alsder Satz zu einem Gebiete gehört, welches unter derbetreffenden Wissenschaft steht. Ein eigenthümlicherSatz ist z.B. der, welcher besagt, was die Linie oderdas Gerade sei; ein gemeinsamer Satz aber ist z.B.der, dass wenn man Gleiches von Gleichem abzieht,Gleiches übrig bleibt. Ein jeder Grundsatz kann be-nutzt werden, so weit er zu dem gemeinsamen Gebietegehört; denn er wirkt dann dasselbe, auch wenn er

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nicht in seiner vollen Allgemeinheit genommen wird,sondern blos von den Grössen und in der Arithmetiknur von den Zahlen ausgesagt wird.

Es giebt auch eigenthümliche oberste Begriffe,deren Dasein man annimmt, und von welchen dieWissenschaft das ihnen an sich Zukommende betrach-tet; so z.B. die Arithmetik das der Eins Zukommendeund die Geometrie das dem Punkte und der Linie Zu-kommende; denn von diesen nimmt man nicht blos ihrSein, sondern auch ihr So beschaffen sein an. Wasdie, solchen Dingen an sieh zugehörigen Bestimmun-gen bedeuten, wird zwar ebenfalls vorausgesetzt, z.B.in der Arithmetik das, was das Urgerade und Geradeoder was eine Quadrat- oder eine Kubikzahl ist, undin der Geometrie das, was kein gemeinsames Maasshat, was gekrümmt, oder was das Zusammentreffenvon Linien ist; aber dass diese Bestimmungen wahrsind, wird aus den gemeinsamen Grundsätzen und ausdem, was schon vorher bewiesen worden, dargelegt.Auch mit der Sternkunde verhält es sich so.

Denn jede beweisende Wissenschaft hat es mitDreierlei zu thun; mit dem, was als seiend angenom-men wird (dies ist die Gattung, von welcher sie die,ihr an sich zukommende Bestimmungen untersucht),sodann mit den sogenannten gemeinsamen Grundsät-zen, aus denen, als den Ersten, die Beweise geführtwerden, und drittens mit den, der Gattung

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zukommenden Bestimmungen, bei denen sie das, waseine jede bedeutet, ohne Beweis annimmt. Indesskommt es vor, dass einzelne Wissenschaften ein oderden andern dieser Punkte übergehn; so wird z.B. nichtals Satz aufgestellt, dass die Gattung bestehe, wenndies klar ist (denn es ist z.B. nicht in gleicher Weiseklar, dass es Zahlen giebt wie dass es Warmes undKaltes giebt) oder man giebt nicht an, was die zukom-menden Bestimmungen bedeuten, wenn dies bekanntist; auch die Bedeutung gemeinsamer Grundsätzewird nicht erklärt, wie z.B. dass, wenn man Gleichesvon Gleichem nimmt, Gleiches bleibt, weil dies be-kannt ist. Dessenungeachtet handelt es sich von Naturum diese drei Punkte, erstens um den Gegenstand,welchen der Beweis betrifft, dann um das, was bewie-sen wird und drittens um das, durch welches es be-wiesen wird.

Sätze, welche nothwendig durch sich selbst sindund nothwendig so aufgefasst werden, sind keine Vor-aussetzungen und keine Forderungen; denn der Be-weis bezieht sich nicht auf die äusserliche Rede oderden äusserlichen Beweis, sondern auf die Gedanken inder Rede und dies gilt auch von dem Schlusse; dennman kann gegen die äusserliche Rede immer Einwen-dungen erheben, aber nicht immer gegen den innerenGedanken.

Wenn man nun Sätze, die an sich bewiesen werden

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können, aufstellt, ohne ihren Beweis zu führen, sosind dies Voraussetzungen, wenn sie dem Lernendenals glaubwürdig erscheinen; sie sind dann keine Vor-aussetzungen schlechthin, sondern nur in Bezug aufden Lernenden; wenn aber ein Satz aufgestellt wird,für den die Meinung nicht spricht oder der gegen dieMeinung läuft, so ist dies eine Forderung. Hierdurchunterscheiden sich die Voraussetzungen von den For-derungen; letztere sind Sätze, die der Meinung desLernenden zuwider sind, oder Sätze, die man als be-wiesene aufstellt und gebraucht, ohne sie bewiesen zuhaben.

Die blosen Begriffe sind keine Voraussetzungen(denn sie sagen weder dass sie sind, noch dass sienicht sind), vielmehr sind die Voraussetzungen in denSätzen enthalten. Die Begriffe braucht man nur zuverstehen, was keine Voraussetzung ist, so wenig wieman das Hören eine Voraussetzung nennen wird. Soweit aber die Begriffe wirklich bestehen, bildet sichder Schluss durch das Sein derselben. Auch setzt derGeometer nicht Falsches voraus, wie Manche behaup-ten, welche verlangen, dass man von dem Falschenkeinen Gebrauch machen dürfe, während doch derGeometer dies thue, wenn er sage, dass eine Linieeinen Fuss lang sei, obgleich sie nicht so lang ist oderdass die gezogene Linie gerade sei, obgleich sie esnicht ist. Allein der Geometer folgert dieses nicht

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daraus, dass die Linie, die er gezogen hat, so beschaf-fen sei, sondern weil das mit dieser Linie Angedeuteteso beschaffen ist. - Auch sind alle Voraussetzungenund Forderungen entweder allgemein oder beschränkt,während die Begriffe keines von Beiden sind.

Elftes Kapitel

Dass es nun Ideen oder ein besonderes Eines nebenden vielen Einzelnen geben müsse, wenn ein Beweiszu Stande kommen solle, ist nicht nothwendig; aberrichtig ist es, dass Eines in Bezug auf die vielen Ein-zelnen sein muss, denn das Allgemeine kann ohnedemnicht sein; und wenn es kein Allgemeines giebt, sogiebt es auch kein Mittleres, also auch keinen Beweis.Es muss also Ein- und Dasselbe an Mehreren geben,und zwar nicht blos dem Worte, sondern der Sachenach.

Der Satz, dass es nicht möglich ist, Dasselbe zu-gleich zu bejahen und zu verneinen, wird in keinemBeweise benutzt; wenn aber derselbe zum Beweisebenutzt werden sollte, so wird auch der Schlusssatz solauten. Bei Beweis geschieht in diesem Falle so, dassdie Aussage des Oberbegriffs von dem Mittelbegriffwahr sei und die Verneinung unwahr; dagegen machtes keinen Unterschied, ob man den Mittelbegriff und

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ebenso den Unterbegriff als bejahend und zugleich alsverneinend setzt, denn wenn nur der Obersatz zugege-ben wird, wonach man in Wahrheit den Menschen einGeschöpf nennen kann, mag es selbst wahr sein, dassauch der Nicht-Mensch ein Geschöpf sei, also wennnur wahr ist, dass der Mensch ein Geschöpf und nichtein Nicht-Geschöpf ist, so wird Kallias, auch wennNicht-Kallias ein Geschöpf ist, doch ein Geschöpfsein und kein Nicht-Geschöpf. Der Grund davon ist,dass der Oberbegriff nicht blos von dem Mittleren,sondern auch von noch andern Dingen ausgesagtwird, weil er in Mehreren als blos in dem Mittlerendes betreffenden Schlusses enthalten ist; deshalbmacht es für den Schlusssatz keinen Unterschied, obdas Mittlere dieses und daneben auch nicht-dieses ist.

Der Satz, wonach jedwedes von einem Gegenstan-de entweder bejaht oder verneint werden muss, wirdbei dem Unmöglichkeitsbeweise benutzt, aber auchhier geschieht es nicht immer, sondern nur so weit esgenügt; was der Fall ist, wenn es für die betreffendeGattung genügt. Unter »betreffende Gattung« versteheich die Gattung, innerhalb welcher der Beweis geführtwird, wie ich schon früher bemerkt habe.

Alle Wissenschaften haben in Bezug auf die ge-meinsamen obersten Grundsätze etwas mit einandergemein. Ich nenne gemeinsame Grundsätze die, derenman sich bedient, um den Beweis daraus zu führen,

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wo aber das, worüber der Beweis geführt wird, unddas, was bewiesen wird, nicht auch als ein gemeinsa-mes anzusehen ist. Auch die Dialektik ist allen Wis-senschaften gemeinsam, und ebenso würde es ein Ge-meinsames sein, wenn jemand versuchte, diese ge-meinsamen obersten Grundsätze zu beweisen, z.B.der Satz, dass jedwedes von einem Gegenstande ent-weder bejaht oder verneint werden könne, oder dass,wenn man Gleiches von Gleichem nimmt, Gleichesbleibe und ähnliche solche Sätze. Die Dialektik istaber nicht so auf einzelne Sätze oder ein einzelnesGebiet beschränkt, sonst würde der Dialektiker sichnicht der Fragen bedienen; denn wenn man beweisenwill, kann man sich nicht der dialektischen Fragen be-dienen, weil der Beweis nicht dadurch geführt werdenkann, dass das Entgegengesetzte nicht wahr sei, wiedies von mir in der Lehre von den Schlüssen dargelegtworden ist.

Zwölftes Kapitel

Wenn die behufs eines Schlusses erhobene Fragedasselbe ist, wie der entgegengesetzte Vordersatz, undwenn Vordersätze in jeder Wissenschaft diejenigensind, aus denen ein auf diese Wissenschaft sich bezie-hender Schluss gezogen werden kann, so wird eine

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wissenschaftliche Frage die sein, aus welcher ein, derbetreffenden. Wissenschaft eigenthümlichen Schlussgezogen werden kann. Deshalb kann nicht jede Frageeine geometrische oder eine medicinische oder diesonst einer besondern Wissenschaft angehörige sein,sondern nur diejenigen sind es, aus welchen etwas be-wiesen wird, worüber z.B. die Geometrie handelt,oder aus denen etwas mittelst der Geometrie bewiesenwird, wie z.B. optische Fragen. Das Gleiche gilt fürdie andern Wissenschaften. Ueber solche Fragen mussalso aus geometrischen Grundsätzen und Schlusssät-zen Rechenschaft gegeben werden; aber über dieseGrundsätze selbst hat der Geometer als solcher keineRechenschaft zu geben und dies gilt auch für die an-dern Wissenschaften. Man kann also nicht an jedemder eine Wissenschaft inne hat, jedwede Frage stellen,noch kann jedwede über Beliebiges aufgestellte Fragevon ihm beantwortet werden, sondern die Fragen sindnach den Wissenschaften zu unterscheiden. Wenn indieser Weise mit einem Geometer als solchen verhan-delt wird so wird offenbar richtig verfahren, wenndaraus etwas bewiesen wird; geschieht dies abernicht, so wird nicht richtig verhandelt. Wenn im letz-tem Falle der Geometer auch widerlegt wird, so ge-schieht dies doch nur nebenbei und man sollte des-halb an Personen, die keine Geometrie verstehen,keine geometrischen Fragen stellen, denn der Befragte

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wird die falsch gestellte Frage nicht verstehen. Glei-ches gilt für die übrigen Wissenschaften.

Wenn es nun geometrische Fragen giebt, giebt esda auch ungeometrische Fragen? Und nach welcherArt von Unwissenheit bei jeder Wissenschaft be-stimmt es sich, ob die gestellte Frage z.B. in der Geo-metrie entweder eine geometrische oder eine ungeo-metrische ist? Und ist der auf die Unwissenheit sichbeziehende Schluss derjenige, welcher aus entgegen-gesetzten Sätzen abgeleitet wird oder der, welcherzwar ein Fehlschluss ist, aber doch innerhalb derGeometrie sich hält oder der, welcher seine Sätzeeiner andern Wissenschaft entnimmt? So ist z.B. eineFrage über etwas Musikalisches eine ungeometrischeFrage, dagegen ist die Meinung, dass Parallellinienzusammentreffen können, zwar in gewisser Weiseeine geometrische, aber in anderer Hinsicht eine un-geometrische Meinung; denn dies Wort ist doppelsin-nig gleich dem Unrythmischen; einmal gilt etwas alsungeometrisch, weil es nichts Geometrisches an sichhat, wie das Unrythmische nichts Rythmisches undzweitens wird etwas ungeometrisch genannt, weil dasdarin enthaltene Geometrische sich falsch verhält.Diese Unwissenheit, welche sich auf solche falscheSätze stützt, ist das Gegentheil der Wissenschaft. Inder Mathematik ist indess der Fehlschluss nicht vondieser Art, weil in andern Wissenschaften die

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Zweideutigkeit von dem Mittelbegriff herkommt; hierwird dagegen der Oberbegriff von dem ganzen Mittel-begriff ausgesagt und der Mittelbegriff wird er wiedervon dem ganzen Unterbegriff, während in den andernWissenschaften das Ausgesagte nicht in seinem gan-zen Umfange ausgesagt wird. Ob nun dies sich wirk-lich so verhält, kann man in der Mathematik gleich-sam mit dem Verstande sehen, während es bei andernUntersuchungen leicht unbemerkt bleibt. So z.B.: Istjeder Kreis eine Figur? Wird hier der Kreis verzeich-net, so ist es klar, dass er eine Figur ist. Aber wie? istauch das Heldengedicht ein Kreis? Hier ist wiederklar, dass es kein Kreis ist.

Man darf auch einen Einwurf nicht auf eine Induk-tion stützen, im Fall ein Vordersatz in dem anzugrei-fenden Satze sich auf eine Induktion stützt. Dennsowie kein Satz als Vordersatz gelten kann, der nichtvon Mehreren gilt (denn er gilt dann auch nicht vonAllen, während der Schluss doch einen allgemeinenObersatz verlangt), so kann auch der Einwurf dannnicht als ein zuverlässiger Vordersatz gelten. Denndie Vordersätze und die Einwürfe müssen gleicher Artsein, da der Satz, der als Einwurf aufgestellt worden,selbst zu einem beweisenden oder dialektischen Vor-dersatz geeignet sein muss.

Manche verletzen in ihren Reden die Regeln desSchlusses dadurch, dass sie für die beiden äussern

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Begriffe etwas ihnen beiden Zukommendes als Mittel-begriff aufstellen, wie es z.B. Kaineus thut, indem erfolgert, dass das Feuer in geometrischer Proportionzunehme, nämlich, weil das Feuer schnell zunehme,wie er sagt, und weil dies auch von der geometrischenProportion gelte. Allein dies ist kein richtiger Schluss.Dagegen wäre es ein solcher, wenn die geometrischeProportion in der schnellsten Weise wüchse, und dasFeuer in der schnellsten Weise zunähme.

Mitunter kann man aus den angenommenen Vor-dersätzen keinen Schluss ziehen, mitunter kann es ge-schehen, aber es wird nicht bemerkt. Wenn es unmög-lich wäre, aus falschen Vordersätzen einen wahrenSchluss zu ziehen, so könnte man den Fehler leichterdarlege, denn dann müssten Schlusssatz und Vorder-satz sich gleichmässig umkehren lassen. So soll A alsseiend angenommen werden; wenn aber A seiend ist,so ist es auch jenes, von dem ich weiss, dass es ist,z.B. B. Aus diesen Annahmen kann ich dann zeigen,dass auch A ist. Indess findet eine solche Umkehrungder Sätze vornehmlich nur in der Mathematik statt,weil man hier Bestimmungen, die blos nebenbei statthaben, nicht benutzt, sondern nur Definitionen. (Auchdies ergiebt einen weiten Unterschied der mathemati-schen Methode von der dialektischen).

Das Wissen wird in seinem Inhalte nicht durchEinschiebung von Mittelbegriffe vermehrt, sondern

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durch Hinzunahme von Unterbegriffen; so dass z.B.A von B gilt und B von C, und dieses wieder von Dund so fort ohne Ende. Es kann dies auch schief ge-schehen, wenn z.B. A sowohl von C wie von E gilt;z.B. jede Zahl ist irgend wie gross oder unbestimmt,welcher Satz mit A bezeichnet werden soll; nun seidie ungerade Zahl überhaupt B, die bestimmte unge-rade Zahl C; dann wird A auch von C gelten. Es seiferner die gerade Zahl überhaupt D und die bestimmtegerade Zahl E; also wird A auch von E gelten.

Dreizehntes Kapitel

Das Wissen, dass Etwas ist und das Wissen,warum Etwas ist, unterscheidet sich schon in ein undderselben Wissenschaft und zwar in zweifacherWeise; einmal darin, dass der Schluss nicht durch un-vermittelte Sätze geschieht (denn dann wird nicht dieerste Ursache gesetzt, während doch das Wissen desWarum die oberste Ursache befasst); zweitens darin,dass der Schluss zwar auf unvermittelte Sätze gestütztwird, aber doch nicht aus seiner Ursache abgeleitetwird, sondern aus einem Mittelbegriff der sich mit derUrsache austauscht; indem jener bekannter ist. Dennes kann kommen, dass von solchen Begriffen, woeiner für den anderen als Ausgesagtes benutzt werden

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kann, die Nicht-Ursache mitunter bekannter ist unddeshalb der Beweis darauf gestützt wird; so z.B.wenn die Nähe der Planeten darauf gestützt wird, dasssie nicht funkeln. Denn es bedeute C die Planeten, Bdas Nicht-funkeln und A das Nahe-sein. Hier kann inWahrheit B von C ausgesagt werden, denn die Plane-ten funkeln nicht; allein auch das A kann von dem Bausgesagt werden; denn das, was nicht funkelt, istnahe, wie man entweder durch Induktion oder durchSinneswahrnehmung feststellen kann. Somit mussauch A in C enthalten sein und somit ist bewiesen,dass die Planeten nahe sind. Ein solcher Schluss wirdnicht aus dem Warum, sondern aus dem Dass abge-leitet; denn die Planeten sind nicht deshalb nahe, weilsie nicht funkeln, sondern weil sie nahe sind, funkelnsie nicht. Es lässt sich aber auch dieses durch jenesbeweisen und ein solcher Beweis beruht dann auf demWarum. Es seien z.B. C die Planeten, B dasNahe-sein, A das Nicht-funkeln. Hier ist auch B in Centhalten und A, das Nicht-funkeln in B enthalten;folglich ist auch A in C enthalten und der Schluss ruhtdann nur auf dem Warum, denn es ist dann die ersteUrsache gesetzt und daraus der Schluss abgeleitet.Ebenso verhält es sich bei dem Beweise, dass derMond wegen seiner Lichtzunahme eine Kugel sei;denn wenn ein so zunehmender Körper eine Kugel istund der Mond so zunimmt, so ist klar, dass er eine

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Kugel sein muss. Hier ist der Schluss darauf gestützt,dass es sich so verhält; wird aber der Mittelbegriffversetzt, so ergiebt sich ein Schluss aus dem Warum;denn bei dem Monde ist seine Lichtzunahme nicht dieUrsache von seiner Kugelgestalt, sondern weil er dieGestalt einer Kugel hat, nimmt er in seinem Lichte indieser besondern Art zu. Es ist dann C der Mond, Bdie Kugelgestalt, A die Lichtzunahme. In Fällen, woder Mittelbegriff sich nicht vertauschen lässt und dieNicht-Ursache bekannter ist, wird nur das Dass, abernicht das Warum bewiesen. Dies findet auch beiSchlüssen statt, wo der Mittelbegriff nicht zwischendem Ober- und dem Unterbegriff steht, sondern aus-serhalb derselben; auch dann wird nur das Dass abernicht das Warum bewiesen, weil die Ursache nicht ge-nannt wird. Z.B. wenn man auf die Frage, weshalb dieMauer nicht athmet, antwortet, weil sie kein Thier ist.Denn wäre dies die Ursache des Nicht-athmens, somüsste das Thier die Ursache des Athmens sein.Wenn nämlich die Verneinung die Ursache desNicht-seins ist, so muss die Bejahung die Ursache desSeins enthalten; so, wenn das Warme und das Kaltesich nicht in richtigem Verhältniss befinden und des-halb der Mensch nicht gesund ist, so muss das rich-tige Verhältniss von Warm und Kalt die Ursache desGesund-seins sein; und ebenso muss wenn die Beja-hung die Ursache des Seins ist, die Verneinung die

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Ursache des Nicht-seins sein. Indess trifft bei dem ge-gebenen Beispiele das Gesagte nicht ein, denn nichtalle Thiere athmen. Der Schluss vermittelst einer sol-chen Ursache vollzieht sich in der zweiten Figur. Essei z.B. A das Thier, B das Athmen, C die Mauer.Hier ist A in dem ganzen B enthalten (denn jedes Ath-mende ist ein Thier), aber A ist in keinem C enthal-ten, also ist auch B in keinem C enthalten; also ath-met die Mauer nicht. Solche Aufstellung der Ursachengleicht den übertriebenen Aussprüchen, und ge-schieht, wenn man den weiter abstehenden Begriffzum Mittelbegriff nimmt, wie z.B. in dem Ausspruchedes Anacharsis, dass es bei den Skythen keine Flöten-bläser gebe, weil dort es keine Weinstöcke gebe.

Dies sind sonach die Unterschiede der Schlüsse aufdas Dass und auf das Warum innerhalb ein undderselben Wissenschaft und in Bezug auf die Stellungder Mittelbegriffe. In anderer Weise unterscheidensich die Schlüsse aus dem Warum von denen aus demDass dann, wenn jeder aus einer andern Wissenschaftabgeleitet wird. Dies ist bei allen Wissenschaften derFall, die sich so zu einander verhalten, dass die eineder andern untergeordnet ist, wie z.B. die Optik derGeometrie, die Mechanik der Stereometrie, die Har-monielehre der Arithmetik und die Lehre von denHimmelserscheinungen der Astronomie. Einige sol-cher Wissenschaften haben auch gleiche Namen; so

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heisst Astronomie sowohl die mathematische, wie diezur Schifffahrt nöthige; und Harmonielehre heisst so-wohl die mathematische, wie die das Gehör betreffen-de. In solchen Fällen haben die auf der Sinneswahr-nehmung beruhenden Wissenschaften das Wissen desDass und die mathematischen das Wissen desWarum; denn die Mathematiker besitzen die Beweiseaus den Ursachen, aber wissen oft das Dass nicht, daja die Betrachter des Allgemeinen manches von dendarunter gehörigen Einzelnen nicht wissen, weil siedarauf nicht achten. Dergleichen Wissen ist da vor-handen, wo es die Formen der Dinge als etwas seinemWesen nach Verschiedenes gebraucht, denn das ma-thematische Wissen beschäftigt sich mit den Formenund nicht mit den denselben unterliegenden Gegen-ständen; denn wenn auch die Geometrie sich miteinem unterliegenden Gegenstande beschäftigt, so ge-schieht es doch nicht mit dem unterliegenden Gegen-stande als solchen. So wie sich die Optik zur Geome-trie verhält, so verhält sich ein anderes Wissen, z.B.das über den Regenbogen zu der Optik. Das Wissen,dass der Regenbogen so ist, gehört dem Physiker an,aber das Wissen, warum er so ist, gehört dem Optikeran und zwar entweder durchaus oder mit Hülfe mathe-matischer Sätze. Uebrigens verhalten sich auch vieleandere, einander nicht untergeordnete Wissenschaftenso zu einander, z.B. die Arzneiwissenschschaft zur

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Geometrie. So weiss z.B. der Arzt, dass die kreisrun-den Wunden schwerer heilen, aber der Geometerweiss, warum dies der Fall ist.

Vierzehntes Kapitel

Von den Schlussfiguren ist die erste diejenige, wel-che am meisten das Wissen bewirkt. Denn die mathe-matischen Wissenschaften führen ihre Beweise in die-ser Schlussfigur, z.B. die Arithmetik, die Geometrie,die Optik und so zu sagen alle, welche ihre Untersu-chungen auf das Warum richten. Denn der Schlussaus dem Warum geschieht beinah immer, oder in denmeisten Fällen durch diese Schlussfigur. Deshalbführt dieselbe am meisten zum Wissen; denn dasWichtigste im Wissen ist die Erforschung desWarum. Auch das Wissen des Was kann man nur indieser Figur erlangen, da in der zweiten Figur kein be-jahender Schluss sich ergiebt und das Wisaen desWas bejahender Art ist. In der dritten Figur giebt eswohl bejahende Schlüsse aber sie lauten nicht allge-mein, während doch das Was der Dinge ein allgemei-nes ist. So ist der Mensch nicht blos in irgend einerBeziehung ein zweifüssiges Geschöpf. Ferner bedarfdie erste Figur der andern nicht, während die anderndurch die erste verstärkt und erweitert werden, bis

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man zu den unmittelbar geltenden Grundsätzen ge-langt.

Hieraus erhellt, dass für die Wissenschaften dieerste Schlussfigur die wichtigste ist.

Fünfzehntes Kapitel

So wie es statthaft war, dass A in B unvermitteltenthalten ist, so ist es auch statthaft, dass es unvermit-telt darin nicht-enthalten ist. Unter »unvermittelt ent-halten« oder »unvermittelt nicht-enthalten sein« ver-stehe ich, dass kein Mittleres zwischen ihnen besteht;denn nur dann ist das Eine in dem Andern nicht ver-mittelst eines Dritten enthalten oder nicht-enthalten.Wenn also das A oder das B ganz in dem Umfangeeines Dritten enthalten ist, oder wenn beide darin ent-halten sind, so geht es nicht an, dass A in B unvermit-telt nicht-enthalten ist. Es sei z.B. A ganz in dem Um-fange von C enthalten, wenn nun B in dem Umfangevon C gar nicht enthalten ist, (denn es ist statthaft,dass A ganz in dem Umfange eines Dritten enthaltenund B gar nicht darin enthalten ist), so ergiebt sichdann vermittelst eines Schiasses, dass A in B nichtenthalten ist; denn wenn C in dem ganzen A, aber inkeinem B enthalten ist, so kann A in keinem B enthal-ten sein. Dasselbe gilt, wenn B ganz in dem Umfange

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eines Dritten, z.B. in D enthalten ist, denn dann ist Din dem ganzen B und A in keinem D enthalten unddeshalb wird dann auch vermittelst eines Schlusses Ain keinem B enthalten sein. In gleicher Weise lässtsich dies darlegen, wenn jedes von beiden ganz indem Umfange eines Begriffes enthalten ist.

Dass es aber statthaft ist, dass B ganz in dem Um-fange eines Dritten nicht enthalten ist, in welchem Aenthalten ist, oder dass wieder A nicht in dem Umfan-ge eines Dritten enthalten ist, in welchem B enthaltenist, erhellt auch aus den Doppelreihen verwandter Be-griffe, wo die einander gegenüberstehenden Begriffesich nicht austauschen lassen. Denn wenn kein Be-griff in der einen Reihe A C D von einem in der an-dern Reihe B E Z ausgesagt werden kann, A aberganz in dem Umfange von T enthalten ist, welchesmit ihm zu derselben Reihe gehört, so ist klar, dass Bnicht in dem Umfange von T enthalten sein kann;denn sonst würden die einander gegenüberstehendenBegriffsreihen sich austauschen lassen. Ebenso ver-hält es sich, wenn B ganz in dem Umfange eines drit-ten Begriffs seiner Reihe enthalten ist.

Wenn aber weder A noch B in irgend einem Begrif-fe enthalten sind, und A in dem B nicht enthalten ist,so muss dieses Nicht-enthalten sein ein unvermitteltessein; denn würde dies durch ein Mittleres bewirkt, somüsste eines von beiden ganz in dem Umfange eines

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Dritten enthalten sein und es würde sich ein Schlussauf das Nichtenthaltensein des A in B entweder nachder ersten oder zweiten Figur ergeben. Geschähe diesnach der ersten Figur, so müsste B ganz in dem Um-fange eines Dritten enthalten sein (denn zu dem Behu-fe muss der Untersatz bejahend lauten); geschähe esaber nach der zweiten Figur, so kann A oder B, wie essich trifft, ganz in dem Umfange eines Dritten enthal-ten sein, denn der verneinende Vordersatz mag A oderB befassen, so ergiebt sich doch ein Schluss, und nurwenn beide Vordersätze verneinend gesetzt werden,findet kein Schluss statt.

Es ist somit klar, dass sehr wohl Eines in einemAndern unvermittelt nicht-enthalten sein kann und ichhabe dargelegt, wann und wie dies stattfinden kann.

Sechzehntes Kapitel

Diejenige Unwissenheit, welche nicht in einemblossen Nicht-Wissen, sondern in einem fehlerhaftenWissens-Zustande besteht, ist der durch einen Schlussherbeigeführte Irrthum. Sie kann in Fällen, wo etwasin einem Andern unvermittelt enthalten odernicht-enthalten ist, in zwiefacher Weise vorkommen;entweder so, dass man einfach fälschlich annimmt,das Eine sei in dem Andern enthalten oder

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nicht-enthalten, oder so, dass man die Annahme aufeinen Schluss gründet. Bei der einfach falschen An-nahme ist auch der Irrthum ein einfacher; geht er aberaus einem Schliessen hervor, so können verschiedeneFälle eintreten. So soll das A unvermittelt in keinemB enthalten sein; wenn nun hier vermittelst Annahmeeines Mittelbegriffs C geschlossen wird, dass A in Benthalten sei, so ist der Irrthum durch ein Schliessenherbeigeführt. Nun können hier sowohl beide Vorder-sätze, wie auch nur einer falsch sein; denn wenn so-wohl A in keinem C wie C in keinem B enthalten ist,aber dennoch für beide das Entgegengesetzte ange-nommen wird, so sind beide Vordersätze falsch; dennC kann sich so zu A und B verhalten, dass es wederunter dem A begriffen ist, noch in dem ganzen B ent-halten ist. Denn B kann unmöglich ganz in dem Um-fange eines Dritten enthalten sein, da A als unvermit-telt nicht-enthalten in B gesetzt worden ist; und von Aist es nicht nothwendig, dass es in allem Seienden all-gemein enthalten ist; mithin sind hier beide Vorder-sätze falsch.

Allein man kann auch dabei einen wahren Vorder-satz benutzen; indess nicht beliebig einen von beiden,sondern nur den Satz A C; denn der Vordersatz C Bist immer ein falscher, weil B niemals in dem Umfan-ge von C enthalten sein darf; aber der Satz A C kannwahr sein, z.B. dann wenn A sowohl in C wie in B

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unvermittelt enthalten ist; denn wenn ein und dasselbevon Mehreren unvermittelt ausgesagt wird, so wirdvon diesen letzteren keines in dem andern enthaltensein. Es macht hier selbst keinen Unterschied, wennauch A in dem C nicht unvermittelt enthalten ist.

Die falsche Annahme, dass Etwas in einem Andernenthalten sei, wird nun blos durch solche Vordersätzeund in dieser Weise veranlasst (denn in keiner andernFigur giebt es einen bejahenden allgemeinen Schluss);dagegen kann die falsche Annahme des Nichtenthal-tenseins in der ersten und zweiten Figur geschehen.

Zunächst will ich angeben, auf wie viele Arten derIrrthum in der ersten Figur entstehen kann und wiedabei die Vordersätze sich verhalten müssen. Hierkönnen beide Vordersätze falsch sein, z.B. wenn Asowohl in C wie in B unvermittelt enthalten ist; dennwenn man hier annimmt, dass A in keinem C, aber Cin dem ganzen B enthalten sei, so sind diese beidenVordersätze falsch. Es braucht aber auch nur ein Vor-dersatz falsch zu sein und zwar gleichviel welcher vonbeiden. Denn der Vordersatz A C kann wahr sein,aber der mit C B falsch und zwar der Vordersatz A Cwahr, weil A nicht in allem Seienden enthalten ist undder Satz C B falsch, weil es unmöglich ist, dass C indem B enthalten ist, wenn A in keinem C enthaltenist; denn dann würde der Vordersatz A C nicht wahrsein und überdem müsste dann, wenn beide

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Vordersätze wahr wären, auch der Schlusssatz wahrsein.

Aber es kann auch der Satz C B wahr sein, insofernder andere Vordersatz dann falsch ist; z. B wenn Bsowohl ganz in dem Umfange von C, wie in dem vonA enthalten ist; dann ist nothwendig das eine unterdem andern begriffen, und nimmt man dann an, dassA in keinem C enthalten sei, so wird dies ein falscherVordersatz sein. Hieraus erhellt, dass der Schlusssatzfalsch sein kann, sowohl wenn einer von beiden Vor-dersätzen falsch ist, als auch, wenn sie beide falschsind.

Dagegen können in der zweiten Figur beide Vor-dersätze nicht ganz falsch sein. Denn wenn A in demganzen B enthalten ist, so kann man keinen drittenBegriff aufstellen, der in dem ganzen einen Begriffdes Satzes A B enthalten und in dem ganzen andernnicht enthalten ist; und doch müssen die Vordersätzedahin lauten, dass der dritte Begriff in dem Einen ent-halten, in dem Andern nicht-enthalten ist, wenn einverneinender Schluss in zweiter Figur herauskommensoll. Werden also die Vordersätze so falsch angenom-men, so werden sie umgekehrt offenbar sich gegen-theilig verhalten, d.h. wahr sein, was doch unmöglichsein kann, wenn der Schluss falsch sein soll. Dagegenist es statthaft, dass beide Vordersätze theilweisefalsch sind; z.B. wenn in Wahrheit C in einigen A

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und in einigen B enthalten ist. Wird hier angenom-men, dass C in dem ganzen A, aber in keinem B ent-halten ist, so sind diese Vordersätze beide falsch, abernicht ganz, sondern nur zum Theil. Dasselbe gilt auchdann, wenn die Verneinung in den andern Vordersatzverlegt wird.

Auch ist es statthaft, dass nur einer der Vordersätzefalsch ist und zwar gleichviel welcher. Denn das, wasim dem ganzen A enthalten ist, wird auch in dem gan-zen B enthalten sein. Nimmt man nun an, dass C zwarin dem ganzen A enthalten, aber in dem ganzen Bnicht enthalten sei, so wird der Satz C A wahr sein,aber der Satz C B falsch. Ferner wird das, was in kei-nem B enthalten ist, auch in dem ganzen A nicht ent-halten sein; denn wäre es in dem ganzen A enthalten,so müsste es auch in B enthalten sein; allein in B soll-te es nicht enthalten sein. Wird also angenommen,dass C zwar in dem ganzen A enthalten, aber in kei-nem B enthalten sei, so ist der Vordersatz C B wahr,aber der andere falsch. Dasselbe gilt, wenn die Ver-neinung in den andern Vordersatz verlegt wird. Denndas, was in keinem A enthalten ist, kann auch in kei-nem B enthalten sein. Nimmt man nun hier an, dass Czwar in dem ganzen A nicht enthalten, wohl aber indem ganzen B enthalten sei, so ist der Vordersatz A Cwahr, der andere aber falsch. Und wenn umgekehrtdas, was in dem ganzen B enthalten, als in keinem A

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enthalten angenommen wird, so ist dies letzterefalsch, denn wenn es in dem ganzen B enthalten ist,so muss es auch in einigen von A enthalten sein. Wirdalso angenommen, dass C in dem ganzen B enthaltensei, aber in keinem A, so wird der Vordersatz C Bwahr sein, aber der Vordersatz C A falsch.

Hieraus erhellt, dass für unvermittelte Sätze eintäuschender Schluss entstehen kann, sowohl wennbeide Vordersätze falsch sind, als auch, wenn nureiner falsch ist.

Siebzehntes Kapitel

In denjenigen Fällen, wo Etwas in einem Andernvermittelt enthalten oder nicht-enthalten ist, können,wenn der falsche Schluss mittelst des eigentlichenMittelbegriffs erfolgt, nicht beide Vordersätze falschsein, sondern nur der mit dem grössern äussern Be-griff. Ich verstehe aber unter dem eigentlichen Mittel-begriff denjenigen, durch welchen der Schluss auf denentgegengesetzten wahren Satz erfolgt So soll A in Bdurch den Mittelbegriff C enthalten sein; da nun hier,wenn ein Schluss möglich sein soll, der Vordersatz CB bejahend gesetzt werden muss, so erhellt, dass die-ser Satz immer wahr sein muss, denn er lässt sichnicht in seinen Gegensatz umkehren. Dagegen muss

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der Satz A C falsch sein, denn wenn man diesen inseinen Gegensatz umkehrt, so kommt der entgegenge-setzte wahre Schlusssatz heraus. Dasselbe findet statt,wenn auch der Mittelbegriff aus einer andern Reiheentnommen wird, wie z.B. D; wenn also D in demganzen Umfange von A enthalten ist und von demganzen B ausgesagt wird; auch hier muss der Vorder-satz D B unverändert bleiben, aber der andere in sei-nen Gegentheil verkehrt werden; mithin ist der eineVordersatz hier immer ein wahrer und der andereimmer ein falscher. Auch ist ein solcher Irrthum ziem-lich derselbe, als wenn der falsche Schluss durch deneigentlichen Mittelbegriff erfolgt.

Wird dagegen der Schluss nicht durch den eigentli-chen Mittelbegriff gefolgert, so müssen, wenn derMittelbegriff unter dem A enthalten, aber in keinem Benthalten ist beide Vordersätze falsch sein; denn siemüssen entgegengesetzt dem, wie sie in Wahrheit sichverhalten, angesetzt werden, wenn überhaupt einSchluss zu Stande kommen soll, und wenn sie in die-ser Weise angesetzt werden, müssen beide falsch wer-den. Wenn z.B. A in dem ganzen D enthalten ist undD in keinem B, so wird sich, nur dann, wenn mandiese Sätze in die entgegengesetzten umwandelt, einSchluss ziehen lassen, wobei aber beide Vordersätzefalsch sind. Ist aber der Mittelbegriff, z.B. D, nichtunter dem A enthalten, so wird zwar der Vordersatz A

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D ein wahrer sein, aber D B ist dann falsch; denndann ist der Vordersatz A D, nehmlich dass D in denA nicht enthalten sei, wahr, aber der Satz D B istfalsch, denn wäre er wahr, so müsste auch derSchlusssatz ein wahrer sein, während er doch ein fal-scher sein soll.

Erfolgt aber der Irrthum vermittelst eines in derzweiten Figur gezogenen falschen Schlusses, so kön-nen zwar beide Vordersätze nicht ganz falsch sein(denn wenn das B unter dem A enthalten ist, so ist esunmöglich, dass Etwas in dem einen von Beiden ganzund in dem andern gar nicht enthalten ist, wie früherdargelegt worden ist); dagegen kann einer von Beidenund zwar gleichviel welcher, ganz falsch sein; dennwenn C sowohl in A, wie in B enthalten ist und mannimmt an, dass es in A enthalten, aber in B nicht ent-halten sei, so wird der Vordersatz A C wahr sein, aberder andere falsch. Umgekehrt wird, wenn man an-nimmt, dass C in dem B enthalten, aber in keinem Aenthalten sei, zwar der Satz B C wahr sein, aber derandere wird falsch sein.

Somit ist dargelegt, wann und durch welche Vor-dersätze der Irrthum entsteht, wenn der irrthümlicheSchlusssatz verneinend lautet; lautet er aber bejahend,so können nicht beide Vordersätze falsch sein, dennder Satz C B muss unverändert bleiben, wenn einSchluss überhaupt möglich sein soll, wie ich schon

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früher bemerkt habe; mithin muss in solchem Falleimmer der Satz C A falsch sein, denn dieser Satz istder, welcher in seinem Gegentheil verkehrt wordenist. Dasselbe findet statt, wenn auch der Mittelbegriffaus einer andern Begriffsweise entnommen wird, wieich schon bei dem falschen verneinend-lautendenSchlusssatz bemerkt habe; denn auch hier darf derSatz D B nicht verändert werden und der Satz A Dmuss in seinem Gegentheil verkehrt werden; der Irr-thum ist also hier derselbe, wie in dem vorigen Falle.Wird aber der Schluss nicht durch den eigentlichenMittelbegriff vermittelt, so muss, wenn D unter demA enthalten ist, der Satz A D in seiner Wahrheit ge-nommen werden, und nur der andere muss falsch sein;denn A kann sehr wohl in mehreren Dingen enthaltensein, die einander nicht untergeordnet sind. Ist dage-gen das D nicht unter dem A enthalten, so ist klar,dass dieser Satz A D immer falsch sein wird (denn erwird bejahend angesetzt), während der Satz B D so-wohl wahr, wie falsch sein kann; denn es ist möglich,dass A in keinem D enthalten, aber D in allen B ent-halten ist. So ist z.B. das Geschöpf in keiner Wissen-schaft enthalten, aber die Wissenschaft ist in der Mu-siklehre enthalten. Auch kann da sowohl das A in kei-nem D oder das D in keinem B enthalten sein. Somiterhellt, dass, wenn der Mittelbegriff nicht unter demA enthalten ist, der irrthümliche Schluss sowohl zwei

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falsche Vordersätze, wie auch nur einen enthaltenkann.

Hiernach ist dargelegt, wie vielfach und durch wel-che Vordersätze die irrthümlichen Schlüsse sich bil-den können, sowohl bei Sätzen, wo die Begriffe un-vermittelt sind, als bei Sätzen, wo der Beweis für siedurch Mittelbegriffe geführt werden kann.

Achtzehntes Kapitel

Es ist auch klar, dass wenn irgend ein Sinn Jeman-dem fehlt, nothwendig ihm auch ein Wissen fehlenmuss. Dasselbe kann dann unmöglich erlangt werden,da man überhaupt nur durch Induktion oder durch Be-weis ein Wissen erlangen kann; nun wird der Beweiszwar aus allgemeinen Sätzen abgeleitet, und die In-duktion aus Einzelnen; aber es ist unmöglich, das All-gemeine anders, als durch Induktion kennen zu lernen,da man auch die durch abtrennendes Denken gewon-nenen Begriffe nur vermittelst der Induktion verständ-lich machen und zeigen kann, dass jeder Gattung Be-stimmungen einwohnen, durch die, wenn sie auchnicht getrennt für sich bestehen, doch das Einzelne alssolches zu dieser Gattung gehört. Nun kann man aberdiejenigen, welchen ein Sinn abgeht, nicht zu demEinzelnen hinführen, denn nur der Sinn erfasst die

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einzelnen Dinge und man kann das Wissen von ihnennicht erlangen und zwar weder aus den Allgemeinemohne Induktion noch aus der Induktion ohne die sinn-liche Wahrnehmung.

Neunzehntes Kapitel

Jeder Schluss geschieht vermittelst dreier Begriffe,und wenn man durch den Schluss beweisen kann,dass A in dem C enthalten ist, so geschieht es, weil Ain dem B und dieses in C enthalten ist; während derverneinende Schluss darauf beruht, dass nach seinemeinen Vordersatz Etwas in einem Andern enthaltenist, und dass nach seinem zweiten Etwas in einem An-dern nicht enthalten ist. Es ist also klar, dass die ober-sten Grundsätze und die sogenannten Hypothesen vonsolcher Art sind; denn wenn man diese ansetzt, sokann man daraus mit Nothwendigkeit etwas bewei-sen; so wird z.B. der Satz, dass A in C enthalten ist,durch B bewiesen; ferner wird der Satz, dass A in Benthalten, durch einen andern Mittelbegriff bewiesenund dass B in C enthalten ist, in gleicher Weise.Wenn man nun bei den Schlüssen die Sätze nur nachder Meinung aufstellt und nur dialektisch verfährt, soist klar, dass man blos darauf zu sehen hat, dass derSchluss aus den glaubhaftesten Sätzen abgeleitet

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werde. Wenn also auch für die Begriffe A und B inWahrheit kein Mittelbegriff besteht, aber doch zu be-stehen scheint, so wird der, welcher auf einen solchenden Schluss baut, dialektisch geschlossen haben. Willman aber durch den Schluss die Wahrheit erreichen,so muss man auf das wirklich Seiende sein Augen-merk richten. Dies verhält sich aber folgendermaas-sen: Es giebt Bestimmungen die als solche von einemandern ausgesagt werden und nicht blos anhängend;(ich nenne es aber anhängend, wenn man z.B. sagt,jenes Weisse dort ist ein Mensch und doch nicht ingleicher Weise sagt: Der Mensch ist weiss; denn derMensch ist nicht als etwas Anderes weiss, während injenem Fall das Weiss ist, weil es einem Menschen an-hängt, der weiss ist.) Nun giebt es manche Bestim-mungen der Art, dass sie als solche ausgesagt werdenkönnen.

Es soll nun C der Art sein, dass es selbst in keinemandern enthalten ist, aber B soll in diesem Ersten ent-halten sein, ohne dass ein Anderes als Mittleres diesvermittelt. Ferner soll E in Z ebenso enthalten seinund Z ebenso in B. Muss man nun hier stehen blei-ben, oder kann man ins Endlose weiter gehen? Undwenn wieder von A an sich nichts ausgesagt wird,aber A in T als dem Ersten enthalten ist und kein Mit-telbegriff hier vorausgeht und wenn T in H enthaltenist und dieses in B, muss man da auch hier anhalten

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oder kann man hier ebenfalls ohne Ende weiter schrei-ten?

Dieser zweite Fall ist von dem ersten in so weit un-terschieden, dass das Eine zwar ist, und dass wennman mit diesem beginnt, was in keinem andern ent-halten ist, aber in dem Anderes enthalten ist, es mög-lich ist, ohne Ende weiter aufzusteigen. Beim erstenFall beginnt man dagegen mit dem, was zwar voneinem andern ausgesagt wird, aber von dem selbstkein Anderes ausgesagt wird und man muss hier nachUnten schauen, ob es möglich ist, ohne Ende so wei-ter zu gehen.

Ist es ferner wohl möglich, dass wenn die beidenäussern Begriffe fest bestimmt sind, die Mittelbegriffezwischen ihnen zahllos sein können? Ich meine diesso, dass wenn z.B. A in C enthalten ist und B ihr Mit-telbegriff ist und wenn von B und A noch andere Mit-telbegriffe vorhanden sind, ob auch diese Mittelbe-griffe ohne Ende fortgehen können, oder ob dies un-möglich ist? Diese Untersuchung ist dieselbe mit der,ob die Beweise ohne Ende fortgehen und ob es einenBeweis für jeden Satz giebt oder ob die Beweise be-grenzt sind?

Gleiches lässt sich auch über die verneinendenSchlüsse und Vordersätze sagen. Wenn z.B. A in kei-nem B enthalten ist, so ist dies entweder unvermitteltder Fall, oder es besteht zwischen ihnen ein Mittleres,

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in dem A schon zuvor nicht enthalten ist; wenn z.B.dies H ist, was dabei in dem ganzen B enthalten ist,und wenn ferner A noch vorher in einem dem H vor-gehenden z.B. in T nicht enthalten ist, welches T aberin dem ganzen H enthalten ist. Denn auch bei solchenverneinenden Schlüssen gehen entweder die Mittelbe-griffe, die den nachfolgenden Begriffen einwohnen,ohne Ende fort, oder es giebt irgendwo einen Still-stand.

Bei Sätzen, die sich umkehren lassen, verhält sichdies aber nicht ebenso. Bei solchen Sätzen, wo dasEine sich von dem Andern gegenseitig aussagen lässt,ist keines das erste oder das letzte. Hier verhalten sichalle Begriffe zu allen in gleicher Weise, mag das vondem Unterliegenden Ausgesagte oder mag das nachbeiden Richtungen Gesagte ohne Ende fortgehen.Dies findet nur da nicht statt, wo die Umkehrungnicht in derselben Weise geschehen kann, sondern dereine Begriff nur ein Anhängendes und des Andere alsein An sich bei der Umkehrung erscheint.

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Zwanzigstes Kapitel

Dass nun die Mittelbegriffe nicht ohne Ende fortge-hen können, wenn die äussern Begriffe nach untenund nach oben ein Ende haben, ist klar. Nach obennenne ich hier die Richtung auf das Allgemeinere,nach unten die auf das mehr Besondere. Denn wennvon dem A, welches von Z ausgesagt wird, die Mittel-begriffe ohne Ende fortgingen, welche hier mit B be-zeichnet sein sollen, so erhellt, dass man von A nachunten hin eines von dem andern ohne Ende aussagenkönnte (denn die Mittelbegriffe wären, ehe man zu Zgelangte, ohne Ende) und dass ebenso von Z aus nachoben die Reihe ohne Ende sein müsste, ehe man zu Agelangte. Wenn dies aber unmöglich ist, so könnenauch die Mittelbegriffe zwischen A und Z nicht ohneEnde fortgehen. Auch wird es keinen Unterschied ma-chen, wenn jemand sagte, dass ein Theil der zwischenA und B auftretenden Sätze so aneinander grenzte,dass kein Mittelbegriff sich zwischen ihnen befinde,und dass nur der andere Theil nicht bis an sein Endezu erfassen sei. Denn alle Begriffe, die ich dem B ent-nehme, beziehen sich entweder auf A oder auf Z,mögen dabei diese Mittelbegriffe endlos sein odernicht. Nun macht es aber keinen Unterschied, von woab diese Mittelbegriffe endlos werden und ob dies

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sogleich oder nicht sogleich eintritt; denn jedenfallswerden dann die nachfolgenden Mittelbegriffe endlossein.

Einundzwanzigstes Kapitel

Es erhellt, dass man auch bei den Beweis eines ver-neinenden Satzes zu einem Ende gelangen wird,wenn bei dem Beweis der bejahenden Sätze auf bei-den Seiten ein Halt besteht. Es sei daher nicht mög-lich, von dem untersten Begriff nach oben ohne Endefortzugehen (ich nenne »untersten Begriff« wie Z,den, welcher in keinem andern weiter enthalten ist,während aber ein anderer in ihm enthalten ist), undebenso nicht möglich, von dem obersten Begriff ohneEnde bis zu dem untersten fortzugehen (ich nenne»obersten Begriff« den, welcher zwar von einem an-dern ausgesagt wird, aber von dem selbst kein andererausgesagt wird). Wenn dies nun bei den bejahendenSchlüssen statt hat, so wird die Reihe der Mittelbe-griffe auch für die verneinenden Schlüsse ein Endehaben.

Der Beweis für eine Verneinung kann nämlich indreifacher Weise geführt werden. Entweder so, dassin dem ganzen C das B enthalten, aber in keinem Bdas A enthalten ist. Was hier nun den Satz B C

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anlangt und überhaupt immer den Untersatz, so müs-sen bei diesen die Mittelbegriffe ein Ende haben, dadiese Sätze bejahend lauten. Was aber den Obersatzanlangt, so ist klar, dass wenn der Oberbegriff A ineinen dem B vorhergehenden Begriff, z.B. in D nichtenthalten ist, dieses D dann in dem ganzen B enthal-ten sein muss; und wenn weiter der Oberbegriff A ineinem dem D vorgehenden Begriffe nicht enthaltenist, dieser letztere in dem ganzen D enthalten seinmuss. Da also der Weg nach Unten einen Endpunkthat, so wird auch der Weg nach Oben einen solchenhaben und es wird sich ein Erstes ergeben, in wel-chem A unvermittelt nicht - enthalten ist.

Wenn ferner das B in dem ganzen A, aber in kei-nem C enthalten ist, so wird A in keinem C enthaltensein. Wenn nun hier der verneinende Satz B C bewie-sen werden soll, so muss dies offenbar in der obigenWeise oder in der zweiten oder in der dritten Weisegeschehen. Die erste Weise ist schon besprochen wor-den; es ist also der Beweis durch die zweite Weise zubesprechen. Hier würde also der Beweis so zu führensein, dass z.B. D in dem ganzen B enthalten, aber inkeinem C, da nothwendig Etwas in B enthalten seinmuss. Und wenn dieses wieder in keinem C enthaltenist, so muss ein Anderes in D enthalten sein, was in Cnicht enthalten ist. Da nun der bejahende Satz in sei-ner Begründung nach oben immer zu einem Endpunkt

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gelangt, so wird auch der verneinende Satz einen Halterreichen.

Bei der dritten Weise ging der Beweis dahin, dasswenn A in dem ganzen B enthalten, C aber in B nichtenthalten ist, C nicht in dem ganzen A enthalten ist.Auch hier wird der verneinende Vordersatz entwederauf die bereits besprochenen beiden Weisen zu bewei-sen sein, oder der Beweis geschieht in der drittenWeise. Für jene beiden Weisen hat der Beweis, wiegezeigt worden, ein Ende; erfolgt er aber in der drittenWeise, so wird man wieder annehmen müssen, dass Bin E enthalten, und dass C nicht in dem ganzen E ent-halten, und dies muss auch ebenso geschehen, wennman in den Mittelbegriffen weiter geht. Da nun darge-legt worden, dass in diesem Fortgang nach Unten einHalt eintreten muss, so wird auch für die Sätze, wel-che das C verneinen, ein Halt eintreten.

Es erhellt also, dass wenn man auch den Beweisnicht blos auf einem Wege, sondern auf allen ver-sucht, also bald in der ersten, bald in der zweiten,bald in der dritten Weise, dennoch der Beweis immereinen Haltpunkt haben wird; denn die Zahl der Wegeist begrenzt und wenn man Begrenztes immer in be-grenzter Weise vervielfacht, so ist auch das Produktbegrenzt.

Es erhellt sonach, dass die verneinenden Beweisenicht ohne Ende fortgehen können, wenn nämlich dies

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auch bei den bejahenden statt hat; dies wird sich aberfür diejenigen, welche die Frage aus allgemeinen Ge-sichtspunkten betrachten, in folgender Weise ergeben.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Bei denjenigen Ausgesagten, welche das Was derDinge bezeichnen, ist dies klar; denn wenn das we-sentliche Was der Dinge definirbar oder erkennbar istund wenn das Unbegrenzte nicht ganz durchgangenwerden kann, so müssen nothwendig die Bestimmun-gen, welche das Was einer Sache enthalten, in sichbegrenzt sein. Ueberhaupt meine ich es so, dass manin Wahrheit sagen kann: Das Weisse geht und jenesGrosse ist Holz und wieder: Jenes Holz ist gross undder Mensch geht. Allein ob man in dieser oder jenerWeise spricht, das ist nicht dasselbe; denn wenn ichsage, das Weisse sei Holz, so sage ich, dass Das, beiwelchem es sich getroffen hat, dass es weiss ist, Holzist, aber ich meine nicht, dass das Weisse das demHolze Unterliegende sei; denn nicht das Weisse, nochetwas als Weisses ist Holz geworden; deshalb ist dasWeise nichts Anderes als ein dem Holze Anhängen-des. Wenn ich dagegen sage, dass das Holz weiss sei,so meine ich nicht, dass ein besonderes Weisse beste-he, welches nebenbei Holz geworden ist. Es ist

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ebenso, als wenn ich einen Musiker weiss nenne;denn hier geschieht es, weil der Mensch weiss ist unddieser nebenbei ein Musiker ist. Vielmehr ist also dasHolz das Unterliegende, was auch als Weisses nichtsanderes geworden ist, als Holz oder ein Stück Holz.Will man hier bestimmte Regeln aufstellen, so darfnur diese letztere Ausdrucksweise als ein Aussagengelten; dagegen ist jene Ausdrucksweise entweder garkein Aussagen, oder kein eigentliches Aussagen, son-dern nur ein nebensächliches Aussagen. Bei den ei-gentlichen Aussagen ist Weiss die ausgesagte Bestim-mung und Holz der Gegenstand, von dem es ausge-sagt wird; und es soll also feststehen, dass die ausge-sagte Bestimmung immer von dem Gegenstande imeigentlichen Sinne und nicht blos nebensächlich aus-gesagt werde; denn nur so liefern die Beweise einenBeweis. Wenn also eine Bestimmung von einem Ge-genstande ausgesagt wird, so muss sie entweder dasWas desselben aussagen, oder wie er beschaffen, oderwie gross er ist, oder worauf er sich bezieht, oder ober etwas bewirkt, oder etwas erleidet, oder wo undwenn er ist.

Ferner bezeichnen die Ausdrücke, welche ein Dingentweder allgemein oder als ein einzelnes bezeichnen,dasjenige, von dem etwas ausgesagt wird; alle Aus-drücke aber, welche kein Ding bezeichnen, sondernvon einem Anderen, als Unterliegenden, ausgesagt

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werden, also etwas, was nicht besteht und nicht einDing entweder allgemein oder als ein einzelnes ist,bezeichnen ein blos Anhängendes; so z.B. das Weissbei dem Menschen; denn der Mensch ist nicht dasWeisse oder ein Weisses, aber wohl ein Geschöpf undder Mensch ist als solcher ein Geschöpf. Was aberkein selbstständiges Ding bezeichnet, muss von einemGegenstande ausgesagt werden und darf nicht wie dasWeisse sein, was als etwas Anderes seiend weiss ist.Denn den Ideen muss man den Abschied geben; essind nur leere Laute und beständen die Ideen wirklich,so wären sie doch nichts für die Begründungen, undbei den Beweisen handelt es sich doch um diese Be-gründungen.

Wenn ferner das Eine nicht die Beschaffenheit voneinem Andern und zugleich dies Andere die Beschaf-fenheit von jenem ist und es überhaupt keine Beschaf-fenheit von Beschaffenheiten giebt, so kann das Einevon dem Andern nicht wechselsweise ausgesagt wer-den; man kann dann wohl in Wahrheit das Eine vondem Andern aussagen, aber nicht umgekehrt. Aber,wird man sagen, es kann doch etwas als Ding zweiterOrdnung ausgesagt werden, z.B. wenn es die Gattungoder der Art-Unterschied des Ausgesagten ist. Aberbei diesen ist gezeigt worden, dass sie nicht ohneEnde fortgehen, weder nach Unten noch nach Oben.So ist z.B. der Mensch ein Zweifüssiges; dieses ist

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ein Geschöpf und dieses wieder ein Anderes; ebenso-wenig kann man nach Unten ohne Ende das Geschöpfvon dem Menschen und den Menschen vom Kalliasund diesen von einem andern Seienden aussagen; viel-mehr kann man jedes solches Ding definiren, währendman das Endlose im Denken nicht bis zu Ende durch-wandern kann. Mithin sind jene Dinge weder nachoben noch nach unten ohne Grenze; denn das, vonwelchem Endloses ausgesagt werden kann, lässt sichnicht definiren.

Als Gattungen können somit diese Bestimmungennicht wechselsweise von einander ausgesagt werden,denn sonst würde etwas als das ausgesagt, was esselbst ist. Auch bei den Beschaffenheiten und den üb-rigen Kategorien kann dies nicht geschehen, siemüssten denn blos als ein Nebenbei ausgesagt wer-den; denn alle diese Kategorien haften an einemSelbstständigen und werden von Dingen ausgesagt.Aber auch nach oben können die Kategorien nichtohne Ende fortgehen; denn sie sagen von jedem Dingeaus, was es bedeutet, entweder eine Beschaffenheitoder eine Grösse oder eine andere solche Kategorieoder das, was in dem Dinge enthalten ist; diese Be-stimmungen sind aber begrenzt und auch die Gattun-gen der Kategorien sind nur in einer bestimmten An-zahl vorhanden, denn sie sind entweder eine Beschaf-fenheit, oder eine Grösse, oder eine Beziehung, oder

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eine Wirksamkeit, oder ein Leiden, oder ein Wo oderein Wenn. Nun steht aber fest, dass eines von Einemausgesagt wird, und dass diese Kategorien nicht voneinander ausgesagt werden können, da sie keineDinge sind; vielmehr hängen sie alle einem Dinge an,entweder als ein An sich oder in einer andern Weise.Von allen diesen sage ich, dass sie von einem Unter-liegenden ausgesagt werden und dass das blos Anhän-gende kein Unterliegendes ist; denn von keinem sol-chen Anhängenden nimmt man an, dass es nicht aneinem Anderen sei, was so benannt wird; vielmehrkommt das eine diesem Dinge, das andere einem an-dern Dinge zu und so fort.

Es wird also weder nach oben noch nach untenohne Ende Eins vom Andern ausgesagt werden kön-nen; denn die Dinge sind, so weit von ihnen das ihremWesen nach ihnen Anhaftende ausgesagt wird, nichtohne Ende; nach oben aber sind sowohl die Begriffeder Dinge, wie das ihnen Anhaftende auch nicht ohneEnde. Folglich muss etwas bestehen, von dem, als Er-stem etwas ausgesagt wird; dieses kann dann weitervon etwas ausgesagt werden und man muss auch hierzuletzt zu Etwas als dem Letzten gelangen. Mithinmuss sowohl Etwas bestehen, was nicht mehr voneinem andern Früheren ausgesagt werden kann, wieetwas, von dem ein anderes Frühere nicht mehr ausge-sagt werden kann.

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Dies ist nun die eine Art, wie man dies beweisenkann; es giebt aber noch eine andere Art. Alles näm-lich, von dem ein Früheres irgend wie ausgesagt wird,lässt sich beweisen; was sich aber beweisen lässt,kann man nicht in einer bessern Weise als durch Wis-sen innehaben und wissen kann man es nicht ohneBeweis. Wenn nun Etwas durch Anderes uns bekanntwerden kann, aber wir dieses Andere nicht wissen,noch in einer andern Weise, die besser als das Wissenist, inne haben können, so werden wir auch das durchdieses Andere zu Erfassende nicht wissen. Wenn nunEtwas durch Beweis schlechthin gewusst werdenkann, und dies Wissen nicht auf einzelnen Fällen be-ruht, noch auf blossen Voraussetzungen, so müssendie als Mittelbegriff bei dem Beweis eintretenden Ka-tegorien der Zahl nach begrenzt sein. Denn wenn diesnicht der Fall wäre, sondern man immer noch höhereMittelbegriffe annehmen könnte, so könnte zwar vonAllem ein Beweis geführt werden, aber da man dasZahllose nicht einzeln bis aus Ende durchwandernkann, so würde man das Beweisbare dennoch nichtauf Grund von Beweisen wissen. Da man nun dieDinge auch nicht in einer bessern Weise, als wiedurch Wissen inne haben, so würde man dann über-haupt nichts durch Beweis schlechthin wissen, son-dern nur auf Grund von Voraussetzungen.

Schon von allgemeinen Gesichtspunkten aus wird

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man hiernach meiner Behauptung Glauben schenken;indess lässt sich auch analytisch im folgender Weisekürzer darthun, dass für das beweisbare Wissen, umdas es sich hier handelt, die zum Beweise nöthigenBegriffe weder nach oben, noch nach unten ohne Endefortgehen. Denn der Beweis geht nur auf diejenigenBestimmungen, welche an-sich in den Dingen enthal-ten sind. Das An-sich ist aber doppelt; es gehörendazu alle Bestimmungen, welche in dem Was derDinge enthalten sind und zweitens diese Dinge, wel-che in dem Was jener Bestimmungen enthalten sind.So ist z.B. das Ungerade in der Zahl enthalten und dieZahl selbst ist wieder in dem Begriff des Ungeradenenthalten und ebenso ist die Menge oder das Diskretein dem Begriffe der Zahl enthalten. Keines von diesenbeiden kann aber unbegrenzt sein, wie dies auch beidem Ungeraden der Zahl nicht der Fall sein kann;denn dann würde in dem Ungeraden ein Anderes ent-halten sein, welchem wieder das Ungerade zukommtund wenn dies ist, so wird die Zahl als Erstes den inihr enthaltenen Bestimmungen zukommen. Wenn alsodies bei Einem nicht endlos sein kann, so werdenauch nach oben hin die Begriffe nicht endlos sein.

Sonach müssen alle obern Begriffe in einem Erstenenthalten sein, wie z.B. in der Zahl und umgekehrtmuss auch die Zahl in ihnen enthalten sein, so dasssie sich austauschen lassen und keines über das

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Andere hinausgeht. Also sind auch alle Bestimmun-gen, die in dem Was eines Dinges enthalten sind,nicht zahllos, denn sonst könnte keine Definition ge-geben werden. Wenn somit alle ausgesagten Bestim-mungen zu dem An sich des Dinges gehören unddiese Bestimmungen nicht zahllos sind, so wird dasBeweisen sowohl nach Oben, wie nach Unten einenEndpunkt haben.

Ist dies aber der Fall, so wird auch die Zahl derMittelbegriffe zwischen den beiden äussern Begriffeneines Schlusses immer begrenzt sein, und wenn diessich so verhält, so ist klar, dass auch bei den Bewei-sen es gewisse oberste Grundsätze geben muss unddass nicht Alles bewiesen werden kann, obgleich, wieerwähnt, Einige dies auch von solchen Grundsätzenbehaupten. Giebt es nämlich oberste Grundsätze, sokann weder für Alles ein Beweis geführt werden undebenso wenig kann der Beweis ins Endlose verlaufen.Fände eines von diesen beiden statt, so hiesse das soviel, als dass es überhaupt keinen Satz gebe, der un-vermittelt und unauflösbar wäre, sondern jeder Satzmüsste sich auf Mittelbegriffe stützen. Denn ein zubeweisender Satz wird nicht durch Hinzunahmeäusserer Begriffe, sondern durch Einschiebung vonMittelbegriffen bewiesen. Wenn man also mit demBeweisen eines Satzes ohne Ende weiter gehen könn-te, so müssten auch die zwischen zwei äusseren

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Begriffen vorhandenen Mittelbegriffe zahllos sein.Dies ist jedoch nicht möglich, wenn die Begriffe nachOben und nach Unten ein Ende haben und dass diesder Fall ist, habe ich vorhin aus allgemeinen Ge-sichtspunkten und jetzt analytisch dargethan.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Nachdem dies dargelegt worden, erhellt, dass,wenn dieselbe eine Bestimmung in zweien Dingenenthalten ist, z.B. wenn A in C und in D enthalten istund das eine von diesen beiden letzteren von dem an-dern entweder gar nicht oder nur beschränkt ausgesagtwerden kann, dass dann jene Bestimmung, wie A, die-sen beiden nicht immer in Bezug auf etwas Gemeinsa-mes zukommen wird. So ist z.B. in dem gleichseiti-gen und in dem ungleichseitigen Dreieck die Bestim-mung, dass ihre Winkel zweien rechten gleich sind,vermöge Etwas, beiden Dreiecken Gemeinsamen ent-halten; denn sie wohnt ihnen als gewissen Figureninne, und nicht insofern sie etwas Anderes sind. Al-lein dies verhält sich nicht immer so. So soll z.B. B essein, vermöge welches A in C und D enthaten ist.Wäre nun dies immer der Fall, so ist klar, dass dannauch B in C und D vermöge einer engern gemeinsa-men Bestimmung enthalten sein müsste und dass

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diese andere gemeinsame Bestimmung wieder vermö-ge einer dritten darin enthalten wäre; mithin würdenzwischen zwei äussern Begriffen eine endlose Zahlvon Mittelbegriffen sich einschieben, was doch un-möglich ist. Deshalb ist es nicht nothwendig, dass einund dieselbe Bestimmung mehreren Dingen immervermöge eines ihnen Gemeinsamen einwohne, denn esgiebt auch unvermittelte Sätze. Jedoch müssen dieBegriffe zu derselben Gattung gehören und aus den-selben unvermittelten obersten Grundsätzen ableitbarsein, wenn das ihnen Gemeinsame zu den ihnenan-sich zukommenden Bestimmungen gehören soll;denn die Beweissätze dürfen nicht aus einer Gattungin die andern übergehen.

Es ist auch klar, dass wenn A in B enthalten ist,dies bewiesen werden kann, wenn ein Mittelbegriffzwischen beiden vorhanden ist. Diese Mittelbegriffesind die Elemente und solcher Elemente sind so vielals Mittelbegriffe vorhanden; denn die unvermitteltenSätze sind die Elemente des Beweises und zwar sindsie es entweder alle oder doch die allgemein lauten-den. Ist aber für den Satz A B kein Mittelbegriff vor-handen, so kann er auch nicht bewiesen werden, son-dern man gelangt zu ihm auf dem Wege, auf demüberhaupt die obersten Grundsätze gewonnen werden.

Dasselbe gilt, wenn A von B verneint wird. Ist hierein Mittelbegriff oder ein früherer Begriff vorhanden,

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in dem A nicht enthalten ist, so kann der Satz bewie-sen werden; wo nicht, so kann dies nicht geschehen,vielmehr sind dann solche Begriffe die obersten unddie Elemente und zwar sind deren so viele, als solcheBegriffe vorhanden sind, weil die aus ihnen gebilde-ten Sätze die obersten Grundsätze des Beweises bil-den. So wie eine Anzahl von unbeweisbaren Grund-sätzen dahin lauten, dass Etwas Dieses sei und dassEtwas in Diesem enthalten sei, so lauten eine Anzahlanderer dahin, dass Etwas nicht Dieses und dassEtwas nicht in Diesem enthalten sei; es giebt dahersowohl Grundsätze für das Sein, wie für dasNicht-sein von Etwas.

Wenn etwas bewiesen werden soll, so muss manden Begriff nehmen, welcher von dem Unterbegriff Bam nächsten ausgesagt wird; es sei z.B. C ein solcherund von C wieder A ein solcher. Wenn man immer sovorschreitet, so wird man bei dem Beweise niemalsvon Aussen einen Begriff oder eine in A enthalteneBestimmung in Ansatz bringen, sondern immer denMittelbegriff zwischen A und C aufnehmen, bis manzu einem Satze gelangt, der nicht weiter theilbar undein einfacher ist; und dies ist dann der Fall, wenn keinMittelbegriff mehr sich einschiebt und der damit ge-bildete Vordersatz einfach und unvermittelt ist. Sowie nun in andern Dingen der Anfang einfach ist, abernicht in allen dasselbe, sondern bei dem Gewicht die

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Mine, bei der Melodie der Viertelston, und so weiterin andern Dingen ein anderes, so ist bei dem Schlüsseder unvermittelte Vordersatz dies Eine und bei demBeweise und der Wissenschaft ist es die Vernunft.

Bei den Schlüssen, womit ein bejahender Satz be-wiesen wird, kommt sonach kein Mittelbegriff vonAussen hinzu; bei den verneinenden Schlüssen kommtzu den in der Mitte stehenden Begriff auch kein Be-griff von Aussen hinzu; z.B. wenn A in dem B ver-mittelst des C nicht enthalten ist. Denn wenn C indem ganzen B, aber A in keinem C enthalten ist, sowürde, damit A in keinem C enthalten ist, wieder einMittelbegriff zwischen A und C zu setzen sein undman würde immer so fortfahren müssen. Soll manaber beweisen, dass D dem E nicht zukomme, weil Cin dem ganzen D enthalten ist und in keinem E, oderin einigen E nicht enthalten ist, so wird der Mittelbe-griff niemals ausserhalb E herbeizunehmen sein unddieses E ist es, in dem D nicht enthalten sein soll. Beider dritten Schlussfigur wird der Mittelbegriff nie-mals, weder ausserhalb des Begriffes der etwas ver-neint, noch ausserhalb dessen, von welchem etwasverneint wird, zu nehmen sein.

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Da der Beweis bald für einen allgemeinen bald füreinen beschränkten Satz geführt wird, und bald füreinen bejahenden und bald für einen verneinendenSatz, so entsteht die Frage, welcher von diesen Be-weisen der bessere sei; auch über den direkten undden in das Unmögliche führenden Beweis kann diegleiche Frage sich erheben.

Ich werde in dieser Hinsicht zunächst den allge-mein und den beschränkt geführten Beweis in Be-tracht nehmen und wenn hierüber Klarheit erreichtworden, werde ich über den direkten und den Unmög-lichkeits-Beweis sprechen.

Wenn jemand hierüber nachdenkt, so kann ihmleicht der beschränkt lautende Beweis als der besseregelten; denn da derjenige Beweis der bessere ist, derzu einem Mehr-Wissen führt (denn darin besteht derWerth des Beweises) und da man jedwedes mehrweiss, wenn man es in Bezug auf es selbst und nichtin Bezug auf ein anderes weiss, wie man z.B. vondem Musiker Koriskos mehr weiss, wenn man weiss,dass Koriskos ein Musiker ist, als wenn man weiss,dass dieser Mensch, ohne ihn bestimmter zu kennen,musikalisch ist, so gilt dies auch in andern Fällen.Nun geht aber der allgemeine Beweis nur auf etwas

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Anderes, nicht auf das Eigentliche, z.B. dass dasgleichseitige Dreieck nicht als solches, sondern alsDreieck überhaupt zwei rechte Winkel enthält; dage-gen geht der beschränkte Beweis auf den Gegenstandselbst. Ist nun das Wissen des Gegenstandes selbstdas bessere und ist das Wissen von Beschränktemmehr, wie das allgemeine Wissen von solcher Art, sowird auch der beschränkte Beweis der bessere sein.Da ferner das Allgemeine nicht etwas neben den Ein-zelnen ist, aber der Beweis desselben die Meinungbeibringt, dass das, was bewiesen wird, etwas für sichsei und dass eine bestimmte Natur in dem so bewiese-nen enthalten sei, z.B. dass das allgemeine Dreieckneben den einzelnen Dreiecken und die allgemeineGestalt neben den einzelnen Gestalten und die allge-meine Zahl neben den einzelnen Zahlen bestehe, undda der Beweis für ein Seiendes besser ist, als für einNicht-Seiendes, und der Beweis besser, durch denman nicht getäuscht wird, als der, durch welchen diesgeschieht und da der allgemeine Beweis der letzternArt ist (denn bei Führung dieses Beweises geht man,wie bei dem eines Aehnlichen vor, also dass das, wasso beschaffen, also, was zwar weder Linie, noch Zahl,noch Körper, noch Fläche, doch etwas Aehnlichesneben diesen sei); also, wenn der allgemeine Beweismehr von solcher Art ist, und über das Seiende weni-ger Wissen gewährt, als der beschränkte Beweis und

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wenn er auch zu einer falschen Meinung führt, sodürfte der allgemeine Beweis wohl schlechter sein, alsder beschränkte.

Aber zunächst gilt dieser letztere Grund nicht weni-ger für das Allgemeine wie für das Einzelne. Dennwenn die zwei rechten Winkel der Gestalt einwohnen,nicht insofern sie eine gleichseitige ist, sondern inso-fern sie ein Dreieck ist, so weiss der, welcher den Satznur von dem gleichseitigen Dreieck weiss, wenigervon der Sache selbst, als der, welcher weiss, dass derSatz für das Dreieck gilt. Ueberhaupt aber wird eskein Beweis sein, wenn derselbe nicht darauf gestütztwird, dass der Satz von dem Dreieck als solchemgelte; wird er aber darauf gestützt, so weiss derjenigemehr, welcher das Einzelne vermöge seines in demAllgemeinen Enthaltenseins kennt. Und wenn der Be-griff des Dreiecks von vielen Dreiecken gilt, aberdabei sein Begriff derselbe bleibt und das Wort: Drei-eck nicht für verschiedene Begriffe gebraucht wird,und wenn in jedem Dreieck die Winkel zweien rech-ten gleich sind, so hat das Dreieck nicht als gleich-schenkliches, sondern das gleichschenkliche hat alsDreieck dergleichen Winkel. Deshalb weiss der, wel-cher das Allgemeine weiss, mehr, wie es sich verhält,als der, welcher nur den Satz in beschränkter Weiseweiss, deshalb ist der allgemeine Beweis besser alsder beschränkte. Wenn ferner ein Begriff einer ist und

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das Allgemeine nicht in doppelsinniger Weise ge-braucht wird, so wird er wohl nicht weniger als dieje-nigen Mehreren, welche von dem beschränktem Be-griff befasst werden, sondern er wird selbst mehr sein,da in dem Allgemeinen das unvergängliche enthaltenist, aber in dem Beschränktem und Einzelnen mehrdas Vergängliche. Auch ist gar keine Nothwendigkeitvorhanden, dass man annehmen müsse, das Allge-meine sei etwas für sich neben den Einzelnen; man istdazu hier nicht mehr genöthigt, wie bei allem ande-ren, was kein einzelnes Ding bezeichnet, sondern eineBeschaffenheit, oder eine Beziehung, oder ein Thun.Geschieht es dennoch, so ist nicht der Beweis daranschuld, sondern der Zuhörer.

Da ferner der Beweis ein Schluss ist, welcher denGrund und das Warum darlegt, so ist das Allgemeinemehr begründend, denn so weit ihm Etwas als einAn-sich einwohnt, ist es sich selbst der Grund dassihm dasselbe einwohnt; das Allgemeine ist aber daserste, mithin enthält es den Grund, und deshalb istauch ein allgemeiner Beweis der bessere; denn ergiebt mehr den Grund und das Warum für den Gegen-stand an. Auch sucht man das Warum soweit undglaubt es erst dann zu wissen, wenn der Grund sichnicht mehr darauf stützt, dass ein Anderes, als erselbst, werde oder bestehe; denn das Ziel und das äu-sserste Ende ist von dieser Art. So frägt jemand:

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Weshalb ist er gegangen? und man antwortet: UmGeld zu empfangen; und dies geschah, um zu bezah-len, was er schuldig war, und dies sollte geschehen,damit er nicht unrecht handle. Wenn man so weiterschreitet, bis etwas erreicht ist, was nicht mehr für einAnderes, oder um eines Andern willen geschieht, sosagt man, dass er deshalb, als des Zieles wegen ge-gangen sei, oder dass deshalb etwas bestehe oder ge-worden sei, und man weiss dann am meisten, weshalber gegangen ist. Da es sich nun ebenso mit allenGründen und mit dem Weshalb verhält und da manda, wo man vermittelst der Gründe und des Weshalb,etwas weiss, ein grösseres Wissen hat, so wird manauch von andern Dingen dann am meisten wissen,wenn man weiss, dass es nicht mehr durch ein Ande-res bedingt besteht. Wenn man also weiss, dass diedrei Aussenwinkel eines Dreiecks zusammen vierrechten Winkeln gleich sein, weil das Dreieck gleich-schenklich ist, so bleibt auch die Frage, weshalb diesbei der gleichschenklichen Gestalt stattfinde, und esergiebt sich als Grund, weil es ein Dreieck ist, und fürdieses ergiebt sich als Grund, weil es eine geradlinigeFigur ist. Wenn für diesen Grund nun nicht wiederetwas Anderes als Grund besteht, so weiss man dannam meisten und man weiss dann ein Allgemeines;mithin ist der allgemeine Beweis der bessere.

Ferner geräth der Beweis, je mehr er ein

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beschränkter wird, desto mehr in das Endlose, wäh-rend der allgemeine Beweis zu dem Einfachen undBegrenzten führt. Nun ist aber Etwas als Endlosesnicht wissbar, als Begrenztes aber ist es wissbar; mit-hin ist etwas, als Allgemeines mehr wissbar, wie alsBeschränktes; mithin ist auch das Allgemeine mehrbeweisbar, und was mehr beweisbar ist, davon istauch der Beweis ein stärkerer; denn das mit einanderGehende nimmt auch mit einander und gleichzeitigzu. Mithin ist der allgemeine Beweis besser, weil ermehr beweist. Auch ist derjenige Beweis vorzügli-cher, vermöge dessen man Dieses und Anderes weiss,als der, vermöge dessen man nur Dieses weiss; nunweiss aber der, welcher das Allgemeine kennt, auchdas Besondere, aber wer nur dieses kennt, weiss nichtdas Allgemeine. Also ist auch deshalb der allgemeineBeweis vorzüglicher. Ferner auch deshalb, weil derallgemeine Beweis mehr ein Beweis durch einen Mit-telbegriff ist, welcher dem obersten Grundsätze nähersteht. Am nächsten steht nun der unvermittelte Satz,dies ist aber der oberste Grundsatz. Wenn nun der Be-weis aus dem obersten Grundsatz genauer ist, als der,welcher nicht aus demselben geführt wird, so wirdauch der Beweis aus Sätzen, die dem obersten Grund-satz näher stehen, genauer sein, als der aus entfernte-ren. Nun ist aber der allgemeine Beweis mehr aus sol-chen nähern Sätzen gebildet und deshalb auch der

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bessere. Wenn man z.B. zeigen sollte, dass A vondem D gelte und die Mittelbegriffe dafür B und Cwären, so wäre B der höhere Begriff und deshalb derdarauf gestützte Beweis mehr ein allgemeiner.

Manches von dem hier Gesagten beruht auf allge-meinen Gesichtspunkten; indess erhellt, der höhereWerth des allgemeinen Beweises am meisten daraus,dass wenn man von den Vordersätzen den obernkennt, man auch gewissermaassen den Untersatzkennt und ihn dem Vermögen nach weiss. Wenn z.B.jemand weiss, dass die Winkel in jedem Dreieckzweien rechten gleich sind, so weiss er auch gewisser-maassen und dem Vermögen nach, dass das Gleich-schenkliche zusammen zwei rechte Winkel enthält,wenn er auch nicht wirklich weiss, dass das Gleich-schenkliche ein Dreieck ist. Dagegen weiss der, wel-cher nur diesen Satz weiss, das Allgemeine keines-wegs, weder dem Vermögen, noch der Wirklichkeitnach. Auch ist der allgemeine Beweis ein gedachter,aber der beschränkte Satz läuft auf die Sinneswahr-nehmung hinaus.

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Soviel sei daher gesagt, dass der allgemeine Be-weis besser ist, als der beschränkte. Dass aber der be-jahende Beweis besser ist, als der verneinende erhelltaus Folgendem. Es wird, wenn alles Andere gleichbleibt, derjenige Beweis der Bessere sein, welcher ausweniger Forderungen, oder Voraussetzungen oderVordersätzen abgeleitet wird; denn wenn auch dieVordersätze in beiden Fällen gleich bekannt sind, sowird man doch bei weniger solchen Sätzen das Wis-sen schneller erlangen; und dies ist doch ein Vorzug.Der Grund, weshalb der Beweis aus weniger Vorder-sätzen besser ist, ist indess ein allgemeiner. Wennnehmlich die Mittelbegriffe gleich bekannt sind, diedenselben vorgehenden Begriffe aber bekannter sind,so soll durch die Mittelbegriffe B, C, D der Beweisgeführt werden, dass A in E enthalten, und es sollauch durch die Mittelbegriffe Z, H bewiesen werden,dass A in E enthalten ist. Hier ist das Wissen, dass imersten Falle A in D enthalten ist das dem Grade nachgleiche, wie das, dass im zweiten Falle A in E enthal-ten ist; und im ersten Schlüsse ist das Wissen, dass Ain D enthalten ist, das Frühere und Bekanntere, gegendas aus dem ersten Schlüsse sich ergebende Wissen,dass A in E enthalten; denn dasselbe wird hier aus

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dem Satze A D erst abgeleitet und der Grund istimmer das Glaubhaftere.

Sonach ist also der Beweis durch weniger vorge-hende Sätze besser, wenn alles Uebrige gleich ist.Nun werden zwar sowohl die bejahenden, wie die ver-neinenden Beweise mittelst dreier Begriffe und zweierVordersätze geführt; allein der bejahende Beweissetzt dabei nur dass etwas ist, der verneinende Beweisaber sowohl dass etwas ist, wie auch, dass etwas nichtist; also vollzieht sich letzterer durch Mehreres und istdeshalb schlechter.

Ferner habe ich dargelegt, dass wenn beide Vorder-sätze verneinend lauten, kein Schlusssatz daraus ab-geleitet werden kann; vielmehr kann nur der eine Vor-dersatz so lauten, der andere muss aber bejahend lau-ten. Hierzu kommt aber noch, dass bei einem an Vor-dersätzen zunehmenden Beweise, der bejahendenVordersätze mehr werden müssen, während an vernei-nenden Vordersätzen in dem ganzen Schlüsse niemehr als einer vorkommen kann. So soll z.B. A inkeinem B, aber B in allen C enthalten sein. Im Fallenun beide Vordersätze vermehrt werden sollten, somüsste ein Mittelbegriff eingeschoben werden. DieserMittelbegriff soll für den Satz A B, D und für denSatz B C, E sein; hier muss E offenbar einen bejahen-den Satz abgeben und D muss sich zu B bejahend undzu A verneinend verhalten, denn D muss in allen B,

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aber in keinem A enthalten sein; mithin entsteht nurein verneinender Vordersatz, nehmlich der mit A D.

Dasselbe gilt auch für die übrigen Schlussfiguren;denn der Mittelbegriff zu einem bejahenden Satzemuss sich immer bejahend zu den beiden Begriffendesselben verhalten. Dagegen kann der Mittelbegriffzu einem verneinenden Satze nur zu einem von beidenBegriffen verneinend lauten, so dass überhaupt nurein verneinender Vordersatz sich ergeben kann unddie übrigen bejahend lauten müssen. Wenn nun dieSätze, durch welche etwas bewiesen wird, bekannterund zuverlässiger sind, der verneinende Beweis aberauf den bejahenden Beweis sich stützt, während die-ser jenen zum Beweise nicht benutzt, so wird der be-jahende Beweis als der bekanntere und frühere undzuverlässigere auch der bessere sein.

Ferner ist die Grundlage des Schlusses der allge-meine unvermittelte Obersatz und dieser lautet in dembejahenden Beweise bejahend, in dem verneinendenBeweise aber verneinend; da jedoch der bejahendeSatz früher und bekannter ist als der verneinende,weil die Verneinung erst durch die Bejahung erkanntwird und durch die Bejahung des Früheren ist, ebensowie das Sein früher ist, als das Nichtsein, so erhellt,dass die Grundlage des bejahenden Beweises besserist, als die des verneinenden Beweises; und ein Be-weis, welcher sich auf eine bessere Grundlage stützt,

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ist selbst der bessere. Auch ist er mehr der Anfangalles Wissens denn ohne den bejahenden Beweis gäbees keinen verneinenden.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Wenn sonach der bejahende Beweis besser ist, alsder verneinende, so erhellt auch, dass er besser ist alsder zu dem unmöglichen fahrende Beweis. Indessmuss man den Unterschied Beider kennen. Es sollalso A in keinem B, aber B in dem ganzen C enthal-ten sein; hier muss also A in keinem C enthalten sein.Wenn die Sätze so angesetzt werden, so würde derBeweis ein direkt verneinender sein, dahin, dass A inC nicht enthalten ist. Der zu dem unmöglichen füh-rende Beweis ist aber so beschaffen, dass, wenn damitbewiesen werden sollte, dass A in B nicht enthaltensei, man anzunehmen habe, es sei darin enthalten, undferner dass B in C enthalten, so dass mithin A in Centhalten sein müsste. Von diesem Schlusssatz A in Cgilt aber als bekannt und anerkannt, dass er unmög-lich ist; also kann der Satz A in B nicht richtig sein.Denn wenn man anerkennt, dass B in C enthalten ist,so ist es unmöglich, dass A in B enthalten sei. Hier-nach werden bei dieser Beweisart die Begriffe ähnlichgeordnet, und der Unterschied liegt darin, welcher von

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beiden verneinenden Sätzen als der zuverlässigeregilt, ob dies der Satz ist, dass A in B nicht enthaltenist, oder der, dass A nicht in C enthalten ist. Gilt nunder Schlusssatz in seiner Verneinung als zuverlässi-ger, so entsteht der Beweis auf das Unmögliche; giltaber der Obersatz des Schlusses als zuverlässiger, soentsteht der direkte Beweis. Nun ist der Satz, dass Ain B enthalten der Natur nach früher, als der Satz,dass A in C enthalten sei; denn er geht dem Schluss-satze voran und dieser wird aus ihm abgeleitet. Fernerist der Satz, dass A in C nicht enthalten ist, einSchlusssatz, während der Satz, dass A in B nicht ent-halten ist, der ist, aus welchem der Schlusssatz abge-leitet wird; und wenn man etwas widerlegen will, sowendet man sich nicht gegen den Schlusssatz, son-dern gegen die Sätze, aus denen er abgeleitet wordenist. Nun ist aber das, durch welches etwas gefolgertwird, ein Schluss, welcher sich so verhält, wie dasGanze zum Theil oder wie der Theil zu dem Ganzen,während die Sätze A C und A B sich nicht so zu ein-ander verhalten. Wenn sonach ein Beweis aus Be-kannteren und Früheren der Bessere ist, so sind zwarbeide Beweisarten aus verneinenden Sätzen abgeleitetund deshalb glaubwürdig; allein der direkte Beweisstützt sich auf Früheres, der Beweis auf das Unmögli-che aber auch Späteres und deshalb wird ersterer bes-ser sein, als letzterer. Da nun der bejahende Beweis

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wieder besser ist als der verneinende, so ist er auchbesser als der Beweis auf das Unmögliche.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Diejenige Wissenschaft, welche zugleich das Dassund das Warum enthält, ist genauer und früher, alsdie, welche nicht beides enthält; jedoch darf dasWarum in jener nicht von dem Dass getrennt sein.Ebenso ist die Wissenschaft, welche von demNicht-Unterliegenden handelt, genauer und früher, alsdie, welche von diesem handelt, wie z.B. die Arithme-tik gegenüber der Harmonielehre. Auch ist die Wis-senschaft, welche aus wenigeren obersten Grundsät-zen abgeleitet ist, genauer und früher, als die, welchesich noch auf sinnliche Zusätze stützt, wie z.B. dieArithmetik gegenüber der Geometrie. Ich meine abermit Zusatz es so, wie z.B. die Eins ist Etwas ohne Zu-satz, der Punkt ist aber ein Etwas mit Zusatz, und dieWissenschaft davon stützt sich auf einen Zusatz.

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Die Wissenschaft ist eine, wenn sie eine Gattungzum Gegenstande hat und ihr Inhalt sich aus denobersten Grundsätzen derselben zusammensetzt unddie Theile und Zustände dieser, so weit sie zumAn-sich gehören, behandelt. Dagegen ist die eineWissenschaft von der anderen verschieden, wenn ihreAnfänge nicht aus derselben Quelle abfliessen, nochihre Sätze so beschaffen sind, dass die der einen sichaus denen der anderen ableiten lassen. Man erkenntdies dann, wenn man zu den nicht mehr beweisbarenGrundsätzen vorschreitet; denn diese müssen beieiner Wissenschaft zu derselben Gattung wie das dar-aus Abgeleitete gehören. Auch kann man dies daranerkennen, wenn die aus ihnen abgeleiteten Sätze in-nerhalb derselben Gattung bleiben und mit einanderverwandt sind.

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Ein und dasselbe kann durch mehrere verschiedeneBeweise dargelegt werden, auch wenn man den näch-sten Mittelbegriff nicht aus derselben Reihe verwand-ter Begriffe entnimmt; z.B. wenn man für die BegriffeA und B nicht blos die Mittelbegriffe C oder D und Zbenutzt, sondern die Mittelbegriffe aus einer anderenReihe entnimmt So sei z.B. A das sich Verändern Ddas sich Bewegen, B das sich Freuen und ferner H dasruhig sein. Hier kann nun in Wahrheit D von B und Avon D ausgesagt werden; denn wer sich freut, bewegtsich und wer sich bewegt, verändert sich. Aber eskann auch wieder A von H und H von B in Wahrheitausgesagt werden, denn jeder der sich freut, ist ruhigund wer ruhig wird, verändert sich. Sonach kann derSchluss aus verschiedenen Mittelbegriffen und auchaus solchen die nicht zu derselben Reihe verwandterBegriffe gehören, abgeleitet werden. Indess kann diesdoch nicht in der Weise geschehen, dass keiner derMittelbegriffe von dem andern ausgesagt werdenkönnte, vielmehr müssen Beide in dem Umfange eineshöheren Begriffes enthalten sein. Auch bei den übri-gen Schlussfiguren muss man untersuchen, wie viel-fach der Beweis ein und desselben Satzes geführt wer-den kann.

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Dreissigstes Kapitel

Von dem Zufälligen giebt es kein beweisbaresWissen. Denn das Zufällige ist weder ein nothwendi-ges noch ein meistentheils, sondern ein neben diesenGeschehendes, während der Beweis nur für eines vonjenen Beiden statt hat, da jeder Schluss sich auf Vor-dersätze stützt, die entweder nothwendige sind odermeistentheils gelten. Wenn die Vordersätze nothwen-dig sind, ist es auch der Schlusssatz, gelten jene abernur meistentheils so ist dies auch mit dem Schlusssatzder Fall. Da nun das Zufällige weder zu dem Notwen-digen noch zu den meistentheils Geltenden gehört, sokann man es nicht beweisen.

Einunddreissigstes Kapitel

Auch durch die Sinne kann ein solches Wissennicht erlangt werden; denn wenn auch der Sinn auf dieBeschaffenheit und nicht blos auf das Einzelne geht,so muss doch das Wahrnehmen dieses Einzelnen undseinen Ort und sein Jetzt auffassen; aber das Allge-meine und bei Allen Geltende kann man nicht wahr-nehmen; denn es ist kein Dieses und kein Jetzt, sonstwäre es kein Allgemeines, da man nur das, was immeroder überall gilt, allgemein nennt. Da nun die

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Beweise das Allgemeine bieten und dies nicht wahr-nehmbar ist, so erhellt, dass ein Wissen durch dieSinne nicht erlangt wird. Ja selbst wenn man wahr-nehmen könnte, dass das Dreieck in seinen Winkelnzusammen zweien rechten gleich sei, so verlangteman doch einen Beweis dafür und hätte vorher nochkein Wissen, wie Einige behaupten; denn das Wahr-nehmen erfasst nur das Einzelne, das Wissen aber be-ruht auf der Kenntniss des Allgemeinen. Wenn mandaher auch auf dem Monde wäre und sähe, wie dieErde das Sonnenlicht versperrt, so würde man dochnicht die Ursache der Mondfinsterniss wissen, dennman würde nur wahrnehmen, dass jetzt das Sonnen-licht ausbleibt, aber nicht warum überhaupt, denn dasAllgemeine kann nicht wahrgenommen werden. Wennman indess dieses Ereigniss oft betrachtete, und damitdas Allgemeine ausspürte, so würde man den Beweisgewinnen; denn wenn das Einzelne sich oft wieder-holt, so wird das Allgemeine offenbar. Das Allge-meine ist werthvoller, weil es die Ursache offenbartund deshalb ist das allgemeine Wissen solcher Dinge,deren Ursache in einem Andern enthalten ist,werthvoller, als die sinnliche Wahrnehmung dersel-ben oder das Denken derselben; doch verhält es sichmit den obersten Grundsätzen anders.

Hiernach ist klar, dass man durch Wahrnehmen un-möglich das Wissen des Beweisbaren erlangt, man

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müsste denn ein Wahrnehmen es nennen, wenn mandas Wissen auf Grund von Beweisen hat. Indess be-ruht allerdings bei den zu lösenden Aufgaben Man-ches auf dem Mangel der Wahrnehmung. Denn wennman nach dem Sehen von Manchen verlangt, so ge-schieht es nicht, als wenn man durch das Sehen dasWissen erlangen könnte, sondern weil man aus demSehen das Allgemeine gewinnt. Wenn man z.B. auchdie Poren des Glases und den Durchgang des Lichtessehen könnte, so wäre damit zwar offenbar, weshalbEtwas austrocknet, aber doch nur vermittelst des Se-hens der besonderen einzelnen Fälle und vermittelstdes gleichzeitigen Denkens, dass es sich so in allenFällen verhalte.

Zweiunddreissigstes Kapitel

Dass nun für alle Schlüsse die obersten Grundsätzeunmöglich dieselben sein können, ergiebt sich zu-nächst aus allgemeinen Betrachtungen. Denn von denSchlüssen sind die einen wahr, die andern falsch; undman kann zwar aus Falschem Wahres folgern, alleindies geschieht nur einmal, nehmlich wenn A von Crichtig ausgesagt wird, aber der Mittelbegriff falschist; denn dann ist A weder in B, noch B in C enthal-ten. Wenn man aber dann von diesen falschen

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Vordersätzen deren Mittelbegriffe aussagt, so werdensich diese Vordersätze als falsche erweisen, weil jederfalsche Schlusssatz nur aus falschen Vordersätzen ab-geleitet werden kann, wie umgekehrt aus wahren Vor-dersätzen nur wahre abzuleiten sind; deshalb sind dieobersten Grundsätze für das Falsche und für dasWahre verschieden. Auch können die falschenSchlusssätze nicht immer aus den ihnen zugehörigenfalschen obersten Grundsätze abgeleitet werden; dennes giebt auch Falsches, was einander entgegengesetztist und nicht zugleich sein kann, wie z.B. dass die Ge-rechtigkeit die Ungerechtigkeit sei, oder dass sie dieFeigheit sei; ferner, dass der Mensch ein Pferd oderein Stier sei; oder dass von dem einander Gleichendas Eine grösser oder kleiner als das Andere sei.

Aber auch aus dem unmittelbar Vorliegenden lässtsich dies beweisen, weil selbst bei den wahrenSchlüssen die obersten Grundsätze nicht für alle die-selben sein können, da sie bei vielen der Gattung nachverschieden sind und nicht zu einander passen, wiez.B. die Einsen zu den Punkten nicht passen, da jeneohne Zusatz sind, aber diese einen Zusatz enthalten,während zu dem Schlusse nothwendig gehört, dassdie äusseren Begriffe entweder von Oben oder vonUnten zu dem Mittelbegriffe passen, oder dass dieBegriffe, welche den Aussenbegriffen von oben odervon unten beigefügt werden, zu denselben passen.

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Aber selbst unter den gemeinsamen oberstenGrundsätzen können keine solchen sein, aus denenalles bewiesen werden könnte. Ich verstehe hier unter»gemeinsamen« solche, wie z.B. dass Alles voneinem Gegenstande entweder bejaht oder verneintwerden könne. Denn die Gattungen des Seienden sindverschieden; manche Grundsätze gelten nur für Grös-sen, manche nur für Beschaffenheiten, mit welchendann durch die gemeinsamen Grundsätze der Beweisgeführt wird. Auch sind der Obersätze nicht viel we-niger, als der Schlussfolgerungen. Denn auf den Vor-dersätzen beruht der Schluss und die Vordersätze ent-stehen, indem entweder ein Begriff hinzugenommenoder zwischen sie eingeschoben wird. Ferner ist dieZahl der Schlussfolgerungen ohne Ende, während dieBegriffe dies nicht sind. Ferner sind die Sätze, mitwelchen man den Beweis beginnt, theils nothwendige,theils nur statthafte.

Bei solchen Erwägungen erscheint es als unmög-lich, dass die obersten Grundsätze nur in beschränkterZahl bestehen sollten, wenn die Schlussfolgerungenzahllos sind. Wenn man aber diesem in der Weiseentgegentreten wollte, dass von diesen Grundsätzendiese der Geometrie, jene der Logik, und jene derArzneikunst u.s.w. angehörten, so würde ein solcherEinwand doch anerkennen, dass oberste Grundsätzeder Wissenschaften bestehen; und es wäre lächerlich,

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sie für identisch zu erklären, weil sie mit sich selbstidentisch seien; denn auf diese Weise würde Alles zuein und demselben. Ebenso kann man nicht meinen,dass Alles beliebige aus allem bewiesen werdenkönne; denn dies wäre die Behauptung, dass für Allesdieselben obersten Grundsätze beständen, was sehrunverständig wäre. Dies geschieht weder in den allbe-kannten mathematischen Beweisen, noch zeigt essich, wenn man die Schlüsse auflöst; denn die unver-mittelten Vordersätze sind oberste Grundsätze undder Schlusssatz erhält einen andern Inhalt, indem einzweiter unvermittelter Vordersatz hinzugenommenwird. Wenn aber Jemand sagte, dass diese unvermit-telten ersten Vordersätze eben oberste Grundsätzeseien, so ist doch dann einer in jeder Gattung vorhan-den. Wenn man sonach nicht jedwedes aus jedemobersten Grundsätze, so wie es sich gehört, beweisenkann, und wenn diese Grundsätze auch nicht in derArt verschieden sein sollen, dass für jede Wissen-schaft nur verschiedene bestehen, so bliebe nur übrig,dass die obersten Grundsätze von allen Wissenschaf-ten mit einander verwandt wären, aber dabei aus die-sen dies, aus jenen jenes bewiesen würde.

Allein auch dies ist offenbar nicht statthaft; dennich habe gezeigt, dass für die der Gattung nach ver-schiedenen Gegenstände auch die obersten Grundsät-ze der Gattung nach verschieden sind. Denn diese

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Grundsätze sind von zweierlei Art, theils solche, ausdenen bewiesen wird, theils solche, welche die Ge-genstände betreffen, um die es sich handelt; ersteresind gemeinsame, letztere aber jeder Gattung eigent-hümlich, wie z.B. der Zahl, der Grösse u.s.w.

Dreiunddreissigstes Kapitel

Das Wissbare und die Wissenschaft sind von demGemeinten und der Meinung verschieden, weil dieWissenschaft das Allgemeine und Nothwendige zumGegenstande hat und das Nothwendige sich nichtauch anders verhalten kann. Nun giebt es zwar auchWahres und Seiendes was sich anders verhalten kann;aber hiervon kann es offenbar keine Wissenschaftgeben, denn dann müsste das, was sich auch andersverhalten kann, unmöglich sich anders verhalten kön-nen. Aber auch die Vernunft hat es nicht mit Solchemzu thun, denn Vernunft, behaupte ich, ist der Anfangder Wissenschaft. Auch ist die Wissenschaft kein un-beweisbares Wissen, welches in der Annahme unver-mittelter Sätze besteht. Nun ist sowohl die Vernunft,wie die Wissenschaft, und die Meinung und das aufsie Gestützte wahr; und so bleibt nur übrig, dass dieMeinung solches Wahre oder Falsche betrifft, wassich auch anders verhalten kann. Ein solches ist nun

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die Annahme eines unvermittelten, aber nicht noth-wendigen Vordersatzes. Auch stimmt dies mit der Er-fahrung, denn die Meinung ist unbeständig und ihreNatur ist solcher Art. Ueberdem glaubt Niemand,dass er nur etwas meine, wenn er glaubt, dass es sichnicht anders verhalten könne, sondern dann hält erdies für ein Wissen. Glaubt er aber, dass Etwas sichzwar so verhalte wie er es sich vorstellt, dass es abernichtsdestoweniger sich auch anders verhalten könnte,so hält er dies für ein Meinen; so dass also die Mei-nung solche Dinge, die Wissenschaft aber das Noth-wendige betrifft.

Wie kann man nun dasselbe meinen und wissenund weshalb ist die Meinung kein Wissen, wenn je-mand behauptete, dass alles, was er wisse, auch ge-meint werden könne? Sowohl der Wissende, wie derMeinende wird dann seine Ansicht durch Mittelbe-griffe begründen, bis er zu unvermittelten Sätzen ge-langt; wenn also jener ein Wissen hat, so wird auchder Meinende ein Wissen haben. Denn wie das Wis-sen, geht auch das Meinen auf das Dass und auf dasWarum und das Warum ist der Mittelbegriff. Odersollte sich die Sache nicht vielmehr so verhalten,dass, wenn man dasjenige, was sich nicht anders ver-halten kann, so besitzt, wie die Definitionen, durchwelche die Beweise geführt werden, man nicht mei-nen, sondern wissen wird? Wenn man dagegen zwar

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das Wahre trifft, aber nicht weiss, dass es den Dingennach ihrem Wesen und ihrem Begriffe zukommt, sowird man zwar eine wahre Meinung, aber kein Wis-sen haben, und zwar wird die Meinung dann sowohldas Dass wie das Warum enthalten, sofern dieselbedas unvermittelte mit befasst; ist dies aber nicht derFall, so wird die Meinung nur das Dass befassen.

Ueberhaupt geht die Meinung und das Wissennicht durchaus auf dasselbe, sondern nur in derWeise, wie auch das Falsche und das Wahre gewis-sermaassen dasselbe betreffen. Denn wenn die wahreund die falsche Meinung, wie Einige sagen, dasselbebeträfe, so ergäben sich widersinnige Folgen, insbe-sondere auch, dass der, welcher eine falsche Meinunghat, gar nicht meint. Denn da das »Dasselbe« in ver-schiedenem Sinne gebraucht wird, so kann die falscheMeinung sowohl eine Meinung sein, als auch nicht.So ist z.B. die Meinung, welche als wahr annimmt,dass der Durchmesser mit den Seiten des Quadrats eingemeinsames Maass habe widersinnig; allein da derDurchmesser, auf den die Meinung geht, derselbe ist,wie bei dem Wissen, so betreffen beide in diesemSinne dasselbe, aber in Betreff des wesentlichen Was,dem Begriffe nach, nicht dasselbe. In diesem Sinnebezieht sich also das Wissen und die Meinung aufdasselbe; aber das Wissen z.B. von dem Geschöpfeist der Art, dass das Geschöpf unmöglich kein

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Geschöpf sein kann; aber bei der Meinung kann esauch kein Geschöpf sein. Es ist ebenso, als wenn dasWissen einen Menschen als solchen befasst, das Mei-nen aber zwar einen Menschen befasst, aber nicht alsMenschen; denn darin, dass ein Mensch ist, befassenbeide dasselbe, aber nicht wiefern er als Mensch be-fasst ist.

Hieraus erhellt, dass man nicht dasselbe zugleichmeinen und wissen kann; denn dann nähme man an,dass dasselbe sich zugleich anders und auch nicht an-ders verhalten könnte, was unmöglich ist. In einer ge-wissen Beziehung kann allerdings beides dasselbesein, wie ich gesagt habe, aber an sich selbst ist diesnicht möglich; denn man würde dann z.B. zugleichannehmen, dass etwas Mensch sei als Geschöpf,(denn dies war der Sinn davon, dass der Mensch un-möglich ein Nicht-Geschöpf sein könne) und Menschnicht als Geschöpf; letzteres bezeichnet aber die feh-lende Nothwendigkeit.

Die Frage, wie man das sonst hier Vorhandne danndenken, oder der Vernunft, oder der Wissenschaft,oder der Kunst, oder der Klugheit, oder der Weisheitzuweisen soll, gehört mehr zur Naturwissenschaft undzur Wissenschaft des Sittlichen.

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Vierunddreissigstes Kapitel

Der Scharfsinn besteht in einem sofortigen richti-gen Treffen des Mittelbegriffes, wenn z.B. jemandsieht, dass der Mond seine erleuchtete Seite immernach der Sonne zugewendet hat, und dann schnell er-kennt, dass dies deshalb geschieht, weil er sein Lichtvon der Sonne empfängt; oder wenn er bei Jemand,der mit einem Reichen spricht, sogleich erkennt, dasses um Geld zu borgen, geschieht; oder dass zwei Per-sonen Freunde sind, weil sie beide denselben Men-schen hassen. Denn der Scharfsinnige erkennt sofortalle die Mittelbegriffe bildenden Ursachen, so wie erdie äusseren Begriffe bemerkt. So sei die der Sonnezugekehrte helle Seite A; das von der Sonne Erleuch-tetwerden B, und der Mond C. Nun ist in dem Monde,als dem C das B, nämlich das von der Sonne erleuch-tetsein enthalten und im B das A, nämlich dass einGegenstand nach der Seite hin erleuchtet ist, von derer das Licht erhält; also ist A in C vermittelst des Benthalten.

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Zweites Buch

Erstes Kapitel

Das, was zu wissen verlangt wird, ist der Zahl nachebenso vieles, als das, was wir wissen. Wir verlangennämlich noch viererlei, nach dem Dass, nach demWarum, nach dem Ob es ist und nach dem Was es ist.Wenn man nämlich zu wissen verlangt, ob etwas die-ses oder jenes ist und diese einzelnen Möglichkeitenaufzählt, z.B., ob die Sonne sich verfinstert odernicht, so verlangt man nach dem Dass. Dies erhelltdaraus, dass man sich beruhigt, wenn man findet, dasssie sich verfinstert; wenn man aber gleich Anfangsweiss, dass sie sich verfinstert, so verlangt man nichtzu wissen, ob das eine oder das andere stattfindet.Wenn man nun das Dass weiss, so verlangt man nachdem Warum; weiss man z.B. dass die Sonne sich ver-finstert, oder dass die Erde sich bewegt, so will manwissen, warum jene sich verfinstert und warum dieErde sich bewegt. Hiermit verhält es sich also so.Manches verlangt man aber in anderer Weise zu wis-sen, z.B. ob es einen Kentauren oder einen Gott giebtoder nicht? Dieses: Ob es ist, meine ich im vollenSinne und nicht so, wie bei der Frage: ob Etwas weissoder nicht-weiss ist. Weiss man nun, dass Etwas ist,

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so verlangt man nach dem Was es ist, also z.B. wasder Gott ist oder was der Mensch ist.

Zweites Kapitel

Dies und so vielerlei ist also das, was man zu wis-sen verlangt und welches man, wenn man es gefundenhat, weiss. Wenn man nun einfach das Dass oder das:Ob etwas ist sucht, so sucht man zu ermitteln, ob einMittleres dafür vorhanden ist; oder nicht. Wenn manaber das Dass oder das: Ob etwas ist, weiss, sei es inBezug auf einzelne Bestimmungen oder überhaupt,und wenn man dann weiter das Warum oder das Wassucht, so will man wissen, was das Mittlere ist. Mitdem Dass oder dem: Ob etwas ist, sei es eine einzelneBestimmung des Gegenstandes, oder dieser Gegen-stand überhaupt, meine ich überhaupt es so, wie wennman frägt, ob der Mond abnimmt oder zunimmt?Denn bei solchen Fragen will man nur von einer ein-zelnen Bestimmung wissen, ob sie ist oder nicht ist;oder man frägt nach dem Sein überhaupt, z.B. wennman frägt, ob der Mond, oder die Nacht sei oder nichtsei? Bei allen diesen Fragen zeigt sich also, dass manentweder wissen will, ob ein Mittleres vorhanden ist,oder was dieses Mittlere ist. Denn das Mittlere ist dieUrsache und diese wird bei allen diesen Fragen

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gesucht. Man frägt also: Nimmt der Mond ab? Isteine Ursache hierfür vorhanden oder nicht? Findetman nun, dass etwas besteht, so sucht man dann zuermitteln, was es ist. Denn das Mittlere ist entwederdie Ursache des Seins überhaupt und nicht eines sooder so bestimmten Seins oder es ist die Ursachenicht des Seins überhaupt, sondern des Seins voneiner Bestimmung, die dem Gegenstande an sich odernebenbei anhaftet. Unter dem Seienden überhauptverstehe ich das Unterliegende, z.B. dem Mond oderdie Erde, oder die Sonne, oder das Dreieck; unter dereinzelnen Bestimmung aber z.B. die Verfinsterung,oder die Gleichheit, oder die Ungleichheit, indem manermittelt, ob eine solche Bestimmung in einem Mittle-ren enthalten ist, oder nicht. In allen diesen Fällen istoffenbar das Was und das: Warum etwas ist, dassel-be. Was ist z.B. eine Mondfinsterniss? Antwort: EineBeraubung des Lichtes am Monde durch das Dazwi-schentreten der Erde. Und: Warum entsteht eine Ver-finsterung? oder weshalb wird der Mond verfinstert?Antwort: Weil das Licht wegen des Dazwischentre-tens der Erde ausbleibt. Ferner: Was ist die Harmo-nie? Antwort: Ein bestimmtes Zahlenverhältniss inBezug auf Höhe oder Tiefe der Töne; und: Weshalbstimmt das Hohe mit dem Tiefen? Antwort: Weil dasHohe und das Tiefe in einem bestimmten Zahlenver-hältniss zu einander steht. Ebenso ist die Frage, ob

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das Hohe mit den Tiefe übereinstimmt? Dieselbe, wiedie Frage: Ob ein bestimmtes Zahlenverhältniss zwi-schen ihnen besteht; und wenn man annimmt, dass esbestehe, so frägt es sich, welches Verhältniss es sei?

Dass die Frage auf das Mittlere geht, erhellt inallen den Fällen, wo das Mittlere in die Sinne fällt.Denn man frägt nur dann, ob etwas ist oder nicht ist,wenn die Wahrnehmung fehlt, z.B. ob die Mondfin-sterniss ist oder nicht ist? Wäre man aber auf demMonde, so würde man weder nach dem Sein der Fin-sterniss, noch nach ihrer Ursache fragen, sondern bei-des würde zugleich bekannt werden; denn aus derWahrnehmung würde hier wohl auch das Wissen desAllgemeinen entstehn; denn die Wahrnehmung, dassjetzt die Erde sich dazwischen stellt macht auch klar,dass jetzt das Licht ausbleibt und daraus würde auchdas Allgemeine erfasst werden.

Sonach ist also, wie ich gesagt habe, das Wissendes Was dasselbe mit dem Wissen das Warum. DiesWissen geht nun entweder auf das einfache Sein ohneBeziehung auf eine dem Gegenstande einwohnendenBestimmung oder es geht auf eine solche, z.B. dassdas Dreieck zusammen zwei rechte Winkel enthält,oder dass Etwas grösser oder kleiner ist.

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Drittes Kapitel

Somit ist klar, dass alle diese Fragen auf die Auf-findung des Mittlern ausgehn. Wie aber der Beweisfür das Was eines Gegenstandes geführt wird und inwelcher Weise dabei auf die Vordersätze zurückge-gangen wird und was die Definition ist und von wel-chen Dingen es eine giebt, werde ich nun besprechen,indem ich zunächst die hierbei auftretenden Bedenkenerörtere. Ich beginne hier mit dem Bedenken, welchesden bisherigen Untersuchungen am nächsten steht.Man könnte nämlich schwanken, ob das Wissen ver-mittelst der Definition und das Wissen vermittelst desBeweises dasselbe sei und auf dasselbe sich beziehe,oder ob nicht vielmehr dies unmöglich der Fall seinkönne? Denn die Definition scheint das Was des Ge-genstandes zu bieten und dieses Was ist immer etwasAllgemeines und Bejahendes; dagegen giebt es auchverneinende Schlüsse und solche, die nicht allgemeinlauten; so sind in der zweiten Figur alle Schlüsse ver-neinend und die in der dritten Figur sind nicht allge-mein. Ferner sind auch selbst in der ersten Figur nichtalle Schlüsse Definitionen, wie z.B. der Schluss, dassdie Winkel jedes Dreiecks zweien rechten gleich sind.Der Grund hiervon ist, dass das wissenschaftliche un-zweifelhafte Wissen darin besteht, dass man den

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Beweis inne hat; wenn also von solchen vorerwähntenSätzen ein Beweis vorhanden ist, so erhellt, dass nichtauch eine Definition davon vorhanden ist; denn mankönnte ja sonst auch vermöge der Definition derglei-chen wissen, ohne den Beweis zu besitzen; da es sehrwohl sein kann, dass man nicht Beides zugleich innehat. Auch giebt die Induktion dafür eine hinreichendeBestätigung, denn man hat niemals durch Definitiondas erkannt, was an sich besteht, noch das, was ne-benbei dem Gegenstande anhängt. Ferner erhellt,dass, wenn die Definition eine Art Kundgebung vondem betreffenden Dinge ist, solche Bestimmungenwie die obigen vom Dreieck nicht das Ding selbstsind.

Es erhellt somit, dass nicht von Allem, wofür einBeweis besteht, auch eine Definition vorhanden ist.Ist nun aber von alledem, wovon eine Definition vor-handen ist, auch ein Beweis vorhanden oder ist diesnicht der Fall? Auch hierfür lässt sich derselbe eineGrund, wie oben geltend machen; es giebt nämlichvon einem Gegenstande als einem auch nur ein Wis-sen; wenn also das Wissen von etwas Beweisbarendarin besteht, dass man dessen Beweis inne hat, sowürde dann sich etwas Unmögliches ergeben, weildann der, welcher die Definition, aber nicht den Be-weis inne hat, auch ein Wissen haben würde. Auchbilden die Definitionen den Ausgangspunkt für die

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Beweise und ich habe früher dargelegt, dass diese An-fänge sich nicht beweisen lassen. Denn entweder sinddiese Anfänge beweisbar und es gäbe dann Anfängevon Anfängen und es ginge dies ohne Ende fort; oderdiese Anfänge sind unbeweisbare Definitionen.

Aber sollte nicht, wenn auch nicht für Alles Defini-tion und Beweis dasselbe ist, dies doch bei Einzelnender Fall sei? Oder ist dies nicht vielmehr unmöglich,weil nämlich der Beweis nicht denselben Inhalt hat,wie die Definition. Letztere geht nämlich auf das Wasund das Wesen, während die Beweise sämmtlich sichals solche zeigen, die das Was voraussetzen und an-nehmen. So geschieht es z.B. in den mathematischenWissenschaften mit dem, was die Eins und das Unge-rade ist; und ähnliches geschieht in den andern Wis-senschaften. Auch legt jeder Beweis etwas in Bezugauf ein Anderes dar; z.B. dass es in ihm enthaltenoder nicht enthalten ist; dagegen wird in der Definiti-on nicht Eins von einem Andern ausgesagt, z.B. dasGeschöpf nicht von dem Zweifüssigen und dass Zwei-füssige auch nicht von dem Geschöpf, ebensowenigdie Figur von der Ebene; denn die Ebene ist keineFigur und die Figur ist keine Ebene. Auch ist es etwasanderes, wenn man das Was, als wenn man das Dassdarlegt. Die Definition offenbart nämlich das Was,der Beweis aber Dass entweder etwas in Bezug aufein Anderes ist oder nicht ist. Auch ist der Beweis für

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verschiedene Dinge ein verschiedener, sofern sie sichnicht blos wie der Theil zum Ganzen verhalten;womit ich meine, dass z.B. auch das gleichschenkli-che Dreieck zusammen zwei rechte Winkel enthält,wenn dies von den Dreiecken überhaupt bewiesenworden ist; denn jenes ist nur ein Theil, und diesesdas Ganze. Nun verhält sich aber das: Dass etwas istund das: Was etwas ist, nicht in dieser Weise zu ein-ander, und keins ist ein Theil des Andern.

Es ist also klar, dass nicht aller Inhalt der Definiti-on in einen Beweis gefasst werden kann und dass das,was der Beweis enthält, nicht alles in die Definitiongehört; mithin können beide überhaupt nicht densel-ben Inhalt haben. Es ist somit klar, dass die Definiti-on und der Beweis nicht dasselbe sind, noch der einein dem andern enthalten sein kann; denn sonst müssteauch das, was beide bezwecken, sich ebenso verhal-ten.

Viertes Kapitel

So viel in Bezug auf die hier auftretenden Beden-ken; aber giebt es wohl für das Was einen Schlussund Beweis oder nicht, wie letzteres nach der vorge-henden Ausführung angenommen wurde ? DerSchluss legt nun etwas in Bezug auf ein Anderes, und

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zwar durch ein Mittleres dar; das Was ist dagegenetwas dem Gegenstande Eigenthümliches und in demWas wird das Wesen des Gegenstandes ausgesagt.Dieses beides muss sich also umkehren lassen. Wennalso A etwas Eigenthümliches von C ist, so ist es einsolches offenbar auch von B und ebenso B von C, sodass mithin sie alle das Eigenthümliche von einandersind. Auch muss, wenn A als zu dem Was gehörig inallen B enthalten ist und wenn B allgemein von allenC als zu deren Was gehörig ausgesagt wird, dann Aals in dem Was von C befindlich ausgesagt werden.Wenn aber die Vordersätze nicht so verdoppelt ge-nommen werden, so ist es nicht nothwendig, dass Avon C als zu dessen Was gehörig ausgesagt werde;wenn nämlich A zwar in dem Was des B enthalten ist,aber B nicht in dem Was der Dinge, von denen es aus-gesagt wird. Somit müssen also sowohl A wie B dasWesen von C enthalten und es wird also auch B dasWas von C enthalten. Wenn aber beide, A und B dasWas und das wesentliche Was von C enthalten, sowird das wesentliche Was von C auch schon in demvorausgehenden Mittelbegriff enthalten sein.

Wenn es also überhaupt angeht, zu beweisen, wel-ches das Was z.B. des Menschen ist, so mag C derMensch sein und A das Was desselben, also das zwei-füssige Geschöpf oder sonst etwas anderes. Will mannun dies durch einen Schluss beweisen, so muss A

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von allen B ausgesagt werden können; und es wirdhierfür ein anderer Mittelbegriff nöthig sein, welchermithin ebenfalls das Was des Menschen enthält.Somit setzt man schon das, was man erst beweisensoll, denn B ist schon das Was des Menschen.

Man muss dies vorzüglich bei solchen Vordersät-zen in Betracht nehmen, welche zu den obersten undunvermittelten gehören, da hier das, was ich gesagt,am deutlichsten hervortritt. Wer also durch Vordersät-ze, die sich umkehren lassen, beweisen will, z.B. wasdie Seele, oder was der Mensch, oder sonst irgend einDing ist, der setzt das erst zu Beweisende schon vor-aus; z.B. wenn jemand behauptet, die Seele sei das,was sich selbst die Ursache seines Lebens sei und einsolches sei die Zahl, welche sich selbst bewege. Hiermuss man nothwendig im Voraus annehmen, dass dieSeele sei wie eine sich selbst bewegende Zahl undman nimmt damit schon an, dass sie das sei, was sieist. Denn wenn A dem B blos zukommt und ebenso Bdem C, so wird A nicht das wesentliche Was von Csein, sondern es wird blos wahr sein, dass A in C ent-halten ist; denn dies gilt auch für den Fall, wenn Aetwas der Art ist, was von jedem B ausgesagt werdenkann. Denn man kann z.B. wohl das »Geschöpf sein«von allen Menschen aussagen; denn es ist wahr, dassalles was Mensch ist, auch ein Geschöpf ist, wieauch, dass jeder Mensch ein Geschöpf ist; allein man

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kann dies nicht in dem Sinne, dass beide eines seien;und wenn man es nicht in diesem Sinne nehmen kann,so kann man auch nicht schliessen, dass A von dem Cdas wesentliche Was und dessen Wesen bilde. Setztman aber ein A in diesem Sinne, so hat man bei demBeweise schon vorher gesetzt, dass B als das wesent-liche Was in dem Was von C enthalten ist und manhat dann keinen Beweis geführt, sondern hat das zuBeweisende gleich im Beginne als wahr vorausge-setzt.

Fünftes Kapitel

Auch durch das Verfahren, wo man einen Gegen-stand eintheilt, gelangt man zu keinem Schluss, wieich bei Untersuchung der Schlussfiguren gesagt habe.Denn aus dem Dasein der Eintheilungsglieder folgtnicht mit Notwendigkeit, dass der Gegenstand ein sol-cher ist; wie ja auch bei der Induktion kein Beweisgeführt wird, denn der Schlusssatz darf nicht eineFrage sein, noch sich auf ein bloses Zugeben stützen,vielmehr muss er gelten, wenn die Vordersätze wahrsind, selbst wenn der Antwortende es nicht zugesteht.So fragt man z.B. bei der Eintheilung: Ist der Menschein lebendes Wesen oder leblos? Nimmt man nun er-steres an, so hat man damit doch keine

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Schlussfolgerung gezogen. Dasselbe gilt wenn manalle Geschöpfe in Land- und Wassergeschöpfe ein-theilt, und man den Menschen als ein auf dem Landelebendes annimmt. Auch wenn man beides zusam-mennimmt, also den Menschen für ein auf dem Landelebendes Geschöpf erklärt, so besteht auch hierfürkeine Nothwendigkeit, sondern es wird dies nur soangenommen. Nun macht es aber hierbei keinen Un-terschied, ob man in viele oder wenige Bestimmungeneinen Gegenstand eintheilt; die Sachlage bleibt diesel-be. Dieses Verfahren nützt also denen, welche es an-wenden, selbst bei Dingen nichts, die sich beweisenlassen; denn alle diese Bestimmungen können sehrwohl in Bezug auf den Menschen wahr sein, ohnedass doch das Was und das wesentliche Was desMenschen dadurch offenbart wird; auch kann es kom-men, dass dabei in Betreff des Wesens des Gegen-standes etwas zugesetzt oder weggelassen oder dar-über hinausgegangen wird.

Hierin wird in den meisten Fällen gefehlt; indesskann man eine Lösung erlangen, wenn man alles, wasin dem Was des Gegenstandes enthalten ist, ansetztund dies durch fortgesetzes Eintheilen erreicht; indemman das Oberste sich fordert und dabei sodann nichtsauslässt. Es müssen diese Bestimmungen nothwendigdie Definition des Gegenstandes enthalten, wenn allesWesentliche in die Eintheilung aufgenommen und

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nichts weggelassen wird; und es muss dies die Defini-tion sein, denn man muss dann bis zu dem Untheilba-ren gelangt sein.

Indess enthält auch ein solches Verfahren keinSchliessen, wenn es auch die Erkenntniss in einer an-dern Weise herbeiführt und nicht als widersinnig gel-ten kann, da ja auch die Induktion wohl nicht beweistund doch etwas erkennen lässt. Aber einen Schlusszieht derjenige nicht, welcher die Definition aus derEintheilung abnimmt; sondern es verhält sich damitso, wie bei jenen Schlussfolgerungen, wo der Mittel-begriff fehlt. Wenn jemand in solchem Falle behaup-tet, dass wenn jenes wäre, auch dieses sei, so kannman fragen: Warum? und ebenso verhält es sich mitden Gliedern einer Eintheilung. Was ist z.B. derMensch? Antwort: ein sterbliches, aufrechtstehendes,zweifüssiges, ungeflügeltes Geschöpf. Hier kann manbei jedem zugesetzten Beiwort fragen: Weshalb? DerAntwortende wird sagen und durch sein Eintheilendies bewiesen zu haben glauben, weil Alles entwedersterblich oder unsterblich ist. Allein selbst eine voll-ständige solche Angabe ist keine Definition; undwenn also auch durch die Eintheilung etwas bewiesenwürde, so würde doch damit die Definition zu keinemSchluss.

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Sechstes Kapitel

Aber sollte sich nicht das wesentliche Was einesGegenstandes vermöge einer Voraussetzung beweisenlassen, indem man als Obersatz annimmt, der Begriffder Definition bestehe überhaupt aus den in demWesen eines Gegenstandes enthaltenen eigenthümli-chen Merkmalen und in den Untersatz nun dieseMerkmale aufnimmt, welche dem betreffenden Gegen-stande zukommen und daraus dann folgert, dass alsodiese Merkmale seine Definition enthalten? Aber soll-te nicht auch hier das wesentliche Was nur angenom-men, aber nicht bewiesen sein? Denn dazu gehörtedoch, dass es durch einen Mittelbegriff dargelegtwürde. Auch nimmt man ja in keinem Schlüsse dasauf, was das Was des Schliessens sei (denn die Vor-dersätze, aus denen der Schluss abgeleitet wird, ver-halten sich immer wie das Ganze zu dem Theile) undes kann das wesentliche Was des Schlusses überhauptnicht darin enthalten sein; vielmehr muss es ausser-halb der angenommenen Vordersätze bleiben, undwenn ein Zweifel erhoben wird, ob dies ein Schliessensei oder nicht, so muss man dem damit begegnen,dass dies der Fall sei, weil es dem Begriffe desSchlusses entspreche, und wenn eingewendet wird,dass das wesentliche Was des Schlusses nicht

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abgeleitet werden könne, so muss man entgegnen,dass eben dieses Schliessen für uns das wesentlicheWas des Schlusses enthalte. Mithin kann man auchohne Angabe dessen, was der Schluss ist und worinsein wesentliches Was besteht, etwas durch Schlüsseableiten.

Und wenn jemand den Beweis vermittelst einerVoraussetzung führen wollte, z.B. so: Wenn dasBöse-sein in dem Mehrfältig-sein besteht, und dasEntgegengesetztsein in dem Gegensatze gegen dasGegentheil bei den Dingen besteht, die ein Gegentheilhaben, und wenn das Gute das Gegentheil desSchlechten ist und das Einfache das Gegentheil desMehrfältigen ist, so ist das Gute demnach das Einfa-che; so erfolgt auch hier der Beweis nur durch Auf-nahme des wesentlichen Was in die Vordersätze unddiese Aufnahme geschieht, um das wesentliche Waszu beweisen. Bei dem Schlüsse müssen jedoch dieBegriffe des Schlusssatzes verschieden sein, denn inden Beweisen wird gezeigt, dass jenes von diesemgelte, aber nicht, dass beide dasselbe seien, oder dassdas eine der Begriff des andern sei und beide sich aus-tauschen lassen Gegen beide Verfahrungsweisen, so-wohl gegen die, wo man den Beweis aus der Einthei-lung entnimmt und gegen die, welche so wie hier an-gegeben, schliesst, tritt ferner dasselbe Bedenken ein,dass man fragen kann: Warum ist der Mensch ein

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zweifüssiges, auf dem Lande lebendes Geschöpf undweshalb ist er nicht ein Geschöpf und auch auf demLande lebend? Denn aus den angenommenen Sätzendes Schlusses folgt nicht nothwendig, dass diese aus-gesagten Bestimmungen Eins werden, sondern es istnur eine Verbindung, wie z.B. bei einem Menschen,wenn derselbe ein Musikverständiger und ein Sprach-verständiger wäre.

Siebentes Kapitel

Wie soll nun bei der Definition das Wesen oder dasWas des Gegenstandes bewiesen werden? Man kannweder, wie der, welcher aus zugestandenen Sätzenetwas beweist, darlegen, dass wenn gewisse Bestim-mungen gelten, ein drittes dann sich ergebe; denndarin besteht der Beweis; noch kann man es so ma-chen, wie der, welcher vermittelst der bekannten ein-zelnen Dinge und der Induktion darlegt, dass Allessich so verhalte, weil keines sich anders verhält; dennein solcher beweist nicht das Was eines Gegenstan-des, sondern blos, dass er ist oder nicht ist. Welcheandere Verfahrungsweise bleibt da noch übrig ?Denn man kann es doch nicht durch Wahrnehmenoder durch Zeigen mit dem Finger beweisen.

Ferner: Wie soll man das Was beweisen? Denn

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wenn man weiss, was der Mensch oder sonst ein Ge-genstand ist, so muss man nothwendig auch wissen,dass er ist. Denn von dem Nicht-Seienden weiss Nie-mand, was es ist; man weiss wohl, was das Wort oderder Name bezeichnet, wenn man »Bockhirsch« sagt,aber wissen kann man nicht, was er ist. Aber selbstwenn man bewiese, was er ist und dass er ist, wiekönnte dies mit einer Rede geschehen? Denn die De-finition wie der Beweis würden jedes dann nur Einesvon beiden darlegen, während doch das Was desMenschen etwas anderes ist, als das Dasein des Men-schen.

Ferner sagt man, dass durch den Beweis von allem,mit Ausnahme des Wesens, bewiesen werden muss,dass es ist; aber das Sein macht bei keinem Gegen-stand sein Wesen aus; denn das Seiende ist keine Gat-tung. Der Beweis geht also nur dahin, dass Etwas ist,wie es jetzt auch die Wissenschaften machen. Dennder Geometer setzt voraus, was das Dreieck bedeutet;und er beweist nur, dass es ist. Was wird nun der,welcher das Was eines Gegenstandes definirt, bewei-sen? doch nicht etwa, dass das Dreieck ist? Also wirdder, welcher vermittelst der Definition das Was desGegenstandes kennt, nicht wissen, dass er ist; wasdoch unmöglich ist.

Auch erhellt aus den jetzt üblichen Weisen der De-finitionen, dass die, welche die Definition eines

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Gegenstandes geben, dabei nicht beweisen, dass erist. Denn wenn auch die Linien vom Mittelpunkt desKreises nach seinen Umring gleich sind, so kann manimmer noch fragen: Weshalb ist aber der so definirteGegenstand? Und: weshalb ist dies ein Kreis? Mankönnte ja dasselbe auch anders, etwa Messing nen-nen. Die Definitionen legen also weder die Möglich-keit des Seins des definirten Gegenstandes dar, nochdass er das ist, was die Definition besagt; vielmehrkann man dabei immer noch nach dem Warum fragen.

Wenn also der Definirende nur entweder das Wasoder was der Name bedeutet beweisen könnte, undwenn das erstere durchaus nicht stattfinden kann, sowürde die Definition ein Satz sein, der dasselbe an-zeigt, was ein Name des Gegenstandes anzeigt. Alleindies wäre widersinnig. Denn erstens gäbe es dannauch Definitionen von dem, was kein Wesen ist undvon dem, was nicht ist; denn einen Namen gebenkann man auch dem Nichtseienden. Ferner würdendann alle Sätze auch Definitionen sein; denn mankönnte jeder Rede einen Namen geben, so dass wirdann Alle in Definitionen sprechen würden und dieIlias würde dann eine Definition sein. Ferner beweistkeine Wissenschaft, dass dieser Name gerade dieseSache bedeute; und deshalb werden auch die Defini-tionen dies nicht darlegen.

Nach alledem scheint es, dass die Definition und

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der Schluss nicht dasselbe sind und dass auch nichtvon demselben Inhalt ein Schluss und eine Definitionstatt hat; und ausserdem, dass die Definition Nichtsbeweist und nichts darlegt und dass man das Waseines Gegenstandes weder durch Definition nochdurch Beweis erkennen kann.

Achtes Kapitel

Indess ist nochmals zu untersuchen, welche vondiesen Behauptungen richtig sind und welche nichtund was die Definition ist und wie also von dem Wasein Beweis und eine Definition statt hat oder ob diesdurchaus nicht der Fall ist. Ich habe nun bereits ge-sagt, dass das Wissen des Was und das Wissen derUrsache des Was dasselbe ist. Der Grund hiervon ist,dass die Ursache etwas ist und als solches sie entwe-der dasselbe mit dem Gegenstande, oder etwas Ande-res und wenn etwas Anderes, so ist sie entweder be-weisbar oder unbeweisbar. Ist die Ursache nun etwasanderes und lässt sie sich beweisen, so muss sie einMittleres sein und das Was muss in der ersten Schlus-sfigur bewiesen werden, denn hier ist das, was manbeweist, allgemeiner und bejahender Natur. Damitwäre nun ein Weg zudem, was wir suchen, vermittelt,indem das Was durch ein Anderes beweisen würde.

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Denn von dem Was eines Gegenstandes muss immerder Mittelbegriff wieder ein Was enthalten, und vondem Eigenthümlichen des Gegenstandes muss derMittelbegriff immer etwas Eigenthümliches enthalten.Somit wird also von dem wesentlichen Was derselbenSache theils etwas bewiesen, theils etwas nicht bewie-sen.

Dass nun diese Weise zu verfahren kein eigentli-cher Beweis ist, habe ich früher gesagt; indess ist esdoch der logischen Form nach ein Schluss auf dasWas einer Sache. In welcher Weise aber ein Beweisstatthaft ist, will ich darlegen, indem ich wieder vonvorn beginne. Denn wie man das Warum sucht, nach-dem man das Dass erkannt hat und wie mitunter Bei-des zugleich offenbar wird, aber niemals das Warumvor dem Dass erkannt werden kann, so kann auch of-fenbar das wesentliche Was nicht ohne das Dass er-kannt werden; denn man kann unmöglich das Waseines Gegenstandes kennen, wenn man nicht weiss,ob er ist. Nun kennt man das: ob Etwas ist manchmalnur aus einer nebensächlichen Bestimmung an dem-selben; manchmal aber auch, indem man etwas vonder Sache selbst inne hat; so z.B. weiss man, dass derDonner ein Geräusch in den Wolken ist und dass dieMondfinsterniss eine Beraubung des Lichtes ist unddass der Mensch ein Geschöpf ist und dass die Seeleein sich selbst Bewegendes ist. Bei allen Dingen nun,

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von denen man nur aus einem Nebensächlichen weiss,dass sie sind, muss nothwendig die Kenntniss ihresWas fehlen; denn man weiss dann nicht, dass sie sindund ein Suchen nach dem Was, ohne dass man dasDass kennt, ist ein Suchen nach Nichts. Je mehr manaber etwas von der Sache selbst kennt, um so leichterist es; und so weit man also weiss, dass ein Gegen-stand ist, so weit nähert man sich auch dem Wissenseines Was.

Mit den Fällen, wo man etwas von dem Was desGegenstandes kennt, soll es sich nun zunächst folgen-dermaassen verhalten: A bedeute die Verfinsterung, Cden Mond, B das Davortreten der Erde. Das Suchennun, ob der Mond sich verfinstere oder nicht, ist dasSuchen, ob B ist oder nicht. Dies ist aber nichts ande-res, als den Grund der Mondfinsterniss suchen, undman sagt, dass wenn B ist, auch die Mondfinsternissist. Dies gilt auch, mag der Grund für die Bejahungoder für die Verneinung gelten, z.B. ob das Dreieckzusammen zwei rechte Winkel enthält oder ob es sienicht enthält. Sobald man den Grund gefunden hat,weiss man sowohl das Dass, wie das Warum, sofernder Grund in einem unvermittelten Satze besteht. Istdies nicht der Fall, so weiss man nur das Dass, abernicht das Warum. Es sei z.B. C der Mond, A die Ver-finsterung und B dass der Vollmond keinen Schattenhaben kann, wenn sich zwischen uns und ihm nichts

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Wahrnehmbares befindet. Wenn nun dem C das Beinwohnt, nämlich dass es keinen Schatten habenkann, wenn nicht zwischen ihm und uns ein Wahr-nehmbares sich befindet, und wenn in dem C aber dasA, nämlich dass er verfinstert worden, enthalten ist,so ist zwar klar, dass er verfinstert ist, aber dasWarum ist noch nicht klar und wir wissen wohl, dasseine Verfinsterung da ist, aber nicht, was sie ist.Wenn also bekannt ist, dass A dem C zukommt, so istdas Suchen, warum es so ist, ein Suchen was B ist, obes ein Dazwischenstehen der Erde, oder eine Wen-dung des Mondes, oder ein Verlöschen des Lichtesist. Diese Frage betrifft nun den Grund des zweitenGliedes, also hier das A; denn die Mondfinsterniss isteine Lichtversperrung durch die Erde. So kann manfragen: Was ist der Donner? Antwort: Ein Verlöschendes Feuers in den Wolken. Frage: Warum donnert es?Antwort: Weil das Feuer in den Wolken verlöscht. Essei also C die Wolke, A der Donner, B das Verlö-schen des Feuers. Nun ist in C, in der Wolke, das Benthalten, denn das Feuer in ihr verlöscht. In dem Bist aber A, das Geräusch enthalten und B ist derGrund von A, dem Oberbegriff. Wenn nun für B einweiterer Mittelbegriff besteht, so ist die Ableitung ausdiesen weitem Mittelbegriffen zu bewirken.

Somit ist dargelegt, wie das Was eines Gegenstan-des zwar erfasst und bekannt wird, aber dass weder

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ein Schluss, noch ein Beweis für das Was aufgestelltwerden kann. Indess wird das Was doch durch denSchluss und den Beweis bekannt. Man kann also ohneBeweis das Was eines Gegenstandes nicht kennen ler-nen, wenn dasselbe etwas Anderes zu seiner Ursachehat, aber eben so wenig giebt es einen Beweis für dasWas, wie ich schon bei Erörterung der Bedenken ge-sagt habe.

Neuntes Kapitel

Von manchen Dingen ist ein Anderes die Ursache,von manchen Dingen ist dies nicht der Fall. Folglichist auch das Was von manchen Dingen unvermitteltund zu den obersten Grundsätzen gehörig, und manmuss dann bei solchen Dingen sowohl das Sein, wiedas Was derselben voraussetzen, oder sie auf sonsteine Weise erkennbar machen. Auch in der Arithmetikverfährt man so, indem man voraussetzt, was die Einsist und dass sie ist. Die Dinge dagegen, für welcheein Mittleres besteht und ein Anderes die Ursacheihres Wesens ist, lassen sich, wie gesagt, durch Be-weis zwar kennen lernen, aber das Was derselbenkann nicht bewiesen werden.

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Zehntes Kapitel

Da nun die Definition in einer Angabe des Was desGegenstandes besteht, so ist klar, dass manche Defi-nition nur eine Angabe dessen ist, was der Name desGegenstandes bedeutet, also dass sie nur eine Aussa-ge in andern Worten ist, z.B. wenn man angiebt, wasein Gegenstand, welcher Dreieck heisst, bedeutet. Hatman in solchem Falle das Wissen, dass er ist, sosucht man nach dem Warum desselben. Aber vonDingen, von welchen man nicht weiss, dass sie sind,ist es schwer das Warum auf diese Art zu finden. DerGrund dieser Schwierigkeit ist bereits früher dahinangegeben worden, dass man da nicht einmal weiss,ob der Gegenstand besteht oder nicht, als höchstensnur aus nebensächlichen Bestimmungen. Die Einheiteiner Rede ist zweifacher Art; die eine besteht in derVerbindung, wie z.B. bei der Ilias; die andere offen-bart eines von dem andern und zwar nicht in Bezugauf blos nebenbei bestehende Bestimmungen.

Dies ist nun die eine Art der Definition, die andereist die, welche das Warum eines Gegenstandes dar-legt. Jene Art giebt nur das, was ein Gegenstand be-deutet; diese zweite Art ist aber offenbar eine Art Be-weis seines Was und unterscheidet sich nur in der Artdes Ausdrucks von einem Beweise. Denn es ist ein

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Unterschied, ob man sagt, warum es donnert und wasder Donner ist; denn im ersten Falle sagt man, weildas Feuer in den Wolken verlöscht; aber auf dieFrage: Was ist der Donner, antwortet man: Ein Ge-räusch des in den Wolken erlöschenden Feuers. Inbeiden Fällen sagt man also dasselbe, nur in einer an-dern Wendung; das einemal grenzt es an einen Be-weis, das anderemal ist es eine Definition. So lautetdie Definition des Donners, dass sie ein Geräusch inden Wolken ist; aber dies ist auch der Schlusssatz desBeweises von dem Was des Donners. Dagegen ist dieDefinition von Gegenständen, wo kein Mittleres vor-handen ist, eine Angabe des Was, welche nicht be-weisbar ist.

Sonach wird also die eine Definition die unbeweis-bare Angabe des Was sein und die andere ein Schlussauf das Was, welcher nur in der Ausdrucksweise vondem Beweise verschieden ist und die dritte wird derauf das Was lautende Schlusssatz eines Beweisessein.

Aus dem Gesagten erhellt sonach, in welcherWeise ein Beweis des Was statt hat und in welcherWeise nicht, und von welchen Dingen ein Beweis desWas statt hat und von welchen nicht; ferner in wievielfachen Sinne man von der Definition spricht undwie sie das Was darlegt und wie nicht und von wel-chen Dingen sie statt hat und von welchen nicht;

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ferner wie die Definition sich zum Beweise verhältund wie sie denselben Inhalt, wie der Beweis habenkann und wie nicht.

Elftes Kapitel

Da man dann zu wissen glaubt, wenn man die Ur-sache kennt und es vier Arten von Ursachen giebt,nämlich eine als das wesentliche Was, eine zweite alsdie, wo wenn Einiges ist, nothwendig sie sein muss;eine dritte, welche zuerst etwas bewegt und eine vier-te, weshalb welcher etwas geschieht, so werden allediese Ursachen durch einen Mittelbegriff dargelegt.Denn dass, wenn Dieses ist, ein Anderes nothwendigsein muss, kann durch Ansatz blos eines Vordersatzesnicht bewiesen werden, vielmehr sind mindestenszwei Vordersätze dazu nöthig und es tritt dies dannein, wenn beide Sätze denselben einen Mittelbegriffhaben. Wird dieser eine angesetzt, so muss derSchlusssatz sich mit Nothwendigkeit ergeben.

Auch erhellt dies in folgender Weise. Es frägt sich,warum ist der Winkel im Halbkreise ein rechter?oder: ist er ein rechter, weil etwas Anderes ist? Nunsoll A den rechten Winkel bezeichnen, B die Hälftevon zwei rechten Winkeln, C der Winkel in einemHalbkreis. Dass nun A, der rechte Winkel, in C, dem

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Winkel im Halbkreise enthalten ist, davon ist B dieUrsache; denn B ist dem A gleich und der Winkel Cist dem B gleich, denn B ist die Hälfte von zwei rech-ten Winkeln. Weil also B die Hälfte von zwei rechtenWinkeln ist, deshalb ist A in dem C enthalten; letzte-res war aber der Satz, dass im Halbkreise ein rechterWinkel enthalten ist. Dies ist aber dadurch, dass esden Grund bezeichnet, dasselbe mit dem wesentlichenWas des Gegenstandes. Auch ist bereits früher darge-legt worden, dass der Mittelbegriff das wesentlicheWas als Ursache ist.

Ferner: Warum wurde gegen die Athener der Persi-sche Krieg geführt? Was war die Ursache, dass dieAthener bekriegt wurden? Antwort: Weil sie mit denEretriern in das Gebiet von Sardes eingefallen waren;denn dies gab den ersten Anstoss. Es sei also A derKrieg, B das erste Einfallen, C seien die Athener. Esist also das B in C enthalten, d.h. das erste Einfallenist bei den Athenern und A ist in B enthalten; dennder Krieg wird gegen die geführt, welche zuerst ver-letzt haben. Das A ist also in B enthalten, d.h. dasBekriegtwerden in denen, die zuerst angefangenhaben; dieses aber, das B, ist in C, d.h. in den Athe-nern enthalten, denn sie haben angefangen. Also istauch hier der Mittelbegriff die Ursache, als das zuerstBewegende.

Als Beispiel für die Fälle, wo die Ursache als das,

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weswegen etwas geschieht, erscheint, nehme man dieFrage: Weshalb geht er spazieren? Antwort: Damit ergesund bleibe. Ferner: Weshalb ist dieses Haus? Ant-wort: Damit das Geräthe darin gesichert sei. Das einegeschieht also, um gesund zu bleiben, das andere, derSicherung wegen. Die Fragen: Warum man nach derMahlzeit spazieren gehen solle und weswegen es ge-schehen solle, sind nicht verschieden. C bedeute alsoden Spaziergang nach der Mahlzeit; B die gute Ver-dauung der Speisen; A das Gesundsein. Man nimmtalso an, das in dem Spazierengehen nach der Mahlzeitdie Wirkung enthalten sei, dass die Speisen nichtnach der obern Oeffnung des Magens aufstossen unddass dies der Gesundheit zuträglich sei; denn esscheint in dem C, dem Spazierengehen, das B, näm-lich das Nicht-Aufstossen der Speisen enthalten zusein und in letzterem A, das Gesundbleiben. Was istnun die Ursache, dass A als Zweck in dem C enthal-ten ist? Antwort: Das B, nämlich das Kicht-Aufstossen der Speisen. Dieses B ist gleichsam derGrund von jenem A, denn A wird auf diese Weise er-klärt. Aber warum ist B in dem C enthalten? Weil einsolches Verhalten die Gesundheit enthält. Man mussindess die Begriffe umstellen, dann wird jedes deutli-cher einleuchten. Hier verhält sich das Warum umge-kehrt wie bei der bewegenden Ursache; bei diesermuss das Mittlere zuerst werden; hier aber das letzte

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Glied, das C, und das Weshalb es geschieht, ist dasder Zeit nach letzte.

Ein und Dasselbe kann zugleich das Weswegenoder ein Ziel und auch aus Nothwendigkeit sein; z.B.das Licht, was durch die Laterne dringt; denn das,was aus kleineren Theilen besteht, wandert nothwen-dig durch die grösseren Poren, das Licht wird alsovermittelst seines Hindurchgehens und zugleich ge-schieht dies um eines Zieles wegen, damit man sichim Dunkeln nicht stosse. Wenn nun Ein und Dasselbebeides sein kann, so kann es auch beides werden.Wenn es z.B. donnert, sobald das Feuer in den Wol-ken verlöscht, so muss nothwendig ein Knittern undGeräusch entstehen und zugleich kann es, wie die Py-thagoräer sagen, geschehen, um den in der UnterweltBefindlichen zu drohen, damit sie sich fürchten. DasMeiste ist von solcher Art, insbesondere bei den Din-gen, welche von Natur verbunden werden oder ver-bunden sind. Denn die Natur wirkt theils um einesZieles willen, theils aus Nothwendigkeit. Die Noth-wendigkeit ist aber eine zwiefache; die eine entsprichtder Natur und dem Triebe, die andere verfährt mit Ge-walt und gegen den Trieb. So wird der Stein mitNothwendigkeit sowohl nach Oben, wie nach Untengetrieben, aber nicht durch dieselbe Nothwendigkeit.Dagegen ist in den Dingen, welche von dem Denkenherrühren, ein Theil niemals von selbst entstanden,

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wie z.B. ein Haus oder eine Bildsäule nicht von selbstentsteht; auch sind sie nicht aus Nothwendigkeit, son-dern eines Zweckes wegen gemacht. Anderes kannaber auch zufällig so sein, z.B. die Gesundheit unddie Errettung aus einer Gefahr. Am meisten zeigt sichder Zweck bei Dingen, die so oder anders geschehenkönnen, so weit hier nicht der Zufall es zu Standebringt, so dass also ein guter Zweck das Weswegenbildet sei es durch die Natur, sei es durch Kunst.Durch Zufall kann aber niemals etwas eines Zweckeswegen geschehen.

Zwölftes Kapitel

Ein und Dasselbe kann Ursache sein für Dinge, diewerden und für Dinge, die geworden sind und fürDinge, welche künftig werden; ebenso auch für dieDinge, welche sind. Denn das Mittlere ist die Ursa-che, jedoch nur als seiendes für die seienden Dingeund als werdendes für die werdenden Dinge und alsgewordenes für die gewordenen Dinge und als künftigwerdendes für die künftig werdenden Dinge. So frägtes sich z.B. wodurch ist die Mondfinsterniss gewor-den? Antwort: Weil die Erde in die Mitte zwischenMond und Sonne gekommen war; und sie wird, weildieses wird und sie wird werden, weil dieses in die

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Mitte kommen werden wird und sie ist, weil die Erdein der Mitte ist. Ferner: Was ist das Eis? Man nehmean, dass es gefrornes Wasser sei; das Wasser soll nunC sein, das Gefrorne A und die Ursache als das Mitt-lere, nämlich der völlige Mangel an Wärme sei B.Hier ist B in C enthalten und in B ist das Gefroren-sein, oder A enthalten. Also wird Eis, wenn B wirdund es ist geworden, wenn B geworden ist und eswird werden, wenn B werden wird.

Die Ursache dieser Art und Dasjenige, dessen Ur-sache sie ist, entstehen zugleich, wenn sie entstehenund sind zugleich, wenn sie sind; und ebenso verhältes sich mit dem Gewordensein und künftigen Werdenderselben. Wo aber Ursache und Wirkung nicht zu-gleich in derselben stetigen Zeit sind, ist da, wie esmir scheint, ein Anderes die Ursache von der Wir-kung? also ein Anderes Werdendes die Ursache vonder werdenden Wirkung und ein Anderes künftigWerdendes die Ursache der künftig werdenden Wir-kung und ein Anderes Gewordenes die Ursache vonder gewordenen Wirkung? Der Schluss geht hier vondem später Gewordenen aus; aber der Anfang liegtauch für solche Fälle in dem, was vorher geworden istund deshalb verhält es sich auch mit dem Werdendenso. Dagegen kann man von dem Früheren hier nichtschliessen, z.B. dass weil dieses geworden ist, nunspäter jenes werden müsse. Dies gilt auch für das

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Zukünftig-Werdende; denn man mag die Zwischenzeitbestimmt oder unbestimmt annehmen, immer wirdman, wenn man in Wahrheit sagen kann, dass dasEine geworden ist, nicht in Wahrheit sagen können,dass das Spätere geworden sei. Denn für die Zwi-schenzeit wäre es falsch, zu sagen, das Spätere sei,während das Frühere schon geworden ist. Dies giltauch für das Zukünftig-Werdende. Auch kann mannicht sagen, dass nachdem das Eine geworden sei, dasAndere später werden werde; denn das Mittlere mussgleichartig sein, also von Gewordenen ein Geworde-nes, von zukünftig Werdendem ein zukünftig Wer-dendes, von dem gegenwärtig Werdenden ein gegen-wärtig Werdendes und von dem Seienden ein Seien-des; zwischen Gewordenen und zukünftig Werdendenist aber kein Gleichartiges möglich; auch kann dieZwischenzeit weder unbestimmt, noch bestimmt sein;denn es würde falsch sein, wenn man sagen wollte,dass etwas in der Zwischenzeit sei.

Es ist jedoch hier zu untersuchen, was das Stetigeist, so dass nach dem Gewordensein das Werden inden Dingen enthalten ist. Hier ist aber klar, dass dasWerdende nicht an das Gewordene angrenzen kannund auch nicht das Gewordene an das Gewordene,denn jedes ist begrenzt und untheilbar. Wie daher diePunkte nicht aneinander grenzen können, so könnenes auch die gewordenen Dinge nicht, denn beide sind

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untheilbar. Aus demselben Grunde kann auch dasWerdende nicht an das Gewordene angrenzen, denndas Werdende ist theilbar, aber das Gewordene unt-heilbar. So wie sich daher die Linie zu dem Punkteverhält, so verhält sich das Werdende zu dem Gewor-denen; denn in dem Werdenden sind unendlich vieleGewordene enthalten. Noch deutlicher soll hierüber inder allgemeinen Lehre über die Bewegung gehandeltwerden.

Wie sich nun bei dem der Reihe nach Gewordenendie Ursache, als Mittleres verhält, darüber sei dasFolgende bemerkt; denn auch in solchem Falle mussdas Mittlere und das Oberste selbst unvermittelt sein;wie z.B. A geworden ist, weil C geworden ist; C istaber später und A vor ihm geworden. Aber C ist derAnfang, weil es dem Jetzt näher steht, welches derAnfang der Zeit ist. C ist aber geworden, wenn D ge-worden ist. Wenn also D geworden ist, so muss Anothwendig vorher geworden sein. Der Grund hierfürist C. Denn wenn D geworden ist, so muss C frühergeworden sein und wenn C geworden ist, so muss Avor ihm geworden sein. Wenn man den Hergang soauffasst, wird da die Mittelursache irgendwo beieinem Unvermittelten anhalten, oder wird es immerfort ohne Ende weiter gehen? Allein das Gewordenegrenzt nicht, wie bemerkt, an das Gewordene; alsomuss nothwendig von einem Mittleren und einen dem

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Jetzt Nächsten angefangen werden. Dies gilt auch fürdas künftig Werdende; denn wenn man in Wahrheitsagen kann, dass D werden wird, so muss man inWahrheit sagen, dass A vorher werden wird. Nun istaber C der Grund von diesem; denn wenn D seinwird, so wird vorher C sein und wenn C sein wird, sowird vorher A sein. Auch bei diesen ist die Theilungohne Ende, denn auch das in Zukunft Werdendegrenzt nicht aneinander. Es muss also auch bei diesenein unvermittelter Anfang angenommen werden. Beiden menschlichen Werken verhält es sich ebenso;wenn ein Haus geworden ist, so müssen Steine behau-en und geworden sein; und weshalb dies? Weil noth-wendig ein Fundament gelegt worden sein muss,wenn ein Haus zu Stande gekommen sein soll; sollaber ein Fundament gelegt worden sein, so müssenvorher Steine geworden sein. Ebenso werden, wennein Haus in Zukunft werden soll, vorher die Steinewerden müssen. Auch hier wird dies durch das Mittle-re in gleicher Weise bewiesen; denn das Fundamentwird das frühere sein.

Bei den werdenden Dingen sieht man mitunter einWerden sich im Kreise vollziehen; dies würde dannmöglich sein, wenn das Mittlere und die äussern Be-griffe gegenseitig von einander ausgesagt werden kön-nen. Denn bei solchen Urtheilen findet die Umkeh-rung statt. Nun ist in den ersten Analytiken gezeigt

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worden, dass die Sätze im Schlüsse sich umkehrenlassen und dies geschieht in dem Zirkelschluss. Beiwirklichen Vorgängen zeigt sich dies in folgenderWeise: Wenn die Erde benetzt worden ist, so mussDunst entstehen und wenn dieser entstanden, Wolken,und wenn diese geworden sind, Wasser, und wenndieses geworden ist, muss die Erde benetzt werden.Nun war aber diese Benetzung das Erste und derWechsel ist deshalb im Kreise gegangen; denn wennirgend Eines von diesen Dingen ist, so entsteht auchdas Andere und dann das Dritte, und wenn dieses ist,wieder das Erste.

Manches Werdende ist allgemeiner Natur (denn esverhält sich, oder wird so immer und in jedem Falle);anderes zwar nicht immer, aber meistentheils; sowächst z.B. nicht jedem Manne ein Bart, aber dochden meisten. In solchen Fällen kann auch der vermit-telnde Grund nur ein meistentheils geltender sein.Denn wenn A von dem B allgemein ausgesagt wirdund ebenso B allgemein von C, so muss auch A vonC allgemein und für jedes Einzelne von C ausgesagtwerden; denn dies ist die Natur des Allgemeinen, dasses für jedes Einzelne und immer gilt. Nun war aberangenommen, dass Etwas blos meistentheils gelte,folglich kann auch der vermittelnde Grund B nur mei-stentheils gelten. Für Alles, was in dieser Weise mei-stentheils ist oder wird, werden deshalb die

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unvermittelten obersten Grundsätze nur meistentheilsgelten.

Dreizehntes Kapitel

Wie nun das Was eines Gegenstandes in den Defi-nitionen wiedergegeben wird und in welcher Weiseein Beweis und eine Definition davon gegeben wer-den kann oder nicht, habe ich früher gesagt; jetztwerde ich sagen, wie man in dem Was dasjenige, wasvon ihm auszusagen ist, aufzusuchen habe.

Von dem, was einem einzelnen Dinge immer ein-wohnt, erstreckt sich Manches auch auf andere Dinge,nur nicht ausserhalb der Gattung. Unter dem: »Mehre-ren einwohnen« meine ich solche Bestimmungen,welche in jedem Einzelnen zwar allgemein enthaltensind, indess auch bei anderen vorkommen. So giebt esz.B. eine Bestimmung, welche in jeder Dreizahl ent-halten ist, aber auch in Dingen, die keine Dreizahlsind; so ist das Seiende zwar in der Dreizahl enthal-ten, aber auch in Anderem, was keine Zahl ist. Auchdas ungerade ist in jeder Drei enthalten und ist dochauch noch in Anderem enthalten, wie z.B.. in derFünf; aber nicht in Dingen einer andern Gattung;denn die Fünf ist doch eine Zahl, aber ausserhalb derZahlen giebt es kein solches Ungerade.

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Dergleichen Bestimmungen muss man nun so langeherausheben, bis man so viele derselben erlangt hat,dass die einzelnen zwar auch andern Dingen zukom-men, aber sie alle zusammen keinem andern Dingeweiter; denn dann müssen sie das Wesen der Sacheenthalten. So ist z.B. in jeder Drei die Zahl und dasUngerade enthalten und zwar ist sie die erste ungeradeZahl; ferner kann sie durch keine andere Zahl gemes-sen werden und ist gleichsam aus andern Zahlen nichtzusammengesetzt. Dieses ist somit die Drei; nämlichdie erste ungerade Zahl und zwar die erste in dieserWeise. Einzelne dieser Bestimmungen sind auch inallen andern ungeraden Zahlen enthalten und das»erste« auch in der Zwei; allein alle zusammen sind inkeinem andern Dinge enthalten.

Nun ist bereits früher uns bekannt geworden, dassdie von dem Was der Dinge ausgesagten Bestimmun-gen nothwendige sind und dass die allgemeinen Be-stimmungen nothwendige sind; wenn also bei derDrei oder bei einem andern Gegenstande die in dessenWas enthaltenen Bestimmungen so aufgesucht wer-den, so wird auch die Drei somit nothwendig aus die-sen Bestimmungen bestehen. Dass sie aber dasWesen der Sache bilden, erhellt daraus, dass wenndiese Bestimmungen nicht das Wesen der Drei bilde-ten, sie doch irgend eine Gattung bilden müssten, dieentweder einen Namen hätte, oder ohne Namen wäre,

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und dann würde eine solche für Mehreres, als die Dreigelten; denn es ist angenommen worden, dass die Gat-tung von der Beschaffenheit ist, dass sie möglicher-weise sich auch auf mehreres Andere erstrecken kann;wenn aber diese Bestimmungen zusammen keinemandern Gegenstande, als den einzelnen Dreien zukom-men, so werden sie das Was der Drei sein. Denn auchdas ist festgestellt worden, dass das Wesen des einzel-nen Gegenstandes eine solche Aussage ist, welche füralle Einzelnen derselben gilt. Deshalb werden die indieser Art dargelegten Bestimmungen auch für jedenandern zu diesem Begriff gehörenden Gegenstand dasWas desselben ausmachen.

Man muss, wenn man ein ganzes Gebiet regelrechtuntersucht, die Gattung bis zu den ersten nicht weitertheilbaren untersten Arten trennen, also z.B. die Zahlin die Drei und die Zwei; dann muss man versuchendie Definitionen dieser Arten zu gewinnen, z.B. dieDefinitionen der geraden Linie, des Kreises und desrechten Winkels; dann muss man die Gattung aufsu-chen, z.B. ob der Gegenstand zu den Grössen oder zuden Beschaffenheiten gehört und deren eigenthümli-che Eigenschaften vermittelst der gemeinsamen ober-sten Bestimmungen in Betracht nehmen. Denn das,was den zusammengesetzten Dingen in Folge der inihnen enthaltenen einfachen Bestandtheile zukommt,kann aus den Definitionen des Einfachen entnommen

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werden, weil die Definition und das Einfache der An-fang von allen Gegenständen sind und nur den einfa-chen Dingen deren Eigenschaften an sich zukommen,den andern Dingen aber nur beziehungsweise durchjene.

Die nach den Art-Unterschieden geschehendenEintheilungen sind für ein solches Verfahren zu ge-brauchen; wie sie aber zu Beweisen dienen, ist frühergesagt worden. Diese Eintheilungen werden daherhier nur zu gebrauchen sein, um das Was eines Ge-genstandes aufzufinden.

Doch könnte man dies für Nichts halten, und viel-mehr gleich alle Bestimmungen aufnehmen wollen, soetwa, wie wenn man ohne Eintheilung alles gleichbeim Beginne aufnimmt. Allein es ist ein Unterschied,ob von den ausgesagten Bestimmungen die eine zu-erst und die andere nachher ausgesagt wird, z.B. obman sagt: ein Geschöpf, was zahm und zweifüssig ist,oder ein Zweifüssiges, was Geschöpf und zahm ist.Denn wenn das Ganze aus zwei Bestimmungen be-steht und die eine das zahme Geschöpf ist und wenndann aus diesem und dem Art-Unterschied derMensch oder was sonst das so gewordene eine Dingsein mag, sich ergiebt, so muss man auf der Einthei-lung und die dadurch gewonnenen Bestimmungen be-stehen. Auch kann man nur auf diesem Wege sich si-chern, dass keine in dem Was enthaltene Bestimmung

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übersehen wird. Denn wenn man zuerst die Gattungangesetzt hat und dann eine von den tiefer unter ihrstehenden Eintheilungen hinzunimmt, so wird nichtdas ganze Gebiet von solcher Definition befasst wer-den; so sind z.B. alle Thiere nicht blos mit gespalte-nen Flügeln oder zusammengewachsenen Flügeln ver-sehen, sondern das ganze Gebiet umfasst hier alleüberhaupt geflügelten Geschöpfe; erst bei diesem trittjener Unterschied ein. Die erste Unterscheidung be-trifft aber das Geschöpf und unter diese müssen alleGeschöpfe fallen. Ebenso muss man in jedem andernFalle verfahren, mag der Gegenstand ausserhalb einerbestimmten Gattung fallen, oder zu ihr gehören; somuss z.B. bei den Vögeln die Eintheilung derselbenalle Vögel umfassen und ebenso bei den Fischen alleFische. Wenn man so vorschreitet, so kann man wis-sen, dass man nichts übersieht, während man beieinem andern Verfahren nothwendig manches auslas-sen und nicht bemerken wird.

Indess braucht man behufs einer Definition undEintheilung nicht alle einzelnen Dinge zu kennen, ob-gleich Manche behaupten, dass man unmöglich dieunterschiedenen Bestimmungen der einzelnen Dingekennen könne, wenn man nicht alle einzelnen kenneund das Einzelne sei ohne Kenntniss seiner unter-schiedenen Bestimmungen nicht zu kennen; denn soweit das Einzelne von dem Andern sich nicht

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unterscheide, sei es mit ihm ein und dasselbe und soweit es sich von ihm unterscheide, sei es ein Anderes.Zunächst ist nun diese letzte Behauptung falsch; dennnicht jeder Unterschied macht Etwas zu einem Ande-ren; denn viele Unterschiede bestehen bei Dingen vonderselben Art, aber sie betreffen nicht deren Wesenoder die ihnen an sich zukommenden Eigenschaften.Wenn man ferner dem Art-Unterschied gegenüber daswidersprechend Entgegengesetzte ansetzt, so dassAlles entweder unter jenen oder unter dieses fallenmuss und den zu definirenden Gegenstande in einemvon beiden sucht und ihn kennt, so ist es gleichgültig,ob man weiss oder nicht weiss, welche Unterschiedevon den Dingen des entgegengesetzten Gebietes aus-gesagt werden können. Denn wenn man so vorschrei-tet, so gelangt man offenbar zu Bestimmungen, dienicht mehr getheilt werden können und man wirddann den Begriff des Wesens des zu definirenden Ge-genstandes erlangt haben. Auch ist der Satz, dass alleDinge unter die Eintheilung fallen müssen, wenn dieGlieder derselben einander so entgegenstehen, dassnichts dazwischen bleibt, kein blosser Satz, dessenZugeständniss man verlangt, sondern es ist eine Noth-wendigkeit, dass alles unter eines oder das andere die-ser Glieder falle, wenn der Eintheilungsgrund von derGattung ausgegangen ist.

Um die Definition einer Sache vermittelst des

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Eintheilens zu erlangen, muss man auf Dreierlei Achthaben; man muss die ausgesagten Bestimmungen demWas der Sache entnehmen, dann von diesen die erstevor die zweite stellen und endlich muss man diese Be-stimmungen sämmtlich aufstellen. Jenes muss undzwar zuerst geschehen, weil man ebensowohl aus nurnebenbei bestehenden Bestimmungen durch Schlussfolgern kann, dass die Sache besteht, wie dies vermit-telst des Gattungsbegriffes geschehen kann. Zweitenswird dann die Ordnung so sein, wie es sich gehört,wenn man das Oberste zuerst ansetzt, und dies ist die-jenige Bestimmung, welche von allen Einzelnen aus-gesagt werden kann, während umgekehrt kein Einzel-nes von ihm ausgesagt werden kann; denn dieser Artmuss das Oberste sein. Wenn man dasselbe so ange-setzt hat, so muss man weiter bei den niedern Bestim-mungen ebenso verfahren; denn die zweite unterschei-dende Bestimmung wird wieder die erste in Bezug aufalle zu ihr gehörenden Dinge sein und die dritte ist dieerste für die unter diese fallenden Dinge. Denn wennman das Obere wegnimmt, so wird dann die zunächstfolgende Bestimmung die erste für die übrigen Dingesein. Ebenso ist also auch mit den weitem unterschie-denen Bestimmungen zu verfahren. Dass aber zuletztsämmtliche Bestimmungen bei diesem Verfahren ge-funden werden, erhellt daraus, dass man mit derEintheilung der obersten Gattung beginnt, also dass

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z.B. Alles entweder dieses oder jenes Geschöpf ist. Istnun der Gegenstand zu dem einen gehörig, so wirdwieder von diesem als Ganzen der Eintheilungsgrundgenommen, bis zuletzt ein solcher nicht mehr besteht.Dann werden diese Bestimmungen einschliesslich desletzten Unterschiedes als Ganzes sich nicht mehr derArt nach von dem zu definirenden Gegenstande unter-scheiden. Denn es ist klar, dass dann weder zu vieleBestimmungen zusammengefasst sind, weil sie alleaus dem Was des Gegenstandes entnommen sind,noch eine ausgelassen ist, da dies entweder die Gat-tung oder ein Art-Unterschied sein müsste. Nun istaber die Gattung das Erste gewesen und zu ihm sinddie Art-Unterschiede hinzugenommen worden; dieArt-Unterschiede grenzen aber aneinander und einnoch weiter gehender ist nicht vorhanden; denn dannmüsste das Letzte sich wieder der Art nach unter-scheiden, während doch angenommen worden, dassdies nicht mehr der Fall sei.

Bei dieser Ermittlung muss man auf Einzelne, wel-che einander ähnlich und nicht unterschieden sind,achten und zunächst sehen, welche Bestimmung inihnen allen dieselbe ist; dann muss man wieder aufdie davon unterschiedenen Andern achten, welcheaber mit jenen zu derselben Gattung gehören undunter sich zwar von gleicher Art, aber von jenen ver-schieden sind. Wird nun bei diesen Etwas gefunden,

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was in allen dasselbe ist und verfahrt man mit den an-dern ebenso, so muss man dann bei beiden Klassenwieder etwas aufsuchen, was beiden gemeinsam ist,bis man zu einem urtheilbaren Begriff gelangt. Dieserwird dann die Definition der Sache sein. Kommt manaber hierbei nicht zu einem Begriff, sondern zu zwei-en oder mehreren, so kann offenbar das Gesuchtenicht ein Einiges sein, sondern Mehreres. Wenn manz.B. ermitteln will, was die Grossherzigkeit ist, somuss man auf einige grossherzige Personen achten,die man als grossherzige kennt und sehen, welcheeine Bestimmung bei ihnen allen als grossherzigenvorhanden ist. Sind z.B. Alkibiades und Achilles undAjax grossherzig, so frägt es sich, welche eine Be-stimmung findet sich bei ihnen allen? Antwort: Dasssie Beleidigungen nicht ertrugen; denn der eine be-gann deshalb einen Krieg, der andere zürnte und derdritte tödete sich selbst. Alsdann betrachtet man ande-re Grossherzige, z.B. den Lysander und den Socrates;findet sich nun bei diesen, dass sie sowohl Glück wieUnglück mit Gelassenheit ertrugen, so nimmt mandiese beiden Bestimmungen und sieht, welche ge-meinsame Bestimmung die Gelassenheit bei Glückund Unglück und das Nichtertragen von Beleidigun-gen enthalten. Ist keine solche gemeinsame Bestim-mung in ihnen enthalten, so gäbe es dann zwei Artenvon Grossherzigkeit.

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Der Begriff ist immer allgemeiner Natur; denn derArzt sagt nicht, dass etwas diesem Auge heilsam sei,sondern, entweder dass es für alle Augen heilsam ist,oder er unterscheidet nach den Arten der Augen. Esist aber leichter das Einzelne als das Allgemeine zubestimmen; deshalb muss man von dem Einzelnen zudem Allgemeinen übergehen. Auch bleiben die Fälle,wo dasselbe Wort verschiedene Begriffe bezeichnet,bei dem Allgemeinen leichter unbemerkt, als bei denuntersten Arten.

So wie in den Beweisen das Schliessen enthaltensein muss, so in den Begriffen das Deutliche. Dieswird dann der Fall sein, wenn durch die von den Ein-zelnen ausgesagten Bestimmungen jede Gattung zu-nächst für sich definirt wird. So darf man also bei derDefinition des Aehnlichen nicht gleich alles in Be-tracht nehmen, sondern erst das, was bei den Farbendas Aehnliche ist und dann das bei den Gestalten;ebenso bei dem Scharfen, zunächst das Scharfe in derStimme und man darf erst von da ab zu dem, allendiesen Arten Gemeinsamen vorschreiten und dabeimuss man sich vorsehen, dass man nicht in Zweideu-tigkeiten gerathe. Wenn man ferner schon bei mündli-chen Erörterungen keine bildlichen Ausdrücke ge-brauchen soll, so erhellt, dass man auch nicht durchbildliche Ausdrücke und das, was durch solche be-zeichnet wird, definiren darf; denn sonst würden diese

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Ausdrücke auch in den mündlichen Erörterungennicht zu vermeiden sein.

Vierzehntes Kapitel

Um Streitsätze richtig lösen zu können, muss mandie Zergliederungen und Eintheilungen benutzen unddabei so verfahren, dass man die gemeinsame Gattungvon allen an Grunde legt; also wenn beispielsweisedie Geschöpfe den Gegenstand der Aufgabe bilden, somuss man ermitteln, welche Bestimmungen in allenGeschöpfen enthalten sind. Wenn diese Bestimmun-gen ermittelt sind, so muss man wieder sehen, welcheBestimmungen der obersten Art, die nach dem Gat-tungsbegriff folgt, allgemein zukommen, wären diesz.B. die Vögel, so hätte man zu ermitteln, welche Be-stimmungen allen Vögeln zukommen. So hat mandann auch immer weiter mit der nächstfolgenden Artzu verfahren. Es ist klar, dass man auf diese Weisedann angeben kann, warum diese Bestimmungen denunter der Gattung stehenden Arten zukommen, z.B.weshalb dem Menschen oder dem Pferde dergleichenzukommen. So soll A das Geschöpf bezeichnen, B dieBestimmungen, welche allen Geschöpfen zukommenund C, D, E sollen die einzelnen Arten der Thieresein. Hier ist klar, weshalb B dem D zukommt,

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nämlich vermittelst A; und ebenso ist es bei den an-dern Thierarten, da für alle derselbe Grund gilt.

Bisher habe ich von den Fällen gesprochen, wo ge-meinsame Namen für diese Bestimmungen vorhandensind; allein man darf sich nicht blos auf diese be-schränken, sondern hat zu sehen, ob nicht noch sonstetwas Gemeinsames in dem Begriffe enthalten ist undermitteln, welchen Arten dieses Gemeinsame zu-kommt und welche Bestimmungen von diesem Ge-meinsamen ausgesagt werden. So kommt z.B. denThieren, welche Hörner haben, zu, dass sie einen wie-derkäuenden Magen haben, und dass sie nicht in bei-den Kinnladen Vorderzähne haben. Hier muss mannun ermitteln, welchen Thieren das Hörner-haben zu-kommt, denn dann ist klar, weshalb ihnen jene ge-nannten Bestimmungen zukommen, nämlich weil sieHörner haben.

Ein anderes Verfahren ist das, wo man nach derAehnlichkeit die Bestimmungen ermittelt. Man kannnämlich das, was man das Rückgrat des Dintenfischesund bei andern Fischen die Gräten und bei andernThieren die Knochen nennen muss nicht als ein- unddasselbe annehmen; allein dennoch giebt es Bestim-mungen, welche diesen Gegenständen so zukommen,als wenn sie eine gleiche derartige Natur hätten.

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Fünfzehntes Kapitel

Mehrere Streitfragen sind dieselben, zum Theildeshalb, weil sie denselben Mittelbegriff als Grundhaben, z.B. die Gegenwirkung. Von diesen sind wie-der einige zwar der Gattung nach dieselben, aber siehaben im Einzelnen ihre eignen Unterschiede. So dieStreitfrage, weshalb etwas widerhallt, und weshalbetwas sich spiegelt und weshalb der Regenbogen ist;alle diese Fragen sind der Gattung nach dieselben(denn in allen diesen Fällen ist eine Brechung vorhan-den), aber in der Art sind sie verschieden. AndereStreitfragen unterscheiden sich von jenen dadurch,dass bei ihnen der eine Mittelbegriff unter einen an-dern enthalten ist. So bei der Aufgabe, weshalb derNil gegen Ende des Monats stärker fliesst? weil näm-lich das Ende des Monats stürmischer ist; aber wes-halb ist das Ende des Monats stürmischer? weil derMond dann abnimmt. Diese Aufgaben verhalten sichin der angegebenen Weise zu einander.

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Sechzehntes Kapitel

In Bezug auf die Ursache und deren Wirkungkönnte man zweifeln, ob wenn die Wirkung da ist,auch die Ursache da ist; wenn also z.B. das Laubfällt, oder eine Mondfinsterniss ist, ob dann auch dieUrsache der Mondfinsterniss und des Laubfallens be-steht? Z.B. ob die Ursache davon darin besteht, dassder Baum breite Blätter hat und die Ursache derMondfinsterniss darin, dass die Erde zwischen Mondund Sonne sich befindet; denn wenn dies nicht derFall ist, so wird etwas Anderes die Ursache davonsein. Ist dagegen die Ursache vorhanden, so ist auchdie Wirkung da; ist also z.B. die Erde in der Mitte, soist auch die Mondfinsterniss vorhanden oder hat derBaum breite Blätter, so verliert er auch sein Laub.Wenn es sich so verhält, so wäre beides gleichzeitigund eins könnte durch das andere bewiesen werden.Denn es sei A das Fallen des Laubes, B das Habenvon breiten Blättern, und C der Weinstock. Wennalso A in B enthalten ist (denn jeder breitblättrigeBaum verliert sein Laub) und B in C enthalten ist(denn jeder Weinstock hat breite Blätter), so wirdauch A in C enthalten sein und jeder Weinstock wirdsein Laub verlieren; der Grund davon liegt in demMittleren, dem B.

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Man kann aber auch durch das Laubabfallen beimWeinstock beweisen, dass er breite Blätter hat. DennD soll das Haben von breiten Blättern bedeuten, Edas Fallen des Laubes und Z den Weinstock. Nun istE in Z enthalten (denn alle Weinstöcke verlieren ihrLaub) und D ist in E enthalten (denn alles, was seinLaub verliert, ist breitblättrig), also ist jeder Wein-stock breitblättrig, und der Grund liegt in seinemLaub verlieren. Wenn aber beide nicht gegenseitig dieUrsache von einander sein können (denn die Ursacheist früher als die Wirkung) und wenn der Umstand,dass die Erde in der Mitte ist, die Ursache von derMondfinsterniss ist, so kann die Mondfinsternissnicht die Ursache davon sein, dass die Erde in derMitte ist. Wenn nun der durch die Ursache geführteBeweis ein Beweis des Warum ist und wenn ein Be-weis, welcher nicht durch die Ursache geführt wird,nur ein Beweis des Dass ist, so weiss man im letztemFalle wohl, dass die Erde in der Mitte ist, aber mankennt nicht das Warum. Es ist aber klar, dass dieMondfinsterniss nicht die Ursache davon ist, dass dieErde in der Mitte ist, sondern dass vielmehr letzteresdie Ursache der Finsterniss ist; denn in dem Begriffeder Mondfinsterniss ist das in der Mitte sein enthaltenund es ist also klar, dass dadurch jene erkannt wird;aber nicht dieses durch jene.

Oder sollte es mehrere Ursachen für einen Vorgang

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geben können? Denn wenn man dieselbe Bestimmungvon mehreren oberen Begriffen aussagen kann, so sollA in dem obern Begriffe B enthalten sein und ebensoin einen andern obern Begriffe C und diese obern Be-griffe sollen der erste in D, der andere in E enthaltensein. Demnach wird A in D und E enthalten sein undder Grund dafür ist bei D das B und bei E das C.Wenn nun mit dem Eintreten der Ursache auch dieSache da sein muss, aber aus dem Dasein der Sachenicht folgt, dass alles, was Ursache sein kann, da seinmüsse, so muss wohl eine Ursache da sein, aber esmüssen nicht alle Ursachen da sein. Oder es musswohl, wenn die Aufgabe immer etwas Allgemeinesstellt und die Ursache etwas Ganzes ist, auch die Wir-kung allgemein sein. So ist z.B. das Laub - abfallenbei einem bestimmten Ganzen aufgestellt, wenn letz-teres auch in mehrere Arten zerfällt und es ist bei des-sen Arten allgemein vorhanden, mögen dies nunPflanzen überhaupt oder Pflanzen von bestimmtererBeschaffenheit sein. Deshalb muss auch das Mittlerebei diesen Arten sich gleich verhalten, und ebensoseine Wirkung und beide müssen sich umkehren las-sen. Z.B.: Weshalb verlieren die Bäume ihr Laub?Geschieht es, weil der Saft vertrocknet, so muss,wenn der Baum sein Laub verliert, eine Vertrocknungdes Saftes bei ihm vorhanden sein, und wenn eineVertrocknung des Saftes statt hat (nur nicht in jedem

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beliebigen Baume), so muss er sein Laub verlieren.

Siebzehntes Kapitel

Ist es wohl möglich, dass für dieselbe Wirkung beiallen Dingen desselben Begriffs nicht ein und dassel-be, sondern Verschiedenes als Ursache besteht, oderist dies nicht möglich? Wenn die Ursache das Ansichund nicht blos ein Zeichen oder ein Nebensächlichesbetrifft, so ist dies nicht möglich: denn das Mittlereist der Grund, dass der Oberbegriff von dem Unterbe-griff ausgesagt werden kann. Verhält es sich aber mitder Ursache nicht so, so ist jene Annahme möglich;denn man kann auch nebensächliche Bestimmungeneines Gegenstandes als Wirkungen einer Ursache be-trachten, aber solche Sätze können nicht als Streit-sätze gelten. Geschieht dies aber nicht, so muss dasMittlere sich übereinstimmend verhalten und wenndie Aussenbegriffe zweideutig sind, so wird auch derMittelbegriff zweideutig sein und sind sie zu einerGattung gehörig, so wird auch der Mittelbegriff sosich verhalten. Weshalb können z.B. bei einer Pro-portion die mittleren Glieder gewechselt werden? DieUrsache davon ist bei den Linien eine andere, wie beiden Zahlen; und doch ist sie dieselbe; nämlich so weites Linien sind, ist die Ursache verschieden, so weit

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sie aber diese bestimmte Zunahme enthalten, ist dieUrsache für beide dieselbe. So verhält es sich beiallen Dingen. Dass aber die eine Farbe der andern unddie eine Figur der andern ähnlich ist, davon ist fürjedes die Ursache eine andere; denn das »ähnlich« isthier zweideutig; bei den Figuren besteht es darin, dassdie Seiten in gleichen Verhältnissen stehn und dieWinkel gleich sind; bei den Farben beruht aber dasAehnliche darauf, dass die sinnliche Empfindung die-selbe ist, oder auf etwas anderen der Art. Dinge, dienur der Aehnlichkeit nach dieselben sind, haben auchnur denselben Mittelbegriff der Aehnlichkeit nach.Dies beruht darauf, dass die Ursache der Wirkungund dem Gegenstande, an dem sie geschieht, ent-spricht und diese jener entsprechen. Nimmt man abernur einen einzelnen Gegenstand, so reicht die Wir-kung weitere so reicht z.B. die Bestimmung, dass dieäussern Winkel vier rechten Winkeln gleich sind, wei-ter und gilt nicht blos bei dem Dreieck und Viereck,sondern bei allen geradlinigen Figuren; denn alle Fi-guren, bei denen die Aussenwinkel gleich vier rechtenWinkeln sind, haben denselben Mittelbegriff. DerMittelbegriff ist der Grund des Oberbegriffes und des-halb entstehen alle Wissenschaften durch Definitio-nen. So kommt das Laubverlieren dem Weinstock zuund erstreckt sich auch weiter; und es kommt auchdem Feigenbaum zu und geht auch darüber hinaus;

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aber es erstreckt sich nicht über alle Pflanzen mitbreiten Blättern hinaus, sondern hat mit diesen dengleichen Umfang. Nimmt man aber den Oberbegriffzum Mittelbegriff, so wird er den Grund für das Laubverlieren. Dieser Oberbegriff ist nämlich für die an-dern der Mittelbegriff, weil alle Bäume von dieser Be-schaffenheit sind. Weiter dann ist für dieses Abfallender Mittelbegriff, dass der Saft vertrocknet, oder sonstein Umstand der Art. Was ist also das Laubabfallen?Das Austrocknen des Saftes in dem Blattstiele.

Für die Untersuchung, wie Ursache und Wirkungeinander entsprechen, wird folgende Darstellung Aus-kunft geben. A soll in dem ganzen B enthalten seinund B in jedem, was zu D gehört, aber auch noch inmehreren Andern. Hier wird B das Allgemeine für dieunter D gehörenden Dinge sein. Denn ich nenne allge-mein das, was mit dem, wovon es ausgesagt wird,sich nicht austauschen lässt und erstes Allgemeine,was zwar mit jedem Einzelnen sich nicht austauschenlässt, wohl aber mit ihnen allen zusammen und auchnicht darüber hinaus reicht. Für die unter D befasstenDinge ist nur B die Ursache, dass ihnen A zukommt;also muss A über noch mehr Dinge, als die in B ent-haltenen, sich erstrecken. Denn wenn dies nicht derFall wäre, wie sollte da B mehr als A die Ursachesein? Wenn nun A auch in allen E enthalten ist, sowerden alle unter E enthaltenen Dinge eine von B

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verschiedene Einheit ausmachen; denn wie könnteman sonst sagen, dass A allem zukommt, was in Eenthalten ist, aber dass E nicht allen dem zukommt,was unter A enthalten ist? Denn weshalb sollte Etwasnicht Ursache sein, wenn es so wie A in allen D ent-halten ist? Also wird auch E eine Einheit bilden? Manmuss also auch hier nach einem Mittelbegriff suchenund dieser mag C sein. Also kann es wohl kommen,dass mehrere Ursachen für dieselbe Wirkung beste-hen, aber doch nicht für die zu einer Art gehörendenDinge. So kann z.B. Ursache des langen Lebens beiden vierfüssigen Thieren sein, dass sie keine Gallehaben und bei den Vögeln ihre trockene Natur odersonst ein Umstand. Wenn man also nicht gleich zueinen untheilbaren Begriff dabei gelangt und nichtblos Eines, sondern Mehreres als Mittleres auftritt, sosind auch der Ursachen mehrere.

Achtzehntes Kapitel

Ist nun von den Mittelbegriffen derjenige die Ursa-che, welcher zu dem obersten Allgemeinen gehört,oder sind die für die einzelnen Arten geltenden Mittel-begriffe die Ursachen für diese? Offenbar ist für jedesDing das, was ihm am nächsten ist, die Ursache. Dassaber das Erste unter dem Allgemeinen sich befindet,

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davon ist das Allgemeine die Ursache. So ist z.B.dafür, dass B in D enthalten ist, C die Ursache; damitist C die Ursache, dass A in D enthalten ist und B dieUrsache, dass A in C enthalten ist; aber dafür, dass Ain B enthalten ist, ist A selbst die Ursache.

Neunzehntes Kapitel

In Betreff des Schlusses und Beweises ist somitklar, was jedes von beiden ist und wie jedes entsteht;zugleich gilt dies auch für die beweisbare Wissen-schaft, denn sie ist dasselbe mit jenen. Dagegen wer-den die Fragen, wie man die obersten Grundsätze er-kennt und welches das sie erkennende Vermögen ist,von hier aus klar werden, wenn wir zunächst die hier-bei sich erhebenden Bedenken erörtert haben werden.

Dass man kein Wissen durch Beweise erlangenkann, wenn man nicht die obersten und unvermitteltenGrundsätze kennt, habe ich früher dargelegt. Dagegenkönnte man darüber zweifelhaft sein, ob das Wissendieser unvermittelten Sätze dasselbe sei, wie das Wis-sen, was durch Schlüsse vermittelt ist und ob es vonbeiden eine und dieselbe Wissenschaft giebt odernicht, oder ob von dem einen es zwar eine Wissen-schaft giebt, aber von dem anderen eine andere ArtKenntniss; und ob wir den Besitz der letztem nicht

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haben, sondern erwerben, oder ob sie uns einwohntund wir sie nur nicht bemerken. Wäre letzteres derFall, so wäre dies widersinnig; denn dann folgte, dassman ein Wissen habe, was noch genauer wäre, als dasdurch Beweis erlangte, ohne es zu bemerken. Erwirbtman aber dies Wissen, was man also früher nicht ge-habt hat, so entsteht die Frage, wie man es lernen undwie man damit bekannt werden könne, obgleich dochkein Wissen vorher bestanden hat? Denn ohnedem istdies unmöglich, wie ich bei der Lehre vom Beweisedargelegt habe. Es ist also klar, dass man ein solchesWissen unmöglich von Anfang ab haben kann, nochdass es entstehen kann, wenn man kein Wissen undKeinerlei Anlage dazu hat. Man muss also ein gewis-ses Vermögen dafür besitzen, aber kein solches, wel-ches in Genauigkeit das auf den Beweis beruhendeWissen übertrifft.

Ein solches Vermögen scheint nun in allen Ge-schöpfen vorhanden zu sein; denn alle haben ein an-gebornes Unterscheidungsvermögen, was der Sinn ge-nannt wird. In Folge dieses vorhandenen Sinnes erhältsich bei manchen Thieren von der Wahrnehmungetwas Bleibendes, bei andern aber nicht. Wo diesnicht statt hat, sei dies überhaupt nicht oder nur beiden Dingen nicht, für die sich etwas Bleibendes nichterhält, da fehlt diesen Geschöpfen jedes Wissen nebendem Wahrnehmen; wo sich aber die Wahrnehmungen

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erhalten, da können die Geschöpfe, wenn sie etwaswahrgenommen haben, dies auch in der Seele behal-ten. Wenn dergleichen Vorstellungen sich viele ge-sammelt haben, so entsteht wieder ein Unterschied,indem bei manchen Geschöpfen aus solchen bleiben-den Vorstellungen ein Begriff sich bildet, bei andernaber nicht. Aus den Wahrnehmungen bilden sich, wiegesagt, bleibende Vorstellungen und aus diesen, wennsie in Bezug auf ein und denselben Vorgang oft ein-treten, die Erfahrung; denn die der Zahl nach vielenErinnerungen werden zur einen Erfahrung. Aus derErfahrung, oder aus dem Ganzen und Allgemeinen,was in der Seele beharrt, aus dem Einen neben denVielen, welches als Ein und Dasselbe in allen jenenenthalten ist, entsteht dann die Kunst und die Wissen-schaft, und zwar die Kunst, wenn es sich um das Wer-den handelt und die Wissenschaft, wenn es sich umdas Seiende handelt. Es bestehen also keine getrenn-ten Vermögen in der Seele, noch entstehen sie aus an-dern stärker erkennenden Vermögen, sondern sie ent-stehen aus den Wahrnehmungen; gleich dem, wenn inder Schlacht eine Flucht entstanden ist und dann,wenn Einer stehen bleibt, auch der Andere und wiederein Anderer stehen bleibt, bis es zum Obersten ge-langt.

Die Seele ist aber von der Art, dass sie Dergleichenerleiden kann. Was ich früher hierüber gesagt habe,

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ist nicht deutlich gewesen; ich komme deshalb nocheinmal darauf zurück. Wenn nämlich eine Vorstellungvon gleichen Dingen sich erhält oder beharrt, so istdies zuerst das Allgemeine in der Seele. (Denn mannimmt zwar das Einzelne wahr, aber die Wahrneh-mung enthält auch das Allgemeine, z.B. den Men-schen und nicht den Menschen Kallias.) Denn hältman wieder bei diesen zunächst erlangten Allgemei-nen an, bis das Einfache und Allgemeine hervortritt,z.B. bei dem so beschaffenen Thiere, bis das Thierüberhaupt hervortritt. Mit diesem geschieht es dannebenso.

Es ist somit klar, dass wir mit den obersten Begrif-fen und Grundsätzen nur durch Induktion bekanntwerden können, denn auch die Wahrnehmung bringtso das Allgemeine in die Seele. Nun sind aber vonden denkenden Vermögen, mittelst deren wir dieWahrheit gewinnen, manche immer wahr, andere sinddagegen auch des Falschen fähig, wie die Meinungund das Schliessen. Immer wahr ist die Wissenschaftund die Vernunft und keine andere Gattung der Wis-senschaft ist genauer, als die Vernunft. Nun sind aberdie obersten Grundsätze bei den Beweisen das Be-kanntere und alle Wissenschaften beruhen auf Grün-den; deshalb wird es keine Wissenschaft von denobersten Begriffen und Grundsätzen geben. Nun giebtes aber nichts als die Vernunft was wahrhafter ist, als

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die Wissenschaften; deshalb wird die Vernunft dieobersten Begriffe und Grundsätze erkennen. Dies er-giebt sich auch aus der Erwägung, dass der Aus-gangspunkt aller Beweise nicht wieder ein Beweissein kann, also auch der Ausgangspunkt aller Wissen-schaft nicht wieder eine Wissenschaft. Da man nunneben der Wissenschaft keine andere wahrhafte Artdes Wissens hat, so wird die Vernunft der Ausgangs-punkt der Wissenschaften sein. Sie ist also gleichsamder Anfang des Anfanges und sämmtliche Wissen-schaften verhalten sich eben so zu sämmtlichen Ge-genständen.

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Die Topik

(Topika)

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Erstes Buch

Erstes Kapitel

Der Zweck dieser Abhandlung ist die Auffindungdes Verfahrens, vermittelst dessen man in Bezug aufjeden aufgestellten Streitsatz Schlüsse aus glaubhaf-ten Ansätzen zu Stande bringen kann, und vermittelstdessen, wenn man selbst einen Satz vertheidiget, nichtin Widersprüche sich verwickelt. Es ist deshalb zu-nächst anzugeben, was ein Schluss ist und in welcheArten er zerfällt, damit man wisse, was ein dialekti-scher Schluss ist, denn um diesen handelt es sich inder vorliegenden Abhandlung.

Der Schluss ist nun eine Rede, bei welcher Einigesvorausgesetzt wird und dann daraus etwas davon Ver-schiedenes sich mit Nothwendigkeit vermittelst jenerVordersätze ergiebt. Einen Beweis liefert der Schlussdann, wenn er aus wahren und allgemeinen oberstenSätzen, oder aus solchen abgeleitet wird, welche aufwahren und obersten Sätzen der betreffenden Wissen-schaft beruhen, Dialektisch ist dagegen derjenigeSchluss, welcher sich aus glaubwürdigen Sätzen ab-leitet. Wahre und oberste Sätze sind die, welche nichtvermittelst anderer, sondern durch sich selbst gewisssind. Denn bei den obersten Grundsätzen der

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Wissenschaften darf man nicht nach einem Grunde fürdieselben verlangen, sondern jeder dieser Grundsätzemuss durch sich selbst gewiss sein. Glaubwürdig sinddagegen Sätze, wenn sie von Allen, oder von denMeisten oder von den weisen Männern und zwar beiletzteren von allen, oder von den meisten oder vonden erfahrensten und glaubwürdigsten anerkannt wer-den. Ein Trugschluss ist ein solcher, welcher ausscheinbar glaubwürdigen Sätzen, ohne dass sie eswirklich sind, abgeleitet wird, oder welcher aus wirk-lich glaubwürdigen oder aus nur so scheinenden Sät-zen blos scheinbar abgeleitet wird. Denn nicht alles,was glaubwürdig scheint, ist es auch wirklich undebenso ist das, was glaubwürdig genannt wird, nichtauf den ersten Blick als falsch zu erkennen, währenddies bei den Vordersätzen der Trugschlüsse der Fallist, wo sogleich und meist selbst für Personen mit ge-ringerer Umsicht die trügerische Natur derselben of-fenbar ist. Deshalb soll allein die zuerst genannte Artder Trugschlüsse als Schlüsse gelten, während die an-deren zwar Trugschlüsse, aber keine Schlüsse sind,weil hier nur scheinbar, aber nicht wirklich einSchliessen stattfindet.

Neben allen diesen hier genannten Schlüssen giebtes auch noch Fehlschlüsse, welche aus den, einer be-stimmten Wissenschaft eigenthümlichen Sätzen abge-leitet werden, wie es deren z.B. bei der Geometrie und

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den mit dieser verwandten Wissenschaften giebt. DasVerfahren ist hier ein anderes, als bei den vorgenann-ten Schlüssen; denn der, welcher eine falsche Vor-zeichnung macht, schliesst nicht aus wahren undobersten, noch aus glaubwürdigen Sätzen. Ein solchesVerfahren fällt nicht unter den Begriff von jenenSchlüssen, denn man benutzt dabei keine Sätze, wel-che von Allen oder den Meisten anerkannt werden,noch solche, welche von den weisen Männern und beidiesen von allen oder den meisten oder den glaubwür-digsten anerkannt werden, sondern man benutzt zurZiehung des Schlusses Sätze, welche zwar in das Ge-biet der betreffenden Wissenschaften fallen, aber un-wahr sind; denn der Fehlschluss wird dadurch be-wirkt, dass man z.B. den Halbkreis nicht so, wie essich gehört, umschreibt, oder gewisse Linien nicht so,wie es geschehen sollte, zieht.

Dies sind, kurz gefasst, die Arten der Schlüsse. DieUnterschiede dieser genannten und der später noch zuerwähnenden Arten im Allgemeinen angedeutet zuhaben, mag hier genügen, weil ich nicht beabsichtige,von allen eine genaue Darstellung zu geben, sondernsie nur gleichsam im Umrisse hier durchgehen willund ich es für meine vorliegende Aufgabe für durch-aus hinreichend halte, wenn man jede dieser Schluss-arten irgendwie zu erkennen vermag.

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Zweites Kapitel

Ich habe nun wohl zunächst anzugeben, für wasund für wie vieles die Dialektik nützlich ist. Sie ist esfür dreierlei; für die Uebung des Verstandes, für diemündliche Unterhaltung und für die zur Philosophiegehörigen Wissenschaften. Dass sie zur Verstandes-übung nützlich ist, ergiebt sich aus ihr selbst; dennwenn man das hier gelehrte Verfahren inne hat, sowird man leichter einen aufgestellten Satz erörternkönnen. Für die mündliche Unterhaltung nützt sie,weil man dadurch die Meinungen der Menge kennenlernt und deshalb nicht mittelst fremdartiger, sondernmittelst der diesen Leuten bekannten Sätze mit ihnenverhandeln wird und weil man das, was sie nicht rich-tig auszudrücken scheinen, dadurch richtig stellenwird. Endlich gehört diese Beschäftigung für die zurPhilosophie gehörenden Wissenschaften, weil manwenn man die Bedenken über einen Gegenstand nachden entgegengesetzten Richtungen darlegen kann,man um so leichter das Wahre und das Falsche injeder Wissenschaft erkennen wird. Auch für die ober-sten Grundsätze, welche für alle Wissenschaften gel-ten, hat sie ihren Nutzen; denn aus den, einer be-stimmten Wissenschaft eigenthümlich angehörigenGrundsätzen kann man über jene nichts entwickeln,

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weil jene die obersten Grundsätze für alle Wissen-schaften sind; man muss sie deshalb nach dem, indem einzelnen Falle Glaubwürdigen besprechen underläutern, und dies ist die ausschliessliche und eigen-thümlichste Aufgabe der Dialektik. Indem sie über-haupt forschender Natur ist, geleitet sie auch zu denobersten, allen Wissenschaften gemeinsamen Grund-sätzen.

Drittes Kapitel

Wir werden diese Dialektik dann vollständig inne-haben, wenn wir sie ebenso innehaben, wie die Rede-kunst oder die Heilkunst und ähnliche Kunstfertigkei-ten, und dies ist dann der Fall, wenn wir von demüberhaupt Ausführbaren das, was wir wollen, zuStande bringen. Denn auch der Redner wird nicht vonjedem Gesichtspunkte aus überreden und der Arztnicht durch jedes Mittel die Heilung bewirken, undman wird nur dann, wenn er von den für den betref-fenden Fall statthaften Mitteln keines verabsäumt,sagen, dass er seine Wissenschaft genügend innehabe.

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Viertes Kapitel

Zunächst ist zu untersuchen, mit welchen Gegen-ständen die vorliegende Abhandlung sich zu beschäf-tigen hat. Wenn ich die Anzahl und die Beschaffen-heit der Gegenstände, worauf die Erörterungen sichbeziehen und die Gründe, auf welche sie sich stützen,dargelegt haben werde, und ebenso die Weise, wieman dieselben leicht zur Hand hat, so werde ichmeine Aufgabe genügend erledigt haben. Die Gegen-stände meiner Abhandlung sind an Zahl und Inhaltdieselben wie bei den Erörterungen, die sich aufSchlüsse stützen; denn die Gründe werden aus Vor-dersätzen entnommen, und die Streitsätze sind es, aufwelche die Schlüsse sich beziehen. Nun betrifft aberjeder Vordersatz und jeder Streitsatz entweder eineGattung oder ein Eigenthümliches oder ein Neben-sächliches; denn der Artunterschied ist, als zur Gat-tung gehörig, mit bei dieser zu behandeln. Das Ei-genthümliche bezeichnet entweder das wesentlicheWas des Gegenstandes oder nicht; deshalb ist es indiese zwei Arten zu sondern, und das, was das we-sentliche Was anzeigt, soll der Begriff genannt wer-den. Das Uebrige soll mit dem für beide aufgestelltenNamen des Eigenthümlichen ausschliesslich bezeich-net werden. Hieraus erhellt, dass der Gegenstand

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meiner Abhandlung sich in vier Theile sondert, in dasEigenthümliche, in den Begriff, in die Gattung und indas Nebensächliche. Man darf aber nicht meinen, dassjeder von diesen vier Theilen an sich schon ein Satz,oder eine Streitfrage sei, vielmehr bilden sich erst ausihnen die Streitfragen und die Sätze. Der Unterschiedzwischen diesen beiden liegt nur in der Form. Wennman so frägt: Also ist das zweifüssige auf dem Landelebende Geschöpf die Definition des Menschen? oder:Also ist Geschöpf der Gattungsbegriff des Menschen?so entsteht ein Satz. Wenn man dagegen frägt: Ist daszweifüssige auf dem Lande lebende Geschöpf die De-finition des Menschen oder ist sie es nicht? und: Istdas Geschöpf der Gattungsbegriff des Menschen odernicht? so entsteht eine Streitfrage. Ebenso ist es in an-deren Fällen. Es werden also wohl auch die Streitfra-gen und die Sätze einander an Zahl gleichstehen; dennwenn man die Form ändert, so kann man aus jedemSatz eine Streitfrage machen.

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Fünftes Kapitel

Ich habe nun zu sagen, was ein Begriff, eine Ei-genthümlichkeit, eine Gattung und ein Nebensächli-ches ist. Der Begriff ist ein Satz, welcher das wesent-liche Was des betreffenden Gegenstandes angiebt.Man giebt entweder einen solchen Satz anstatt desWortes, oder einen Satz anstatt eines Satzes; dennman kann auch Einzelnes von dem, was in einemSatze ausgesagt wird, definiren. Wenn man die Defi-nition nur in irgend einem anderem Worte bietet, sogiebt man damit offenbar keine Definition des Gegen-standes, weil jede Definition eine Art von Satz seinmuss. Indess trägt auch Dergleichen zur Definitionbei, wie z.B. wenn man sagt: Schön sei das Gezie-mende; ebenso die Angabe, ob die Sinneswahrneh-mung und die Erkenntniss dasselbe oder ob sie unter-schieden seien. Denn auch bei der Definition handeltes sich meistens darum, ob sie dasselbe wie der Ge-genstand oder verschieden sei. Ueberhaupt soll alles,was unter dasselbe Verfahren, wie es bei der Definiti-on geschieht, fällt, als zur Definition gehörig angese-hen werden; und dass alles hier Erwähnte dieser Artist, ergiebt sich aus ihm selbst; denn wenn man darle-gen kann, dass Etwas entweder dasselbe oder ver-schieden ist, so wird man in gleicher Weise auch mit

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den Definitionen es zu thun wohl im Stande sein;denn hat man gezeigt, dass sie nicht dasselbe mit demGegenstande ist, so wird man damit auch die Definiti-on widerlegt haben. Indess lässt sich dieser Satz nichtumkehren; denn zur Begründung einer Definition ge-nügt der Beweis, dass sie dasselbe wie ihr Gegen-stand ist, nicht; wohl aber genügt es zur Widerlegungeiner solchen, wenn man zeigt, dass Beide nicht das-selbe sind.

Eine Eigenthümlichkeit ist es, wenn dieselbe zwardas wesentliche Was des Gegenstandes nicht darlegt,aber doch nur bei ihm sich findet und wenn Gegen-stand und Eigenthümlichkeit mit einander ausge-tauscht werden können. So ist es z.B. eine Eigent-hümlichkeit des Menschen, dass er der Sprachwissen-schaft fähig ist; denn was ein Mensch ist, ist auch derSprachwissenschaft fähig, und umgekehrt, was derSprachwissenschaft fähig ist, ist auch ein Mensch.Niemand wird aber das, was auch bei einem anderenGegenstande vorkommen kann, eine Eigenthümlich-keit jenes nennen; eine solche ist z.B. das Schlafen fürden Menschen nicht, oder wenn etwas nur zu einer be-stimmten Zeit bei dem Menschen stattfinden sollte.Selbst wenn man dergleichen eine Eigenthümlichkeitnennen wollte, so würde man das doch nicht ein Ei-genthümliches überhaupt nennen, sondern es als einEigenthümliches für diese Zeit oder in Bezug auf

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etwas bezeichnen. So kann das: Auf der rechten Seitesein, manchmal eine Eigenthümlichkeit von Etwassein, und du zweifüssige wird in Beziehung auf Ande-res eine Eigenthümlichkeit genannt, z.B. bei demMenschen in Bezug auf das Pferd und den Hund.Wenn etwas auch anderen Dingen zukommen kann,so kann der die Eigenthümlichkeit des Gegenstandesausdrückende Satz offenbar nicht umgekehrt werden,denn es ist nicht nothwendig, dass ein Schlafendes einMensch sei.

Die Gattung ist das, was von mehreren und der Artnach verschiedenen Dingen als in dem Was derselbenenthalten, ausgesagt wird. Den Ausdruck: Als in demWas enthalten, ausgesagt werden, werde ich von alledem gebrauchen, was sich zu der Antwort auf dieFrage schickt, was der vorliegende Gegenstand sei.So schickt es sich z.B. auf die Frage, was das Vorlie-gende sei, wenn es ein Mensch ist, zu sagen, dass esein Geschöpf ist. Zu der Frage über die Gattung ge-hört auch die Ermittelung, ob etwas mit einem ande-ren zu derselben Gattung gehöre oder nicht; dennauch dies gehört zu demselben Verfahren, durch wel-ches die Gattung ermittelt wird. Hat man nämlich beieiner Erörterung gezeigt, dass das Geschöpf die Gat-tung für den Menschen ist, so wird man auch damitgezeigt haben, dass auch der Stier zu derselben Gat-tung gehört. Hat man aber von dem einen

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Gegenstande seine Gattung erwiesen und von einemanderen Gegenstande gezeigt, dass diese nicht dessenGattung sei, so hat man auch dargelegt, dass beidenicht zu derselben Gattung gehören.

Ein Nebensächliches ist das, was in einem Gegen-stande enthalten ist, aber doch keine der vorigen Be-stimmungen ist, also weder der Begriff, noch eine Ei-genthümlichkeit, noch die Gattung; das Nebensächli-che kann in dem beliebigen einen Gegenstande so-wohl enthalten, als auch nicht enthalten sein. So kannz.B. das Sitzen bei einem und demselben Menschenstattfinden und auch nicht stattfinden. Ebenso dasWeisse; denn ein und derselbe Gegenstand kann ein-mal weiss, ein andermal nicht weiss sein. Von diesenbeiden Definitionen des Nebensächlichen ist die letz-tere die bessere; denn wenn Jemand die erste verste-hen soll, so muss er schon vorher wissen, was Begriff,Gattung und Eigenthümlichkeit ist; dagegen ist diezweite an sich genügend, um zu erkennen, was dasNebensächliche an sich ist. Zu dem Nebensächlichenmuss auch alles gerechnet werden, was vergleichswei-se auf einander bezogen wird; z.B.: ob das Schöneoder das Nützliche den Vorzug verdiene und ob dastugendhafte oder das genussvolle Leben das angeneh-mere ist und sonst dem ähnliche Reden. Denn in allensolchen Fällen handelt es sich darum, welchem vonbeiden das Ausgesagte mehr zukomme. Uebrigens

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erhellt hieraus auch dass das Nebensächliche mitunterbeziehungsweise ein Eigenthümliches werden kann;so ist das Sitzen etwas Nebensächliches, wenn aberJemand allein sitzt, so ist es für diesen ein Eigent-hümliches und wenn er nicht allein, sondern Mehreresitzen, so ist es für diese in Bezug auf die, welchenicht sitzen, ein Eigenthümliches. Somit kann das Ne-bensächliche sowohl für gewisse Zeiten, wie in Bezugauf bestimmtes Andere ein Eigenthümliches werden;indess wird es deshalb nicht ein Eigenthümlichesüberhaupt.

Sechstes Kapitel

Man darf übrigens nicht übersehen, dass alles, wassich über das Eigenthümliche, über die Gattung undüber das Nebensächliche sagen lässt, auch passenderWeise zur Definition gesagt werden kann. Denn wennman darlegt, dass etwas dem unter die Definition fal-lenden Gegenstande nicht ausschliesslich zukommt,wie dies ja auch bei dem Eigenthümlichen geschehenkann, oder wenn die in der Definition angegebeneGattung nicht die richtige ist, oder wenn von den indem Begriff aufgenommenen Bestimmungen eine imGegenstande nicht enthalten ist, wie dies ja auch beidem Nebensächlichen geltend gemacht wird, so würde

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man die Definition widerlegt haben. Deshalb wirdalles das, was ich vorher gesagt habe, in gewisserWeise auch als zur Definition gehörig angesehen wer-den können. Allein deshalb darf man doch nicht eineund dieselbe Verfahrungsweise für alle diese Bestim-mungen aufsuchen. Denn einestheils ist ein solchesVerfahren nicht leicht zu finden und selbst wenn manes gefunden hätte, so würde es doch für die vorlie-gende Untersuchung zugleich unklar und nutzlos blei-ben. Wird dagegen für jede der genannten Bestim-mungen ein eigenthümliches Verfahren eingehalten,so wird man leichter das jeder Zugehörige durchgehenkönnen. Ich werde deshalb, wie ich früher gesagthabe, die Eintheilung nur im Umrisse machen unddann jeder Bestimmung das ihr am meisten Zugehö-rige anfügen und als das bezeichnen, was zu derenBegriff und Gattung gehört.

Auf diese Weise wird das zu Sagende wohl ampassendsten bei jedem Einzelnen geschehen können.

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Siebentes Kapitel

Vor Allem habe ich jedoch in Bezug auf den Aus-druck: Dasselbe, anzugeben, in wie vielfacher Weiseer gebraucht wird. Dieses Dasselbe dürfte, kurz aus-gedrückt, in dreifachem Sinne genommen werdenkönnen; denn man pflegt es entweder in Bezug auf dieZahl oder auf die Art oder auf die Gattung zu gebrau-chen. Der Zahl nach geschieht es da, wo mehrereNamen für eine Sache bestehen, wie z.B. bei denWorten Gewand und Kleid. Der Art nach bei Mehre-ren, die sich der Art nach nicht unterscheiden; in die-sem Sinne ist z.B. der eine Mensch mit dem andernderselbe und ebenso das eine Pferd mit dem andern;solche Dinge werden der Art nach dieselben genannt,so weit sie unter dieselbe Art gehören. Ebenso werdenDinge der Gattung nach dieselben genannt, wenn sieunter dieselbe Gattung fallen, wie das Pferd, der Gat-tung nach dasselbe wie der Mensch ist. Indess könnteman meinen, dass, wenn man aus derselben Quellegeschöpftes Wasser auch als dasselbe bezeichne, diesdoch noch in einer anderen Bedeutung als in der bis-her genannten geschehe; allein dieser Fall kann dochnur zu den, der Art nach irgendwie als dieselben be-zeichneten Dinge gerechnet werden, da solche Dingealle einander verwandt und sehr nahe stehend sein

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dürften. Nun gilt alles Wasser überhaupt als der Artnach dasselbe, weil es einander ähnlich ist, und dasaus derselben Quelle geschöpfte unterscheidet sichvon anderem nur dadurch, dass bei ihm die Aehnlich-keit noch grösser ist und deshalb gebraucht man dafürauch den gleichen Ausdruck, wie bei Dingen, die alsder Art nach dieselben genannt werden.

Am meisten gilt das der Zahl nach Eine bei Jeder-mann als dasselbe. Indess pflegt man auch hier diesWort in mehrfachem Sinne zu gebrauchen; zunächstund hauptsächlich in dem Sinne, wo man mit demNamen oder dem Begriffe dasselbe bezeichnet, wiez.B. mit den Namen Gewand und Kleid und mit demzweifüssigen auf dem Lande lebenden Geschöpfe unddem Namen: Mensch. Sodann wenn man mit demNamen und dem Eigenthümlichen dasselbe bezeich-net, so mit dem der Wissenschaft Fähigen und demMenschen, und mit dem von Natur nach Oben Trei-benden und dem Feuer. Drittens, wenn dasselbe nacheinem Nebensächlichen bezeichnet wird, z.B. wennder Sitzende oder der Musikalische mit dem Sokratesderselbe ist. Alle diese Ausdrücke wollen immer nurein der Zahl nach Eines bezeichnen.

Dass das hier Gesagte richtig ist, kann man haupt-sächlich aus dem Wechsel der Beziehungen entneh-men; denn es kommt oft vor, dass, wenn man demDiener heisst, Jemanden von den dort Sitzenden, den

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man nach seinem Namen bezeichnet, zu rufen und derDiener, dem man es geheissen, dies nicht verstandenhat, man dann ihm heisst, den Sitzenden oder Spre-chenden herbeizurufen, als wenn der Diener nacheiner solchen nebensächlichen Bezeichnung uns bes-ser verstehen werde. Hier ist klar, dass man dabei an-nimmt, wie mit dem Namen und mit jenem Nebenum-stande dieselbe Person bezeichnet werde.

Achtes Kapitel

Der Ausdruck: Dasselbe wird also, wie gesagt, ineinem dreifachen Sinne gebraucht. Dass nun dieReden über einen Gegenstand aus den früher genann-ten vier Bestimmungen bestehen, durch diese gebildetwerden und darauf sich beziehen, kann in einer Weisedurch Induktion dargelegt werden; denn jeder Vorder-satz und jeder Streitsatz zeigt sich, wenn man sie ein-zeln untersucht, entweder aus einer Definition oderaus einem Eigenthümlichen oder aus einer Gattung,oder aus Nebensächlichen gebildet. In einer zweitenWeise kann dies aus den Schlüssen dargelegt werden;denn jedes von einem Gegenstand Ausgesagte musssich entweder mit dem Namen des Gegenstandes um-kehren lassen oder nicht. Ist ersteres der Fall, so istdas Ausgesagte die Definition oder ein

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Eigenthümliches desselben, und zwar eine Definition,wenn sie das wesentliche Was des Gegenstandes an-giebt, und ein Eigenthümliches, wenn dies nicht derFall ist; denn das Eigenthümliche ist eben das, wassich mit dem Gegenstande des Satzes zwar umkehrenlässt, aber das wesentliche Was desselben nicht an-giebt. Tauscht sich aber das Ausgesagte mit dem Ge-genstande im Satze nicht aus, so ist es entweder eineBestimmung, die zu seiner Definition gehört odernicht. Im ersten Falle ist es die Gattung, oder derArt-Unterschied, da die Definition aus der Gattungund den Art-Unterschieden besteht; gehört es abernicht zu dem in der Definition Gesagten, so ist es of-fenbar ein Nebensächliches, denn als solches ist allesdas in dem Gegenstande Enthaltene bezeichnet wor-den, was weder zu seiner Definition, noch zu seinerGattung, noch zu seinem Eigenthümlichen gehört.

Neuntes Kapitel

Nunmehr habe ich die Kategorien-Gattungen anzu-geben, zu welchen die erwähnten vier Bestimmungengehören. Der Kategorien giebt es der Zahl nach zehn,das Was, das Grosse, das Beschaffene, das Bezogene,das Wo, das Wenn, der Zustand, das Haben, das Be-wirken und das Erleiden. Zu einer dieser Kategorien

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wird immer das Nebensächliche und die Gattung unddas Eigenthümliche und die Definition eines Gegen-standes gehören; denn alle damit gebildeten Sätze be-zeichnen entweder ein Was oder eine Beschaffenheit,oder eine Grösse oder eine der andern Kategorien,und es erhellt also aus jenen Bestimmungen selbst,dass ihr Inhalt bald ein Ding, bald eine Grösse, baldeine andere der Kategorien betrifft. Wenn man z.B.von dem in einem Satze aufgestellten Menschen sagt,dass das Aufgestellte ein Mensch oder ein Geschöpfsei, so sagt man, was er ist und giebt sein Wesen an;wenn man ferner von der im Satz aufgestellten weis-sen Farbe sagt, das Aufgestellte sei das Weisse odereine Farbe, so giebt man an, was es ist und bezeichneteine Beschaffenheit. Ebenso wenn man vor der imSatze aufgestellten, eine Elle langen Grösse sagt, dassdas Aufgestellte ein, eine Elle langes Grosse sei, sogiebt man an, was es ist und bezeichnet eine Grösse.Ebenso ist es mit den anderen Kategorien. In jedemsolchen Falle wird, wenn entweder etwas von sichselbst ausgesagt oder wenn die Gattung genannt wird,dadurch das Was bezeichnet; wird aber etwas voneinem anderen ausgesagt, so wird dann nicht das Wasbezeichnet, sondern die Grösse, oder die Beschaffen-heit, oder eine andere dieser Kategorien.

Dieser Art und Anzahl sind also die Bestimmun-gen, worüber die Sätze lauten und woraus sie gebildet

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werden. Ich werde nunmehr darlegen, wie man dieseSätze aufzustellen hat, und durch welche Mittel mansie leicht zur Hand hat.

Zehntes Kapitel

Ich werde nun zunächst bestimmen, was ein dialek-tischer Satz und was ein dialektischer Streitsatz ist;denn nicht jeder Satz und nicht jeder Streitsatz kannfür einen dialektischen gelten, da kein Verständigereinen Satz aufstellen wird, der Niemandem glaubwür-dig erscheint, oder einen Streitsatz hinstellen wird,welcher Allen oder den Meisten unzweifelhaft ist. Beiletzterem gäbe es keine Bedenken und einen allge-mein für unglaubwürdig gehaltenen Satz wird Nie-mand zum Beweis benutzen. Vielmehr ist der dialek-tische Satz ein in Form einer Frage ausgesprochenerSatz, welcher Allen oder den Meisten oder von denweisen Männern allen oder den meisten, oder den er-fahrensten glaubwürdig erscheint und welcher nichtgegen die allgemeine Meinung verstösst; denn mankann wohl auch Sätze hier aufstellen, welche die wei-sen Männer billigen, sofern sie nur nicht der Meinungder Menge entgegenlaufen. Zu den dialektischen Sät-zen gehören auch die, welche den glaubwürdigen ähn-lich sind; ferner die, welche das Gegentheil von

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glaubwürdigen Sätzen verneinen; ferner die, welcheden über die erfundenen Künste herrschenden Mei-nungen entsprechen. Denn wenn es glaubwürdig ist,dass die Gegentheile zu einer Wissenschaft gehören,so wird es auch glaubwürdig sein, dass Gegentheilevon demselben Sinnesorgan wahrgenommen werden,und wenn es glaubwürdig ist, dass, wenn es der Zahlnach nur eine Sprachlehre giebt, so muss es auchglaubwürdig sein, dass es nur eine Flötenkunst giebt,und wenn es mehrere Sprachlehren geben sollte, wirdes auch mehrere Flötenkünste geben; da dies alles ein-ander ähnlich und verwandt erscheint. Ebenso wirddie Verneinung der Gegentheile von glaubwürdigenSätzen als glaubwürdig gelten; denn wenn der Satz,dass man seinen Freunden Gutes erweisen solle,glaubwürdig ist, so ist es auch der Satz, dass man sei-nen Freunden kein Böses zufügen soll; denn das Ge-gentheil jenes Satzes ist, dass man seinen FreundenBöses zufügen solle, und die Verneinung dieses Ge-gentheils ist, dass man es nicht thun solle. Ebenso istes, wenn man seinen Freunden Gutes erweisen soll,auch glaubwürdig, dass man seinen Feinden es nichterweisen solle; denn auch dieser Satz ist eine Vernei-nung des Gegentheils, da das Gegentheil lautet, dassman seinen Feinden Gutes erweisen solle. Gleichesgilt für andere solche Fälle. Auch das Gegentheil vomGegentheil wird vergleichsweise als glaubwürdig

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erscheinen; wenn man z.B. den Freunden Gutes er-weisen soll, so wird man auch den Feinden Böses zu-fügen sollen; denn als Gegentheil von dem »denFreunden Gutes erweisen«, dürfte das »den FeindenBöses zufügen« gelten. Ob sich dies aber in Wahrheitso verhält, oder nicht, werde ich in der Lehre über dieGegentheile darlegen. Endlich ist klar, dass so weitüber Künste eine allgemeine Meinung besteht, auchsolche Meinung sich zu dialektischen Sätzen eignet.Deshalb wird man solche Sätze, welche von den indiesen Wissenschaften Erfahrenen gebilligt werden,als glaubwürdige aufstellen können, z.B. aus der Arz-neilehre das, was der Arzt billigt und aus der Geome-trie das, was der Geometer billigt. Das Gleiche giltfür die anderen Wissenschaften.

Elftes Kapitel

Ein dialektischer Streitsatz ist ein zur Untersu-chung gestellter Satz, welcher sich entweder auf einBefolgen oder Vermeiden oder auf die Wahrheit unddie Erkenntniss bezieht, und zwar entweder als einselbstständiger, oder als Unterstützung eines anderenSatzes solcher Art, insofern über solche Sätze sichüberhaupt noch keine Meinung gebildet hat, oder beiwelchen die Menge eine den Weisen entgegengesetzte

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Meinung, oder letztere eine der Menge entgegenge-setzte Meinung haben, oder wo jeder dieser Theile insich selbst nicht einig ist. Die Erkenntniss in Bezugauf solche Streitsätze ist für das Befolgen oder Ver-meiden nützlich, z.B. ob man nach der Lust strebensolle oder nicht; andere dienen nur dem Wissen, z.B.die Frage, ob die Welt ewig sei oder nicht? Anderehaben an sich keinen Bezug auf eines dieser beidenZiele, aber sie unterstützen andere Sätze von jenerArt. Man mag nämlich Vieles nicht um sein selbstwillen wissen, sondern nur um anderer Sätze willen,deren Wahrheit man dadurch erkennen will. Zu denStreitsätzen gehören auch die Sätze, bei welchen sichSchlüsse für und gegen sie aufstellen lassen; (denndann ist zweifelhaft, ob die Sache sich so oder nichtso verhält, weil für beide Fälle annehmbare Gründevorhanden sind), ferner Sätze, für die man, obgleichsie von grosser Bedeutung sind, keine Gründe zurHand hat, weil die Auffindung derselben hier fürschwierig gilt; z.B. der Satz: Ob die Welt ewig istoder nicht? Denn auf solche Sätze kann mancher dieUntersuchung wohl ausdehnen.

In dieser Weise besteht der Unterschied zwischenden Streitsätzen und den blossen Sätzen. Eine Theseist aber eine der gewöhnlichen Meinung zuwiderlau-fende Behauptung eines in der Philosophie erfahrenenMannes; z.B. der Satz, dass es keine Widersprüche

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gäbe, wie Antisthenes behauptete; oder dass Allessich bewege, wie Heraklit sagte, oder dass das Seien-de nur eines sei, wie Melissos behauptete. Wenn aberblos irgend ein beliebiger Mensch etwas der gewöhn-lichen Meinung Entgegengesetztes behauptet, sowürde es thöricht sein, wenn man dies beachten woll-te. Auch solche Sätze gehören zu den Thesen, wofürein Grund geltend gemacht wird, welcher der gewöhn-lichen Meinung widerspricht, z.B. dass nicht allesSeiende entweder entstanden ist oder ewig ist, wie dieSophisten behaupten; denn dass ein Musiker einSprachgelehrter bestehe, sei weder etwas Gewordenesnoch etwas ewig Gewesenes; denn dieser Satz dürfte,auch wenn man ihm nicht zustimmen sollte, doch eineThese sein, da ein Grund dafür angegeben wird.

Sonach ist jede These auch ein Streitsatz, abernicht jeder Streitsatz ist eine These, da manche Streit-sätze auch der Art sind, dass weder deren Bejahungnoch deren Verneinung die Meinung für sich hat.Dass aber jede These auch ein Streitsatz ist, erhelltdaraus, dass nach dem Gesagten entweder die Mengemit den Weisen über die These nicht übereinstimmt,oder dass jede dieser Klassen in sich selbst uneinigsein muss, da die These eine gegen die Meinung an-stossende Annahme ist. Gegenwärtig werden indessbeinahe alle dialektischen Streitsätze Thesen genannt.Indess mag es gleichgültig bleiben, wie man sie

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nennen will; denn ich habe nicht um der Namen wil-len sie so von einander gesondert, sondern damit unsnicht die Unterschiede entgehen, welche zwischenihnen bestehen.

Auch darf man nicht jeden Streitsatz und jedeThese beachten, sondern nur die, wo man im Zweifelist, weil man der Gründe bedarf und nicht blos derZüchtigung oder der Wahrnehmung. Denn derjenige,welcher zweifelt, ob man die Götter verehren undseine Eltern lieben solle oder nicht, bedarf nur derZüchtigung, oder wer zweifelt, ob der Schnee weissist, oder nicht, bedarf nur der Wahrnehmung. AuchStreitsätze, für welche der Beweis auf der Hand liegt,oder für welche er zu verborgen ist, darf man nichtbeachten; denn bei jenen besteht kein Zweifel und beidiesen sind deren für die blosse Uebung zu viele.

Zwölftes Kapitel

Nachdem dies bestimmt worden, habe ich ausein-anderzusetzen, wie viele Arten von dialektischen Be-gründungen es giebt. Die eine Art ist die Induktion,die andere der Schluss. Was ein Schluss ist, habe ichbereits gesagt; die Induktion führt von dem Einzelnenzu dem Allgemeinen; z.B. wenn der sachverständigeSteuermann und Fuhrmann die besten sind, so ist

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überhaupt der Sachverständige in jeder Sache derbeste. Die Induktion ist verständlicher und deutlicherund der Wahrnehmung nach das Bekanntere, und siewird von der Menge benutzt. Der Schluss ist dagegenzwingender und durchgreifender dem Gegner gegen-über.

Dreizehntes Kapitel

Die verschiedenen Arten von Sätzen, über welchedie Erörterungen geschehen und die Elemente, auswelchen sie bestehen, sollen also so, wie ich bishergesagt, unterschieden werden; der Hülfsmittel aber,durch welche man sich der Schlüsse und der Induktio-nen geschickt und geläufig bedienen kann, giebt esvier. Das eine besteht in der Aufstellung der Sätze;das zweite besteht in der Fertigkeit, die mehrfachenBedeutungen eines Ausdruckes von einander zu son-dern; das dritte besteht in der Auffindung der Unter-schiede; und das vierte besteht in der Ermittelung derAehnlichkeit. Die drei letzten Hülfsmittel sind gewis-sermaassen ebenfalls Sätze, denn man kann jedes vonihnen in einen Satz umwandeln; z.B. dass das Wün-schenswerthe entweder das Sittliche, oder das Ange-nehme, oder das Nützliche sei; und dass die Wahr-nehmung sich von dem Wissen dadurch unterscheide,

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dass, wenn man sie beide verloren hat, man nur letzte-res wieder erlangen kann, jene aber nicht; ferner: dasssich das gesund Machende zur Gesundheit ebensoverhalte, wie das Wohlbefinden Bewirkende zu demWohlbefinden. Von diesen drei Sätzen ist der ersteaus den mehrfachen Bedeutungen eines Wortes, derzweite aus den Unterschieden, der dritte aus denAehnlichkeiten gebildet.

Vierzehntes Kapitel

Was nun die Sätze anlangt, so hat man sie in sovielfacher Weise auszuwählen, als sie früher von mirunterschieden worden sind. Man hat also entweder dieMeinungen Aller, oder die der Meisten oder die derWeisen, und von diesen entweder die aller Weisenoder der meisten oder der bewandertsten zu berück-sichtigen, so weit sie dem Scheinbaren nicht zuwidersind; ferner solche Meinungen über die Künste. Auchdie Meinungen, welche dem Scheinbaren zuwidersind, kann man, wie gesagt, als verneinte zu einemSatze benutzen. Auch ist es zweckmässig, wenn mandie Sätze nicht blos aus dem der Meinung Entspre-chenden, sondern auch aus den diesem Aehnlichenentnimmt, wie z.B. den Satz, dass Gegentheile vonein und demselben Sinne wahrgenommen werden

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(weil ja auch nur eine Wissenschaft für sie besteht),und dass man bei dem Sehen etwas aufnimmt undnicht aussendet, weil es ja auch bei den übrigen Sin-nen sich so verhält; denn wir hören, indem wir etwasaufnehmen und nicht etwas aussenden, und wirschmecken in gleicher Weise und ebenso nehmen wirmit den übrigen Sinnen wahr. Auch muss man das,was in allen oder in den meisten Fällen gilt, als ober-sten und glaubwürdigen Satz aufstellen; denn wereinen Gegenstand nicht überblickt, stellt die Sätzenicht so auf. Auch aus den Schriften muss man seineGründe auswählen, und die Beschreibungen mussman bei jeder Gattung besonders geben, wie z.B. vondem Guten oder von dem Geschöpfe und zwar vondem Guten in seiner Allgemeinheit, indem man mitdem Was des Gegenstandes beginnt. Dabei muss mandie Meinungen Einzelner mit erwähnen, z.B. dassEmpedokles vier Elemente für alles Körperliche ange-nommen habe, denn den Ausspruch eines so angese-henen Mannes lässt man leicht gelten.

Die Sätze und die Streitsätze zerfallen im Allge-meinen in drei Klassen; sie betreffen entweder dasSittliche, oder das Natürliche, oder das Denken. Zuden Sittlichen gehört z.B. der Satz, dass man seinenEltern mehr als den Gesetzen gehorchen solle, wenndie Gebote beider einander widerstreiten. Zu den dasDenken betreffenden Sätzen gehört z.B. der Satz: Ob

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ein und dieselbe Wissenschaft die Gegentheile befas-se oder nicht? Zum Natürlichen gehört der Satz: Obdie Welt ewig ist oder nicht? Auch die Streitsätze zer-fallen in diese drei Klassen. Die Beschaffenheit jederdieser drei Klassen kann man nicht leicht definiren;vielmehr muss man durch fleissig geübte Induktionsuchen, jede dieser Klassen kennen zu lernen, unddabei die vorher gegebenen Beispiele beachten.

Für die Wissenschaft hat man nun diese Sätze derWahrheit gemäss aufzustellen; für die Disputationenaber so, wie sie der Meinung entsprechen. Alle Sätzehat man möglichst allgemein aufzustellen und mehre-re in einen Satz zusammenzuziehen, wie z.B. dieSätze, dass ein und dieselbe Wissenschaft die wider-sprechenden Gegensätze befasse, und dass dies auchfür die Gegentheile gelte und auch für die Beziehun-gen. In gleicher Weise hat man allgemeine Sätze wie-der so weit zu sondern, als es möglich ist, z.B. dass essonach eine Wissenschaft sei, welche über das Guteund das Schlechte handele und eine, welche dasSchwarze und das Weisse behandele, und eine, wel-che das Kalte und das Warme behandele u.s.w.

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Fünfzehntes Kapitel

Für die Sätze selbst wird das bisher Gesagte genü-gen; was aber die Vieldeutigkeit derselben anlangt, somuss man nicht blos untersuchen, welche weitere Be-deutungen ein Ausdruck hat, sondern man muss auchderen Verhältniss zu einander darlegen; also z.B.nicht blos darlegen, dass die Gerechtigkeit und dieTapferkeit, beide in einem anderen Sinne, gut genanntwerden, als das, was dem Wohlbefinden und der Ge-sundheit dient, sondern man muss auch darlegen, dassjene gut genannt werde, weil sie an sich selbst dieseBeschaffenheit habe, diese aber, weil sie etwas dahinGehörendes bewirke und nicht, weil sie selbst an sichder Art sei. Ebenso ist in anderen Fällen zu verfahren.

Ob ein Ausdruck vieldeutig, oder nur eindeutig derArt nach ist, hat man auf folgende Weise zu ermitteln.Man muss nämlich zunächst auf das Gegentheil desbetreffenden Satzes achten und sehen, ob es für diesesverschiedene Ausdrücke giebt, sei es dass das Gegen-theil der Art oder nur dem Namen nach nicht passt.Manches hat schon für sein Gegentheil verschiedeneNamen. So ist dem Scharfen bei der Stimme das Tiefeentgegengesetzt, bei Körpern aber das Stumpfe. Alsowird das Gegentheil des Scharfen mit verschiedenenWorten bezeichnet, und ist dies der Fall, so ist noch

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das Scharfe selbst mehrdeutig, denn es wird für jedesdieser Gegentheile als deren Gegentheil etwas Ver-schiedenes sein, und dasselbe Scharfe wird nicht dasGegentheil vom Stumpfen und vom Tiefen sein, ob-gleich doch das Wort: Scharf, das Gegentheil von bei-den bezeichnet. Umgekehrt ist von dem Tiefen(Schweren) das Scharfe bei der Stimme und dasLeichte bei der Last das Gegentheil; daher ist dasTiefe (Schwere) zweideutig, weil sein Gegentheilzweierlei ist. Ebenso steht dem Schönen bei den Ge-schöpfen das Hässliche und bei der Wohnung dasSchlechte entgegen; mithin ist Schön ein zweideutigesWort.

In manchen Fällen liegt bei dem Gegentheile derUnterschied nicht in dem Namen, aber er ist sofort inder Sache selbst erkennbar; z.B. bei dem Dunkel undHell. Denn man nennt sowohl eine Stimme wie eineFarbe hell und dunkel; hier ist in den Worten keinUnterschied, aber in der Sache selbst ist er sofort of-fenbar; denn die Stimme wird nicht in demselbenSinne hell genannt wie die Farbe. Es erhellt dies auchaus den Wahrnehmungen beider; denn das der Artnach Gleiche wird durch denselben Sinn wahrgenom-men, aber das Helle bei der Stimme und bei der Farbewird nicht mit demselben Sinne erfasst, sondern daseine mit dem Auge, das andere mit dem Gehör. Aehn-lich verhält es sich mit dem Scharfen und Stumpfen

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bei Flüssigkeiten und bei Körpern; das eine wirddurch das Gefühl, das andere durch den Geschmackwahrgenommen; auch hier ist kein Unterschied in denWorten, weder für die Eigenschaften noch für ihreGegentheile, denn das Stumpfe und sein Gegentheilwird von beiden Arten von Gegenständen ausgesagt.

Auch kann man die Zweideutigkeit daran erkennen,dass das Eine ein Gegentheil hat, das Andere aberüberhaupt nicht. So hat die Lust aus dem Trinken denSchmerz aus dem Dursten zum Gegentheil, aber derLust aus der Erkenntniss, dass die Diagonale durchdie Seite des Quadrats nicht gemessen werden kann,steht kein Schmerz gegenüber; also wird das Wort:Lust in mehrfachem Sinne gebraucht. Ebenso stehtder geistigen Liebe der geistige Hass entgegen, aberder sinnlichen Liebeslust steht kein Gegentheil gegen-über; mithin ist das Wort: Liebe zweideutig. Auchlässt sich die Zweideutigkeit an dem Mittleren erken-nen, wenn bei gewissen Gegensätzen ein Mittleres be-steht und bei anderen nicht, oder wenn zwar beide einMittleres haben, aber nicht dasselbe. So ist z.B. beidem Schwarzen und Weissen in den Farben das Helledas Mittlere; in der Stimme ist aber kein Mittleres fürdiese Gegensätze vorhanden. Selbst wenn es dasDumpfe sein sollte, da Manche meinen, dass die dum-pfe Stimme die mittlere sei, so erhellt doch hieraus,dass das Weisse und ebenso das Schwarze

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zweideutige Worte sind. Dies gilt auch dann, wennmehrere Mittlere zwischen den Gegensätzen bestehenund bei anderen nur eines, wie bei dem Weissen undSchwarzen. Denn bei den Farben giebt es für dieseGegensätze mehrere Mittlere, aber bei der Stimme istnur das Dumpfe als das eine Mittlere vorhanden.

Man muss dann weiter darauf achten, ob das Wi-dersprechende und Entgegengesetzte in mehrfachemSinne gebraucht wird. Denn wenn dies der Fall ist, sowird auch das ihm Entgegengesetzte in mehrfachemSinne gebraucht werden. So gebraucht man das:Nicht-sehen in mehrfachem Sinne; einmal für das:Ueberhaupt nicht sehen können, und dann für das: dieAugen nur nicht gebrauchen. Ist sonach dasNicht-sehen zweideutig, so muss auch das Sehenzweideutig sein, denn es bildet den Gegensatz zu denbeiden Arten des Nichtsehens, also bezeichnet es ein-mal das Haben des Gesichtssinnes im Gegensatze zudem Fehlen desselben und zweitens das Gesicht ge-brauchen im Gegensatze zu dem Nichtgebrauch des-selben.

Auch auf das, nach dem Haben und dem Beraubt-sein Bezeichnete, muss man hierbei Acht haben; dennwenn das eine in mehrfachem Sinne gebraucht wird,so ist auch das andere mehrdeutig. Wenn z.B. dasWahrnehmen mehrdeutig gebraucht wird, nämlichtheils in Bezug auf die Seele, theils in Bezug auf den

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Körper, so wird auch das Nichtwahrnehmen mehrdeu-tig sein, nämlich entweder auf die Seele oder auf denKörper sich beziehen. Dass diese Beispiele aber indem Gegensatze von Haben und Beraubtsein stehen,ist klar, da die Geschöpfe von Natur das Wahrnehmenin beiderlei Sinne besitzen, nämlich sowohl das inBezug auf die Seele, wie das in Bezug auf den Kör-per.

Auch auf die Beugungen der Worte muss man Achthaben; wenn z.B. das »gerecht« mehrdeutig gebrauchtwird, so wird es auch so mit dem »Gerechten« ge-schehen; denn in jeder Bedeutung von gerecht giebt esauch ein Gerechtes. Heisst es z.B. gerecht, einmal,wenn man nach seiner Ueberzeugung urtheilt, undzweitens, wenn man das Urtheil so fällt, wie es sichgehört, so wird auch das Gerechte diesen doppeltenSinn haben. Ebenso wird, wenn das »Gesunde« mehr-deutig ist, auch das »gesund« es sein; wenn also dasGesunde sowohl das ist, was gesund macht, wie das,was gesund erhält, und das, was ein Zeichen des Ge-sunden ist, so wird auch das »gesund«, sowohl in demSinne des Bewirkens, wie des Erhaltens und des An-zeigens gebraucht werden. Ebenso wird in allen ande-ren Fällen, wenn das ursprüngliche Wort mehrdeutiggebraucht wird, auch das von ihm durch Beugung ge-bildete Wort mehrdeutig sein. Auch wird das Wortselbst zweideutig sein, wenn das davon abgeleitete

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Wort es ist.Man muss auch bei einem Worte darauf achten, ob

die damit bezeichneten Dinge sämmtlich zu derselbenGattung gehören; ist dieses nicht der Fall, so ist dasWort offenbar mehrdeutig. So bezeichnet das Wort:gut, bei den Speisen das, was Lust gewährt; bei derArzneikunst das, was gesund macht, bei der Seeleaber eine Beschaffenheit, z.B.: massig oder tapferoder gerecht sein; und dasselbe bedeutet es bei demMenschen. Manchmal bezeichnet es auch die Zeit,wie: zu guter Zeit; denn man nennt das gut, was zurrechten Zeit geschieht. Oft bezeichnet: gut, auch einGrosses, nämlich das richtige Maass, da man diesesauch das gute Maass nennt; deshalb ist das Wort: gut,vieldeutig! Ebenso ist das Helle vieldeutig; am Kör-per bezeichnet es die Farbe, bei der Stimme das ange-nehm Klingende. Ebenso verhält es sich auch mit demScharfen; da es nicht in demselben Sinne bei allenDingen gebraucht wird. So heisst die Stimme scharf,welche schnell schwingt, wie die Harmonielehrer mitBezug auf die Schwingungszahlen sagen; dagegenheisst ein Winkel dann scharf (spitz), wenn er kleinerist, als ein rechter und ein Messer heisst scharf, wennes spitzwinkelig ist.

Auch muss man bei Gattungen, die mit demselbenWorte bezeichnet werden, sehen, ob sie verschiedensind und ob etwa die eine der andern nicht

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untergeordnet ist. So bezeichnet das Wort: Esel so-wohl ein Thier, wie ein Geräthe und die mit diesemWorte verbundenen Begriffe sind verschieden; daseine Mal bezeichnet man damit ein Thier, das andereMal ein Geräthe. Ist aber die eine Gattung der andernuntergeordnet, so brauchen die Begriffe nicht ver-schieden zu sein; denn der Rabe gehört sowohl zu derGattung der Vögel, wie zu der der Thiere; nennt manalso den Raben einen Vogel, so erklärt man ihn auchfür ein Thier und beide Gattungen werden von dem-selben Gegenstande ausgesagt. Ebenso ist es, wennman den Raben ein zweifüssiges geflügeltes Thiernennt, auch hier nennt man ihn einen Vogel und sowerden beide Gattungen sowohl dem Namen, wiedem Begriffe nach von dem Raben ausgesagt. BeiGattungen, die einander nicht untergeordnet sind,trifft dies aber nicht zu. Denn wenn man mit demWorte: Esel das Geräthe meint, so bezeichnet mandamit nicht das Thier, und wenn man das Thier Eselnennt, so meint man nicht damit das Geräthe.

Man hat jedoch bei dem betreffenden Worte nichtblos zu untersuchen, ob die Gattungen, welche mitdenselben bezeichnet werden, verschieden und einan-der nicht untergeordnet sind, sondern man hat auchauf das gegentheilige Wort zu achten; denn wenn die-ses mehrdeutig gebraucht wird, so ist dies auch mitjenem Worte der Fall.

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Es ist auch gut, wenn man auf die Definitionen derzusammengesetzten Ausdrücke achtet, wie z.B. aufdie Definition des hellen Körpers oder der hellenStimme; denn wenn man hier in der Definition das Ei-genthümliche beseitigt, so muss das Uebergebliebenedenselben Sinn haben. Aber bei zweideutigen Wortenist dies nicht der Fall, wie in dem eben angeführtenBeispiele mit einem Körper von einer bestimmtenFarbe und einer Stimme, die wohlklingend ist; nimmtman nun den Körper und die Stimme hinweg, so istdas bei jeden von beiden Bleibende nicht das Gleicheund dies müsste doch der Fall sein, wenn das »Hell«bei jedem von beiden Gegenständen in dem gleichenSinn gebraucht würde.

Oft bemerkt man nicht, dass die Zweideutigkeitsich auch mit den Begriffen verbindet; deshalb mussman auch auf diese Acht haben. So z.B. wenn Jemandsagte, das, was die Gesundheit anzeigt und das, wassie bewirkt, sei das, was sich zur Gesundheit ange-messen verhalte. Hier muss man sich nicht dabei be-ruhigen, sondern untersuchen, was er unter: »ange-messen« in Bezug auf Beides gemeint habe; also obes einmal ein solches sei, was die Gesundheit bewirkeund dann wieder ein solches, welches ein gewissesBefinden anzeige.

Auch erkennt man die Zweideutigkeit eines Wortesdaran, dass die damit bezeichneten Gegenstände nicht

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nach dem Mehr oder Weniger vergleichbar sind; wiez.B. die helle Stimme und der helle Mantel; ferner:der scharfe Saft und die scharfe Stimme. Diese Dingewerden nicht in gleichem Sinne hell und scharf ge-nannt und das eine ist es auch nicht mehr als das an-dere. Deshalb sind die Worte: hell und scharf zwei-deutig; denn alles mit einem unzweideutigen WorteBezeichnete kann mit einander verglichen werden undman kann es entweder als einander gleich erklären,oder das eine für mehr als das andere.

Da bei verschiedenen und einander nicht unterge-ordneten Gattungen auch die Art - Unterschiede ver-schieden sind, wie z.B. die des Geschöpfes und derWissenschaft (denn deren Art-Unterschiede sind ver-schieden), so muss man darauf achten, ob dieArt-Unterschiede verschiedener und nicht einanderuntergeordneter Gattungen denselben Namen führen,wie z.B. das Scharfe bei der Stimme und bei demKörper; denn die Stimmen unterscheiden sich voneinander durch das Scharfe und eben so die Körper.Folglich ist das Wort »Scharf« zweideutig, denn diedamit bezeichneten Unterschiede betreffen verschie-dene, einander nicht untergeordnete Gattungen.

Ferner hat man darauf zu achten, ob von den unterdemselben Namen begriffenen Dingen die Unterschie-de verschieden sind, wie bei der Farbe an den Kör-pern und der Farbe beim Gesang; denn die Farbe an

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den Körpern wird unterschieden und verglichen ver-mittelst des Gesichts; aber die Farbe bei dem Gesangehat Unterschiede anderer Art. Deshalb ist die Farbeein zweideutiges Wort, da bei denselben Dingen auchdie Unterschiede dieselben sein müssen.

Auch hat man, da die Art kein Unterschied seinkann, darauf zu achten, ob mit demselben Worte ein-mal eine Art und das anderemal ein Art-Unterschiedbezeichnet wird. So bezeichnet z.B. das »Hell« beiden Körpern eine Art der Farbe; aber bei der Stimmenur einen Art-Unterschied; denn eine Stimme unter-scheidet sich von der anderen durch Helligkeit.

Sechzehntes Kapitel

Das Zweideutige der Ausdrücke ist demnach durchdiese und ähnliche Mittel zu erforschen. Es sind aber,auch die Unterschiede der Dinge innerhalb derselbenGattung gegen einander zu ermitteln, z.B. wodurchsich die Gerechtigkeit von der Tapferkeit und wo-durch sich die Klugheit von der Selbstbeherrschungunterscheidet. (Denn diese Tugenden gehören sämmt-lich zu einer Gattung.) Ebenso hat man die Unter-schiede bei verschiedenen Gattungen aufzusuchen, in-sofern diese Gattungen nicht sehr von einander abste-hen; also z.B. die zwischen der Wahrnehmung und

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der Wissenschaft; denn bei sehr von einander entfern-ten Gattungen sind die Unterschiede ganz offenbar.

Siebzehntes Kapitel

Die Aehnlichkeit ist dagegen bei Dingen verschie-dener Gattungen zu ermitteln und dabei zu prüfen, obso, wie in der einen Gattung das eine zu dem anderen,so auch in der anderen Gattung das eine zu dem ande-ren sich verhält. So verhält sich die Wissenschaft zudem Wissbaren, wie die Wahrnehmung zu demWahrnehmbaren. Ebenso hat man zu ermitteln, ob sowie in der einen Gattung das eine in dem anderen ist,auch in der anderen Gattung das eine ebenso in derenanderen ist, ob z.B. so wie das Gesicht im Auge, sodie Vernunft in der Seele ist und ob so wie die Stilleim Meere, auch die Stille in der Luft ist. DieseUebung muss man hauptsächlich bei Dingen, die zusehr weit von einander entfernten Gattungen gehören,vornehmen; denn bei den übrigen kann man dasAehnliche leichter auffinden. Auch muss man ermit-teln, was in allen Dingen ein- und derselben Gattungals dasselbe enthalten ist; ob z.B. ein solches Ge-meinsame für den Menschen, das Pferd und den Hundvorhanden ist. Insoweit ein solches in ihnen vorhan-den ist, sind sie dadurch einander ähnlich.

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Achtzehntes Kapitel

Die Ermittelung der Zweideutigkeit der Worte hilftsehr für die Klarheit (denn man wird bestimmter wis-sen, was man behauptet, wenn man die Zweideutig-keit der Worte kennt), und für eine solche Aufstellungder Schlüsse, dass sie die Sache und nicht blos denNamen betreffen. Denn wenn die Zweideutigkeit dergebrauchten Worte nicht gekannt wird, so kann eskommen, dass der Antwortende und der Fragendenicht dieselbe Sache im Sinne haben; ist aber dieZweideutigkeit klargelegt und steht fest, in welchemSinne ein Satz gemeint ist, so würde der Fragendesich lächerlich machen, wenn er nicht nach diesemSinne seine Gründe aufstellte. Die Kenntniss derDoppelsinnigkeit der Worte schützt auch davor, dassman nicht durch Fehlschlüsse getäuscht wird und siekann ebenso benutzt werden, um Andere durch Fehl-schlüsse zu täuschen. Denn wenn man weiss, in wievielfachem Sinne ein Wort gebraucht wird, so wirdman nicht durch Fehlschlüsse sich täuschen lassen,sondern es bemerken, wenn der Fragende seine Aus-führung nicht auf denselben Sinn des betreffendenWortes beschränkt. Wenn man aber selbst fragt, sokann man den Gegner durch einen Fehlschluss täu-schen, im Fall er nicht etwa ebenfalls die

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Zweideutigkeit des Wortes kennen sollte. Dies Mittelist indess nicht bei allen Gegenständen ausführbar,sondern nur da, wo der eine Sinn des zweideutigenWortes einen wahren Satz ergiebt, der andere abereinen falschen. Indess gehört diese Art zu verfahrennicht zur eigentlichen Disputirkunst; deshalb habendie an einer Erörterung Theil nehmenden Personensich durchaus davor in Acht zu nehmen, dass sie ihreErörterungen blos um Worte führen; man müsstedenn nicht anders als in dieser Weise über den aufge-stellten Satz disputiren können.

Die Auffindung der Unterschiede nützt für dieSchlüsse auf die Dieselbigkeit und auf den Unter-schied der Dinge und dient zur Erkenntniss dessen,was ein jedes ist. Dass diese Auffindung für dieSchlüsse auf die Dieselbigkeit und auf den Unter-schied nützlich ist, erhellt daraus, dass wenn man ir-gend welchen Unterschied zwischen den zur Erörte-rung stehenden Gegenständen gefunden hat, man be-wiesen haben wird, dass sie nicht dieselben sind.Ebenso ist sie zur Erkenntniss des Was des Gegen-standes nützlich, weil man den eigenthümlichen Be-griff des Wesens eines Gegenstandes mittelst der ei-genthümlichen Unterschiede desselben auszusondernpflegt.

Die Ermittelung des Aehnlichen nützt dagegen zurBildung induktiver Begründungen und der auf

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Voraussetzungen gebauten Schlüsse; desgleichen zurAufstellung von Definitionen. Zu induktiven Begrün-dungen nützt sie deshalb, weil man dabei verlangt,dass das Allgemeine durch Herbeiführung des einan-der ähnlichen Einzelnen dargelegt werde und es ohneKenntniss der Aehnlichkeit der Dinge nicht leicht ist,eine solche Induktion zu machen. Zu den auf eineVoraussetzung gebauten Schlüssen nützt sie, weil eswahrscheinlich ist, dass, wie eines von ähnlichenDingen sich verhält, so auch die übrigen sich verhal-ten werden. Wenn man daher über das Eine die Mittelzur Erörterung in genügendem Maasse in Bereitschafthat, so muss man vorher sich mit dem Gegner darübereinigen, dass, so wie es sich etwa bei diesem verhal-ten werde, es sich auch ebenso bei dem vorliegendenGegenstande verhalten müsse. Hat man dann jenesEine bewiesen, so hat man auch mittelst einer Vor-aussetzung das Vorliegende bewiesen; denn dadurch,dass man vorausgesetzt hat, so wie es etwa bei jenemGegenstande sich verhalten werde, so werde es sichauch bei dem vorliegenden Falle verhalten, hat manden Beweis geführt.

Endlich ist jene Aufsuchung der Aehnlichkeiten zurAufstellung der Definitionen nützlich, weil man damitübersehen kann, was in mehreren Einzelnen sichgleich ist und man so nicht zweifeln wird, in welcheGattung man bei der Definition den vorliegenden

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Gegenstand zu stellen habe; denn von diesen gemein-samen Bestimmungen wird die, welche am meistenvon dem Was des Gegenstandes ausgesagt wird, dieGattung sein. Auch bei Definitionen von Gegenstän-den, die sehr weit voneinander abstehen, ist dieKenntniss der Aehnlichkeiten von Nutzen; so z.B. dieKenntniss, dass die Stille im Meere und die Stille inder Luft dasselbe sind (denn jedes ist eine Ruhe);ebenso die Kenntniss, dass der Punkt in der Linie unddie Eins in der Zahl enthalten sind; denn beide bildenden Anfang. Wenn man so das Allen Gemeinsame alsGattung aufgestellt hat, so wird der Gegner nicht mei-nen, dass man falsch definirt habe. Auch pflegen bei-nahe Alle, welche Definitionen aufstellen, so zu ver-fahren; denn sie erklären die Eins für den Anfang derZahlen und den Punkt für den Anfang der Linien,woraus erhellt, dass sie das beiden Gemeinsame alsderen Gattung aufstellen.

Dies sind also die Hülfsmittel, durch welche dieSchlüsse gebildet werden; dagegen enthält das Fol-gende die Gesichtspunkte, für welche diese Hülfsmit-tel benutzt werden können.

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Zweites Buch

Erstes Kapitel

Die Streitsätze lauten entweder allgemein oder be-schränkt; allgemein ist z.B. der, dass jede Lust einGut sei und der, dass keine Lust ein Gut sei; be-schränkt ist z.B. der Streitsatz, dass einige Arten derLust ein Gut seien und der, das eine Art der Lust keinGut sei. Beide Arten von Streitsätzen können in allge-meiner Weise begründet oder widerlegt werden; dennwenn man bewiesen hat, dass etwas in allen enthaltenist, so wird man auch bewiesen haben, dass es in eini-gen enthalten ist und ebenso wird man, wenn man be-wiesen hat, dass Etwas in keinem enthalten ist, bewie-sen haben, dass es nicht in allen enthalten ist.

Ich habe zunächst die Mittel zur allgemeinen Wi-derlegung zu besprechen, weil diese sowohl die allge-meinen, wie die beschränkten Streitsätze treffen undweil die Streitsätze mehr bejahend, als verneinendaufgestellt werden und daher dem Gegner deren Wi-derlegung zufällt. Am seltensten kann ein Satz, wel-cher nur etwas im eigentlichen Sinne Nebensächlichesvon einem Gegenstande aussagt, umgekehrt werden;denn nur das Nebensächliche ist geeignet, blos in ge-wisser Weise, und nicht allgemein von den

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Gegenständen ausgesagt zu werden; der Begriff unddas Eigenthümliche und die Gattung müssen dagegenin dem Satze sich mit dem Gegenstande umkehrenlassen. Wenn z.B. das zweifüssige auf dem Lande le-bende Geschöpf in einem Gegenstande enthalten ist,so kann man auch umgekehrt sagen, dass der Gegen-stand ein zweifüssiges, auf dem Lande lebendes Ge-schöpf ist. Ebenso verhält es sich mit der Gattung;denn wenn das Geschöpfsein in einem Gegenstandeenthalten ist, so ist auch der Gegenstand ein Ge-schöpf; und dasselbe gilt für die Eigenthümlichkeiten;denn wenn in einem Gegenstande das der SprachlehreFähige enthalten ist, so ist der Gegenstand auch dasder Sprachlehre Fähige. Von diesen Bestimmungenkann keine blos in gewisser Beziehung in dem Gegen-stande enthalten, oder nicht enthalten sein, sondernsie muss überhaupt darin entweder enthalten odernicht enthalten sein. Dagegen kann das Nebensächli-che sehr wohl mir in gewisser Beziehung in einemGegenstande enthalten sein, wie z.B. die weisseFarbe, oder die Gerechtigkeit. Wenn man deshalb dar-legt, dass die weisse Farbe oder die Gerechtigkeit ineinem Gegenstande enthalten sei, so nützt dies nichtsfür den Beweis, dass der Gegenstand an sich weissoder gerecht sei; denn es bleibt dann immer nochzweifelhaft, ob er nicht blos in einer Beziehung weissoder gerecht ist. Deshalb ist es bei nebensächlichen

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Bestimmungen nicht nothwendig, dass sie sich imSatze mit dem Gegenstande umkehren lassen.

Man muss auch die Fehler in den Streitsätzen un-terscheiden; sie sind zweifacher Art; entweder sagensie etwas Falsches aus, oder sie verletzen den beste-henden Sprachgebrauch. Einmal also fehlen diejeni-gen, welche etwas Falsches setzen oder das im Ge-genstande nicht Enthaltene als darin enthalten be-haupten; zweitens die, welche, indem sie den Gegen-stand mit einem fremden Namen bezeichnen, z.B. diePlatane einen Menschen nennen, den bestehendenSprachgebrauch verletzen.

Zweites Kapitel

Ein Gesichtspunkt für die Widerlegung einesStreitsatzes, der ein Nebensächliches behauptet, istder, dass man prüft, ob dieses angeblich Nebensächli-che dem Gegenstande nicht vielmehr in einer andererWeise zukomme. Am meisten wird hier mit den Gat-tungen gefehlt, z.B. wenn Jemand sagt, dass für dasWeiss das Farbe-sein etwas Nebensächliches sei;denn dies ist falsch, vielmehr ist die Farbe seine Gat-tung. Man kann diesen Fehler auch schon an der Aus-drucksweise erkennen, z.B. wenn es heisst: dass beider Gerechtigkeit es sich getroffen habe, dass sie eine

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Tugend sei. Oft ist es auch ohne weitere Unterschei-dung klar, dass die Gattung als ein Nebensächlichesausgesagt worden ist, z.B. wenn Jemand sagte, dasWeisse sei farbig gemacht worden, oder der Gangwerde bewegt. Von keiner Art kann nämlich die Gat-tung beinamig ausgesagt werden, sondern alle Gattun-gen werden von ihren Arten einnamig ausgesagt, dadie Arten sowohl den Namen, wie den Begriff derGattung annehmen können. Wenn also Jemand dasWeiss gefärbt nennt, so hat er das »gefärbt« nicht alsdie Gattung angegeben, da er das von dem Weiss aus-gesagte nur beinamig ausgedrückt hat und ebensowenig als ein Eigenthümliches oder als die Definitiondes Weiss; denn beide letzteren sind in keinem Ge-genstande anderer Art enthalten, während doch garvieles von anderen Arten gefärbt ist, z.B. Holz, Stei-ne, Menschen, Pferde. Daraus erhält, dass in diesemFalle die Gattung als ein Nebensächliches behandeltund ausgesagt worden ist.

Ein anderer Gesichtspunkt in Bezug auf das Ne-bensächliche ist, dass man die Gegenstände unter-sucht, von denen etwas allgemein in dem Streitsatzebehauptet oder verneint wird. Man muss sich hierbeijedoch auf die Arten beschränken und sich nicht indas endlose Einzelne verlieren; dann ist die Untersu-chung mehr auf dem gebahnten Wege und hat es mitweniger Gegenständen zu thun. Man muss deshalb

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hier bei den obersten Begriffen die Untersuchung be-ginnen und dann der Reihe nach herabgehen bis zuden nicht mehr theilbaren Arten. Wenn z.B. Jemandbehauptet, dass von Gegensätzlichem nur eine Wis-senschaft bestehe, so muss man prüfen, ob bei den ge-gensätzlichen Beziehungen und bei den Gegentheilenund bei dem Gegensatze des Habens und Beraubt-seins und bei den sich widersprechenden Gegensätzenüberall nur eine Wissenschaft bestehe; und wenn sichhierbei nichts findet, bei welchen mehr als eine Wis-senschaft besteht, so sind diese obersten Arten weiterbis zu den nicht weiter theilbaren Unterarten zu son-dern. So hat man z.B. zu prüfen, ob es auch für dasGerechte und Ungerechte, oder für das Doppelte undHalbe, oder für die Blindheit und das Gesicht, oderfür das Sein und das Nicht-Sein nur eine Wissen-schaft giebt. Kann man nun hier bei einem Falle zei-gen, dass nicht eine Wissenschaft für gewisse Gegen-sätze besteht, so wird man den Streitsatz widerlegthaben. Ebenso ist bei verneinenden Streitsätzen zuverfahren. Dieser Gesichtspunkt eignet sich sowohlfür das Begründen, wie für das Widerlegen. Dennwenn trotz der von dem Gegner gemachten Einthei-lungen der aufgestellte Satz sich in allen oder doch invielen Fällen bestätigt, so kann man verlangen, dassder Gegner denselben als einen allgemeinen anerken-ne, oder dass er einen Fall beibringe, wo es sich nicht

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so verhalte; thut er keines von beiden, so wäre es un-verständig, wenn er den Satz nicht anerkennen wollte.

Ein anderer Gesichtspunkt ist hier, dass man dasNebensächliche und den Gegenstand definirt, entwe-der beide in Bezug auf einander, oder nur eines fürsich, und dann prüft, ob in diesen Begriffen etwassich nicht so verhält, wie der Gegner behauptet. Wennes sich z.B. fragt, ob der Gottheit Unrecht gethan wer-den kann, so hat man zu untersuchen, was das Un-recht thun ist und wenn es in dem freiwilligen Verlet-zen besteht, so erhellt, dass man der Gottheit nichtUnrecht thun kann, weil man sie nicht verletzen kann.Ebenso, wenn es sich fragt, ob der gute Mensch nei-disch sei, so hat man zu ermitteln, was der Neidischeund was der Neid ist? Ist nun der Neid ein Schmerzüber das anscheinende Wohlbefinden eines gutenMenschen, so ist klar, dass der gute Mensch nicht nei-disch ist, denn er wäre sonst schlecht. Und wenn essich fragt, ob der Unwillige neidisch sei, so ermitteleman, wer ein Unwilliger und wer ein Neidischer ist;dann wird sich ergeben, ob der Satz wahr oder falschist; wenn z.B. der Neidische der ist, welcher über dasWohlergehen der guten Menschen Schmerz empfin-det, und wenn der Unwillige der ist, welcher über dasWohlergehen der schlechten Menschen Schmerz emp-findet, so ist klar, dass der Unwillige nicht neidischist. Man muss auch von den in den Begriffen

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gebrauchen Worten die Begriffe ermitteln und nichtruhen, bis man zur Klarheit gelangt ist; denn manch-mal ergiebt sich aus dem vollständigen Begriffe nochnicht das Gesuchte; setzt man aber statt eines in demBegriffe gebrauchten Wortes dessen Begriff, so er-giebt sich der Fehler.

Auch muss man aus dem Streitsatze sich selbsteinen Satz bilden und dagegen dann einen Einwurf er-heben; denn solche Einwürfe sind dann auch ein An-griff gegen den Streitsatz. Dieser Gesichtspunkt istbeinahe derselbe mit dem, wonach man die einzelnenGegenstände untersuchen soll, über die ein allgemei-ner bejahender oder verneinender Satz aufgestelltworden ist; der Unterschied liegt nur in der Form.

Auch muss man unterscheiden, was man ebenso,wie die Menge, benennen kann, und was nicht so. Esnützt dies sowohl zur Begründung, wie zur Widerle-gung eines Satzes. So hat man z.B. die Dinge mitdenselben Namen, wie die Menge zu benennen; aberbei der Frage, welche Dinge eine bestimmte Beschaf-fenheit haben, oder nicht haben, darüber hat man sichnicht nach Volksmeinung zu richten. So kann manwohl, wie das Volk das, was die Gesundheit herbei-führt, gesund nennen; aber ob der aufgestellte Gegen-stand die Gesundheit herbeigeführt oder nicht, hatman nicht nach dem, was die Menge sagt, sondernnach dem, was der Arzt sagt, zu bestimmen.

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Drittes Kapitel

Auch kann bei zweideutigen Wörtern, mag der auf-gestellte Satz bejahend oder verneinend lauten, derBeweis blos für eine Bedeutung des Wortes geführtwerden, sofern es nicht für beide geschehen kann;doch kann davon nur dann Gebrauch gemacht werden,wenn dem Gegner die Zweideutigkeit verborgen ist;denn wäre sie ihm bekannt, so würde er entgegnen,dass man den Gegenstand nicht so erörtere, wie erselbst ihn auffasse, sondern in einem anderen Sinne.

Von diesem Mittel kann man sowohl bei dem Be-gründen, wie bei dem Widerlegen Gebrauch machen.Denn will man begründen, so genügt, dass man denBeweis für die eine Bedeutung führt, wenn man esnicht für beide vermag; will man aber widerlegen undzeigen, dass der Satz nicht aufrecht erhalten werdenkann, so muss man dies in einer von beiden Bedeu-tungen thun, wenn man es nicht in beiden vermag. Beider Widerlegung braucht auch von dem Gegner nichtsvorher zugestanden zu werden; denn wenn man zeigt,dass von keinem der Dinge, welche das zweideutigeWort befasst, der Satz ausgesagt werden könne, sowird man schon den allgemein bejahenden Satz wi-derlegt haben und ebenso wird man den allgemeinverneinenden Satz schon widerlegt haben, wenn man

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zeigt, dass es den betreffenden Dingen in einer Be-deutung des Wortes zukomme. Dagegen muss bei derBegründung man vorher übereinkommen, dass, wennder bejahende Satz in einer Bedeutung des Wortesrichtig sei, er dann in allen Bedeutungen als richtiggelten soll, sofern dies an sich wahrscheinlich ist.Ohne solche Uebereinkunft hilft für den Beweis, dassder Satz allgemeingültig sei, der Beweis desselben inder einen Bedeutung nichts. Will man z.B. beweisen,dass jede Seele unsterblich sei, weil die des Menschenunsterblich ist, so muss man vorher ausmachen, dass,wenn irgend eine Seele als unsterblich nachgewiesenworden, dann dies für alle Seelen gelte. Indess ist diesnicht immer erforderlich, sondern nur dann, wenn mannicht leicht, einen für alle Bedeutungen passendenBeweis zur Hand hat, wie dies bei dem Geometriever-ständigen z.B. der Fall bei dem Satze ist, dass dasDreieck in seinen Winkeln zweien rechten gleich ist.

Ist dagegen die Zweideutigkeit des Satzes bekannt,so muss man die verschiedenen Bedeutungen sondernund für jede besonders die Widerlegung oder Begrün-dung beschaffen. Wenn z.B. unter dem, was sich ge-hört, sowohl das Nützliche, wie das Sittliche verstan-den wird, so muss man versuchen, für beide Bedeu-tungen den aufgestellten Satz zu begründen, oder zuwiderlegen; also, dass das, was sich gehört, sowohlsittlich, wie nützlich sei, oder dass es keines von

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beiden sei. Kann aber der Beweis oder die Widerle-gung nicht für beides beschafft werden, so ist der Be-weis für die eine Bedeutung zu führen und dabei zubemerken, dass der Satz in dem einem Sinne wahr seiund in dem anderen nicht. In derselben Weise ist zuverfahren, wenn der Bedeutungen mehr als zwei sind.

Ferner muss man untersuchen, ob der vorliegendeSatz, wenn er auch nicht zweideutig ist, doch in ande-rer Weise einen mehrfachen Sinn habe. So kann z.B.die eine Wissenschaft von Mehrerem handeln, entwe-der von ihrem Ziele oder von den Mitteln zu diesemZiele; so handelt z.B. die Heilkunst von den Mitteln,die Gesundheit herbeizuführen, oder von einer gesun-den Lebensweise; oder von beiden Zwecken; ebensohandelt die eine Wissenschaft von beiden Gegenthei-len (denn das eine Gegentheil ist nicht mehr Zweckfür die Wissenschaft, als das andere) oder die eineWissenschaft handelt von den wesentlichen Bestim-mungen ihres Gegenstandes oder auch von den neben-sächlichen; so ist der Satz, dass die Summe der Win-kel des Dreiecks zweien rechten gleich ist, ein wesent-licher Satz der Geometrie; nebensächlich ist aber der,dass das gleichseitige Dreieck in seinen Winkelnzweien rechten gleich ist; denn nur weil ein Dreiecknebenbei ein gleichseitiges ist, erkennt man auch beidiesem, dass seine Winkel zweien rechten gleich sind.Ergiebt sich nun, dass eine bestimmte Wissenschaft

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in keiner Beziehung Mehreres befasst, so erhellt, dasssie überhaupt dessen nicht fähig ist; wenn es aber ingewisser Weise stattfindet, so ist klar, dass sie dessenfähig ist. Eintheilen muss man hierbei so weit, als esnöthig ist. Will man z.B. etwas begründen, so mussman nur solche Gegenstände vorführen, auf welcheder aufgestellte Satz passt, und die Eintheilung nur soweit vornehmen, als sie für die Begründung dienlichist. Bei der Widerlegung muss man dagegen solcheGegenstände beibringen, bei denen der Streitsatznicht passt und das Andere bei Seite lassen. Auch hierist dies nur ausführbar, wenn die mehrfachen Bedeu-tungen von dem Gegner nicht gekannt sind.

Ferner muss man die Bejahung und die Verneinungeines Satzes aus denselben Gesichtspunkten begrün-den; so muss man z.B. bei der Wissenschaft den beja-henden Satz, dass eine Wissenschaft Mehreres befas-se, entweder für ihr Ziel, oder für die Mittel dazu,oder für das Nebensächliche begründen, und ebensoden verneinenden Satz, dass die eine Wissenschaftnicht Mehreres befasse, nach denselben Gesichts-punkten rechtfertigen. Dasselbe gilt für die Begierdenund Alles, was sonst Mehreres befasst. Denn man be-gehrt Etwas bald als Endzweck, z.B. die Gesundheit;bald als Mittel zum Endzweck, z.B. die Arznei einzu-nehmen, bald als ein blos Nebensächliches, wie z.B.der, welcher gern Süsses trinkt, nach Wein verlangt,

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nicht weil es Wein ist, sondern weil es süss ist; dennan sich begehrt er nur das Süsse und den Wein nurnebenbei; denn wenn der Wein herbe ist, so mag erihn nicht; daher begehrt er nach dem Wein nur neben-bei. Dieser Gesichtspunkt ist vorzüglich für Bezie-hungen benutzbar, denn die meisten Fälle dieser Arthaben es mit Beziehungen zu thun.

Viertes Kapitel

Auch ist es zweckmässig, ein Wort in ein bekann-teres umzutauschen, z.B. für das Wort: genau imAuffassen das Wort: klug, und statt des Wortes: viel-geschäftig das Wort: gerngeschäftig. Denn je ver-ständlicher der Ausdruck der These ist, desto leichterist sie anzugreifen. Dies Mittel ist ebenso für das Be-gründen, wie für das Widerlegen benutzbar.

Will man zeigen, dass demselben Gegenstande dasEntgegengesetzte zukommen könne, so muss man aufdie Gattung desselben Acht haben. Will man z.B.zeigen, dass bei der Wahrnehmung sowohl die Rich-tigkeit, wie der Irrthum vorkommt, so muss man dar-legen, dass das Wahrnehmen ein Urtheilen ist unddass das Urtheilen sowohl wahr, wie falsch geschehenkann und dass deshalb auch bei der WahrnehmungRichtigkeit und Irrthum vorkommen könne. Hier ist

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also der Beweis für die Art aus seiner Gattung ent-lehnt worden; denn das Urtheilen ist die Gattung unddas Wahrnehmen eine Art desselben, da jeder Wahr-nehmende in irgend einer Art urtheilt. Umgekehrtkann man aus der Art auf die Gattung schliessen;denn alles, was in der Art enthalten ist, muss auchvon der Gattung ausgesagt werden können; giebt esz.B. ein schlechtes und ein gutes Wissen, so ist auchder entsprechende Seelenzustand schlecht oder gut, dadieser Seelenzustand die Gattung ist und das Wissenzu einer seiner Arten gehört. Der erst genannte Wegist für das Begründen der falsche, der zweite aber derrichtige; denn nicht alles, was von der Gattung ausge-sagt werden kann, kann auch von einer einzelnen Artausgesagt werden; so kann von dem Geschöpf das:geflügelt und vierfüssig ausgesagt werden, aber vondem Menschen nicht; ist aber der Mensch sittlich, sogiebt es auch ein sittliches Geschöpf. Dagegen ist fürdas Widerlegen der erste Weg der richtige und derzweite der falsche. Denn alles, was in der Gattungnicht enthalten ist, ist auch in der Art nicht enthalten;alles, was dagegen in einer Art nicht enthalten ist,kann deshalb doch von der Gattung ausgesagt wer-den.

Da aber von dem, von welchem die Gattung ausge-sagt wird, auch eine der Arten ausgesagt werden mussund da alles, was die Gattung an sich hat, oder

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beinamig nach der Gattung benannt wird, auch eineder Arten an sich haben muss oder beinamig nacheiner der Arten benannt werden muss; da also, wennz.B. Jemandem die Wissenschaft zukommt, ihm auchentweder die Sprachlehre, oder die Musiklehre odereine der übrigen Wissenschaften zukommen muss,und da, wenn Jemand die Wissenschaft besitzt, oderbeinamig nach der Wissenschaft benannt wird, erauch die Sprachlehre, oder die Musiklehre oder eineder anderen Wissenschaften besitzen muss oder nacheiner derselben beinamung benannt werden muss, wieSprachgelehrter, oder Musikgelehrter u.s.w., so mussman, wenn Jemand einen Satz, der von einem Gegen-stande irgend eine Gattung aussagt, wie z.B. dass dieSeele sich verändere, untersuchen, ob nach irgendeiner von den verschiedenen Arten der Veränderungdie Seele sich verändern könne, z.B. ob sie sich ver-mehren, oder vermindern, oder entstehen könne, undwas sonst es noch für Arten der Veränderung giebt.Findet sich nun, dass sie nach keiner dieser Arten sichverändert, so ist klar, dass sie sich überhaupt nichtverändert. Dieser Gesichtspunkt passt sowohl für dasBegründen, wie für das Widerlegen. Denn wenn dieSeele sich nach einer Art verändert, so ist klar, dasssie sich auch überhaupt verändert und wenn sie sichnach keiner von allen Arten verändert, so ist klar,dass sie sich überhaupt nicht verändert.

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Wenn man nicht leicht zur Widerlegung eines Sat-zes gelangen kann, so muss man auf die Definitiondes aufgestellten Gegenstandes sein Augenmerk rich-ten, und zwar sowohl auf die richtigen, wie auf dievon der Meinung angenommenen, und wenn es miteiner Definition nicht gelingt, dann es mit mehrerenversuchen. Denn gegen einen, der definirt, kann manleichter ankämpfen, da die Angriffe gegen Definitio-nen die leichteren sind.

Man muss auch bei dem aufgestellten Gegenstandeuntersuchen, von welcher Ursache derselbe abhängtund welche Folge sich nothwendig ergiebt, wenn derGegenstand ist. Ersteres braucht derjenige, welcheretwas begründen will (denn wenn der Grund oder dieUrsache als vorhanden nachgewiesen worden, so istauch der vorliegende Satz erwiesen); letzteres brauchtderjenige, welcher widerlegen will; denn wenn er dar-legt, dass das aus dem Gegenstande Folgende nichtvorhanden ist, so wird er den Streitsatz widerlegthaben.

Auch die Zeit muss man berücksichtigen und prü-fen, ob sie irgendwo mit dem Satze nicht stimmt; z.B.wenn der Gegner sagte, dass das, was ernährt wird,nothwendig zunehmen müsse; denn alle Geschöpfewerden zwar immer ernährt, aber sie nehmen nichtimmer zu. Ebenso, wenn jemand sagte, dass das Wis-sen ein Erinnern sei; denn letzteres gilt mir für die

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vergangene Zeit, das Wissen aber auch für die gegen-wärtige und kommende Zeit; denn man sagt, dass mandas Gegenwärtige und das Zukünftige wisse, z.B.dass eine Mondfinsterniss eintreten werde; erinnernaber kann man sich nur des Vergangenen.

Fünftes Kapitel

Auch das sophistische Mittel ist zu benutzen, wo-nach man die Disputation zu Sätzen hinleitet, die manmit Leichtigkeit angreifen kann. Solche Sätze sindmanchmal wirklich nothwendig, manchmal scheinbarnothwendig und manchmal weder das eine, noch dasandere. Wirklich nothwendig sind sie dann, wenn derAntwortende bei seinem Bestreiten der den aufgestell-ten Satz treffenden Gründe selbst Behauptungen auf-stellt, welche der Art sind, dass man sie mit Leichtig-keit angreifen kann. Auch sind solche Behauptungenda wirklich nothwendig, wo man behufs Widerlegungdes Gegners das von ihm Behauptete zur induktivenBegründung eines allgemeinem, den aufgestelltenSatz mit befassenden Satzes benutzen kann; dennwenn man dann diesen allgemeineren Satz widerlegt,so ist auch der aufgestellte mit widerlegt.

Scheinbar nützlich sind solche Behauptungen dann,wenn man nur scheinbar Brauchbares oder

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Dahingehörendes gegen den Streitsatz behauptet,ohne dass es wirklich der Art ist und nun der, welcherden Streitsatz vertheidigt, dies leugnet, oder wennman nur durch eine glaubwürdige Induktion, wobeider Streitsatz mit benutzt wird, denselben zu widerle-gen versucht. Der letzte Fall ist der, wo solche Be-hauptungen zwar in Bezug auf den aufgestellten Satzweder wirklich, noch scheinbar nothwendig sind, aberes doch dadurch gelingt, den Antwortenden bei einem,nicht zur Sache gehörenden Satze zu widerlegen.Doch muss man sich mit dem Gebrauch dieser letztenWeise zu disputiren sehr in Acht nehmen, denn siedurfte wohl gar nicht zur Dialektik gehören, sondernihr fremd sein. Deshalb darf der Antwortende nichtärgerlich darüber werden, sondern er mag immerhindie für den aufgestellten Satz nutzlosen Behauptungenzugeben und nur andeuten, was er daran nicht billigt,obgleich er es für den vorliegenden Fall zugiebt.Denn meistentheils kommt der Fragende mehr in Ver-legenheit, wenn man ihm alles der Art zugiebt, soweit es für die Beweisführung nutzlos ist.

Ferner hat Jeder, welcher irgend etwas behauptet,in gewisser Weise Vielerlei behauptet, weil aus demeinen Satze nothwendig sich vielerlei Folgen ergeben.Hat z.B. Jemand behauptet, dass der Gegenstand einMensch sei, so hat er auch behauptet, dass er ein Ge-schöpf ist, und beseelt, und zweifüssig und fähig der

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Vernunft und Wissenschaft. Man kann also in sol-chem Falle durch Widerlegung irgend einer dieserFolgen auch den anfänglich aufgestellten Satz wider-legen. Man muss sich aber vorsehen und sich vondem wegwenden, was schwerer zu widerlegen ist;denn manchmal ist die Folge leichter zu widerlegen,manchmal aber der aufgestellte Satz selbst.

Sechstes Kapitel

Bei Gegenständen, denen nothwendig eine vonzwei Bestimmungen einwohnen muss, w.z.B. demMenschen die Krankheit oder die Gesundheit, kannman, wenn man in Bezug auf die eine Bestimmungden bejahenden oder verneinenden Satz leicht begrün-den kann, es auch leicht in Bezug auf die andere. Die-ses Mittel ist für das Begründen eben so brauchbar,wie für das Widerlegen; denn wenn man dargelegthat, dass die eine Bestimmung in dem Gegenstandeenthalten ist, so wird man auch dargelegt haben, dassdie andere nicht in ihm enthalten ist, und hat man be-wiesen, dass die eine nicht in ihm enthalten ist, so hatman zugleich bewiesen, dass die andere in ihm enthal-ten ist. Es erhellt also, dass dieses Mittel zu beidenbenutzt werden kann.

Auch lässt sich mitunter ein Angriff ausführen,

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wenn man statt des Namens des Gegenstandes seinenBegriff einführt, weil er den Gegenstand besser aus-drücke als der Name nach seinem gegenwärtigen Ge-brauch; so ist der Tapfere nicht wohlgemuth in demSinne, wie man dies letztere Wort gemeiniglich ge-braucht, sondern er hat ein sich wohl verhaltendesGemüth; ebenso ist das »hoffnungsvoll« in das»Gutes hoffende« umzuwandeln, und das »glücklich«ist in das »dessen Dämon gut ist« umzuwandeln, dennXenokrates sagt, dass nur der glücklich sei, welchereine gute Seele habe, denn die Seele sei eines JedenDämon.

Da von den Dingen manches nothwendig ist, ande-res meistentheils sich so verhält und wieder anderesso wie es sich trifft, so giebt der Gegner immer eineGelegenheit zum Angriff, wenn er etwas Nothwendi-ges als ein meistentheils Eintretendes behauptet, oderwenn er das nur meistentheils Eintretende als einNothwendiges behauptet, sei es das meistentheils Ein-tretende selbst, oder dessen Gegentheil. Denn wenn erdas Nothwendige als ein meistentheils Eintretendesaussagt, so erkennt er damit an, dass es nicht in allenhierher gehörenden Dingen enthalten ist, obgleich esdoch als ein nothwendiges in allen enthalten seinmuss, und er hat somit gefehlt. Stellt er aber das mei-stentheils Eintretende als ein Nothwendiges auf, sobehauptet er, dass es in allen enthalten sei, obgleich

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es nicht in allen enthalten ist. Ebenso verhält es sich,wenn er das Gegentheil von dem meistentheils Eintre-tenden für nothwendig erklärt, denn das Gegentheildesselben gilt immer für noch wenigere Fälle; sindz.B. die Menschen meistentheils schlecht, so sind derguten Menschen weniger als der schlechten, und derGegner hat dann noch gröber gefehlt, wenn er dieMenschen für nothwendig gut erklärt. Ebenso verhältes sich, wenn er das Zufällige für nothwendig, oderfür meistentheils eintretend erklärt, denn das Zufälligeist weder ein nothwendiges, noch ein meistentheilsEintretendes. Auch kann man, wenn der Gegner nichtbestimmt hat, ob er seinen Satz als einen nothwendi-gen oder nur als einen meistentheils gültigen behaup-tet, derselbe aber in Wahrheit nur ein meistentheilsgültiger ist, gegen ihn so auftreten, als hätte er denSatz wie einen nothwendigen aufgestellt; z.B. wenn erohne solche Unterscheidung die enterbten Söhne fürschlecht erklärt, so kann man die Erörterung gegenihn so führen, als hätte er den Satz wie einen noth-wendigen aufgestellt.

Auch muss man darauf achten, ob jemand in einemSatze von Etwas dasselbige Etwas als ihm zukom-mend aussagt, indem er meint, es sei verschieden,weil es als Prädikat einen anderen Namen hat. Sotheilte Prodikos die Lust ein in die Freude, das Ver-gnügen und in den Frohsinn; allein dies sind alles

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Namen desselben Gegenstandes, nämlich der Lust.Wenn daher jemand sagt, dass dem Frohsinn dieFreude als ein Nebensächliches einwohne, so würdeer damit behaupten, dass etwas sich selbst nebensäch-lich einwohne.

Siebentes Kapitel

Da Gegentheiliges sechsfach mit einander verbun-den werden kann, eine Gegentheiligkeit der Sätze abernur bei vier dieser Verbindungen entsteht, so mussman sowohl bei der Widerlegung, wie bei der Be-gründung die Gegentheile so wählen, wie sie für denjedesmaligen Zweck am nützlichsten sind. Dass Ge-gentheiliges sich auf sechs Arten verbinden lässt, istklar; denn einmal kann das Gegentheil des Gegen-standes und das Gegentheil des von ihm Ausgesagtenmit einander oder mit dem andern verbunden werden,was in zweifacher Art geschehen kann; z.B. denFreunden Gutes thun und den Feinden Böses thun;oder umgekehrt: den Freunden Böses thun und denFeinden Gutes thun; oder es kann von demselben Ge-genstande das Gegentheilige ausgesagt werden, wasebenfalls zweifach geschehen kann; z.B. den Freun-den Gutes thun und den Freunden Böses thun, oderden Feinden Gutes und den Feinden Böses thun; oder

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endlich wenn dasselbe Ausgesagte den entgegenge-setzten Gegenständen beigelegt wird, was ebenfallszweifach geschehen kann, z.B. den Freunden Gutesthun und den Feinden Gutes thun oder den FreundenBöses thun und den Feinden Böses thun.

Von den hier genannten Verbindungen des Gegen-theiligen ergeben die ersten beiden kein Gegentheil;denn den Freunden Gutes zu thun und den FeindenBöses zu thun sind keine Gegentheile, denn beidessoll geschehen und gehört zu derselben Pflicht; eben-so wenig sind es die Sätze: den Freunden Böses undden Feinden Gutes thun; denn auch dies ist beides zuunterlassen und bezieht sich auf das gleiche Verbot.Denn das Verbotene kann nicht das Gegentheil desVerbotenen sein, wenn nicht das eine das Zuviel unddas andere das Zuwenig ausdrückt, da sowohl dasUebermass wie das Zuwenig, als Verbotenes, einan-der gegentheilig gegenüberstehen.

Die vier anderen Fälle bilden dagegen wirklicheGegensätze; denn, den Freunden Gutes zu thun, istdas Gegentheil von: den Freunden Böses zu thun; dadas eine geboten, das andere verboten ist und das einezu thun, das andere nicht zu thun ist. Ebenso verhältes sich mit den übrigen Fällen, denn von jedem dieserSätze ist der eine zu thun, der andere nicht zu thun,und der eine gehört zu dem guten Handeln, der anderezu dem schlechten Handeln.

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Hieraus erhellt, dass zu einem Satze mehrere Ge-gentheile aufgestellt werden können; denn dem Satze,dass man den Freunden Gutes thun solle, steht sowohlder Satz, dass man den Feinden Gutes thun solle, alsGegentheil gegenüber, wie der Satz, dass man denFreunden Böses thun solle. Ebenso wird sich, wennman die anderen Fälle prüft, ergeben, dass jedemSatze zwei andere gegentheilig gegenüberstehen. Des-halb muss man von diesen beiden Gegentheilenimmer denjenigen Satz wählen, welcher gegen denaufgestellten Streitsatz am brauchbarsten ist.

Auch muss man, wenn das Nebensächliche ein Ge-gentheil hat, prüfen, ob dieses Gegentheil nicht dem-selben Gegenstande einwohnt, dem jenes Nebensäch-liche beigelegt worden ist. Ist das Gegentheil im Ge-genstande enthalten, so kann jenes nicht in ihm ent-halten sein, denn Gegentheile können nicht zugleichin demselben Gegenstande enthalten sein.

Ebenso muss man prüfen, ob etwas von einem Ge-genstande ausgesagt wird, wo, wenn es der Fall wäre,dies und auch sein Gegentheil in ihm enthalten seinmüsste; wie z.B. wenn jemand sagt, dass die Ideen inuns enthalten seien; denn dann würde folgen, dass siesich sowohl bewegten, wie nicht bewegten und dasssie sowohl mit den Sinnen wahrzunehmen und auchblos mit dem Denken zu erfassen seien; denn diejeni-gen, welche Ideen annehmen, setzen sie als unbewegt

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und nur als durch das Denken erfassbar; sollten sieaber in uns enthalten sein, so könnten sie nicht unbe-wegt sein, denn wenn wir uns bewegen, so muss sichauch alles in uns Enthaltene mit bewegen. Auchmüssten die Ideen, wenn sie in uns wären, wahrnehm-bar sein, denn durch den Gesichtssinn kann man diein Jedem befindliche Gestalt erkennen.

Ferner muss man, wenn von einem Gegenstandeein Nebensächliches ausgesagt wird, was ein Gegen-theil hat, prüfen, ob der Gegenstand auch des Gegen-theils fähig ist, wie er es für das Nebensächliche ist;denn ein und derselbe Gegenstand kann sowohl einNebensächliches, wie dessen Gegentheil annehmen.Wenn also z.B. der Hass in dem Zorn enthalten wäre,so würde der Hass zu den Gefühlen gehören, denn zusolchen gehört der Zorn; man muss also prüfen, ob zuden Gefühlen auch die Liebe gehört; wäre dies nichtder Fall, sondern gehörte diese zu den Begehrungen,so könnte der Hass nicht in dem Zorne enthalten sein.Das Gleiche würde gelten, wenn von dem Begehrendas Nicht-Wissen ausgesagt würde; denn dann wäredas Begehren auch des Wissens fähig, da es desNicht-Wissens fähig erklärt worden, was doch nichtglaubwürdig erscheint. Deshalb kann dieser Gesichts-punkt zum Widerlegen benutzt werden. Für die Be-gründung, dass das Nebensächliche im Gegenstandeenthalten sei, kann aber dieser Gesichtspunkt nicht

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benutzt werden; wohl aber dafür, dass er dieses Ne-bensächlichen fähig sei. Denn hat man bewiesen, dassder Gegenstand des Gegentheiligen nicht fähig sei, sohat man auch bewiesen, dass das Nebensächlichenicht in ihm enthalten ist, und er dessen auch nichtfähig ist. Hat man aber gezeigt, dass das Gegentheilin ihm enthalten ist, oder dass er dessen fähig ist, sohat man damit zwar noch nicht bewiesen, dass dasNebensächliche in ihm enthalten ist, aber wohl, dasser dessen fähig ist, und nur so weit ist dann der Be-weis geführt.

Achtes Kapitel

Da es vier Arten von Gegensätzen giebt, so ist so-wohl für das Widerlegen, wie für das Begründen esnützlich, dass man untersucht, ob der Streitsatz, wenndessen Subjekt und Prädikat in ihren Verneinungengenommen und dabei mit einander ausgetauscht wer-den, richtig bleibt. Man kann dabei die Induktion be-nutzen; wird z.B. der Mensch für ein Geschöpf er-klärt, so folgt, dass das Nicht-Geschöpf kein Menschist. Dies gilt auch für die anderen Fälle, hier ist derumgekehrte, auf die Verneinungen lautende Satz rich-tig; denn von dem Menschen wird das Geschöpf aus-gesagt, aber von dem Nicht-Menschen nicht das

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Nicht-Geschöpf, sondern umgekehrt kommt demNicht-Geschöpf der Nicht-Mensch zu. Bei allen Sät-zen kann man also verlangen, dass, wenn die Sätzerichtig sind, auch die Umkehrung der Sätze, welchedie Verneinungen enthalten, richtig sei. Soll z.B. dasSittliche angenehm sein, so muss auch dasNicht-Angenehme nicht sittlich sein; ist dies nichtwahr, so ist auch jener Satz nicht wahr. Ebenso muss,wenn das Nicht-Angenehme nicht sittlich ist, das Sitt-liche angenehm sein. So erhellt, dass für diese beidenSätze auch die Umkehrung gilt, wenn Gegenstand undAusgesagtes dabei in ihre Verneinungen umgewandeltwerden.

Ebenso kann man für die Widerlegung, wie für dieBegründung die Prüfung benutzen, ob bei einemSatze das Gegentheil vom Ausgesagten dem Gegen-theil vom Gegenstande zukomme, und ob dies sowohlfür den Satz als solchen, wie für den umgekehrtenSatz gilt. Auch hier muss man Fälle im Einzelnennehmen, so weit sie zu diesem Zweck benutzbar sind.So bleibt z.B. der Satz auch ohne Umkehrung gültigfür die Tapferkeit und Feigheit, denn der einen kommtdie Tugend, der andern das Laster zu, und das eine istzu wählen, das andere zu fliehen. Hier entsprechensich die gegentheiligen Sätze als solche und ohne Um-kehrung, denn das zu Fliehende ist das Gegentheilvon dem zu Wählenden. Dasselbe gilt für ähnliche

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Fälle.Dagegen gelten die Gegentheile eines Satzes in an-

deren Fällen nur, wenn der Satz umgekehrt wird; sowird von dem Wohlbefinden die Gesundheit ausge-sagt, aber dem Schlechtbefinden kommt keineswegesdie Krankheit zu, vielmehr umgekehrt der Krankheitdas Schlechtbefinden. Hier muss also offenbar der aufsein Gegentheil lautende Satz, wenn er richtig bleibensoll, umgekehrt werden. Indess kommt letzteres beiden auf die Gegentheile umgestalteten Sätzen seltenvor, vielmehr gelten sie meistentheils ohne Umkeh-rung als richtig. Bleibt nun ein Satz nicht richtig,wenn die Gegentheile in ihm gesetzt werden, sei esohne, oder mit Umkehrung, so ist klar, dass auch indem aufgestellten Satze das Ausgesagte dem Gegen-stande nicht beigelegt werden kann. Ist dagegen derSatz, in seine Gegentheile umgewandelt, richtig, somuss auch in dem aufgestellten Satze das Ausgesagtein Wahrheit dem Gegenstande zukommen.

Aehnlich wie bei den Gegentheilen ist die Prüfungbei den Fällen, wo es sich um ein Haben und eine Be-raubung handelt, anzustellen; ausgenommen, dass beiden auf eine Beraubung lautenden Sätzen die Umkeh-rung nicht stattfindet; vielmehr muss der in seine Ge-gensätze umgewandelte Satz stets ohne Umkehrungrichtig bleiben. So kommt dem Gesicht z.B. dasWahrnehmen zu, also der Blindheit das

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Nicht-Wahrnehmen; denn das Wahrnehmen ist demNicht-Wahrnehmen so, wie das Haben der Beraubungentgegengesetzt, da das eine ein Haben des Gesichtsund das andere eine Beraubung des Gesichts ist.

Aehnlich wie das Haben und die Beraubung sindauch die Sätze, welche eine Beziehung ausdrücken,beim Disputiren benutzbar; denn auch bei ihnen mussder Satz gültig bleiben, wenn seine Begriffe in ihreGegensätze umgewandelt werden. Wenn z.B. dasDreifache ein Vielfaches ist, so ist das Dritttheil einBruchtheil; denn das Dreifache ist das Gegentheil zudem Dritttheil und das Vielfache zu dem Bruchtheile.Wenn ferner das Wissen ein Vorstellen ist, so ist auchdas Wissbare ein Vorstellbares und wenn das Sehenein Wahrnehmen ist, so ist das Sichtbare ein Wahr-nehmbares. Man könnte einwenden, dass bei solchenBeziehungen diese Umwandelung in die Gegensätzenicht überall zutreffe, weil das Wahrnehmbare zwarein Wissbares sei, aber das Wahrnehmen nicht einWissen. Indess scheint dieser Einwand nicht richtigzu sein; da bei Vielen das Wahrgenommene für einWissen gilt. Dieser Gesichtspunkt kann übrigensauch für das Gegentheilige benutzt werden, also dassdas Wahrnehmbare kein Wissbares sei, weil dieWahrnehmung kein Wissen sei.

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Neuntes Kapitel

Auch muss man auf die verwandten Begriffe undauf solche achten, welche mit demselben Worte, aberin einer verschiedenen Beugung bezeichnet werden,da dies für Widerlegungen und Begründungen benutztwerden kann. Verwandt nennt man Begriffe, wie z.B.das Gerechte und der Gerechte mit der Gerechtigkeitverwandt ist und das Tapfere und der Tapfere mit derTapferkeit. Ebenso ist das Bewirkende und das Be-schützende mit dem verwandt, was es bewirkt, oderbeschützt, wie z.B. das Gesunde mit der Gesundheitund das Zuträgliche mit dem Wohlbefinden. In dieserWeise können auch alle anderen verwandten Begriffebenutzt werden. Verwandt heissen also solche Begrif-fe wie die vorgenannten; in dem Wortlaut gebeugtsind aber Begriffe, wie die Nebenwörter: geehrt, tap-fer, gesund und andere in dieser Weise geformten. Diemit gebeugten Worten bezeichneten Begriffe scheinenauch verwandt zu sein; so ist das gerecht mit der Ge-rechtigkeit und das tapfer mit der Tapferkeit ver-wandt. Verwandt nennt man alle Begriffe, die zuderselben Begriffsreihe gehören, wie z.B. die Gerech-tigkeit, der Gerechte, das Gerechte, gerecht. Hierauserhellt, dass wenn von irgend einem Worte in solcherReihe bewiesen worden, dass sein Gegenstand gut

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oder lobenswerth ist, es dann für alles Andere dersel-ben Reihe auch bewiesen ist. Ist so die Gerechtigkeitlobenswerth, so gehören auch der Gerechte und dasGerechte und das gerecht zu dem Lobenswerthen. DieNebenworte: gerecht und lobenswerth werden durchdie gleiche Beugung, letzteres vom Lobenswerthen,und das gerecht von der Gerechtigkeit abgeleitet.

Man hat übrigens nicht blos auf das hier Gesagtezu achten, sondern auch auf das Verhalten des Gegen-theils vom Ausgesagten zu dem Gegentheile des Ge-genstandes; ist z.B. das Gute nicht nothwendig ange-nehm, so ist auch das Böse nicht nothwendig unange-nehm; oder wenn dieses nothwendig unangenehm ist,so ist auch jenes nothwendig angenehm. Ebenso ist,wenn die Gerechtigkeit ein Wissen ist, die Ungerech-tigkeit eine Unwissenheit und wenn das gerecht ein»wissentliches« und »erfahrenes« ist, so ist das unge-recht ein »unwissentliches« und »unerfahrenes«. Giltdagegen dies bei diesen nicht, so gilt auch jener Satznicht bei jenen, wie in dem vorigen Falle; denn das:ungerecht dürfte wohl eher mit: erfahren, als mit: un-erfahren sich vereinigen; ein Fall, der früher bei derUmkehrung der in ihre Gegentheile umgewandeltenSätze besprochen worden ist; hier verlange ich abernur, dass, wenn ein Satz richtig ist, derselbe auchrichtig bleibe, wenn seine Begriffe beide in ihr Ge-gentheil umgewandelt werden.

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Auch die Gegensätze von Entstehen und Vergehen,von Bewirken und Zerstören können bei den Widerle-gungen und bei den Begründungen benutzt werden;denn das, aus welchem das Gute entsteht, ist selbstgut, und wenn etwas selbst gut ist, so ist es auch das,was aus ihm entsteht. Ebenso ist, wenn etwas Ent-standenes schlecht ist, auch das, woraus es entstandenist, schlecht. Bei dem Verderbenden verhält es sichumgekehrt. Denn wenn das Verderbende das Guteverdirbt, so ist es selbst schlecht und wenn es dasSchlechte verdirbt, so ist es selbst gut. Dasselbe Ver-hältniss besteht bei dem Bewirkenden und Zerstören-den; denn was das Gute bewirkt, ist selbst gut, undwas das Gute zerstört, ist selbst schlecht.

Zehntes Kapitel

Auch die Aehnlichkeiten sind zu benutzen, wennmehreres einander ähnlich ist; ist z.B. die Wissen-schaft nur eine für vielerlei, so ist es auch die Mei-nung und wenn der Besitz des Gesichts das Sehen ist,so ist der Besitz des Gehörs das Hören. Ebenso ver-hält es sich mit anderen Aehnlichkeiten, und zwargleichviel, ob diese Aehnlichkeit wirklich besteht,oder nur nach der Meinung vorhanden ist. Dieses Mit-tel ist für die Begründung und für die Widerlegung

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brauchbar; denn das, was für eines der einander ähnli-chen Dinge gilt, gilt auch für die übrigen und was füreines von ihnen nicht gilt, gilt auch für die übrigennicht. Man muss auch prüfen, ob die Aehnlichkeit fürEinzelnes sich auf die Aehnlichkeit für die Mehrzahlerstreckt; mitunter stimmt nicht beides. Ist z.B. dasWissen ein Denken, so wäre auch das Vieles-Wissenein Vieles-Denken; allein letzteres ist nicht richtig,denn man kann wohl Vieles wissen, aber nicht Vielesdenken. Ist nun dies nicht der Fall, so gilt auch dieAehnlichkeit für das Einzelne nicht, wonach das Wis-sen ein Denken sein soll.

Auch das Mehr und das Weniger ist zu benutzen.Es giebt hier vier unterschiedene Gesichtspunkte fürdas Mehr und Weniger; in dem einem folgt dem Mehrdes einen auch das Mehr des andern; ist z.B. die Lustein Gut, so ist auch die grössere Lust ein grösseresGut und ist das Unrecht-Handeln schlecht, so ist dasMehr-Unrecht-Handeln schlechter. Dieses Mittel istfür beide Richtungen des Disputirens zu benutzen;nimmt nämlich mit der Steigerung des Gegenstandeswie in dem erwähnten Falle auch das von ihm ausge-sagte Nebensächliche zu, so kommt das Ausgesagteoffenbar dem Gegenstande nebensächlich zu; ist diesaber nicht der Fall, so kommt es ihm nicht zu. Manmuss zu dem Behuf einzelne Fälle benutzen. Ein an-derer Gesichtspunkt ist es, wenn ein und dasselbe

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zweien Gegenständen beigelegt wird; ist das Ausge-sagte hier in dem einen Gegenstande, wo es am wahr-scheinlichsten ist, nicht enthalten, so ist es auch indem andern, wo es weniger wahrscheinlich ist, nichtenthalten, und ist umgekehrt das Ausgesagte in demGegenstande, wo es weniger wahrscheinlich ist, ent-halten, so ist es auch in dem enthalten, wo es mehrwahrscheinlich ist. Dasselbe gilt, wenn zwei Bestim-mungen demselben Gegenstande beigelegt werden; isthier das eine Ausgesagte in dem Gegenstande, ob-gleich es für diesen wahrscheinlicher ist, nicht enthal-ten, so ist auch das andere Ausgesagte in dem Gegen-stande, wo es unwahrscheinlicher ist, nicht enthalten;und ist das eine in dem Gegenstande enthalten, ob-gleich es weniger wahrscheinlich war, so ist auch dasandere, welches wahrscheinlicher war, im Gegenstan-de enthalten. Wenn ferner zwei Bestimmungen vonzwei Gegenständen ausgesagt werden, so ist, wenn indem einen Gegenstande, wo es wahrscheinlicher wäre,das von ihm Ausgesagte nicht enthalten ist, auch dasandere Ausgesagte in dem andern Gegenstande nichtenthalten; und ist das Ausgesagte in einem Gegen-stande vorhanden, wo dies weniger wahrscheinlichwar, so ist das andere auch in dem andern Gegenstan-de enthalten.

Auch für das Aehnliche, der Wahrheit oder derMeinung nach, giebt es gleiche drei Gesichtspunkte,

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wie solche eben für das Mehr hier dargelegt wordensind. Entweder ist eine Bestimmung in zwei Gegen-ständen in wirklicher oder nur gemeinter ähnlicherWeise enthalten. Ist sie hier nun in dem einen Gegen-stande nicht enthalten, so ist sie es auch nicht in demandern, und ist sie es in dem einen, so ist sie es auchin dem andern Gegenstande. Oder es besteht für zweiBestimmungen die Aehnlichkeit, dass sie beide indemselben Gegenstande enthalten sein werden; istdies nun für die eine nicht der Fall, so gilt dies auchfür die andere, und ist die eine im Gegenstande ent-halten, so ist es auch die andere. Endlich gilt es auchso wie dort, wenn für das Enthaltensein von zwei Be-stimmungen in zwei Gegenständen eine Aehnlichkeitbesteht; ist hier die eine in dem einen nicht enthalten,so gilt dies auch für die andere in Betreff ihres Gegen-standes, und ist die eine in ihrem Gegenstande enthal-ten, so ist auch die andere in ihrem Gegenstande ent-halten.

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Elftes Kapitel

So vielfach lässt sich also das aus der Steigerungund der Aehnlichkeit entnommene Mittel zum Angrif-fe des Gegners benutzen. Ebenso kann auch die Hin-zufügung zu gleichem Behufe benutzt werden. Machtz.B. die Hinzufügung des einen zu dem andern letzte-res gut, oder weiss, während es vorher nicht weissoder nicht gut war, so ist das Hinzugefügte gut oderweiss, weil es auch das Ganze so macht. Wenn fernerdas Hinzugefügte einen Gegenstand mehr in dem stei-gert, was er vorher war, so wird das Hinzugefügteselbst dieser Art sein. Dies gilt auch für andere ähnli-che Fälle. Indess ist dieses Mittel nicht immer an-wendbar, sondern nur für Bestimmungen, bei denenes angeht, dass der Gegenstand in denselben gestei-gert werden kann. Auch kann dieses Mittel nicht um-gekehrt zur Begründung benutzt werden; denn wenndas Hinzugefügte den Gegenstand nicht gut macht, soist deshalb es selbst noch nicht nicht-gut. So machtdas dem Schlechten hinzugefügte Gute das Ganzenicht nothwendig gut und ebenso das Weisse dasSchwarze nicht nothwendig weiss.

Wenn ferner bei einer Bestimmung eine Steigerungoder Minderung statt hat, so muss dieselbe überhauptin dem Gegenstand enthalten sein; denn was nicht gut

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oder nicht weiss ist, kann auch nicht weisser oder bes-ser genannt werden. Denn das Schlechte ist bei kei-nem Gegenstande ein mehr oder weniger Gutes. Auchkann dieses Mittel nicht umgekehrt zur Widerlegungbenutzt werden, da Vieles, was von einem Gegenstan-de ausgesagt werden kann, keine Steigerung annimmtund doch in ihm enthalten ist; so kann der einzelneMensch als solcher weder vermehrt noch vermindertwerden, aber deshalb ist er doch ein Mensch.

Dasselbe Mittel kann auch für die Beziehungenund für die Zeit- und Ortsbestimmungen benutzt wer-den; denn wenn ein Gegenstand in gewisser Bezie-hung etwas sein kann, so kann er es auch überhauptsein. Dasselbe gilt für die Zeit und den Ort, denn dasüberhaupt - Gültige kann es unmöglich blos in einerBeziehung oder nur für einen Ort oder eine bestimmteZeit sein. Man kann indess einwenden, dass es aller-dings von Natur gute Menschen nur in gewissen Be-ziehungen gebe, z.B. in Bezug auf Freigebigkeit oderSelbstbeherrschung, während es doch von Natur über-haupt gute Menschen nicht gebe; denn Niemand seiz.B. von Natur klug. Ebenso könne ein Vergänglicheseine Zeit lang unvergänglich sein, während es dochnicht überhaupt unvergänglich sein könne. Auchkönne eine gewisse Lebensweise an einem bestimm-ten Orte zuträglich sein, wie z.B. in ungesunden Ge-genden, während diese Lebensweise überhaupt nicht

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zuträglich sei. Ebenso könne an einem Orte nur Einesmöglich sein, während an allen Orten überhaupt die-ses Eine nicht das allein Mögliche sei. So gehöre esauch zu diesem Gesichtspunkte, dass an einem Ortees sittlich sei, dem Vater zu opfern, wie bei den Tri-ballern, während es doch überhaupt nicht sittlich sei.Indess bezieht sich dies wohl nicht gerade auf denOrt, sondern auf bestimmte Personen, gleichviel wosie sind; überall wird es für die Triballer sittlich blei-ben. Ebenso kann man sagen, es sei zu gewissen Zei-ten allerdings zuträglich, Arznei einzunehmen, sowenn man krank sei, überhaupt sei es aber nicht zu-träglich. Indess bezieht sich wohl auch dies nicht aufeine bestimmte Zeit, sondern für den in einem be-stimmten Zustand Befindlichen, da es gleich ist, wo ersich befindet, wenn er nur in dem betreffenden Zu-stande sich befindet.

Das »überhaupt« ist dann vorhanden, wenn manetwas, ohne dass noch Weiteres hinzugesetzt wird,z.B. sittlich, oder unsittlich nennt. So wird man nichtsagen, dass das Opfern des eigenen Vaters sittlich sei,sondern nur, dass dies bei gewissen Menschen sittlichsei; also ist es nicht überhaupt sittlich. Dagegen wirdman ohne Zusatz es für sittlich erklären, den Götternzu opfern, denn es ist überhaupt sittlich. Wenn alsoetwas ohne Zusatz für sittlich, oder schlecht oder fürsonst etwas der Art gilt, so kann man sagen, dass es

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überhaupt der Art ist.

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Drittes Buch

Erstes Kapitel

Ob von zwei oder mehreren Dingen eines das wün-schenswerthere oder bessere sei, ist nach folgendenGesichtspunkten zu prüfen. Ich bemerke zunächst,dass ich diese Prüfung nicht bei Dingen austeile, dieweit von einander abstehen und sehr verschieden sind(denn Niemand zweifelt, ob die Glückseligkeit demReichthume vorzuziehen sei), sondern nur bei Din-gen, die einander sehr nahe stehen und wo man zwei-felt, ob man das eine dem anderen vorziehen solle,weil man nicht sieht, dass eines das andere übertrifft.Bei diesen Dingen ist klar, dass, wenn gezeigt wor-den, dass das eine das andere in einem oder mehrerenPunkten übertrifft, man zustimmen wird, dass dasvorzuziehen sei, welches das andere übertrifft.

Zunächst ist nun das länger Dauernde und das Fe-stere vor dem in diesen Punkten Geringeren vorzuzie-hen; ebenso das, was der kluge und gute Mann oderdas richtige Gesetz vorziehen würde, oder was die fürdie einzelnen Gebiete tüchtigen Männer als solchevorziehen, oder was die in den einzelnen Gebieten Er-fahrenen, oder die Meisten oder Alle von ihnen vor-ziehen; z.B. das, was in der Heilkunst oder Baukunst

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die meisten der Aerzte oder alle von ihnen vorziehen,oder überhaupt was die Meisten oder Alle vorziehen,oder was alle Welt vorzieht, z.B. das Gute, da Allesnach dem Guten strebt. Man muss hierbei sein Au-genmerk auf den Gesichtspunkt richten, der für denvorliegenden Streitfall am brauchbarsten ist. Allge-mein besser und wünschenswerther ist das, was zueiner besseren Wissenschaft gehört und für den Ein-zelnen das, was zu seiner Wissenschaft gehört.

Ferner ist das, was als solches etwas ist, dem vor-zuziehen, was nicht zur Gattung gehört; so die Ge-rechtigkeit dem Gerechten; denn das eine gehört zurGattung des Guten, das andere nicht, und jenes ist esals Gutes, dieses aber nicht. Denn nichts gilt als Gat-tung, was nicht in der Gattung enthalten ist; so ist derweisse Mensch nicht in der Gattung der weissenFarbe enthalten. Dasselbe gilt für andere Fälle.

Auch ist das um sein selbst willen Wünschens-werthe besser, als das um eines andern willen Wün-schenswerthe, z.B. das Gesundsein besser als dasTurnen; denn jenes ist an sich wünschenswerth, diesesum eines andern willen. Ebenso ist das an sich Seien-de wünschenswerther als das Nebensächliche; z.B.dass die Freunde gerecht seien, ist wünschenswerther,als dass die Feinde gerecht seien; denn jenes ist ansich wünschenswerth, dieses nur nebenbei, denn manwünscht nur deshalb nebenbei, dass die Feinde

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gerecht seien, damit sie uns keinen Schaden zufügen.Dieser Gesichtspunkt ist derselbe, wie der vorherge-hende; er unterscheidet sich nur in der Form; denndass unsere Freunde gerecht seien, wünscht man ansich selbst, auch wenn man davon keinen Vortheilhat, und selbst wenn sie in Indien sind; dass aber dieFeinde gerecht seien, wünscht man um eines andernwillen, nämlich damit sie uns keinen Schaden zufü-gen.

Auch das, was an sich Ursache des Guten ist, istwünschenswerther, als was die Ursache desselben nurnebenbei ist; so ist die Tugend wünschenswerther alsdas Glück, denn jene ist an sich selbst die Ursache derGüter, dieses aber nur nebenbei; dasselbe gilt für an-dere Fälle. Ebenso verhält es sich mit den Gegenthei-len; denn das, was an sich Ursache des Uebels ist, istmehr zu fliehen, als was nur nebenbei Uebles verur-sacht, wie z.B. die Schlechtigkeit und der Zufall; dennjene ist an sich ein Uebel, der Zufall aber nur neben-bei.

Ebenso ist das überhaupt Gute wünschenswerther,als das, was nur für einen Einzelnen gut ist, z.B. dasGesundsein gegen das Operirt-werden; denn jenes istüberhaupt gut, dieses nur für den, der des Ope-rirt-werdens bedarf. Ebenso ist das von Natur Gutedem nicht von Natur Guten vorzuziehen, wie die Ge-rechtigkeit dem Gerechten; denn jene ist von Natur

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gut, dieses ist aber erworben. Ferner ist das dem Bes-serem und Geehrterem Einwohnende vorzüglicher, alsz.B. das dem Gotte Einwohnende gegen das demMenschen Einwohnende, oder das, was der Seele ein-wohnt gegen das, was dem Leibe einwohnt. Ebensoist das dem Bessern Eigenthümliche vorzüglicher, alsdas den Geringerem Eigenthümliche, wie z.B. dasdem Gott Eigenthümliche gegen das dem MenschenEigenthümliche; denn in Bezug auf das beiden Ge-meinsame unterscheiden sie sich nicht, sondern nur indem Eigenthümlichen übertrifft das eine das andere.Ebenso ist das in dem Besserem, oder Früherem, oderGeehrterem Enthaltene das Bessere; z.B. die Gesund-heit besser, als die Stärke und die Schönheit; denn dieGesundheit ist in dem Feuchten und Trockenen, indem Warmen und Kalten, und überhaupt in den Ele-menten, aus denen das Geschöpf besteht, enthalten;die Stärke und Schönheit aber in dem später Hinzu-kommenden; denn die Stärke ist in den Nerven undKnochen enthalten und die Schönheit scheint einEbenmass der Glieder zu sein. Auch ist der Zweckvorzüglicher als die Mittel für ihn und von diesen dasdem Zweck näher stehende Mittel vorzüglicher, alsdas entferntere. Auch ist jedes Mittel, was dem Zweckdes Lebens dient, vorzüglicher, als die Mittel für an-deres; so ist das auf die Glückseligkeit Abzweckendevorzüglicher, als das auf die Klugheit Abzweckende.

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Ebenso ist das Mögliche vorzüglicher als das Unmög-liche und von zweierlei Ausführbarem das, was einenbesseren Zweck vermittelt. Der Werth eines Mittelsgegen den Werth eines Zwecks bestimmt sich dage-gen nach dem Verhältniss, insofern der eine Zweckden andern Zweck mehr übertrifft, als der letztereZweck sein Mittel. Wenn z.B. die Glückseligkeit anWerth die Gesundheit weit mehr übertrifft, als die Ge-sundheit das, was gesund macht, so ist das Mittel,was die Glückseligkeit bewirkt, mehr werth, als dieGesundheit selbst. Denn um so viel, als die Glückse-ligkeit mehr werth ist, als die Gesundheit, um so vielüberwiegt auch das, was die Glückseligkeit bewirkt,das, was die Gesundheit bewirkt. Nun übertrifft aberdie Gesundheit ihr eigenes Mittel in geringeremMasse, und deshalb übertrifft das Mittel für dieGlückseligkeit das Mittel der Gesundheit in höheremMasse, als die Gesundheit dieses ihr Mittel übertrifft.Hieraus erhellt, dass das, was die Glückseligkeit be-wirkt, vorzüglicher ist, als die Gesundheit selbst,denn es überragt das Mittel der Gesundheit mehr, alsdie Gesundheit selbst ihr Mittel überragt.

Ferner ist das an sich Sittlichere auch ehrenvollerund lobenswerther; so die Freundschaft im Vergleichzum Reichthum und die Gerechtigkeit im Vergleichzur Stärke; denn jene sind an sich ehrenwerth und lo-benswerth, diese aber nicht an sich, sondern nur in

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Bezug auf ein Anderes; da Niemand den Reichthuman sich, sondern nur um eines Andern willen schätzt,während man die Freundschaft an sich schätzt, wennman auch nichts Anderes durch sie erlangt.

Zweites Kapitel

Wenn zwei Dinge einander sehr nahe stehen undman keine Vorzüglichkeit des einen vor dem andernherausfinden kann, so muss man auf das ihnen Beifol-gende achten; denn das, welchem ein grösseres Gutbeifolgt, ist vorzüglicher; sind das Beifolgende aberUebel, so ist dasjenige das vorzüglichere, welchemdas geringere Uebel beifolgt; denn wenn auch beideDinge wünschenswerth sind, so kann ihnen doch Un-angenehmes beifolgen. Diese Beifolge ist aber inzweifacher Richtung zu beachten, denn Manches gehtvoraus, Anderes folgt erst nach; so ist mit dem Ler-nenden die Unwissenheit vorher verbunden, abernachher folgt das Wissen. Meistentheils ist die spä-tere Folge die bessere. Bei den Erörterungen mussman diejenige Folge wählen, welche dafür am bestenzu verwenden ist.

Mehrere Güter sind vorzüglicher, als wenigereGüter, entweder überhaupt, oder auch wenn die einenin den anderen enthalten sind; d.h. die wenigeren in

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den mehreren. Eine Ausnahme ist da vorhanden, wodas eine um des andern willen gewünscht wird; dennda sind beide nicht wünschenswerther, als das eineallein, um dessentwillen das andere gewünscht wird;so ist das Geheiltwerden und die Gesundheit nichtvorzüglicher, als letztere allein, da man das Geheilt-werden nur der Gesundheit wegen wünscht. SelbstUebel können wünschenswerther sein als Güter, z.B.die Glückseligkeit in Verbindung mit einem Uebel inVergleich zur Gerechtigkeit und Tapferkeit. Ferner istderselbe Gegenstand, wenn mit Lust verbunden, wün-schenswerther, als ohne Lust und derselbe Gegen-stand ohne Schmerzen wünschenswerther als mitSchmerzen.

Ferner ist jedes Ding zu der Zeit, wo damit dasMeiste geleistet werden kann, am wünschenswerthe-sten; so ist die Freiheit von Kummer im Alter wün-schenswerther als in der Jugend, da diese Freiheit imAlter mehr zu leisten vermag; deshalb ist auch dieKlugheit im Alter wünschenswerther, denn Niemandwählt sich junge Leute zu Führern, weil er ihre Klug-heit nicht hoch stellt. Mit der Tapferkeit verhält essich umgekehrt, denn die Geltendmachung der Tapfer-keit ist in der Jugend nöthiger; ebenso ist es mit derSelbstbeherrschung, da die jüngeren Leute mehr alsdie älteren von den Leidenschaften beunruhigt wer-den.

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Auch ist das wünschenswerther, was zu jeder Zeitoder doch die meiste Zeit das Nützlichere ist; deshalbist die Gerechtigkeit und die Selbstbeherrschung vor-züglicher, als die Tapferkeit, da jene immer, dieseaber nur zu Zeiten nützlich ist. Auch das istwüschenswerther, wo, wenn Alle es besitzen, mannichts weiter braucht, gegen das, wo, wenn es auchAlle haben, man doch noch anderes braucht; wie z.B.die Gerechtigkeit im Vergleich zur Tapferkeit; dennwenn Alle gerecht sind, braucht man die Tapferkeitnicht; aber wenn auch Alle tapfer sind, bleibt doch dieGerechtigkeit noch nöthig.

Auch bestimmt sich die Vorzüglichkeit nach demUntergang oder Verlust und nach dem Entstehen, oderErlangen, und deren Gegentheilen. Dinge, deren Un-tergang mehr zu vermeiden ist, sind vorzüglicher.Dasselbe gilt von deren Verlust und von deren Gegen-theilen. Dinge, deren Verlust oder deren Gegentheilmehr zu vermeiden ist, sind selbst wünschenswerther,als solche, deren Verlust weniger zu vermeiden ist.Mit dem Entstehen und Erlangen verhält es sich um-gekehrt; Dinge, deren Erlangung oder Entstehungwünschenswerther ist, sind selbst wünschenswerther.

Ein anderer Gesichtspunkt ist der, wonach das demGuten Nähere besser und wünschenswerther ist, alsdas Entferntere. Dasselbe gilt für das dem GutenAehnlichere, wie z.B. für die Gerechtigkeit im

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Vergleich zu dem Gerechten. Auch dasjenige vonzweien, was einem Besseren ähnlicher ist, als das an-dere, ist vorzüglicher; deshalb gilt bei Manchen derAjax für besser als der Odysseus; weil jener demAchilles ähnlicher ist. Indess lässt sich dagegen ein-wenden, dass dies nicht richtig ist; denn Ajax kanngerade in dem Punkte, wo Achilles der Beste ist, ihmnicht ähnlicher sein, während Odysseus gut ist, undnur dem Achilles nicht ähnlich. Man muss also auchprüfen, ob die grössere Aehnlichkeit nicht eine lächer-liche Eigenschaft betrifft, wie dies bei dem Affen inBezug auf den Menschen der Fall ist, während dasPferd vorzüglicher als der Affe ist, obgleich es demMenschen nicht ähnlich ist; denn der Affe ist nichtbesser als das Pferd, obgleich er dem Menschen ähnli-cher ist. Wenn ferner von zwei Dingen das eine demBesseren, das andere dem Geringeren ähnlicher ist, sowird das dem Besserem Aehnlichere das besseregegen das andere sein. Indess lässt sich auch hierge-gen ein Einwurf erheben; denn das eine kann demBesseren nur wenig ähnlich sein, das andere aber demGeringeren sehr ähnlich; wie z.B. Ajax dem Achillesnur wenig ähnlich, Odysseus aber dem Hektor sehrähnlich war. Dies gilt auch dann, wenn das eine, wasdem Bessern ähnlich ist, ihm nur in seinen schlechtenEigenschaften ähnlich ist, während das dem Geringe-ren Aehnliche es in seinen besseren Eigenschaften ist,

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wie z.B. das Pferd dem Maulesel und der Affe demMenschen.

Einen anderen Gesichtspunkt bietet das Hervorra-gendere; es ist vorzüglicher als das weniger Hervorra-gende; ebenso das Schwierigere; denn man hat dasje-nige lieber, was schwerer zu erlangen ist. Ebenso istdas Eigenthümliche dem Gemeinsamen vorzuziehen;ebenso das, was weniger ein Gemeinsames mit demSchlechten ist; denn dasjenige ist wünschenswerther,welchem keine Unannehmlichkeit folgt, als das, demsolche folgt.

Wenn ferner eine Gattung überhaupt besser ist, alsdie andere, so ist auch das Beste in jener besser, alsdas Beste in dieser. Ist z.B. der Mensch überhauptbesser, als das Pferd, so ist auch der beste Menschbesser, als das beste Pferd. Ferner ist, wenn das Bestein einer Gattung besser ist, als das Beste in einer an-deren Gattung, auch jene Gattung überhaupt besserals diese; ist z.B. der beste Mensch besser als dasbeste Pferd, so ist auch der Mensch überhaupt besserals das Pferd.

Ferner ist das vorzüglicher, an dem die FreundeTheil nehmen können, gegen das, wo dies nicht derFall ist. Ebenso das, was man lieber seinem Freundegethan wünscht, als dem, welchen man gerade trifft.So ist das Gerecht-handeln und Gutes-thun wün-schenswerther, als nur so zu scheinen, als thäte man

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es; denn man will den Freunden lieber wirklich Guteserweisen, als nur so scheinen, während in Bezug aufdie, welche man gerade trifft, das Umgekehrte gilt.

Auch das über das Nothwendige hinaus Gehendeist besser, als das Nothwendige und manchmal auchwünschenswerther; denn das Wohl-Leben ist besser,als das Leben; jenes geht über das Nothwendige hin-aus, während das Leben an sich nur zu dem Nothwen-digen gehört. Mitunter ist indess das Bessere nichtauch das Wünschenswerthere. Denn wenn es auchbesser ist, so ist es deshalb doch nicht nothwendigund nicht wünschenswerther. So ist die Beschäftigungmit der Philosophie besser als das Geldsammeln, aberfür den, dem es am Nothwendigen gebricht, ist esnicht das wünschenswerthere; da jene Thätigkeit zudem Ueberfluss gehört, wo das Nothwendige schonvorhanden ist und wo man etwas von den edlen Be-schäftigungen sich noch hinzu verschaffen will. So-nach dürfte das Nothwendige wohl das Wünschens-werthe, das darüber Hinausgehende aber das Besseresein.

Auch ist das vorzüglicher, was nicht durch Andereserreicht werden kann, gegen das auch durch AnderesErreichbare; wie z.B. es bei der Gerechtigkeit gegendie Tapferkeit statt findet. Ferner wenn Etwas ohneein Anderes wünschenswerth ist, aber ein Zweitesnicht ohne ein Anderes; so ist die Macht ohne die

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Klugheit nicht wünschenswerth, wohl aber die Klug-heit ohne die Macht. Wenn man ferner von zwei Din-gen das eine verleugnet, damit es scheine, dass mandas zweite besitze; dann ist letzteres das wünschens-werthere; so verleugnet man die schwere Arbeit,damit man für eine Person von vornehmem Stande ge-halten werde.

Ferner ist das, dessen Abwesenheit beklagt wird,wünschenswerther, wenn diese Klage weniger ta-delnswerth ist, und ebenso ist dasjenige wünschens-werther, bei dem es tadelnswerther ist, dass man sichüber dessen Abwesenheit nicht beklagt.

Drittes Kapitel

Wenn ferner von zwei Dingen derselben Art daseine die ihm eigenthümliche Güte hat, so ist es wün-schenswerther, als das, welches sie nicht hat; undwenn beide sie haben, das, welches sie in höheremGrade hat.

Wenn ferner das eine, das, welchem es einwohnt,gut macht, und das andere dies nicht thut, so ist jeneswünschenswerther; wie auch das Warme mehr wärmt,als das Nicht-Warme. Und wenn beide wirksam sind,so ist das wirksamere vorzuziehen; oder das, welchesden bessern und hauptsächlicheren Gegenstand gut

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macht, wie z.B. das, welches die Seele gut macht,gegen das, welches den Körper gut macht.

Ferner gilt dieser Vorzug der bessern Sache auchvon den danach beinamig bezeichneten Dingen undvon dem Gebrauch derselben, sowie von den daraufbezüglichen Handlungen und Worten, und soweitdiese vorzüglicher sind, ist es auch die Sache; denndiese Sätze gelten auch umgekehrt; ist z.B. das Ge-recht-handeln vorzüglicher als das Tapfer-handeln, soist auch die Gerechtigkeit vorzüglicher, als die Tap-ferkeit, und ist die Gerechtigkeit vorzüglicher, als dieTapferkeit, so geht auch das Gerecht-handeln demTapfer-handeln vor. So ziemlich dasselbe gilt auch inandern Fällen.

Wenn ferner für denselben Gegenstand das eine eingrösseres Gut ist, als das andere, so ist jenes vorzüg-licher, und ebenso das, was für einen bedeutenderenGegenstand gut ist, als das, was für einen geringerengut ist. Auch wenn zwei Güter für denselben Gegen-stand beide wünschenswerther sind, als ein drittes, soist von jenen beiden das wünschenswerther, was inBezug auf das dritte wünschenswerther ist, als das an-dere. Wenn ferner das Uebermass bei einem Gegen-stande vorzüglicher ist, als das Uebermass bei einemandern, so ist auch der Gegenstand dort vorzüglicher,als hier; z.B. die Freundschaft gegen das Vermögen;denn das Uebermass in der Freundschaft ist

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wünschenswerther, als das im Vermögensbesitz.Ebenso wenn man lieber selbst Etwas sich verschaf-fen mag, als dass es ein Anderer uns verschafft; des-halb sind Freunde mehr werth, als Geld.

Auch aus der Hinzufügung ist das Vorzüglichereabzuleiten, wenn die Hinzufügung des einen dasGanze vorzüglicher macht, als der Zusatz des andern.Man darf dies jedoch nicht auf die Fälle ausdehnen,wo der Gegenstand das eine Hinzugefügte mit be-nutzt, oder dasselbe ihm sonst behülflich ist, aber dasandere, wenn es hinzugefügt wird, nicht zu benutzenist und nichts hilft, wie z.B. die Säge und die Sichelin Verbindung mit der Zimmermannskunst; für dieseKunst ist die Verbindung mit der Säge wünschens-werther als die Verbindung mit der Sichel; allein des-halb ist die Säge nicht überhaupt wünschenswertherals die Sichel. Ebenso ist es, wenn ein Zusatz zu demgeringeren Gegenstande ihn zu dem bessern macht.Dasselbe, wie für die Hinzufügung, gilt auch für dieHinwegnahme. Wenn das von einem GegenstandeHinweggenommene ihn geringer macht, als die Hin-wegnahme eines Andern, so ist jenes Weggenommenedas Grössere, da es den Ueberrest zu dem Kleinernmacht.

Vorzüglicher ist ferner das, was an sich wün-schenswerth ist gegen das, was es nur der Meinungnach ist; z.B. die Gesundheit gegen die Schönheit.

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Eine solche Meinung für einen Gegenstand ist darankenntlich, dass man sich um den Gegenstand nichtmehr bemüht, wenn es Niemand bemerkt. Vorzügli-cher sind ferner die Dinge, die sowohl an sich, als derMeinung wegen wünschenswerth sind, gegenüberdenen, die es blos in einer dieser Rücksichten sind.Ebenso ist das vorzüglicher und besser, was mehr umsein selbst willen geachtet wird. An sich achtungs-werther ist nämlich das, was man auch, wenn sonstnichts weiter vorhanden wäre, doch um sein selbstwillen wählen würde.

Auch muss man die mehrfachen Bedeutungen undBeziehungen unterscheiden, weshalb etwas als wün-schenswerth gilt; so kann es um des Nutzens, oder umdes Sittlichen oder um des Angenehmen willen ge-schehen. Das, was in allen diesen Beziehungen oderin mehreren derselben wünschenswerth ist, ist es mehrals das, wo dies nicht in dem Masse der Fall ist.Wenn aber dieselbe entscheidende Beschaffenheit fürmehrere Dinge gilt, so muss man sehen, in welchemsie mehr enthalten ist, und ob es das angenehmere,oder das sittlichere, oder das nützlichere ist. Auchwegen des Besseren hat man etwas vorzuziehen, soz.B. geht das der Tugend wegen Wünschenswerthedem vor, was man der Lust wegen wünscht. Ebensobestimmt sich das, was man vermeiden muss; dasjeni-ge, was dem Wünschenswerthen hinderlicher ist, ist

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mehr zu vermeiden; so die Krankheit mehr als dieHässlichkeit; denn die Krankheit hindert mehr am An-genehmen und Sittlichen.

Auch wenn dargelegt worden, dass etwas gleichsehr zu fliehen, wie zu begehren ist, so ist ein solchesweniger wünschenswerth, als das, was blos zu begeh-ren ist.

Viertes Kapitel

Die Vergleichungen mehrerer Gegenstände inBezug auf deren Vorzüglichkeit sind also in der be-sagten Weise vorzunehmen. Dieselben Gesichtspunk-te sind aber auch für die Frage benutzbar, welche Ge-genstände überhaupt wünschenswerth oder zu vermei-den sind; man hat dann nur das Uebermass des einenGegenstandes über den anderen wegzulassen. Istnämlich das Geehrtere mehr zu wählen, so ist das Ge-ehrte zu wählen, und ist das Nützlichere mehr zuwählen, so ist das Nützliche zu wählen. In dieserWeise verhält es sich mit Allem, was eine solche Ver-gleichung gestattet. Bei manchen Gegenständen er-giebt sich sofort aus deren Vergleichung, dass entwe-der beide oder das eine wünschenswerth sind, z.B.wenn das eine von Natur gut und das andere nicht vonNatur als gut gilt; denn es ist klar, dass das von Natur

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Gute vorzuziehen ist.

Fünftes Kapitel

Die Gesichtspunkte in Bezug auf das Mehr oderWeniger sind möglichst allgemein zu nehmen, dannkann man sie für mehr Fälle benutzen. Man kann vonden erwähnten Gesichtspunkten manche allgemeinermachen wenn man den Ausdruck ein wenig verändert,so ist z.B. das von Natur so Beschaffene mehr so be-schaffen, als das nicht von Natur so Beschaffene.Wenn ferner das Eine den Gegenstand, dem es ein-wohnt, zu einem von solcher Beschaffenheit macht,als es selbst ist und das Andere dieses nicht bewirkt,so ist jenes mehr von solcher Beschaffenheit, als dasandere; wenn aber beide es bewirken, so ist dasjenigemehr von solcher Beschaffenheit, welches den Gegen-stand mehr zu einem von solcher Beschaffenheitmacht.

Wenn ferner in Vergleich mit demselben Gegen-stande das eine mehr, das andere weniger von solcherBeschaffenheit ist, oder wenn das eine mehr von derBeschaffenheit ist, als der Gegenstand, das andereaber nicht von dieser Beschaffenheit, so ist offenbardas erstere mehr von dieser Beschaffenheit, als dasandere.

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Dasselbe gilt bei der Hinzufügung für das, was,wenn einem Gegenstand hinzugefügt, denselben mehrzu einen von solcher Beschaffenheit macht, als dasandere; oder wenn es einem Gegenstande von geringe-rer solcher Beschaffenheit hinzugefügt, denselben zueinem von grösserer solcher Beschaffenheit macht, alsdas andere den seinigen. Ebenso verhält es sich mitder Wegnahme. Wenn durch Wegnahme des einen derRest des Gegenstandes weniger von derselben Be-schaffenheit behält, als durch die Wegnahme des an-dern, so ist ersteres mehr von solcher Beschaffenheit.Wenn ferner von zweien das eine mit seinem Gegen-theil sich weniger vermischt, als das andere, so istseine Beschaffenheit mehr eine solche, als die des an-deren; so ist z.B. das Weisse, was sich weniger mitdem Schwarzen vermischt, deshalb mehr weiss. Auchdas, was neben dem früher Gesagten für den, demvorliegenden Gegenstand eigenthümlichen Begriffempfänglicher ist, ist ein Mehr in seiner Art; wennz.B. der Begriff des Weissen die durch das Gesichtunterscheidbare Farbe ist, so ist dasjenige mehr weiss,was mehr die durch das Gesicht unterscheidbareFarbe ist.

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Sechstes Kapitel

Wenn ein Streitsatz nicht als ein allgemeiner, son-dern als ein beschränkter aufgestellt ist, so können zu-nächst alle jene bisher genannten allgemeinen Ge-sichtspunkte sowohl für die Begründung wie für dieWiderlegung desselben benutzt werden. Denn beweistoder widerlegt man einen Satz allgemein, so gilt diesauch für den beschränkten Satz, da, wenn eine Be-stimmung in allen Einzelnen enthalten ist, sie auch ineinigen enthalten ist, und da, wenn sie in keinem Ein-zelnen enthalten, sie auch nicht in einigen enthaltenist. Am meisten passend und für die meisten Fällebrauchbar sind die Gesichtspunkte, welche aus denGegensätzen oder den verwandten Begriffen oder ausder Beugung der Worte entnommen werden. Dennman kann mit gleicher Wahrscheinlichkeit behaupten,dass, wenn jede Lust gut ist, jeder Schmerz schlechtist, und dass, wenn eine einzelne Lust gut ist, dannein einzelner Schmerz schlecht ist. Wenn ferner eineinzelnes Wahrnehmen kein Vermögen ist, so ist auchein einzelnes Nicht-wahrnehmen kein Unvermögen,und wenn ein einzelnes Vorgestelltes ein Gewusstesist, so ist auch die Vorstellung ein Wissen. Ferner ist,wenn ein einzelnes Ungerechtes ein Gutes ist, auchein einzelnes Gerechtes ein Schlechtes; und wenn von

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den gerecht Geschehenen eines schlecht ist, so istauch von den ungerecht Geschehenen eines gut. Istferner von dem Angenehmen ein Einzelnes zu vermei-den, so ist auch eine Lust zu vermeiden und ebensoist, wenn von dem Angenehmen etwas nützlich ist,auch eine Lust nützlich. Ebenso verhält es sich mitdem Zerstörenden, sowie mit dem Entstehen und mitdem Untergange. Denn wenn etwas, was die Lust oderdas Wissen zerstört, gut ist, so wird auch eine ge-wisse Lust oder ein gewisses Wissen ein Uebel sein.Wenn ferner der Untergang eines bestimmten Wissenszu dem Guten gehört, oder das Entstehen desselbenzu den Uebeln, so wird auch ein solches Wissen zuden Uebeln gehören; ist z.B. das Vergessen dessen,was man Schlechtes gethan hat, ein Gut und dasIm-Gedächtniss-Behalten des Schlechten ein Uebel,so wird auch das Wissen dessen, was man Schlechtesgethan hat, zu den Uebeln gehören. Ebenso verhält essich mit den übrigen Gesichtspunkten; denn dieGlaubwürdigkeit ist bei allen diesen Annahmen diegleiche.

Auch die auf dem Mehr oder Weniger oder auf derAehnlichkeit beruhenden Gesichtspunkte sind für be-schränkte Sätze benutzbar. Denn wenn das zu einerGattung Gehörige mehr von einer gewissen Beschaf-fenheit sein würde, als das zu einer anderen GattungGehörige, aber dennoch keines in jener Gattung von

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dieser Beschaffenheit ist, so kann auch das zu der an-deren Gattung Gehörige nicht von dieser Beschaffen-heit sein. Wenn z.B. eine gewisse Wissenschaft mehrals eine gewisse Lust ein Gut sein würde, aber den-noch jene Wissenschaft kein Gut ist, so wird auchjene Lust kein Gut sein. Ebenso kann man die Aehn-lichkeit und das Geringerere benutzen. Diese Ge-sichtspunkte passen sowohl zum Widerlegen wie wiezum Vertheidigen; doch kann nur aus der Aehnlich-keit Beides geschehen, das Weniger kann dagegen nurzum Begründen, aber nicht zum Widerlegen benutztwerden. Denn wenn Wissenschaft und Kraft in Bezugauf das Gut-sein einander ähnlich sind, und wenn eineKraft wirklich ein Gutes ist, so ist auch die Wissen-schaft ein solches; ist aber keine Kraft ein Gutes, soist es auch keine Wissenschaft. Ist aber eine Kraft we-niger ein Gutes als eine Wissenschaft, und ist eineKraft doch ein Gutes, so wird auch eine Wissenschaftes sein. Ist dagegen in solchem Falle keine Kraft einGutes, so ist deshalb nicht nothwendig, dass auch dieWissenschaft kein Gutes sei. Hieraus erhellt, dassman die Folgerung aus dem Weniger nur für das Be-gründen benutzen kann.

Zur Widerlegung bedarf man aber nicht immer eineandere Gattung, sondern man kann auch aus ein undderselben Gattung das dazu benutzen, was am mei-sten ein solches ist. Ist z.B. der Satz aufgestellt, dass

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eine Wissenschaft ein Gut sei, und ist gezeigt worden,dass die Klugheit kein Gut ist, so wird es auch keineandere Wissenschaft sein, da die, welche am meistenals ein Gut erscheint, es nicht ist. Auch kann, wenn eszuvor ausgemacht ist, man daraus, dass etwas ineinem Gegenstande enthalten oder nicht enthalten ist,darlegen, dass es in allen oder in keinem enthalten;z.B., wenn ausgemacht ist, dass, wenn die Seele desMenschen unsterblich ist, es auch die anderen Seelenseien, und wenn jene es nicht ist, auch die anderen esnicht sein. Ist sonach behauptet, dass Etwas in Einementhalten sei, so muss man zeigen, dass es in Einemdieser Art nicht enthalten, denn dann wird vermögeder Uebereinkunft folgen, dass es in keinem dieser Artenthalten ist. Wird aber behauptet, dass Etwas inEinem nicht enthalten sei, so muss man zeigen, dasses in Einem dieser Art enthalten ist; denn es wird sichdann ebenso ergeben, dass es in Allen enthalten ist.Es erhellt, dass durch solche Uebereinkunft der be-schränkt aufgestellte Satz zu einem allgemeinen ge-macht wird; denn man fordert, dass der Gegner das,was er beschränkt zugesteht, allgemein zugestehensolle, da man setzt, dass, wenn es in Einem enthalten,es dann in Allen enthalten sein müsse.

Ist der Streitsatz unbestimmt aufgestellt, so lässt ersich nur in einer Art widerlegen; z.B. wenn behauptetwird, dass die Lust ein Gut oder dass sie kein Gut sei,

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und dieser Satz nicht näher bestimmt wird. Wäre be-hauptet, dass eine Lust ein Gut sei, so muss man all-gemein zeigen, dass keine Lust ein Gut sei, wenn manden aufgestellten Satz widerlegen will. Ebenso mussman, wenn behauptet worden, dass eine Lust kein Gutsei, allgemein zeigen, dass jede Lust ein Gut sei; inanderer Weise lässt sich die Widerlegung nicht füh-ren; denn wenn man nur gezeigt hat, dass eine Lustein Gut oder kein Gut sei, so ist damit der aufgestellteSatz nicht widerlegt. Hieraus erhellt, dass die Wider-legung nur auf eine Art geschehen kann. Die Begrün-dung kann aber auf zweierlei Art geschehen. Hat mannämlich allgemein gezeigt, dass jede Lust ein Gut sei,oder auch nur, dass eine Lust ein Gut sei, so ist derunbestimmt aufgestellte Satz bewiesen. Dasselbe gilt,wenn man zeigen will, dass eine Lust kein Gut sei;man wird dann, wenn man gezeigt hat, dass keineLust ein Gut sei, oder dass eine Lust kein Gut sei, injeder dieser Weisen, also entweder allgemein oder be-schränkt bewiesen haben, dass eine Lust kein Gut ist.Macht aber der aufgestellte Satz selbst einen Unter-schied, so kann man ihn in zweifacher Art widerlegen.Wird z.B. behauptet, dass die eine Lust ein Gut seiund die andere kein Gut, so wird sowohl durch denBeweis, dass jede Lust ein Gut ist, wie durch den,dass keine ein Gut ist, der aufgestellte Satz widerlegt.Ist aber behauptet, dass nur eine Lust ein Gut sei, so

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kann man auf dreifache Weise den Satz widerlegen;denn zeigt man, dass entweder jede Lust ein Gut ist,oder dass keine ein Gut ist oder dass mehr als eine essind, so wird der Satz widerlegt sein. Lautet endlichder Satz noch bestimmter, z.B. dass die Klugheit al-lein von den Tugenden eine Wissenschaft sei, so kanndie Widerlegung in vierfacher Weise geschehen; mankann zeigen, dass jede Tugend eine Wissenschaft sei,oder dass keine eine solche sei, oder dass eine ande-re, z.B. die Gerechtigkeit eine Wissenschaft sei, oderendlich dass die Klugheit selbst keine Wissenschaftsei; und man wird in jedem dieser Fälle den Satz wi-derlegt haben.

Es ist auch nützlich, dass man auf die Einzelnenachte, in denen das Ausgesagte enthalten oder nichtenthalten sein soll, wie dies schon bei den allgemei-nen Sätzen dargelegt worden ist. Auch bei den Gat-tungen muss man, wie ich schon gesagt habe, aufmer-ken und deren Arten bis zu deren nicht weiter theilba-ren Arten verfolgen; denn mag behauptet sein, dassetwas in allen oder in keinen enthalten sei, so kannimmer der, welcher vieles Einzelne dafür beigebrachthat, verlangen, dass entweder der Satz allgemein zu-gestanden werde, oder dass der Gegner Fälle, wo essich nicht so verhalte, vorbringe. Bei Sätzen, wo dasdem Gegenstande beigelegte Nebensächliche sich inArten oder in Einzelne sondern lässt, muss man

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prüfen, ob eines davon etwa nicht in dem Gegenstan-de enthalten ist; so hat man z.B. bei dem Satze, dassdie Zeit sich nicht bewege und auch keine Bewegungsei, die verschiedenen Arten der Bewegung durchzu-gehen; ist keine derselben in der Zeit enthalten, so istklar, dass die Zeit sich nicht bewegt, und auch keineBewegung ist. Ebenso hat man bei dem Satze, dassdie Seele keine Zahl sei, die Zahlen in die geradenund ungeraden einzutheilen; findet sich nun, dass dieSeele weder gerade noch ungerade ist, so ist klar, dasssie keine Zahl ist.

In Bezug auf das nebensächlich den GegenständenBeigelegte hat man also nach solchen Gesichtspunk-ten und in dieser Weise bei Begründung oder Wider-legung aufgestellter Sätze zu verfahren.

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Viertes Buch

Erstes Kapitel

Ich habe nunmehr die Untersuchung der Gesichts-punkte vorzunehmen, welche bei der Gattung oder beieiner Eigenthümlichkeit zu benutzen sind. Beide bil-den die Unterlagen für die Gesichtspunkte bei denDefinitionen, obgleich bei den Disputationen die Un-tersuchung selten auf die Gattung und das Eigenthüm-liche gerichtet wird.

Wenn man nun über die Gattung eines seiendenGegenstandes etwas behaupten will, so muss man zu-nächst auf alles diesem Gegenstande ZugehörigeRücksicht nehmen und sehen, ob die Gattung voneinem ihm Zugehörigen nicht ausgesagt werden kann,wie dies bei nebensächlichen Bestimmungen aller-dings der Fall sein kann. Ist z.B. das Gute als dieGattung der Lust aufgestellt worden, so prüfe man, obes eine Lust giebt, die nicht gut ist; findet sich einesolche, so ist klar, dass das Gute nicht die Gattung fürdie Lust sein kann, da die Gattung von allen zu ihrgehörenden Arten ausgesagt wird. Sodann prüfe man,ob das Ausgesagte etwa nicht zu dem Was des Gegen-standes gehört, sondern ein Nebensächliches ist, wiez.B. das Weisse beim Schnee und das

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Sich-selbst-Bewegen bei der Seele. Denn der Schneeist nicht das, was das Weiss ist, und deshalb auch dasWeiss nicht die Gattung des Schnees, und die Seeleist nicht das, was das sich selbst Bewegende ist, son-dern es trifft sich nur so, dass sie sich bewegt, wie esdem Geschöpf nebensächlich ist, dass es geht und ge-hend ist. Auch ist das Sich-Bewegen kein Was, son-dern es bezeichnet nur ein Thun oder Leiden, und das-selbe gilt für das Weiss, denn es giebt nicht an, wasder Schnee ist, sondern nur eine Beschaffenheit des-selben; so dass also Beides nicht als ein Was des Ge-genstandes ausgesagt wird.

Vorzüglich muss man hierbei die Definition desNebensächlichen im Auge behalten und prüfen, ob sieauf das als Gattung Angegebene passt, wie dies inden vorhin genannten Beispielen der Fall ist; denn eskann ein Gegenstand sich sowohl bewegen, wie nichtbewegen und ebenso weiss und nicht weiss sein. Des-halb ist keine dieser Bestimmungen die Gattung, son-dern nur ein Nebensächliches, indem letzteres darinbesteht, dass es in einem Gegenstande enthalten undauch nicht enthalten sein kann.

Dasselbe gilt, wenn Gattung und der Gegenstandnicht zu derselben Kategorie gehören, sondern daseine ein selbstständiges Ding, das andere eine Be-schaffenheit ist, oder das eine eine Beziehung, das an-dere eine Beschaffenheit; so ist z.B. der Schnee und

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der Schwan ein selbstständiges Ding, das Weiss istaber kein solches, sondern eine Beschaffenheit; des-halb kann das Weiss nicht die Gattung vom Schneeund auch nicht vom Schwan sein. Ebenso ist die Wis-senschaft eine Beziehung, das Gute und das Schöneaber eine Beschaffenheit; deshalb kann das Gute undSchöne nicht die Gattung von der Wissenschaft sein;denn die Gattungen der Beziehungen müssen selbstBeziehungen sein, wie z.B. bei dem Doppelten; denndas Vielfache, was die Gattung von jenem ist, istselbst eine Beziehung. Allgemein ausgedrückt müssenGattung und Gegenstand oder Art zu derselben Kate-gorie gehören; ist also die Art ein Ding, so muss esauch die Gattung sein, und ist die Art eine Beschaf-fenheit, so muss es auch dessen Gattung sein; ist z.B.das Weiss eine Beschaffenheit, so ist es auch dieFarbe, und dasselbe gilt für die übrigen Kategorien.

Ferner muss man prüfen, ob nothwendiger Weiseoder möglicher Weise das, was als die Art einer Gat-tung aufgestellt worden, an dieser Gattung theilneh-men kann. Das Kennzeichen für dieses Theilnehmenist es, wenn die Gattung den Begriff des Theilneh-menden annehmen kann. Nun ist aber klar, dass dieArten an der Gattung Theil nehmen, aber die Gattun-gen nicht an ihren Arten; denn die Art nimmt den Be-griff ihrer Gattung an, aber die Gattung nicht den Be-griff ihrer Arten. Man hat also zu prüfen, ob etwa die

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in dem Satz angegebene Gattung an ihrer Art Theilnimmt, oder doch Theil nehmen könnte; z.B. wennjemand von etwas als dessen Gattung das Seiendeoder die Eins angäbe; denn dann wäre dies ein Fall,wo die Gattung an der Art Theil nähme, weil vonjedem Seienden das Seiende und die Eins ausgesagtwird, also auch der Begriff desselben.

Ferner muss man prüfen, ob die angegebene Artzwar in Bezug auf einen Gegenstand sich als richtigerweist, aber nicht die Gattung; z.B. wenn das Seien-de oder das Wissbare als Gattung des Gemeinten an-gegeben wird; denn das Gemeinte kann auch von demNicht-Seienden ausgesagt werden, da vielesNicht-Seiende doch gemeint wird. Nun ist aber klar,dass das Seiende und das Wissbare von dem Nicht-Seienden nicht ausgesagt werden kann; daher istweder das Seiende noch das Wissbare die Gattungvon dem Gemeinten; denn von Allem, von welchendie Art ausgesagt wird, muss auch die Gattung ausge-sagt werden können.

Ferner hat man zu prüfen, ob das, was als zu derGattung gehörig behauptet worden, dennoch an keinerihrer Arten Theil nehmen kann; denn das, was an kei-ner Art einer Gattung Theil nehmen kann, kann auchnicht zur Gattung gehören, es müsste denn eine vonden am nächsten stehenden Arten sein, welche nichtan den Arten, sondern nur an der Gattung Theil

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nehmen. Wird z.B. die Bewegung als die Gattung derLust behauptet, so muss man prüfen, ob die Lust etwakeine Ortsbewegung und keine Veränderung ist undauch keine von den sonst angenommenen Arten derBewegung. Ist dies der Fall, so erhellt, dass die Lustan keiner Art von Bewegung Theil nimmt, also auchnicht an der Bewegung als Gattung, da nothwendigerWeise das, was an der Gattung Theil nimmt, auch aneiner ihrer Arten Theil nehmen muss. Deshalb würdedann die Lust weder zu einer Art der Bewegung gehö-ren, noch zu einem Einzelnen, welches einer Art derBewegung angehört. Denn auch das Einzelne nimmtan der Art und der Gattung Theil; so nimmt z.B. die-ser einzelne Mensch sowohl an der Art: Mensch, wiean der Gattung: Geschöpf Theil.

Ferner muss man prüfen, ob die in eine Gattung ge-stellte Art sich weiter als diese Gattung erstreckt, wiez.B. wenn das Gemeinte als eine Art des Seienden be-hauptet wird; denn das Gemeinte befasst ebenso dasNicht-Seiende, wie das Seiende; es kann deshalb nichteine Art von dem Seienden sein, denn die Gattung er-streckt sich immer weiter als die Art. Ferner mussman prüfen, ob die Art und die Gattung gleichen Um-fang haben und von denselben Gegenständen ausge-sagt werden, wie z.B. das Seiende und das Eine; dennjedwedem Gegenstande kommt das Seiende und dasEine zu, deshalb kann von letzteren beiden keines die

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Gattung des anderen sein, da sie von denselben Din-gen in gleicher Weise ausgesagt werden. Ebensowürde es sein, wenn man das Erste und das Anfan-gende als Art und Gattung von einander behauptenwollte; denn das Anfangende ist das Erste und dasErste ist das Anfangende; deshalb sind entwederbeide nur ein und dieselbe Gattung, oder keines ist dieGattung des anderen. Der letzte Grund für alles diesist, dass die Gattung mehr befasst, als die Art und derArt-Unterschied; denn auch der Art - Unterschiedwird von weniger Gegenständen als die Gattung aus-gesagt.

Auch muss man sehen, ob von einem, der Art nachnicht verschiedenen Gegenstande die angegebene Gat-tung nicht gilt, oder der Meinung nach nicht gilt; willman aber selbst etwas begründen, so muss man sehen,ob von einem solchen die Gattung gilt; denn für alles,was sich der Art nach nicht unterscheidet, ist die Gat-tung dieselbe. Ist bei einem von solchen der Art nachgleichen Gegenständen gezeigt, dass die Gattung vonihm ausgesagt werden kann, so gilt dies dann für allederselben Art, und ist bei einem Gegenstande gezeigt,dass die Gattung nicht für ihn gilt, so gilt sie für kei-nen Gegenstand dieser Art. Wenn z.B. von den Linienjemand behauptet, dass sie nicht weiter in Arten theil-bar seien und deshalb behauptet, dass das Untheilbareihre Gattung sei, so steht dem entgegen, dass die

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Linien sich eintheilen lassen und deshalb ist das Unt-heilbare nicht ihre Gattung, wenn auch die Arten derLinien nicht weiter theilbar sind; da z.B. alle geradenLinien einander der Art nach sämmtlich gleich sind.

Zweites Kapitel

Auch muss man prüfen, ob für die aufgestellte Artnoch eine andere Gattung besteht, welche weder überder angegebenen Gattung, noch unter ihr steht; z.B.wenn jemand für die Gerechtigkeit die Wissenschaftals Gattung behauptete; denn auch die Tugend ist ihreGattung und keine von diesen beiden Gattungen stehtüber oder unter der anderen; deshalb kann die Wis-senschaft nicht wohl die Gattung der Gerechtigkeitsein, da, wenn dieselbe Art unter zwei Gattungensteht, die eine Gattung über der anderen stehen muss.Indess treten hier in einigen Fällen Bedenken hervor;denn Manche halten die Klugheit sowohl für eine Tu-gend, wie für eine Wissenschaft, und meinen, dasskeine dieser Gattungen unter der anderen stehe; indesswird doch nicht allgemein anerkannt, dass die Klug-heit eine Wissenschaft sei. Will man indess jener An-sicht beitreten, so wird man doch nothwendig anneh-men müssen, dass mehrere Gattungen für dieselbe Artentweder einander untergeordnet sein müssen oder

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dass sie beide unter einem höheren Begriffe stehen,wie ja sich dies auch für die Tugend und die Wissen-schaft ergiebt. Denn beide stehen unter ein und dersel-ben Gattung; beide sind nämlich ein Besitz und einGegenstand. Man muss deshalb prüfen, ob etwa dieangegebene Gattung sich in keiner dieser beiden Wei-sen verhält; denn wenn sie und die andere Gattungeinander nicht untergeordnet sind, noch beide untereiner höheren Gattung stehen, so wird die angegebeneGattung nicht die richtige sein.

Auch muss man die Gattung von der behauptetenGattung und so immer weiter die höheren Gattungenuntersuchen und sehen, ob sie sich sämmtlich von deraufgestellten Art aussagen lassen und ob sie als dasWas derselben ausgesagt werden; denn alle höherenGattungen müssen von der aufgestellten Art als derenWas ausgesagt werden können. Stimmt dies in einemPunkte nicht, so ist klar, dass die angegebene Gattungnicht die richtige ist. Man muss ferner prüfen, ob dieangegebene Gattung an der Art Theil nimmt, undzwar ob dies sowohl bei ihr selbst wie bei einer derhöheren Gattungen Statt hat; denn keine höhere Gat-tung nimmt an einer niederen Theil. Dies ist also beidem Widerlegen in der angegebenen Weise zu benut-zen. Wird dagegen bei dem Begründen zwar zuge-standen, dass die angegebene Gattung in der Art ent-halten ist, aber bestritten, dass sie als Gattung darin

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enthalten sei, so ist es nützlich, wenn man darlegenkann, das eine der höheren Gattungen von dem Wasder Art ausgesagt wird. Denn wenn auch nur einedavon von dem Was der Art ausgesagt wird, so sindalle über und unter dieser stehenden Gattungen, wennsie von der Art ausgesagt werden, in dem Was dersel-ben enthalten; folglich gilt dies auch von der imStreitsatz benannten Gattung. Dass, wenn die eineGattung in dem Was enthalten ist, auch alle übrigen,sofern sie von der betreffenden Art ausgesagt werden,in dem Was derselben enthalten sind, muss durch Bei-spiele dargelegt werden. Wird aber überhaupt bestrit-ten, dass die genannte Gattung in der Art des Streit-satzes enthalten sei, so nützt es nichts, dass manzeigt, wie die höheren Gattungen von dem Was dieserArt ausgesagt werden. Hat man z.B. als Gattung desGehens die Ortsveränderung aufgestellt, so nützt esfür den Beweis dieses Satzes nichts, dass man zeigt,das Gehen sei eine Veränderung, da es auch noch an-dere Veränderungen neben der Veränderung des Ortesgiebt, sondern man muss auch ausserdem beweisen,dass das Gehen an keiner anderen Art derselbenEintheilung, ausser an der Ortsveränderung Theilnehme; denn das an der Gattung Theilnehmende mussauch an einer der obersten, der Gattung zunächst ste-henden Arten Theil nehmen. Nimmt nun das Gehenweder an der Vergrösserung noch an der

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Verminderung, noch sonst an einer anderen Verände-rung Theil, so ist klar, dass es an der OrtsveränderungTheil nimmt und dass also diese die Gattung des Ge-hens ist.

Ferner muss man prüfen, ob das, was als Gattungfür die unter der Art begriffenen Gegenstände aufge-stellt worden, auch von dem Was derselben ausgesagtwird und ob dies ebenso bei den höheren Gattungenstattfindet. Stimmt dies irgendwo nicht, so ist klar,dass die angegebene Gattung nicht die richtige ist.Denn wäre dies der Fall, so würden auch alle oberenGattungen und sie selbst von dem Was derjenigenDinge ausgesagt werden, von deren Was die Art aus-gesagt wird. Diesen Gesichtspunkt kann man zur Wi-derlegung benutzen, wenn die Gattung nicht von demWas der Dinge ausgesagt wird, von denen die Artausgesagt wird; und umgekehrt kann man ihn zur Be-gründung benutzen, wenn die Gattung von dem Wasausgesagt wird. Es ergiebt sich dann, dass sowohl dieGattung wie die Art bei demselben Gegenstande vonseinem Was ausgesagt werden wird und also der Ge-genstand unter zwei Gattungen gehört. Deshalb müs-sen dann diese Gattungen unter einander stehen. Hatman nun gezeigt, dass das, was man als die Gattungbeweisen will, nicht unter der angegebenen Art steht,so muss die Art unter jener stehen, und damit ist be-wiesen, dass jenes die Gattung ist.

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Auch muss man prüfen, ob die Begriffe der Gattun-gen zu der aufgestellten Art und zu den an der Arttheilnehmenden Gegenständen passen; denn die Be-griffe der Gattungen müssen von der Art und von deneinzelnen zu ihr gehörenden Gegenständen ausgesagtwerden können. Stimmt dies bei einem nicht, so er-hellt, dass die angegebene Gattung nicht die richtigeist.

Man muss ferner prüfen, ob etwa derArt-Unterschied als Gattung aufgestellt worden ist,z.B. wenn das Unsterbliche als Gattung der Gottheitaufgestellt worden ist, denn das Unsterbliche bildetden Art-Unterschied bei den lebenden Wesen, indemvon ihnen ein Theil sterblich und der andere Theil un-sterblich ist; offenbar ist also hier gefehlt worden;denn bei keinem Gegenstande kann seinArt-Unterschied dessen Gattung sein, wie daraus er-hellt, dass kein Art-Unterschied das Was eines Dingesbezeichnet, sondern mehr eine Beschaffenheit, wiez.B. das »auf dem Lande lebend«, oder das »zweifüs-sig«.

Auch muss man prüfen, ob etwa derArt-Unterschied in die Gattung aufgenommen wordenist, z.B. ob das Ungerade als Zahl gesetzt worden ist.Denn das Ungerade ist nicht eine Art der Zahl, son-dern nur ein Unterschied derselben, und derArt-Unterschied nimmt nicht an der Gattung Theil;

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denn alles an der Gattung Theilnehmende ist entwedereine Art oder ein einzelner Gegenstand, während derArt-Unterschied keines von beiden ist. Es erhellt also,dass der Art-Unterschied nicht an der Gattung Theilhat. Deshalb kann auch das Ungerade keine Art derZahl, sondern nur ein Unterschied derselben sein, daes an der Gattung »Zahl« nicht Theil nimmt.

Ferner muss man prüfen, ob etwa die Gattung inder Art aufgenommen worden ist, wie das der Fallwäre, wenn man die Berührung als ein Stetiges, oderdie Mengung als eine Mischung oder, wie Plato that,die Ortsveränderung als ein Fortgetragen-werden defi-nirte; denn die Berührung braucht kein Stetiges zusein, aber umgekehrt ist das Stetige eine Berührung;denn nicht alles, was sich berührt, ist stetig, wohlaber berührt sich alles Stetige. Ebenso verhält es sichmit den anderen Fällen; denn nicht jede Mengung isteine Mischung (denn die Mengung trockener Dingeist keine Mischung) und nicht jede Ortsveränderungist ein Fortgetragen-werden; so ist das Gehen wohlkein Fortgetragen - werden, denn das Fortgetra-gen-werden braucht man wohl nur von dem, was nichtfreiwillig seinen Ort verändert, wie dies bei den leblo-sen Körpern der Fall ist. Es erhellt also, dass in die-sen Fällen die Art von Mehreren wie die Gattung gilt,während doch das Umgekehrte stattfinden muss.

Ferner ist zu prüfen, ob nicht der Art-Unterschied

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zur Art gemacht worden ist, z.B. ob das Unsterblicheals die Gottheit ausgesagt worden. Denn die Artwürde dann von gleich viel Dingen oder von nochmehreren gelten, als die wirkliche Art, weil derArt-Unterschied von gleichviel Dingen wie die Artoder von noch mehreren ausgesagt wird. Ferner mussman prüfen, ob etwa der Art-Unterschied als Gattunggesetzt worden; wie z.B. wenn die Farbe als das Un-terscheidbare, oder die Zahl als das Ungerade definirtworden ist; oder ob die Gattung etwa alsArt-Unterschied aufgeführt worden; denn es ist mög-lich, dass jemand auch einen solchen Satz aufstellt,z.B. dass die Mengung der Unterschied der Mischungsei, oder dass die Ortsveränderung der Unterschieddes Fortgetragen-werdens sei. Man muss dies Allesauf dieselbe Weise prüfen; denn diese Gesichtspunktenehmen an einander Theil. So muss die Gattung mehrDinge umfassen als der Art-Unterschied, und sie darfauch an dem Art-Unterschied nicht Theil nehmen. Be-achtet man dies bei Aufstellung eines Satzes, so kannkeiner der hier erwähnten Fehler vorkommen, da beidiesen fehlerhaften Sätzen die Gattung von wenigerDingen, als der Art-Unterschied ausgesagt wird oderdie Gattung an dem Art-Unterschied Theil nimmt.

Wenn ferner keiner der für eine Gattung bestehen-den Art-Unterschiede von der aufgestellten Art ausge-sagt werden kann, so kann es auch nicht die

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aufgestellte Gattung selbst; so kann von der Seeleweder das Gerade noch das Ungerade ausgesagt wer-den und deshalb auch nicht die Zahl. Dasselbe gilt,wenn die aufgestellte Art der Natur nach früher ist,denn dann wird auch die Gattung aufgehoben; und dieArt wird eher das Gegentheil sein. Dasselbe gilt,wenn die vorliegende Art die aufgestellte Gattungoder den Art-Unterschied verlassen kann, wie z.B. dieSeele das Sich-Bewegen und die Meinung das Wahreund Falsche verlassen kann; denn dann kommt solcheGattung und solcher Art-Unterschied der vorliegendenArt nicht zu, weil die Gattung und der Art-Unterschied der Art eben soweit folgen, als diesesich erstreckt.

Drittes Kapitel

Auch muss man prüfen, ob der in die Gattung ge-stellte Gegenstand etwas enthalte, was ein Gegentheildieser Gattung ist, oder ob er wenigstens eines sol-chen fähig ist; denn dann würde Ein- und Dasselbegleichzeitig Entgegengesetztes an sich haben, da dieGattung niemals den ihr zugehörenden Gegenstandverlässt und also dann an dem EntgegengesetztenTheil hätte oder doch haben könnte. Ferner muss manprüfen, ob die Art an etwas Theil nimmt, was

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überhaupt den unter die Gattung fallenden Gegenstän-den unmöglich zukommen kann. Wenn z.B. die Seeleam Leben Theil hat und keine Zahl leben kann, sokann auch die Seele nicht eine Art von der Zahl sein.

Auch muss man prüfen, ob die Art mit der aufge-stellten Gattung etwa nur gleichnamig ist, aber nichtden Begriff der Gattung enthält. Man hat dabei dieüber die zweideutigen Worte aufgestellten Gesichts-punkte zu benutzen ; denn Gattung und Art müssenin ein und derselben Bedeutung gebraucht werden.

Ferner prüfe man, ob, da jede Gattung in mehrereArten sich theilen muss, noch eine andere Art der be-treffenden Gattung neben der einen angegebenen Artvorhanden ist; denn wenn dies nicht der Fall wäre, sowürde die betreffende Gattung überhaupt nicht dierichtige sein.

Auch muss man prüfen, ob die Gattung in bildli-cher Weise ausgedrückt worden, z.B. wenn dieSelbstbeherrschung als Einstimmung bezeichnet wor-den ist; denn jede Gattung muss im eigentlichen Sinnevon ihren Arten ausgesagt werden, während die Ein-stimmung statt der Selbstbeherrschung nicht im ei-gentlichen, sondern im bildlichen Sinne hier ge-braucht wird, da jede Einstimmung sich nur auf Tönebezieht.

Auch muss man untersuchen, ob es ein Gegentheilvon der aufgestellten Art giebt. Diese Untersuchung

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kann mehrfach geschehen. Zunächst so, dass man un-tersucht, ob das Gegentheil in derselben Gattung vor-kommt, weil es von der Gattung selbst kein Gegen-theil giebt. Denn wenn es ein solches nicht giebt, somuss das Gegentheil in der betreffenden Gattungselbst vorkommen. Hat aber die Gattung ein Gegen-theil, so muss man untersuchen, ob das Gegentheilder Art in dem Gegentheil der Gattung enthalten ist;denn dies muss der Fall sein, wenn es ein Gegentheilvon der Gattung giebt. Dies alles lässt sich durch Bei-spiele klar machen. Ferner untersuche man, ob dasGegentheil von der aufgestellten Art überhaupt in kei-ner Gattung enthalten ist, also selbst eine Gattung ist,wie z.B. das Gute; denn wenn dieses in keiner Gat-tung enthalten ist, so wird auch dessen Gegentheil inkeiner Gattung enthalten sein, sondern es ist dannselbst eine Gattung, wie dies bei dem Guten undSchlechten der Fall ist, da keines von diesen beiden ineiner Gattung enthalten, sondern jedes selbst eineGattung ist. Auch muss man darauf achten, ob, wenndie Gattung und die Art ein Gegentheil haben, zwi-schen der einen und ihrem Gegentheil ein Mittleressich befindet, und ob bei der anderen und ihrem Ge-gentheil nicht. Denn wenn es zwischen den Gattungenein Mittleres giebt, so giebt es ein solches auch zwi-schen den Arten, und umgekehrt giebt es zwischenden Gattungen ein Mittleres, wenn ein solches

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zwischen den Arten vorhanden ist, wie z.B. zwischender Tugend und der Schlechtigkeit, also auch zwi-schen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; dennzwischen beiden befindet sich ein Mittleres. Mankönnte einwerfen, dass es zwischen Krankheit undGesundheit kein Mittleres gebe, obgleich es doch zwi-schen dem Schlechten und Guten ein Mittleres gebe.Allein es ist wohl auch hier zwischen beiden ein Mitt-leres sowohl bei den Arten wie bei den Gattungen,nur nicht in gleicher Weise, sondern bei dem einen inder Form der Verneinung und bei dem anderen in derWeise eines Unterliegenden; denn es ist zu ver-muthen, dass beide ein Mittleres haben; wie auch beider Tugend und der Schlechtigkeit und bei der Ge-rechtigkeit und Ungerechtigkeit ein solches besteht,was bei beiden durch die Verneinung der Gegentheilebezeichnet wird. Wenn ferner es kein Gegentheil vonder Gattung giebt, so muss man sowohl untersuchen,ob in derselben Gattung das Gegentheil sich befindet,wie ob das Mittlere sich darin befindet. Denn wenneine Gattung zwei Aeusserste oder Gegentheil in sichbefasst, so befindet sich auch ein Mittleres darin, wiez.B. es zwischen dem Weissen und Schwarzen derFall ist; denn die Farbe ist die Gattung von beidenund auch von allen, zwischen ihnen liegenden mittle-ren Farben. Man kann indess hier einwerfen, dassMangel und Uebermass zu derselben Gattung gehören

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(denn beide gehören zu dem Schlechten), währenddoch das Masshaltende, als das Mittlere von beiden,nicht zu dem Schlechten, sondern zu dem Guten ge-hört.

Man muss auch prüfen, ob bei einem angestelltenSatze zwar die Gattung ein Gegentheil hat, aber nichtdie Art. Denn hat die Gattung ein Gegentheil, so musses auch die Art haben; wie z.B. die Tugend an derSchlechtigkeit ihr Gegentheil hat, so hat es auch dieGerechtigkeit an der Ungerechtigkeit. Auch bei Prü-fung anderer Fälle wird man finden, dass bei ihnendas Gleiche gilt. Einen Einwurf ergiebt indess die Ge-sundheit und die Krankheit; denn die Gesundheitüberhaupt ist das Gegentheil der Krankheit, aber eineeinzelne bestimmte Krankheit hat kein Gegentheil,z.B. das Fieber, die Augenkrankheit und jede andere.

Bei der Widerlegung hat man nun auf diese mehr-fachen Gesichtspunkte Acht zu haben; denn wenn dashier Verlangte sich in dem einzelnen Fall nicht vorfin-det, so ist klar, dass die Gattung nicht die wahre ist.Bei der Begründung hat man nur eine dreifache Prü-fung anzustellen; erstens, ob das Gegentheil der Art inder aufgestellten Gattung enthalten ist, insofern esnämlich kein Gegentheil von der Gattung giebt. Isthier das Gegentheil der Art in der Gattung mit enthal-ten, so ist klar, dass auch die aufgestellte Art in dieserGattung enthalten ist. Ferner muss man prüfen, ob das

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Mittlere zwischen der Art und ihrem Gegentheil in deraufgestellten Gattung enthalten ist; denn wenn ineiner Gattung das Mittlere enthalten ist, so müssenauch die beiden Aeussersten in ihr enthalten sein. Fer-ner muss man, wenn die Gattung ein Gegentheil hat,prüfen, ob das Gegentheil der Art auch in dem Gegen-theil der Gattung enthalten ist; denn ist dies der Fall,so ist auch die aufgestellte Art in der aufgestelltenGattung enthalten.

Ferner hat man sowohl bei dem Widerlegen wie beidem Begründen, zu prüfen, ob auch die mit einerBeugung des Stammes der Gattung und der Art be-zeichneten Gegenstände und der ihnen verwandtenBegriffe sich ebenso, wie die aufgestellte Art undGattung zu einander verhalten; denn was von demeinen gilt, muss für alle diese Gegenstände gelten, so-wohl bei bejahenden wie bei den verneinenden Sät-zen; wenn z.B. die Gerechtigkeit ein Wissen ist, so istauch gerecht so viel wie wissend, und der gerechteMann ein Wissender; wenn dieses in einem Fallenicht richtig ist, so ist es auch in allen nicht richtig.

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Viertes Kapitel

Die Untersuchung ist auch weiter auf das einanderAehnliche zu richten; so verhält sich z.B. das Ange-nehme ebenso zur Lust, wie das Nützliche zumGuten; denn jedes von beiden bringt das andere her-vor. Ist nun die Lust das Gute, so ist auch das Ange-nehme das Nützliche; denn es wird dem offenbaretwas Gutes bewirken, wem die Lust ein Gut ist.Aehnlich ist die Prüfung auf die Entstehung und denUntergang zu richten; ist z.B. das Haus-Bauen eineThätigkeit, so ist das ein-Haus-gebaut-haben ein Thä-tig-gewesen-sein, und ist das Lernen ein Erinnern, soist auch das Gelernt-haben ein Sich-erinnert-haben;und wenn das Auflösen ein Untergang ist, so ist dasSich-aufgelöst-haben ein Untergegangen - sein, unddie Auflösung ein Untergang. Ebenso verhält es sichmit dem, was ein Entstehen oder Untergehen bewirkt,und mit dem Vermögen und dem Gebrauch. Ueber-haupt hat man sowohl bei dem Widerlegen wie beidem Begründen auf jedwede Aehnlichkeit so Acht zuhaben, wie ich es hier für die Entstehung und den Un-tergang dargelegt habe. Denn wenn das, was den Un-tergang bewirkt, etwas ist, was die Auflösung be-wirkt, so ist auch das Untergehen ein Aufge-löst-werden und wenn das, was erzeugt, ein Thätiges

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ist, so ist auch das Erzeugen eine Thätigkeit und dieErzeugung eine That. Aehnlich verhält es sich mitdem Vermögen und dem Gebrauch desselben; dennwenn das Vermögen ein Zustand ist, so ist auch dasein - Vermögen - haben ein Zustand - haben, undwenn der Gebrauch eines Vermögens eine Thätigkeitist, so ist auch das Gebrauchen ein Thätig-sein unddas Gebraucht-haben ein Thätig-gewesen-sein.

Ist das dem aufgestellten Gegenstande Entgegenge-setzte eine Beraubung, so kann man die Widerlegungin zwiefacher Weise führen; einmal, wenn das Entge-gengesetzte zu der aufgestellten Gattung gehört; denndie Beraubung kann mit ihrem Gegensatze, demHaben, überhaupt nicht in derselben Gattung enthal-ten sein, oder wenigstens nicht in der Gattung, welcheder Art am nächsten steht; so ist z.B. das Gesicht eineArt des Wahrnehmens als der ihr am nächsten stehen-den Gattung, aber die Blindheit ist kein Wahrnehmen.Zweitens kann die Widerlegung geschehen, wenn dieBeraubung sowohl der aufgestellten Art, wie der auf-gestellten Gattung entgegengesetzt ist, aber das Ent-gegengesetzte der Art nicht in dem der Gattung Ent-gegengesetzten enthalten ist; denn dann wird die auf-gestellte Art auch nicht in der aufgestellten Gattungenthalten sein. Bei der Widerlegung sind also diesebesagten Gesichtspunkte zu benutzen; bei der Be-gründung kann aber nur ein Gesichtspunkt benutzt

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werden. Ist nämlich die entgegengesetzte Art in derentgegengesetzten Gattung enthalten, so wird auch dieaufgestellte Art in der aufgestellten Gattung enthaltensein; ist z.B. die Blindheit die Beraubung eines Sin-nes, so ist auch das Gesicht das Haben eines Sinnes.

Ferner muss man auch umgekehrt das Entgegenge-setzte prüfen, wie schon bei Behandlung des Neben-sächlichen gesagt worden; ist nämlich das Süsse einGutes, so ist auch das Nicht-Gute kein Süsses; dennwenn dies sich nicht so verhielte, so wäre auch einNicht-Gutes süss; allein dies ist unmöglich, da dasGute die Gattung des Süssen ist; denn das, von demdie Gattung nicht ausgesagt werden kann, kann auchzu keiner ihrer Arten gehören. Auch für die Begrün-dung kann dieser Gesichtspunkt ebenso benutzt wer-den; denn wenn das Nicht-Gute kein Süsses ist, so istdas Süsse ein Gutes, so dass das Gute die Gattung fürdas Süsse ist.

Besteht die Art in einer Beziehung, so muss manprüfen, ob auch die Gattung eine Beziehung ist; dennist es jene, so muss es auch diese sein, wie z.B. vondem Doppelten das Vielfache die Gattung ist; beidegehören zu den Beziehungen. Ist dagegen die Gattungeine Beziehung, so braucht deren Art es nicht zu sein;denn die Wissenschaft gehört zu den Beziehungen,die Sprachlehre aber nicht. Ja selbst das vorgehendeBeispiel ist wohl nicht richtig; denn die Tugend

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befasst das Sittliche und das Gute, und die Tugendgehört zu den Beziehungen, während das Sittliche unddas Gute nicht, sondern zu den Beschaffenheiten ge-hören. Auch ist zu prüfen, ob die Art sowohl als sol-che wie nach ihrem Gattungsbegriff auf denselbenGegenstand bezogen werden kann; so heisst z.B. dasDoppelte das Doppelte von der Hälfte. Deshalb mussauch das Vielfache, als die Gattung des Doppelten,das Vielfache von der Hälfte heissen; geht dies nichtan, so wird auch das Vielfache nicht die Gattung vondem Doppelten sein.

Ebenso ist dies dann nicht der Fall, wenn die auf-gestellte Art nach ihrem Gattungsbegriff nicht diesel-be Beziehung hat, wie nach ihren sämmtlichen höhe-ren Gattungsbegriffen; denn wenn das Doppelte dasVielfache der Hälfte ist, so muss es auch dasdie-Hälfte-Uebertreffende sein und überhaupt nachallen höheren Gattungsbegriffen von der Hälfte ausge-sagt werden können. Als ein Einwurf, dass die Art alssolche und nach ihrem Gattungsbegriff nicht dieselbeBeziehung zu behalten brauche, kann benutzt werden,dass die Wissenschaft von dem Wissbaren ausgesagtwird, das Haben und der Zustand aber nicht von demWissbaren, sondern von der Seele.

Ferner ist zu prüfen, ob die Gattung und die Artgleichmässig von den Beugungen des Bezogenen aus-gesagt werden, also z.B., ob sie gleichmässig von

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dem einen, und von des einen und sonst noch von an-deren Beugungen ausgesagt werden. Denn wie dieArt, so muss auch die Gattung sich aussagen lassen;wie es z.B. bei dem Doppelten geschehen kann, somuss es auch bei den oberen Gattungen desselben ge-schehen können, denn von etwas wird sowohl dasDoppelte wie das Vielfache ausgesagt. Dies gilt auchfür die Wissenschaft; denn sowohl sie, als ihre Gat-tungen, der Zustand und das Haben sind solche vonetwas. Doch kann man einwerfen, dass dies mitunternicht der Fall sei, denn das »Verschiedene« und das»Gegentheil« sind es von Etwas, das »Andere« aber,welches die Gattung von ihnen ist, ist das Andereeines Etwas; denn man sagt, das Andere dieses Ge-genstandes.

Ferner muss man prüfen, ob, wenn die Beziehungder Art und ihrer Gattung und höheren Gattungen zudem betreffenden Gegenstande in derselben Wortbeu-gung ausgedrückt wird, sich diese Sätze auch in glei-cher Weise umkehren lassen, wie dies bei dem Dop-pelten und Vielfachen der Fall ist; denn beide werdensowohl selbst, wie auch umgekehrt das Bezogene alsdas eines Gegenstandes ausgesagt; denn sowohl dasHalbe wie die kleinern Bruchtheile werden als dieeines anderen, nämlich des von ihnen bezogenen aus-gesagt. Dies gilt auch von der Wissenschaft und vonder Vorstellung; denn beide sind es von etwas und

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auch bei der Umkehrung bleibt die Wortbeugung beibeiden die gleiche, denn das Wissbare und das Vor-stellbare ist es für etwas. Bleibt bei der Umkehrungdie Wortbeugung des Bezogenen in Bezug auf die Artund Gattung nicht die gleiche, so erhellt, dass dieGattung und die Art nicht zu einander gehören.

Man muss ferner prüfen, ob die Art und die Gat-tung nach gleichen Wortbeugungen des Bezogenenausgedrückt werden; denn beide müssen gleichmässigund nach gleich viel Beugungen ausgedrückt werden,wie dies z.B. bei dem Geschenk und der Gabe derFall ist. Denn man sagt vom Geschenk, es ist das Ge-schenk von etwas an jemand und ebenso von derGabe, sie ist die Gabe von etwas an jemand. DieGabe ist hier die Gattung und das Geschenk die Art;denn das Geschenk ist eine Gabe, die nicht zurückge-geben zu werden braucht. In manchen Fällen findetindess diese Gleichmässigkeit nicht statt, denn dasDoppelte ist das Doppelte eines Gegenstandes, dasUeberragende und das Grössere ist aber das eines Ge-genstandes und an einem Gegenstande; denn allesUeberragende und Grössere ist das Ueberragendeeines Gegenstandes und auch an einem Gegenstande.Sie sind deshalb nicht die Gattungen des Doppelten,da sie nicht in der gleichen Wortbeugung des Bezoge-nen wie die Art ausgedrückt werden; oder es ist nichtallgemein richtig, dass die Beziehung der Art und der

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Gattung zu der gleichen Wortbeugung des Bezogenenerfolgt.

Man muss auch prüfen, ob bei den Beziehungendas Entgegengesetzte von der aufgestellten Gattungauch die Gattung von der entgegengesetzten Art ist;wenn z.B. das Vielfache die Gattung von dem Dop-pelten ist, so muss auch das Vielgetheilte die Gattungvon dem Halben sein; denn das Entgegengesetzte vonder Gattung muss die Gattung von dem der Art Entge-gengesetzten sein. Auch wenn jemand die Wissen-schaft für eine Wahrnehmung erklärte, müsste dasWissbare auch ein Wahrnehmbares sein. Dies ist in-dess nicht der Fall, denn nicht alles Wissbare istwahrnehmbar; da auch von dem durch die VernunftErkannten einiges wissbar ist. Deshalb ist das Wahr-nehmbare nicht die Gattung vom Wissbaren und istdies richtig, so ist auch die Wahrnehmung nicht dieGattung von der Wissenschaft.

Von den auf einander Bezogenen ist bei einemTheile derselben das eine nothwendig in dem anderenoder an dem anderen, auf das es bezogen wird, ent-halten; z.B. der Zustand und das Haben und dasEbenmass (denn diese sich Beziehenden können inkeinem anderen Gegenstand, als in dem, auf welchensie sich beziehen, bestehen); ein anderer Theil musszwar nicht in dem, auf welchen er sich bezieht, ent-halten sein, allein er kann es doch, z.B. wenn das

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Wissbare die Seele ist, denn die Seele kann zwar dasWissen von ihr selbst haben, aber es ist dies keineNothwendigkeit, denn es kann ja das Wissen von ihrauch in einem Anderen enthalten sein; ein dritterTheil endlich kann nicht in dem enthalten sein, aufwelchen er sich bezieht, wie z.B. das Gegentheil nichtin seinem Gegentheile oder die Wissenschaft nicht indem Wissbaren, ausgenommen wenn das Wissbaredie Seele oder ein Mensch wäre. Deshalb muss manAcht haben, ob der Gegner das sich Beziehende dereinen Art in die Gattung einer anderen Art stellt, z.B.wenn er das im Gedächtniss-Haben ein Bleiben desWissens nennte; denn jedes Bleiben ist nur in dembleibenden Gegenstande und an demselben; und des-halb ist das Verbleiben des Wissens nur in dem Wis-sen selbst. Das im Gedächtniss-Haben wäre also dar-nach in dem Wissen enthalten, wenn es ein Bleibendes Wissens sein sollte. Allein dies kann nicht sein;denn alles im Gedächtniss-Haben ist in der Seele.Dieser Gesichtspunkt kann auch für ein nebensächli-ches Ausgesagtes benutzt werden, denn es ist gleich-gültig, ob man das Bleiben für die Gattung des imGedächtniss-Haben erklärt, oder ob man sagt, dassdem im Gedächtniss-Haben das Bleiben nur neben-sächlich zukomme; denn mag das Gedächtniss in ir-gend welcher Weise ein Bleiben des Wissens genanntwerden, so kann immer derselbe Grund dagegen

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geltend gemacht werden.

Fünftes Kapitel

Es ist ferner unrichtig, wenn man das blosse Habenzur Thätigkeit rechnet, oder die Thätigkeit zu demblossen Haben, wie wenn man z.B. das Wahrnehmeneine durch den Leib gehende Bewegung nennt; denndas Wahrnehmen ist ein blosses Haben, die Bewe-gung aber ein Thätigsein. Ebenso fehlerhaft wäre es,wenn man das Gedächtniss ein festes Haben nennte;denn das Gedächtniss ist kein blosses Haben, sondernvielmehr eine Thätigkeit.

Man fehlt auch dann, wenn man das blosse Habenzu den mit ihm verbundenen Vermögen rechnet, z.B.wenn man die Sanftmuth eine Macht über den Zorn,und die Tapferkeit und Gerechtigkeit eine Machtgegen die Furcht und die Gewinnsucht nennt; denntapfer und sanftmüthig wird der Leidenschaftslose ge-nannt; seiner selbst mächtig aber der, welcher zwar ineiner Leidenschaft ist, aber von ihr nicht hingerissenwird. Allerdings verbindet sich mit der Tapferkeit undder Sanftmuth eine solche Macht, dass, wenn die Lei-denschaft entsteht, man von ihr nicht hingerissenwird, sondern sie zügelt; indess ist dies nicht dasWesen des Tapfer - und des Sanft-müthig-seins,

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sondern dies besteht darin, dass man überhaupt vonsolchen Leidenschaften nicht ergriffen wird.

Mitunter wird auch ein irgendwie Beifolgendes alsGattung der aufgestellten Art gesetzt, wie z.B. derSchmerz als die Gattung des Zornes und die Annahmeals Gattung des Glaubens. Allerdings begleiten beidein gewisser Weise die genannten Arten, aber die Gat-tung derselben sind sie nicht; denn der Zornige hatzwar Schmerz, aber der Schmerz ist in ihm dem Zornvorausgegangen; der Zorn ist nicht die Ursache desSchmerzes, sondern der Schmerz Ursache des Zornes,also ist der Zorn überhaupt keine Art des Schmerzes.Ebenso ist der Glaube keine blosse Annahme, dennauch der, welcher noch nicht glaubt, kann das Gleicheannehmen; und doch wäre dies nicht möglich, wennder Glaube eine Art des Annehmens wäre. Denn eskann etwas nicht in derselben Gattung bleiben, wennes seine Art ganz ablegt, wie ja auch dasselbe Ge-schöpf nicht das eine Mal Mensch sein und das ande-re Mal Nicht-Mensch sein kann. Wollte aber jemandbehaupten, dass der, welcher etwas annimmt, noth-wendig es auch glaube, so stellt er die Annahme undden Glauben einander gleich, so dass auch dann dieAnnahme nicht die Gattung sein kann, denn die Gat-tung muss sich weiter erstrecken, als die Art.

Auch muss man prüfen, ob in einem Gegenstandeals solchem sowohl die aufgestellte Art, wie die

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aufgestellte Gattung von Natur enthalten sein kann;denn das, in welchem die Art enthalten ist, in dem istauch die Gattung enthalten. So ist in dem Weissenauch die Farbe und in dem, welcher die Sprachwis-senschaft inne hat, auch die Wissenschaft enthalten.Sollte nun jemand die Scham eine Furcht und denZorn einen Schmerz nennen, so würde die Art und dieGattung nicht in demselben Gegenstande enthaltensein; denn die Scham ist in dem denkenden Theile derSeele, die Furcht aber in dem eifrigen Theile enthal-ten, und der Schmerz ist in dem begehrlichen Theileenthalten (denn in diesem ist auch die Lust enthalten),der Zorn aber im eifrigen. Deshalb sind die genanntenkeine Gattungen, da sie von Natur nicht in denselbenZuständen, wie ihre Arten, enthalten sind. Aehnlichwäre der Fehler, wenn man die Liebe in den begehrli-chen Theil der Seele stellen wollte, denn sie würdedann kein Wollen sein, da alles Wollen in dem den-kenden Theile der Seele enthalten ist. Dieser Ge-sichtspunkt ist auch für das nebensächlich Ausgesagtebrauchbar; denn das Nebensächliche und das, dem esanhaftet, müssen in demselben Gegenstande zusam-mentreffen, und wo dies nicht der Fall ist, erhellt, dassdas Nebensächliche dem Gegenstande nicht zukommt.

Ferner ist zu prüfen, ob nicht die aufgestellte Artnur in Bezug auf etwas von sich an der aufgestelltenGattung Theil nimmt. Denn die Art kann nicht nur in

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etwas an der Gattung Theil nehmen; so ist derMensch nicht blos in etwas von sich ein Geschöpfund ebenso die Sprachlehre nicht blos in etwas eineWissenschaft. Dies gilt auch für alle anderen Fälle.Man muss deshalb Acht haben, oh Einzelne der be-treffenden Art nur in etwas von sich an der GattungTheil nehmen, z.B. wenn man sagt, das Geschöpf seiein Wahrnehmbares oder Sichtbares; denn in Bezugauf seinen Körper ist es dies wohl, aber nicht inBezug auf seine Seele; deshalb ist das Sichtbare unddas Wahrnehmbare nicht die Gattung des Geschöpfes.

Mitunter wird auch nicht bemerkt, dass man beiAufstellung von Sätzen das Ganze des Gegenstandesin einen Theil desselben verlegt, z.B. wenn man dasGeschöpf für einen beseelten Körper erklärt; denn derTheil kann durchaus nicht von dem Ganzen ausgesagtwerden, und deshalb kann auch der Körper nicht dieGattung des Geschöpfes sein, da er nur ein Theil des-selben ist.

Man muss auch Acht haben, ob nicht etwas Ta-delnswerthes oder Unzulässiges als ein Vermögen be-handelt und in das Können gesetzt worden ist; z.B.wenn ein Sophist, oder ein Verleumder, oder ein Diebfür einen solchen erklärt wird, welcher vermögend sei,fremdes Gut wegzunehmen, oder zu verleumden, oderScheingründe aufzustellen; denn keiner der Genann-ten heisst deshalb so, weil er vermögend ist, so etwas

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zu thun, da auch die Gottheit und der sittliche Menschvermögen das Schlechte zu thun, ohne dass sie des-halb von jener Art sind, vielmehr werden alle schlech-ten Menschen so genannt, weil sie das Schlechte vor-ziehen. Auch ist jedes Vermögen wünschenswerth;dies gilt auch von den Vermögen der schlechten Men-schen, und deshalb sagt man, dass auch die Gottheitund die guten Menschen diese Vermögen haben unddas Schlechte thun können. Deshalb gehören die Ver-mögen nicht zu einer tadelnswerthen Gattung; dennwäre dies der Fall, so würde etwas Tadelnswertheswünschenswerth sein, weil gewisse Vermögen danntadelnswerth wären.

Auch achte man darauf, ob etwas, was an sich eh-renwerth oder wünschenswerth ist, auch zu dem Ver-mögen gezählt worden oder als ein Mögliches oder zuThuendes aufgestellt worden ist; denn jedes Vermö-gen und alles Mögliche und Ausführbare ist nur umeines andern willen wünschenswerth.

Auch prüfe man, ob etwas, was zu zwei oder mehrGattungen gehört, nur in eine derselben gestellt wor-den ist; denn Manches kann man nicht in nur eineGattung stellen, wie z.B. den Betrüger und Verleum-der; denn der Betrüger und Verleumder ist weder einsolcher, welcher etwas will, aber auszuführen nichtvermag, noch einer, der dies vermag, aber es nichtwill, sondern nur derjenige, welcher beides ist.

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Deshalb muss man solche Gegenstände nicht in nureine, sondern in beide Gattungen stellen.

Mitunter wird umgekehrt die Gattung wie einArt-Unterschied und der Art-Unterschied wie eineGattung behandelt; so wird das Erstaunen als einUebermass des Verwunderns und der Glaube als einhoher Grad der Annahme bezeichnet, obgleich dochweder das Uebermass noch der hohe Grad die Gat-tung, sondern nur der Art-Unterschied sind. Vielmehrwird das Erstaunen ein übermässiges Verwundernund der Glaube ein starkes Annehmen sein; deshalbbilden das Verwundern und die Annahme die Gattungund das Uebermass und der hohe Grad den Art - Un-terschied. Auch würde, wenn man das Uebermass undden hohen Grad als die Gattung aufstellen wollte,auch das Leblose glauben und sich wundern können;denn der hohe Grad und das Uebermass wohnt jedemGegenstande ein, dessen hoher Grad oder Uebermasses ist. Wenn deshalb das Erstaunen ein Uebermassdes Wunderns ist, so wird dem Wundern das Erstau-nen einwohnen, also das Wundern sich erstaunen.Ebenso wird der Glaube der Annahme einwohnen,wenn er ein starker Grad der Annahme ist und daherdie Annahme glauben. Auch wird es dem, der solchesaufstellt, begegnen, dass er den hohen Grad hochgra-dig und das Uebermass übermässig nennt; denn derGlaube ist dann etwas Hochgradiges; ist nun der

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Glaube ein hoher Grad, so würde der hohe Gradhochgradig sein. Ebenso wird das Erstaunen übermäs-sig sein; ist also das Erstaunen ein Uebermass, sowäre das Uebermass übermässig. Beides kann abernicht wohl sein, so wenig, wie die Wissenschaft einWissbares und die Bewegung ein Bewegtes ist.

Manchmal liegt der Fehler darin, dass ein Zustanddes Gegenstandes als Gattung des Gegenstandes ge-setzt wird; dies thut z.B. der, welcher die Unsterblich-keit für ein ewiges Leben erklärt; denn die Unsterb-lichkeit scheint ein Zustand, oder ein mit dem LebenVerbundenes zu sein, wie sich ergeben dürfte, wennman anerkennt, dass jemand aus einem Sterblichenein Unsterblicher geworden; denn Niemand wird dannsagen, dass er dann ein anderes Leben begonnenhabe, sondern dass in demselben einen Leben nur dieVeränderung eines Zustandes stattgehabt habe odersich damit verbunden habe. Deshalb ist das Lebennicht die Gattung von der Unsterblichkeit.

Auch ist es ein Fehler, wenn man das, welchesetwas erleidet, zur Gattung dieses Erleidens macht;z.B. wenn man den Wind für eine bewegte Luft er-klärt; vielmehr ist es eine Bewegung der Luft; denn esbleibt dieselbe Luft, mag sie bewegt werden oderruhen, deshalb ist der Wind überhaupt keine Luft; daes sonst auch einen Wind bei unbewegter Luft gäbe,weil ja dieselbe Luft beharrt, welche der Wind sein

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soll. Dasselbe gilt für andere Fälle. Wenn man nunauch in diesem Falle zugeben kann, dass der Windeine bewegte Luft ist, so darf man doch nicht in allenanderen Fällen zulassen, dass die Gattung unrichtigbezeichnet wird, sondern nur diejenigen Sätze alsrichtig anerkennen, wo die Gattung richtig angegebenworden ist. Denn mitunter wird sonst der Satz dieWahrheit nicht treffen, z.B. bei dem Koth und demSchnee, denn den Schnee nennt man gefrornes Wasserund den Koth mit Feuchtem gemengte Erde; alleinweder der Schnee ist Wasser noch der Koth Erde, unddeshalb können sie auch beide nicht die Gattungenvon jenen sein, da die Gattung immer in Wahrheitvon der Art sich muss aussagen lassen. Ebenso ist derWein kein gegohrenes Wasser, wie Empedokles sagt:»das im Holze gegohrene Wasser«. Denn der Wein istüberhaupt kein Wasser.

Sechstes Kapitel

Auch hat man zu prüfen, ob etwa die angegebeneGattung überhaupt von Nichts die Gattung ist. Denndann wird sie offenbar auch nicht die Gattung von derangegebenen Art sein. Man kann dies daran erkennen,dass die an der aufgestellten Gattung theilnehmendenDinge sich in keiner Weise der Art nach

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unterscheiden, wie das z.B. bei dem Weissen der Fallist; denn mehreres Weisse unterscheidet sich der Artnach nicht von einander. Da nun aber bei jeder Gat-tung die Arten verschieden sind, so kann das Weissenicht die Gattung von etwas sein.

Man hat ferner zu prüfen, ob nicht etwas, was vonjedem Dinge ausgesagt werden kann, als Gattung oderArt-Unterschied aufgestellt worden ist, denn es giebtmehreres dergleichen; so kann z.B. das Seiende unddas Eine von jedwedem ausgesagt werden. Ist alsodas Seiende als Gattung aufgestellt worden, so istklar, dass es die Gattung von jedwedem ist, da es vonjedwedem ausgesagt wird, während doch die Gattungnur von ihren Arten ausgesagt werden darf, und eswürde dann auch das Eine eine Art des Seienden sein.Es ergäbe sich also, dass von Allem, wovon die Gat-tung ausgesagt würde, auch die Art ausgesagt werdenkönnte, während doch die Art nur von weniger Ge-genständen ausgesagt werden darf. Sollte aber dasjedwedem Zukommende als der Art-Unterschied auf-gestellt sein, so würde offenbar der Art-Unterschiedvon Gleich-vielem oder Mehrerem als die Gattung,ausgesagt werden; denn wenn die Gattung ebenfallsjedwedem zukommt, so kommt dann der Art- Unter-schied Gleich-vielem zu; wird aber die Gattung nichtvon jedwedem ausgesagt, so würde derArt-Unterschied sogar von Mehrerem, als die Gattung

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ausgesagt.Ferner ist zu prüfen, ob die aufgestellte Gattung als

in der unterliegenden Art enthalten so ausgesagt wird,wie z.B. das Weiss in dem Schnee enthalten ist. Es istdann klar, dass die Gattung nicht die wahre ist, da dieGattung nur von der unterliegenden Art ausgesagtwerden kann.

Ferner muss man prüfen, ob auch die Gattung mitder Art einnamig ausgesagt wird; denn die Gattungmuss von allen ihren Arten einnamig ausgesagt wer-den.

Ferner ist zu prüfen, ob nicht etwa, wenn von deraufgestellten Art und Gattung ein Gegentheil besteht,die bessere der einander entgegengesetzten Arten indie schlechtere Gattung gestellt ist; dann muss die an-dere Art in der entgegengesetzten Gattung enthaltensein, da Gegentheile auch zu gegentheiligen Gattun-gen gehören, und es würde dann die bessere Art in derschlechteren Gattung und die schlechtere Art in derbesseren Gattung enthalten sein, während doch diebessere Art auch zur besseren Gattung gehört. Ebensomuss man prüfen, ob nicht etwa, wenn die zu dersel-ben Art gehörenden Dinge sich zu beiden Gattungengleich verhalten, dieselben in die schlechtere, statt indie bessere Gattung gestellt worden sind, wie z.B. beider Seele, die sowohl bewegend wie bewegt genanntwerden kann; denn sie scheint sowohl stillstehend wie

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beweglich zu sein, und ist ersteres das Bessere, somuss man dieses als die Gattung aufstellen.

Ferner kann die Widerlegung aus dem Gesichts-punkte des Mehr oder Weniger dann entnommen wer-den, wenn die Gattung das Mehr annimmt, aber dieArt nicht und zwar weder sie selbst, noch das nach ihrbenannte Einzelne. Nimmt z.B. die Tugend das Mehran, so thut es auch die Gerechtigkeit und das Gerech-te; denn man nennt ja den einen Menschen gerechter,als den anderen. Nimmt also die aufgestellte Gattungdas Mehr an, die Art aber weder als solche, noch inden nach ihr benannten Einzelnen, so wird die aufge-stellte Gattung nicht die wahre sein.

Ferner ist zu prüfen, ob etwa eine Gattung, diemehr, oder wenigstens ebenso viel, als die aufgestellteGattung, es zu sein scheint, doch nicht die wahre Gat-tung ist; denn dann ist auch die aufgestellte Gattungnicht die wahre. Dieser Gesichtspunkt ist vorzüglichin den Fällen zu benutzen, wo von der Art mehrere zudem Was derselben gehörende Bestimmungen ausge-sagt werden und nicht bestimmt ist und man auchnicht leicht selbst angeben kann, welche davon derenGattung ist; z.B. wenn von dem Zorne sowohl derSchmerz, wie die Annahme, dass man gering ge-schätzt werde, als zu dem Was des Zornes gehörendausgesagt werden können; denn der Zornige empfin-det Schmerz und er nimmt auch an, dass er gering

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geschätzt werde. Dieselbe Prüfung kann man auch beider Art anstellen, wenn man sie mit einer anderen ver-gleicht; denn wenn eine solche andere Art, obgleichsie noch mehr, oder doch ebenso sehr wie die anderezu der aufgestellten Gattung gehörig erscheint, dochnicht in der aufgestellten Gattung enthalten ist, so istklar, dass auch die aufgestellte Art nicht in dieserGattung enthalten sein wird.

In dieser Weise ist bei Widerlegungen von diesemGesichtspunkte Gebrauch zu machen. Für die Be-gründung kann er aber nicht benutzt werden, wennsowohl die aufgestellte Art wie Gattung das Mehr an-nehmen kann, denn trotzdem braucht das eine nichtdie Gattung des anderen zu sein. So nimmt das Schö-ne ebenso wie das Weiss das Mehr an und doch istkeines die Gattung des anderen. Dagegen ist die ge-genseitige Vergleichung der Arten und Gattungen einbrauchbarer Gesichtspunkt; ist z.B. sowohl das eine,wie das andere in gleicher Weise die Gattung, so ist,wenn das eine die richtige Gattung ist, es auch das an-dere. Ebenso brauchbar ist der Fall, wenn das eine esweniger, das andere es mehr ist, z.B. wenn von derSelbstbeherrschung die Macht mehr als die Tugendderen Gattung zu sein scheint; ist hier nun die Tugenddie Gattung, so ist es auch die Macht. Dasselbe lässtsich auch auf die Arten anwenden; ist z.B. diese undjene Art gleichmässig zu einer Art des vorliegenden

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Gegenstandes geeignet, und ist die eine wirklich eineArt desselben, so ist es auch die andere, und ist die,welche sich als die geringere darstellt, eine wirklicheArt des Gegenstandes, so ist es auch die, welche sichals die noch mehr dazu geeignete darstellt.

Auch ist behufs der Begründung zu prüfen, ob dieGattung, welche von den aufgestellten Arten behaup-tet wird, von dem Was derselben ausgesagt wird, undzwar nicht blos von einer der aufgestellten Arten,sondern von mehreren und verschiedenen Arten; denndann wird sie offenbar die Gattung sein. Ist aber nureine Art aufgestellt worden, so muss man prüfen, obdiese Gattung nicht auch von dem Was anderer Artenausgesagt werden kann, denn dann wird die Gattungauch von mehreren und verschiedenen Arten ausge-sagt werden.

Da indess Manche der Ansicht sind, dass auch derArt - Unterschied zu dem Was der Arten gehöre, somuss man die Gattung von den Art-Unterschieden ab-sondern, indem man dazu die früher angegebenen Ge-sichtspunkte benutzt; also zunächst den, dass die Gat-tung sich weiter erstreckt, als der Art-Unterschied;ferner den, dass zur Angabe des Was einer Art dieGattung sich mehr eignet als der Art-Unterschied. Sobezeichnet derjenige, welcher den Menschen ein Ge-schöpf nennt, mehr das Was des Menschen, als der,welcher ihn als auf dem Lande lebend bezeichnet.

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Ferner giebt der Art-Unterschied immer nur eine Be-schaffenheit der Gattung an, aber die Gattung keineBeschaffenheit des Art-Unterschieds; denn wer sagt:Auf dem Lande lebend, giebt eine Beschaffenheit desGeschöpfes an; aber wer Geschöpf sagt, giebt damitkeine Beschaffenheit des auf dem Lande Lebenden an.

In dieser Weise ist also der Art-Unterschied vonder Gattung abzusondern. Da ferner der Musikalischeals solcher ein Wissender ist, so wird auch die Musikeine Wissenschaft sein, und ebenso wird, wenn dasGehende durch das Gehen sich bewegt, der Gang eineBewegung sein. Hiernach muss man also prüfen, inwelche Gattung man den Gegenstand bei Aufstellungeines Satzes einreihen will. So kann man das Wissenfür eine Ueberzeugung erklären, wenn der Wissendeals solcher überzeugt ist; denn dann ist offenbar dasWissen eine Ueberzeugung. Dieser Gesichtspunkt istauch in anderen solchen Fällen festzuhalten.

Da ferner etwas, was von einem Gegenstandeimmer ausgesagt werden kann, sich in dem Falleschwer von dessen Gattung unterscheiden lässt, sofernder dies aussprechende Satz sich nicht umkehrenlässt, so kann man, wenn etwas einem Gegenstandeimmer beifolgt, aber letzterer nicht immer dem Etwas,wie z.B. die Ruhe der Windstille und das Gesonderteder Zahl immer beifolgt, aber dies nicht umgekehrtder Fall ist (denn nicht alles Gesonderte ist die Zahl

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und nicht jede Ruhe ist eine Windstille) das immerBeifolgende als Gattung aufstellen, sofern es sich mitdem andern nicht umkehren lässt. Stellt aber der Geg-ner eine solche Behauptung auf, so muss man diesnicht überall gelten lassen; denn man kann als Ein-wurf dagegen geltend machen, dass jedem Werdendendas Nicht-sein zukomme (denn das Werdende istnicht) und dass dieser Satz sich auch nicht umkehrenlasse (denn nicht alles Nicht-seiende ist ein Werden-des), und dabei ist doch das Nicht-seiende keine Gat-tung des Werdenden; denn von dem Nicht-seiendengiebt es überhaupt keine Arten.

In Bezug auf die Feststellung der Gattung ist alsonach den angegebenen Regeln zu verfahren.

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Fünftes Buch

Erstes Kapitel

Ob etwas, was als ein Eigenthümliches oderNicht-Eigenthümliches aufgestellt worden ist, vondieser Art ist, ist in nachstehender Weise zu prüfen.

Das Eigenthümliche wird bald als ein solches auf-gestellt, was an sich und immer es ist, oder als einsolches, was es nur in Bezug auf ein Anderes ist, oderwas es nur manchmal ist. So ist dem Menschen ansich eigenthümlich, dass er ein von Natur zahmes Ge-schöpf ist; eine Eigenthümlichkeit in Bezug auf einAnderes ist z.B. die zwischen der Seele und demLeibe, dass jene das Befehlende, dieser das Gehor-chende ist; eine immer bestehende Eigenthümlichkeitist es z.B. bei der Gottheit, dass sie ein unsterblichesWesen ist; eine zeitweise Eigenthümlichkeit ist esz.B. bei diesem Menschen, dass er in der Turnhallespazieren geht.

Wird die Eigenthümlichkeit beziehungsweise auf-gestellt, so besteht die Behauptung entweder aus zweioder vier Sätzen. Wird nämlich dieselbe Eigenschaftbei dem einen Gegenstand als eine Eigenthümlichkeitbehauptet und bei dem andern verneint, so entstehennur zwei Sätze; z.B. wenn von dem Menschen in

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Bezug auf das Pferd als Eigenthümlichkeit behauptetwird, dass er zweifüssig sei; denn man könnte da denAngriff entweder dahin richten, dass der Mensch nichtzweifüssig sei, oder dass das Pferd zweifüssig sei,und auf jede dieser beiden Arten würde das Eigent-hümliche widerlegt sein. Wird dagegen dem einenGegenstand eine Eigenthümlichkeit beigelegt und beidem andern sie bestritten, so ergeben sich vier Sätze,wie z.B. bei der Behauptung, dass das Zweifüssigeeine Eigenthümlichkeit des Menschen in Bezug aufdas Pferd sei und dass das Vierfüssige eine Eigent-hümlichkeit des Pferdes in Bezug auf den Menschensei. Denn man kann den Angriff hier einmal dahinrichten, dass der Mensch nicht zweifüssig sei, sodanndahin, dass er von Natur vierfüssig sei, und ebensokann man versuchen, zu beweisen, weshalb das Pferdals zweifüssig und endlich, weshalb es nicht als vier-füssig anzusehen sei. Wird auf eine dieser Arten dasGegentheil dargelegt, so ist die Behauptung wider-legt.

Die Eigenthümlichkeit ist ein Ansich-seiendes Ei-genthümliches, wenn sie von allen Einzelnen der be-treffenden Art gilt und den Gegenstand von jedwedemandern absondert. So gilt von jedem Menschen als einsolches Eigenthümliche, dass er ein sterbliches, derWissenschaft fähiges Geschöpf ist; dagegen ist dieEigenthümlichkeit nur eine bezügliche, wenn sie das

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betreffende Eigenthümliche nicht von allem andern,sondern nur von einem besonders Aufgestellten unter-scheidet. So ist es eine Eigenthümlichkeit der Tugendgegenüber der Wissenschaft, dass jene im Mehrerenvorkommen kann, diese aber nur in dem denkendenTheile der Seele und in den Geschöpfen, welche vonNatur diesen denkenden Theil besitzen. Eine immer-gültige Eigenthümlichkeit ist dann vorhanden, wennsie jederzeit von dem Gegenstand in Wahrheit ausge-sagt werden kann und niemals ihn verlässt; so ist eseine solche Eigenthümlichkeit bei dem Geschöpf,dass es aus einer Seele und einem Leibe besteht. Einezeitweilige Eigenthümlichkeit ist es, wenn sie nur füreinige Zeit von dem Gegenstande in Wahrheit ausge-sagt werden kann und nicht nothwendig ihm immerzukommt, wie z.B. das Spazierengehen auf demMarkte bei einem Menschen.

Die bezügliche Eigenthümlichkeit kann man ent-weder so aufstellen, dass sie für alle Einzelnen undalle Zeit gilt, oder so, dass sie meistentheils und beiden meisten gilt. So gehört z.B. zur ersten Art die Ei-genthümlichkeit des Menschen in Bezug auf dasPferd, dass er zweifüssig ist; denn der Mensch istimmer und jedweder Mensch ist zweifüssig und keinPferd ist jemals zweifüssig. Zu der zweiten Art gehörtz.B. die dem denkenden Theile in Bezug auf die be-gehrlichen und eifrigen Theile der Seele zukommende

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Eigenthümlichkeit, dass jener Theil befiehlt und diesegehorchen; denn der denkende Theil befiehlt aller-dings nicht immer, sondern mitunter wird auch ihmbefohlen, und ebenso wird dem begehrlichen und eif-rigen Theile nicht immer befohlen, sondern manchmalbefiehlt auch er, wenn die Seele des Menschen eineschlechte ist.

Von den Eigenthümlichkeiten eignen sich am mei-sten diejenigen zur Besprechung, welche zu dem An-sich-Eigenthümlichen gehören und immer bestehen,oder die, welche in Bezug auf Anderes bestehen.Denn bei letzteren lassen sich, wie ich bereits darge-legt habe, mehrere Streitsätze bilden, und diese beste-hen nothwendig entweder aus zwei oder aus vier Sät-zen, und deshalb können in Bezug auf sie mehr Grün-de aufgestellt werden. Die Eigenthümlichkeiten, wel-che ein Ansich enthalten und immer bestehen, bietendagegen nach vielen Gesichtspunkten Gelegenheitzum Angriff und können für vielerlei Zeiten geprüftwerden, und zwar die, welche Eigenthümlichkeiten ansich sind, deshalb, weil die Eigenthümlichkeit als sol-che für den Gegenstand in Bezug auf jeden anderenGegenstand gelten muss; denn unterschiede er sichdadurch nicht von allen anderen, so wäre die Eigent-hümlichkeit nicht richtig aufgestellt. Ebenso kannman die immer bestehende Eigenthümlichkeit für ver-schiedene Zeiten prüfen, denn wenn sie jetzt nicht

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vorhanden ist, oder wenn sie blos früher einmal be-standen hat, oder wenn sie in der Zukunft nicht blei-ben wird, so ist sie keine solche Eigenthümlichkeit.Ist aber eine Eigenthümlichkeit nur für eine bestimm-te Zeit aufgestellt, so prüft man sie nur auf diese sobestimmte Zeit, und deshalb kann der Angriff sichnicht auf Vieles ausdehnen. Zur Erörterung besondersgeeignet ist eine Streitfrage dann, wenn in Bezug aufsie viele und gute Gründe sich geltend machen lassen.

Was nun die bezüglichen Eigenthümlichkeiten an-langt, so hat man bei diesen nach den bei den neben-sächlichen Bestimmungen erwähnten Gesichtspunktenzu untersuchen, ob die Eigenthümlichkeit dem einenzukommt und dem anderen aber nicht. Was aber dieEigenthümlichkeiten anlangt, welche an sich bestehenoder immer gelten, so ist hier die Prüfung nach fol-genden Gesichtspunkten vorzunehmen.

Zweites Kapitel

Zunächst untersuche man, ob die Eigenthümlich-keit gut, oder nicht gut ausgedrückt worden ist. Diesbestimmt sich einmal nach dem Umstand, ob die Ei-genthümlichkeit durch etwas Bekannteres ausgedrücktist, als der Gegenstand selbst für uns ist, dessen Ei-genthümlichkeit sie sein soll, oder ob dies nicht der

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Fall ist. Ist ersteres nicht geschehen, so kann dies zurWiderlegung benutzt werden; ist es aber geschehen,so dient dies der Begründung des Satzes. Die Eigent-hümlichkeit ist nicht durch Bekannteres ausgedrückt,wenn dabei die Eigenthümlichkeit überhaupt unbe-kannter ist oder unbekannter als der Gegenstand, des-sen Eigenthümlichkeit sie sein soll; denn dann ist sienicht gut ausgedrückt; da man die Eigenthümlichkeitder besseren Erkenntniss des Gegenstandes wegenhervorhebt; deshalb muss sie bekannter sein, als derGegenstand, da er dann besser erkannt werden wird.Wenn man z.B. als Eigenthümlichkeit des Feuers an-gäbe, dass es der Seele am ähnlichsten sei, so ge-braucht man die Seele als etwas, was weniger bekanntist, wie das Feuer (denn man weiss mehr was dasFeuer, als was die Seele ist), und es würde die Eigent-hümlichkeit des Feuers nicht gut ausgedrückt sein,wenn man sagte, es sei das der Seele Aehnlichste.

Sodann ist weiter die Eigenthümlichkeit nicht gutausgedrückt, wenn nicht das Einwohnen derselben indem Gegenstand ebenfalls bekannter, als dieserselbst, ist; denn die Eigenthümlichkeit muss nicht al-lein selbst bekannter sein, als ihr Gegenstand, son-dern auch ihr Einwohnen muss bekannter, als der Ge-genstand sein; denn wer nicht weiss, ob sie dem Ge-genstande einwohnt, wird auch nicht wissen, ob siedem Gegenstande allein einwohnt. Somit wird in

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diesen beiden Fällen die Eigenthümlichkeit nichtdeutlich ausgedrückt sein. Wenn z.B. jemand als eineEigenthümlichkeit des Feuers aufstellte, dass es dasursprünglichste Element sei, aus welchem die Seeleentstanden sei, so würde er mit diesen Bestimmungen,wonach die Seele in dem Feuer enthalten und ur-sprünglich in ihm enthalten sein solle, etwas Unbe-kannteres, als das Feuer selbst ist, aufstellen, und eswäre die Eigenthümlichkeit des Feuers damit nichtgut ausgedrückt, dass man sagte, sie sei das, aus wel-chem ursprünglich die Seele entstanden sei. Dagegenlässt sich mittelst dieses Gesichtspunktes ein Streit-satz begründen, wenn die Eigenthümlichkeit durchetwas Bekannteres und zwar in beiderlei Hinsichtausgedrückt wird. Das Eigenthümliche wird dann fürdiesen Gegenstand gut ausgedrückt sein; denn vonden zur Begründung benutzbaren Gesichtspunkten fürdie Frage, ob die Eigenthümlichkeit gut ausgedrücktsei, ergeben manche nur das Richtige für den in Fragestehenden Gegenstand, andere führen aber allgemeinzu einer richtigen Angabe des Eigenthümlichen.Wenn also jemand als die Eigenthümlichkeit lebenderWesen angegeben hat, dass sie wahrnehmen, so hat erdie Eigenthümlichkeit durch Bekannteres und in be-kannterer Weise nach beiden Gesichtspunkten ausge-drückt, und es wird also dann das Wahrnehmen inguter Weise als die Eigenthümlichkeit lebender

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Wesen ausgedrückt sein.Ferner kann man es zur Widerlegung benutzen,

wenn eines von den Worten, mit denen die Eigent-hümlichkeit ausgedrückt worden ist, zweideutig ist,oder wenn die ganze Rede doppelsinnig ist; denn dieEigenthümlichkeit ist dann nicht gut ausgedrückt. Soist das Wort: Wahrnehmen zweideutig; es bezeichneteinmal den Besitz der Sinne und dann auch den Ge-brauch derselben; deshalb würde die Eigenthümlich-keit des lebenden Wesens nicht gut ausgedrückt sein,wenn als solche das Wahrnehmen angegeben wäre.Deshalb muss man für die Bezeichnung der Eigent-hümlichkeit sich sowohl der zweideutigen Worte wieder doppelsinnigen Reden enthalten, denn das Zwei-deutige macht den Ausspruch unklar, und wer denSatz angreifen will, weiss dann nicht, in welchemSinne er denselben nehmen soll. Das Eigenthümlichesoll ja die Kenntniss erweitern. Dazu kommt, dassder, welcher die Eigenthümlichkeit so ausdrückt, eineWiderlegung erfahren muss, insofern jemand gegenden nicht passenden Sinn der zweideutigen Redeseine Schlüsse richtet. Für die Begründung müssendeshalb weder die Worte noch die ganze Rede eineDoppelsinnigkeit enthalten; erst dann ist die Eigent-hümlichkeit gut ausgedrückt. So ist z.B. weder dasWort: Körper, noch der Ausdruck: am meisten nachoben sich bewegend, noch der daraus gebildete Satz

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mehrdeutig, und deshalb wird die Eigenthümlichkeitdes Feuers, als eines am meisten nach oben sich be-wegenden Körpers, dadurch gut ausgedrückt sein.

Ferner dient es zur Widerlegung, wenn der Gegen-stand, dessen Eigenthümlichkeit angegeben wird,zweideutig ausgedrückt und nicht bestimmter gesagtist, von welchem der mehreren Gegenstände die Ei-genthümlichkeit behauptet wird; denn dann ist die Ei-genthümlichkeit mangelhaft angegeben. Weshalb siedies ist, erhellt aus dem früher Gesagten, denn diedort sich ergebenden Mängel müssen auch hier eintre-ten. So bedeutet z.B. das: »Dieses wissen« mehreres(denn einmal bedeutet es, dass einer das Wissen hat,dann, dass er das Wissen gebraucht, dann, dass er dasWissen von diesem Gegenstande hat und dann, dasser das Wissen an demselben gebraucht); wäre also mitdiesem Ausdruck der Gegenstand des Eigenthümli-chen bezeichnet und nicht angegeben, in welchemSinne der Ausdruck gemeint sei, so wäre das Eigent-hümliche schlecht ausgedrückt. Dagegen dient es zurBegründung eines Satzes, wenn der Gegenstand, vondem die Eigenthümlichkeit angegeben wird, nichtzweideutig, sondern nur als einer und einfach bezeich-net wird; denn dann ist die Eigenthümlichkeit vonihm gut bezeichnet. So ist z.B. das Wort: Mensch nureindeutig, und es wird deshalb die Eigenthümlichkeitein von Natur zahmes Geschöpf zu sein, in Bezug auf

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den Menschen gut ausgedrückt sein.Ferner muss man behufs der Widerlegung auch

darauf achten, ob bei der Bezeichnung der Eigent-hümlichkeit ein und dasselbe mehrfach gesagt wordenist. Dies wird oft, sowohl bei Aufstellung der Eigent-hümlichkeiten, wie bei den Definitionen versehen.Eine so ausgedrückte Eigenthümlichkeit ist nicht gutaufgestellt; denn der Zuhörer wird durch solche Wi-derholung gestört, und es muss deshalb die Sache un-klar werden, und ausserdem den Schein eines blossenPossenspiels annehmen. Dieser Fehler wird auf zwei-erlei Weise begangen; einmal dann, wenn man dassel-be Wort wiederholt gebraucht; z.B. wenn jemand alsdie Eigenthümlichkeit des Feuers angiebt, dass es einKörper sei, welcher der leichteste von allen Körpernsei (denn hier ist das Wort: Körper mehrmals gesagt),zweitens wenn jemand die Worte mit dem Begriffevertauscht; z.B. wenn jemand als die Eigenthümlich-keit der Erde angäbe, sie sei ein Ding, was seinerNatur nach am meisten von allen Körpern nach untentreibe und dann statt des Wortes: Körper, den Aus-druck »solcher Dinge« einschöbe; denn der Körperund ein solches Ding sind ein und dasselbe. Dannwäre auch das Wort: Ding mehrfach gebraucht unddeshalb in keiner von beiden Weisen die Eigenthüm-lichkeit gut ausgedrückt. Für die Begründung dient esaber, wenn dasselbe Wort nicht wiederholt gebraucht

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wird; denn dann ist die Eigenthümlichkeit gut ausge-drückt. Wenn also z.B. jemand als die Eigenthümlich-keit des Menschen bezeichnet, dass er ein der Wissen-schaft fähiges Geschöpf sei, so gebraucht er dasselbeWort nicht wiederholt, und die Eigenthümlichkeitwird dann in diesem Punkte gut ausgedrückt sein.

Es kann ferner für die Widerlegung benutzt wer-den, wenn bei Angabe der Eigenthümlichkeit ein sol-ches Wort gebraucht worden ist, was von jedwedemausgesagt werden kann; denn das, was sich von ande-ren Dingen nicht unterscheidet, kann hier nicht be-nutzt werden, da das als Eigenthümlichkeit Angenom-mene den Gegenstand so bezeichnen muss, dass manihn von allen anderen unterscheiden kann, sowie diesauch die Definition thun muss, und deshalb wird einsolches Eigenthümliches nicht gut ausgedrückt sein.Wenn z.B. jemand als Eigenthümlichkeit der Wissen-schaft angäbe, dass sie in einer durch Gründe nicht zuerschütternden Annahme, die Eines sei, bestehe, sogebrauchte er bei dieser Bezeichnung des Eigenthüm-lichen das: Eines, was jedwedem Dinge zukommt.Deshalb gehört es zu dem Begründen, dass man keinsolches gemeinsames Wort benutzt, sondern nur einsolches, welches die Eigenthümlichkeit von Anderemabscheidet; dann wird die Eigenthümlichkeit gut auf-gestellt sein. Benennt also z.B. jemand als Eigent-hümlichkeit des Geschöpfes, dass es eine Seele habe,

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so benutzt er kein allen gemeinsames Wort und eswird deshalb die so ausgedrückte Eigenthümlichkeitdes Geschöpfes in diesem Punkte gut bezeichnet sein.

Ferner kann es für die Widerlegung benutzt wer-den, wenn von einem Gegenstande mehrere Eigent-hümlichkeiten aufgestellt worden sind, ohne dass diesausdrücklich gesagt worden ist; denn dann ist die Ei-genthümlichkeit nicht gut ausgedrückt, da ja auch beiden Definitionen dem das Wesen ausdrückenden Be-griffe nichts weiter hinzugefügt werden darf. Ebensodarf auch bei den Eigenthümlichkeiten neben demSatze, welcher die betreffende Eigenthümlichkeit aus-drückt, nichts weiter daneben gesagt werden, denndies wäre nutzlos. Bezeichnet jemand als die Eigent-hümlichkeit des Feuers den feinsten und leichtestenKörper, so hat er mehrere Eigenthümlichkeiten ge-nannt (denn jedes von beiden kann in Wahrheit nurvon dem Feuer ausgesagt werden) und deshalb würdeder Ausdruck, dass das Eigenthümliche des Feuersdarin bestehe, dass es der feinste und leichteste Kör-per sei, nicht gut sein. Dagegen nützt es für die Be-gründung, wenn man Eigenthümlichkeiten des Gegen-standes aufstellt, sondern nur eine; denn dann ist indieser Beziehung die Eigenthümlichkeit gut ausge-drückt. Giebt also z.B. jemand als die Eigenthümlich-keit des Feuchten an, dass es ein Körper sei, welchersich jeder Gestalt füge, so hat er nur eine und nicht

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mehrere Eigenthümlichkeiten angegeben, und die Ei-genthümlichkeit des Feuchten wird dann in diesemPunkte gut aufgestellt sein.

Drittes Kapitel

Bei der Widerlegung ist ferner darauf zu achten, obder Gegenstand selbst, von dem die Eigenthümlich-keit angegeben wird, oder ein Einzelnes von ihm zuihrer Bezeichnung benutzt wird; denn dann ist die Ei-genthümlichkeit nicht gut ausgedrückt, da dieselbeder Belehrung dienen soll. Wird nämlich etwas durchsich selbst bezeichnet, so bleibt es gleich unbekanntwie vorher; auch ist das, was zu ihm gehört, erst dasSpätere und deshalb nicht das Bekanntere und damitist also von dem Gegenstande nichts mehr, als vorher,zu lernen. Wenn z.B. jemand als die Eigenthümlich-keit des Geschöpfes bezeichnet, dass eine Art dessel-ben der Mensch sei, so benutzt er zur Bezeichnungder Eigenthümlichkeit des Geschöpfes etwas, wasunter ihm enthalten ist, und die Eigenthümlichkeit istdeshalb nicht gut ausgedrückt. Deshalb darf man beider Bezeichnung der Eigenthümlichkeit eines Gegen-standes weder diesen selbst, noch eine seiner Unterar-ten benutzen; erst dann wird in dieser Beziehung dieEigenthümlichkeit gut aufgestellt sein. Giebt also

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jemand z.B. als Eigenthümlichkeit des lebenden We-sens an, dass es aus einer Seele und einem Leibe be-stehe, so hat er dazu weder es selbst, noch eine seinerArten dazu benutzt, und die Bezeichnung der Eigent-hümlichkeit wird also dann in diesem Punkte gut ge-schehen sein.

Ebenso hat man auch bei anderen Bezeichnungender Eigenthümlichkeit darauf zu achten, ob es den Ge-genstand bekannter macht, oder nicht. Zur Widerle-gung dient dies, wenn bei Bezeichnung der Eigent-hümlichkeit etwas benutzt worden ist, was entwederdem Gegenstand von Natur entgegengesetzt ist, odermit ihm, oder mit einer Unterart derselben völligübereinstimmt; denn dann ist die Bezeichnung der Ei-genthümlichkeit mangelhaft, da weder das der Naturdes Gegenstandes Entgegengesetzte, noch das damitUebereinstimmende, noch eine Unterart desselben denGegenstand bekannter macht. Bezeichnete z.B. Je-mand als Eigenthümlichkeit des Guten das, was demSchlechten am meisten entgegengesetzt ist, so benutz-te er zur Bezeichnung der Eigenthümlichkeit nur dasdem Guten Entgegengesetzte, und sie wäre dann nichtgut ausgedrückt. Vielmehr muss bei Aufstellung einerEigenthümlichkeit zur Bezeichnung derselben wederdas dem Gegenstande Entgegengesetzte, noch das,was mit ihm von ganz gleicher Natur ist, noch eineblosse Unterart desselben benutzt werden; nur dann

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wird in dieser Beziehung die Bezeichnung gut gesche-hen sein. Setzt also jemand als Eigenthümlichkeit derWissenschaft, dass sie die glaubwürdigste Annahmesei, so benutzt er dabei weder ihr Gegentheil, nochetwas der Natur nach mit ihr ganz Gleiches, noch eineUnterart derselben, und deshalb ist die Eigenthüm-lichkeit der Wissenschaft dann in diesem Punkte gutausgedrückt.

Ferner dient es zur Widerlegung, wenn als Eigent-hümlichkeit etwas genannt worden ist, was nichtimmer mit dem Gegenstand verbunden ist, sondernmanchmal auch ihm nicht eigenthümlich ist; dennauch dann ist die Eigenthümlichkeit nicht richtig.Dann wird nämlich weder bei dem Gegenstande, indem die Eigenthümlichkeit wahrgenommen wird, derSatz nothwendig wahr sein, noch wird bei dem Ge-genstande, wo sie nicht wahrgenommen wird, dieVerneinung nothwendig wahr sein.Ueberdem wirdselbst zu der Zeit, wo die Eigenthümlichkeit angege-ben worden, es nicht klar sein, ob sie besteht, da sieder Art ist, dass sie auch ausbleiben kann; deshalb istdie Eigenthümlichkeit auch keine deutliche. Hat z.B.jemand als die Eigenthümlichkeit des Thieres angege-ben, dass es manchmal sich bewegt und manchmalsteht, so hat er eine solche angegeben, die es auchmanchmal nicht ist, und deshalb ist sie nicht gut auf-gestellt. Dagegen dient es der Begründung, wenn die

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Eigenthümlichkeit eine solche ist, die nothwendigimmer dem Gegenstande zukommt; dann wird in die-sem Punkte die Eigenthümlichkeit gut aufgestellt sein.Giebt z.B. jemand als Eigenthümlichkeit der Tugendan, dass sie ihren Inhaber sittlich mache, so hat er einder Tugend stets Zukommendes als Eigenthümlichkeitbezeichnet, und sie wird dann in dieser Beziehung gutausgedrückt sein.

Ferner giebt es einen Grund zur Widerlegung ab,wenn jemand nur eine jetzt vorhandene Bestimmungals Eigenthümlichkeit angiebt, ohne zu sagen, dass ernur eine für jetzt geltende angeben wolle; denn dannist die Eigenthümlichkeit nicht richtig aufgestellt,indem ja alles Ungewöhnliche vorweg bestimmt aus-gedrückt werden muss, da man gewöhnt ist, nur das,was einem Gegenstande immer als Eigenthümlicheszukommt, mit diesem Worte zu bezeichnen. Sodannkann man auch in einem solchen Falle nicht wissen,ob der, welcher so unbestimmt sich ausdrückt, wirk-lich nur das jetzt vorhandene Eigenthümliche gemeinthat. Man darf aber in dieser Weise keinen Anlass zumTadel geben. Hätte z.B. jemand als die Eigenthüm-lichkeit eines Menschen angegeben, dass er sich miteinem Anderen niedergesetzt habe, so hätte er nureine zur Zeit vorhandene Eigenthümlichkeit aufge-stellt, und er hätte dann die Eigenthümlichkeit nichtrichtig bezeichnet, weil er sich nicht bestimmter

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ausgedrückt hätte. Dagegen dient es der Begründung,wenn man bei Aufstellung einer nur jetzt vorhandenenEigenthümlichkeit dies ausdrücklich hervorhebt; denndann ist die Aufstellung eine richtige. Sagt man z.B.:das Eigenthümliche eines bestimmten Menschen seidas Spazierengehen, und hebt man dabei hervor, dassdies nur für die gegenwärtige Zeit gelten solle, so istdie Bezeichnung gut geschehen.

Zur Widerlegung dient es ferner, wenn als Eigent-hümlichkeit eine solche Bestimmung angegeben wird,deren Vorhandensein nur durch die Sinne wahrge-nommen werden kann; denn die Aufstellung ist dannnicht gut geschehen, da alles Wahrnehmbare, wasnicht auch wirklich in die Wahrnehmung fällt, unbe-kannt bleibt; es bleibt dann unerkennbar, ob die Ei-genthümlichkeit noch besteht, weil sie eben nur durchWahrnehmen erkannt werden kann. Dies gilt für sol-che Bestimmungen, die nicht immer mit Nothwendig-keit dem Gegenstande zukommen. Setzt z.B. jemandals Eigenthümlichkeit der Sonne, dass sie das glän-zendste, über die Erde sich bewegende Gestirn sei, sobedient er sich auch Eigenthümlichkeit der Bewegungüber die Erde, die nur durch den Sinn erkannt werdenkann, und die Eigenthümlichkeit ist dann nicht gutaufgestellt; da, wenn die Sonne untergegangen ist, esdann unerkennbar sein wird, ob sie sich über der Erdebewegt, weil da die Wahrnehmung uns im Stich lässt.

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Dagegen dient es zur Begründung eines aufgestelltenSatzes, wenn eine solche Eigenthümlichkeit aufge-stellt worden, die nicht blos durch die Sinne erkenn-bar ist, oder die, wenn sie eine solche ist, wenigstensals eine nothwendige sich herausstellt; denn dann istin dieser Beziehung die Aufstellung gut geschehen.Das ist z.B. dann der Fall, wenn man als Eigenthüm-lichkeit der Oberfläche angiebt, dass sie das sei, waszuerst gefärbt wird; hier benutzt man zwar etwasSinnliches, die Farbe, aber doch ein solches, was of-fenbar immer besteht, und deshalb wird in dieser Be-ziehung diese Eigenthümlichkeit der Oberfläche gutaufgestellt sein.

Ferner giebt es einen Grund zur Widerlegung,wenn jemand den Begriff einer Sache als ihre Eigent-hümlichkeit aufstellt; denn sie wäre dann nicht richtigaufgestellt, da die Eigenthümlichkeit das Was derSache nicht angeben soll. Gäbe z.B. jemand als Ei-genthümlichkeit des Menschen an, dass er ein zwei-füssiges, auf dem Lande lebendes Geschöpf sei, sohätte er das Was des Menschen als die Eigenthüm-lichkeit desselben angegeben und wäre nicht richtigverfahren. Dagegen dient es der Begründung, wennman als Eigenthümlichkeit etwas bezeichnet, waszwar im Satze sich mit seinem Gegenstande austau-schen lässt, aber doch das Was der Sache nicht an-giebt; und dann würde die Eigenthümlichkeit richtig

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aufgestellt sein; z.B. wenn jemand als Eigenthümlich-keit des Menschen angäbe, dass er ein von Natur zah-mes Geschöpf sei; dann würde diese Eigenthümlich-keit zwar im Satze sich mit dem Menschen austau-schen lassen, aber sie würde doch nicht das wesentli-che Was des Menschen angeben, und deshalb würdedie Bezeichnung in diesem Punkte richtig sein.

Ferner giebt es einen Grund zur Widerlegung,wenn die Eigenthümlichkeit nicht von dem Was desGegenstandes aufgestellt worden ist. Denn man mussbei der Eigenthümlichkeit, wie bei der Definition, zu-nächst die Gattung angeben, und dann erst das Uebri-ge dem anpassen und so es von Anderem absondern;ohnedem wird das Eigenthümliche nicht richtig aus-gedrückt sein. Sagte also z.B. jemand, es sei die Ei-genthümlichkeit des Geschöpfes, dass es eine Seelehabe, so hätte er das Was des Geschöpfes nicht ge-nannt, und deshalb wäre die Eigenthümlichkeit desGeschöpfes nicht richtig aufgestellt. Dagegen dient esder Begründung, wenn auch das Was des Gegenstan-des genannt wird und dann das Uebrige hinzugefügtwird; dann ist die Eigenthümlichkeit in diesem Punktegut aufgestellt. Z.B. wenn man als die Eigenthümlich-keit des Menschen aufstellte, dass er ein Geschöpfsei, was der Wissenschaft fähig sei; denn dann wäredas Eigenthümliche an das Was geknüpft und deshalbin diesem Punkte die Eigenthümlichkeit des

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Menschen gut aufgestellt.

Viertes Kapitel

Nach den bisher angegebenen Gesichtspunkten istalso zu prüfen, ob das Eigenthümliche richtig ausge-drückt worden ist; dagegen kann aus dem Nachfol-genden ersehen werden, ob die angegebene Bestim-mung überhaupt eine Eigenthümlichkeit ist oder nichtist. Die Gesichtspunkte, wonach das Eigenthümlicherichtig ausgedrückt wird, fallen mit denen, worausauch eine wahre Eigenthümlichkeit ergiebt, zusam-men; jene werden also durch diese mit befasst. Behufsder Widerlegung hat man zunächst bei den einzelnenGegenständen, von denen insgesammt eine Eigent-hümlichkeit aufgestellt worden ist, zu prüfen, ob sieetwa bei keinem derselben vorhanden ist, oder ob siebei demselben nicht als solchem zutrifft, oder ob dieEigenthümlichkeit es nicht von jedem Gegenstande indem Sinne ist, in welchem sie für den aufgestelltenGegenstand ausgesagt ist; denn in solchem Falle wirddie aufgestellte Eigenthümlichkeit nicht die richtigesein. Wenn es z.B. bei dem Geometer nicht richtig ist,dass er in seinen Schlüssen sich nicht irren könne(denn der Geometer kann durch eine falsche Verzeich-nung der Figur sich irren), so kann es nicht als die

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Eigenthümlichkeit eines wissenschaftlichen Mannesgelten, dass er sich nicht irre. Wenn dagegen die Be-gründung etwas als die Eigenthümlichkeit für alle er-weist, und zwar in dem Sinne, wie sie dem Gegen-stande beigelegt worden ist; dann ist die aufgestellteEigenthümlichkeit die wahre. Wenn z.B. für jedenMenschen, und zwar als Menschen, als Eigenthüm-lichkeit gilt, dass er ein der Wissenschaft fähiges Ge-schöpf ist, so wird dies eine Eigenthümlichkeit desMenschen sein, dass er ein der Wissenschaft fähigesGeschöpf ist. Dagegen kann dieser Gesichtspunktdann für die Widerlegung benutzt werden, wenn beidem Gegenstande, wo der Name richtig ist, der Be-griff nicht passt und wenn umgekehrt, da, wo der Be-griff passt, der Name nicht der rechte ist; für die Be-gründung dient es aber, wenn da, wo der Name richtigist, auch der Begriff passt und wenn da, wo der Be-griff ausgesagt werden kann, auch der Name es kann.

Es dient ferner zur Widerlegung, wenn für die Ge-genstände, für welche der Name gilt, der Begriff derangegebenen Eigenthümlichkeit nicht passt, oderwenn von dem, was der Begriff der angegebenen Ei-genthümlichkeit befasst, der Name des Gegenstandesnicht ausgesagt werden kann. Wenn z.B. von derGottheit in Wahrheit gesagt werden kann, dass sie einan der Wissenschaft Theil habendes Wesen sei, sokann, da der Name Mensch die Gottheit nicht befasst,

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auch das an der Wissenschaft Theil-haben keine Ei-genthümlichkeit des Menschen sein. Dagegen dient eszur Begründung, wenn da, wo der Begriff der Eigent-hümlichkeit passt, auch der Name des Gegenstandesausgesagt werden kann und wenn da, wo dieser Namepasst, auch der Begriff des Eigenthümlichen ausge-sagt werden kann; denn es wird dann die Eigenthüm-lichkeit die wahre sein, wenn auch in dem vom Geg-ner aufgestellten Satze dies bestritten wird. Wennz.B. da, wo das: eine - Seele - Haben richtig ist,auch der Name: Geschöpf passt, und wenn da, wo derName: Geschöpf richtig ist, das: eine-Seele-Habenvorhanden ist, so ist das: »eine-Seele-Haben« eine Ei-genthümlichkeit des Geschöpfes.

Ferner kann es zur Widerlegung benutzt werden,wenn ein Unterliegendes als das Eigenthümliche einesim Unterliegenden Enthaltenen aufgestellt wird; wennz.B. als die Eigenthümlichkeit des leichtesten Körpersdas Ferner- und somit das Unterliegende als die Ei-genthümlichkeit eines von ihm Ausgesagten angege-ben wird; denn das Feuer kann nicht eine Eigenthüm-lichkeit des leichtesten Körpers sein. Das Unterlie-gende kann nämlich deshalb nicht die Eigenthümlich-keit einer in ihm enthaltenen Bestimmung sein, weilletztere die Eigenthümlichkeit von mehreren und derArt nach verschiedenen Gegenständen bilden kann.Denn in ein und demselben Gegenstande sind mehrere

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der Art nach verschiedene Eigenschaften vorhanden,welche von ihm allein ausgesagt werden, und erwürde das Eigenthümliche von allen diesen Eigen-schaften bilden, wenn das Eigenthümliche in dieserWeise aufgestellt würde. Dagegen dient es der Be-gründung, wenn das in dem Unterliegenden Enthal-tene als eine Eigenthümlichkeit des Unterliegendenausgesagt wird; denn es wird dann das, was nach derAufstellung des Gegners keine Eigenthümlichkeit ist,doch eine solche sein, sofern es nur von den Gegen-ständen allein ausgesagt wird; von denen es als Ei-genthümliches behauptet wird. Hat z.B. jemand alsEigenthümlichkeit der Erde die Eigenschaft angege-ben, dass sie der der Art nach schwerste Körper sei,so hat er diese Eigenschaft nur von dem Unterliegen-den angegeben und von dem Gegenstande, von demallein sie ausgesagt werden kann, und die Eigenthüm-lichkeit der Erde ist dann richtig angegeben.

Ferner kann es zur Widerlegung benutzt werden,wenn die Eigenthümlichkeit nach dem Teilhaben an-gegeben worden ist; denn ein so aufgestelltes Eigent-hümliche ist keines; da das, was in der Weise desTheilhabens einem Gegenstande einwohnt, zu demWas desselben gehört; es würde der Art-Unterschiedin Bezug auf eine besondere Art sein. Wenn z.B. je-mand sagte: das »zweifüssig auf dem Lande lebend«sei die Eigenthümlichkeit des Menschen, so wäre dies

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falsch. Dagegen dient es der Begründung, wenn mandie Eigenthümlichkeit weder nach seinem Theilhabenaufstellt, noch dieselbe das wesentliche Was des Ge-genstandes anzeigt, wenn sie mit dem Gegenstande imSatze ausgetauscht wird. Denn dann wird es das Ei-genthümliche sein, wenn auch der Gegner es leugnet.Hat z.B. jemand als Eigenthümlichkeit des Geschöp-fes aufgestellt, dass es von Natur des Wahrnehmensfähig sei, so hat er sie weder nach dem Theilhabenaufgestellt, noch damit das Was des Gegenstandesausgesagt, wenn sie mit dem Gegenstande im Satzeausgetauscht wird, und deshalb wird die von Naturbestehende Wahrnehmungsfähigkeit eine Eigenthüm-lichkeit des Geschöpfes sein.

Ferner dient, es zur Widerlegung, wenn die Eigent-hümlichkeit nicht zugleich mit dem angegebenen Ge-genstande besteht, sondern entweder später oder frü-her als der Gegenstand bestehen kann; denn ein sol-ches ist entweder niemals oder nicht immer eine Ei-genthümlichkeit. So kann z.B. das »über-den-Markt-Gehen« schon früher oder später als derMensch bei einem Wesen statt haben, und es kanndeshalb nicht eine Eigenthümlichkeit des Menschensein und zwar entweder niemals, oder wenigstensnicht für alle Zeit. Dagegen dient es der Begründung,wenn die Eigenthümlichkeit immer gleichzeitig mitdem Gegenstande und zwar nothwendig besteht, und

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sie weder dessen Begriff noch ein Art-Unterschieddesselben ist, denn dann wird sie, wenn sie auch indem aufgestellten Streitsatze nicht als Eigenthümlich-keit anerkannt wird, doch immer ein Eigenthümlichessein. So besteht z.B. das der Wissenschaft fähige Ge-schöpf nothwendig immer zugleich mit dem Men-schen, und jenes ist weder ein Art-Unterschied nochder Begriff des Menschen; deshalb wird das der Wis-senschaft fähige Geschöpf die Eigenthümlichkeit desMenschen sein.

Zur Widerlegung dient es ferner, wenn von densel-ben Gegenständen, insoweit sie solche sind, das Ei-genthümliche nicht bei allen dasselbe ist; denn dannist die aufgestellte Bestimmung kein Eigenthümli-ches. Wenn z.B. es keine Eigenthümlichkeit des Be-gehrten ist, dass es Manchen gut zu sein scheint, sowird diese Bestimmung auch keine Eigenthümlichkeitdes Gewünschten sein; denn das Begehrte und Ge-wünschte sind ein und dasselbe. Dagegen gehört eszur Begründung, dass dieselbe Eigenthümlichkeit füralles gelte, was dasselbe und zwar als solches ist;denn dann wird es, auch wenn der Gegner dies be-streitet, ein Eigenthümliches sein. Wenn z.B. vomMenschen als solchem die Eigenthümlichkeit aufge-stellt wird, dass er eine dreitheilige Seele habe, unddies von den Sterblichen als solchen gilt, so wirddiese Bestimmung auch eine Eigenthümlichkeit jenes

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sein. Dieser Gesichtspunkt ist auch bei dem neben-sächlich-Ausgesagten benutzbar; denn den einzelnengleichen Dingen muss als solchen auch dasselbe Ne-bensächliche einwohnen oder nicht einwohnen.

Auch dient es der Widerlegung, wenn bei den derArt nach gleichen Dingen die Eigenthümlichkeit derArt nach nicht überall dieselbe ist. Denn dann ist dieangegebene Bestimmung keine Eigenthümlichkeit desbetreffenden Gegenstandes. So sind z.B. der Menschund das Pferd der Gattung nach gleich; aber es istkeine stets gültige Eigenthümlichkeit des Pferdes, vonselbst still zu stehen, und deshalb wird auch bei demMenschen das sich-von-selbst-Bewegen keine Eigent-hümlichkeit sein; denn das sich-von-selbst-Bewegenund von-selbst-Stehen-bleiben ist der Art nach dassel-be, insofern dem Geschöpf als solchen jedes von bei-den zukommt. Dagegen dient es der Begründung,wenn bei der Art nach gleichen Dingen dieselbe Be-stimmung als Eigenthümlichkeit gilt; denn dann wirdtrotz des entgegengesetzten Streitsatzes es eine Ei-genthümlichkeit sein. So ist es dem Menschen eigent-hümlich, dass er ein zweifüssiges auf dem Lande le-bendes Geschöpf ist, und dem Vogel ist es eigent-hümlich, dass er ein zweifüssiges Fliegendes ist; jedesvon beiden ist der Art nach sich gleich, da derMensch und der Vogel Arten ein und derselben Gat-tung sind, indem sie beide unter den Geschöpfen

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befasst sind und die letzteren Bestimmungen zu demArt-Unterschiede des Geschöpfes gehören.

Indess führt dieser Gesichtspunkt zum Irrthum,wenn von den angegebenen Bestimmungen die einenur einer Art zukommt, die andere aber mehrerenArten; wie dies z.B. bei dem »vierfüssigen auf demLande lebenden« der Fall sein würde.

Da indess die Worte: Dasselbe und Verschiedenvieldeutig sind, so ist es einem sophistischen Gegnergegenüber schwierig, das Eigenthümliche von einemGegenstande und nur von diesem allein anzugeben.Denn das, was in einem Gegenstande enthalten ist,dem etwas Nebensächliches anhaftet, wird auch indem Nebensächlichen zusammen mit seinem Gegen-stande genommen enthalten sein. So wird das, was indem Menschen enthalten ist, auch in dem weissenMenschen enthalten sein, wenn dieser Mensch einweisser ist, und das, was in dem weissen Menschenenthalten ist, wird auch in dem Menschen überhauptenthalten sein. Hier könnte nun der Sophist das Meh-rere bei solchen Eigenthümlichkeiten verfälschen,indem er das Unterliegende für sich als ein Andereswie das mit dem Nebensächlichen behaftete Unterlie-gende erklärte, und z.B. sagte, dass der Mensch undder weisse Mensch jedes ein Anderes wäre, indem derSophist den Zustand und den danach benannten Ge-genstand zu Verschiedenem machte, weil das, was in

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einem Zustande enthalten sei, auch dem danach be-nannten Gegenstande einwohne und umgekehrt dasdem Gegenstande Einwohnende auch dem Zustande.Gälte z.B. jemand in Bezug auf eine Wissenschaft alsein Wissender, so wäre die Eigenschaft, wonachetwas durch keine Gründe zu einer anderen Ueberzeu-gung zu bringen ist, nicht die Eigenthümlichkeit derWissenschaft; denn auch der Wissende sei einer, wel-cher zu keiner anderen Ueberzeugung zu bringen sei.Behufs der Vertheidigung muss man also dagegengeltend machen, dass der Gegenstand, dem eine Ei-genschaft zukommt und diese Eigenschaft selbst mit-sammt dem Gegenstande, dem sie zukommt, über-haupt hier nicht zwei verschiedene Dinge seien, son-dern dass derselbe Gegenstand dann nur verschiedenbenannt werde, weil sein Sein verschieden ist; dennfür den Menschen ist dessen Mensch-sein nicht das-selbe wie für den weissen Menschen dessen »weis-ser-Mensch-sein«.

Auch muss man auf die Wortbeugungen Achthaben und sagen, dass deshalb, weil der Wissendenicht Das durch Gründe nicht zu Ueberredende sei,auch die Wissenschaft nicht Das durch Gründe nichtzu Ueberredende sei; sondern dass jener Der durchGründe nicht zu Ueberredende und die WissenschaftDie nicht durch Gründe zu Ueberredende sei; denngegen den, der in jeder Weise mit Einwürfen kommt,

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muss man sich auch auf jede Weise vertheidigen.

Fünftes Kapitel

Ferner dient es zur Widerlegung, wenn jemand einvon Natur einwohnendes Eigenthümliches in seinemaufgestellten Satze als ein solches bezeichnet, wasimmer in dem Gegenstande enthalten ist; denn ein soaufgestelltes Eigenthümliches lässt sich widerlegen.Wenn z.B. jemand als das Eigenthümliche des Men-schen das Zweifüssige aufstellt und er dies als ein na-türliches Eigenthümliches kennzeichnen will, aber inseinem Satze es als ein immer am Menschen Vorhan-denes ausdrückt, so wird dies so ausgedrückte Zwei-füssige nicht das Eigenthümliche des Menschen sein,denn nicht jeder Mensch hat zwei Füsse. Für die Be-gründung ist es also nöthig, dass, wenn man das Ei-genthümliche als das Natürliche eines Gegenstandesbezeichnen will, man dies auch in dem Satze dem ent-sprechend ausdrücke, denn dann wird das so Bezeich-nete in dieser Hinsicht nicht umgestossen werdenkönnen. Hat also z.B. jemand als das Eigenthümlichedes Menschen angegeben, dass er ein der Wissen-schaft fähiges Geschöpf sei, und bezeichnet er sowohlnach seiner Absicht, wie nach seinen Worten sie alseine natürliche Eigenthümlichkeit, so wird Niemand

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diesen Satz in dieser Fassung umstossen können.Es ist ferner schwierig, das Eigenthümliche da an-

zugeben, wo es sowohl von einem Ursprünglichen,als auch von einem anderen darauf Bezüglichen aus-gesagt werden kann; giebt man es nämlich als das Ei-genthümliche des auf das Ursprüngliche bezogenenGegenstandes an, so wird es auch für das Ursprüngli-che selbst gelten müssen, und wenn man es von demUrsprünglichen aufstellt, so wird es auch von dem aufdas Ursprüngliche bezogenen Anderen gelten müssen.Giebt man z.B. als Eigenthümlichkeit der Oberflächean, dass sie gefärbt werden könne, so wird dies auchvon dem Körper derselben in Wahrheit gesagt werdenkönnen und sagt man es von dem Körper, so wird esauch von dessen Oberfläche gelten; so dass also Ge-genstände, wo derselbe Begriff der Eigenthümlichkeitgilt, nicht immer dem Namen nach richtig bezeichnetsein werden.

Bei manchen Eigenthümlichkeiten wird meist daringefehlt, dass man nicht näher bestimmt, wie das Ei-genthümliche oder von welchen Gegenständen es ge-meint sei. Man setzt nämlich im Allgemeinen das Ei-genthümliche entweder als ein von Natur Einwohnen-des, wie z.B. das Zweifüssige bei dem Menschen,oder als ein einfach Seiendes, wie z.B. dasnur-vier-Finger-Haben, bei diesem bestimmten Men-schen, oder als ein der Art Einwohnendes, wie z.B.

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beim Feuer, dass es der leichteste Körper ist, oder alseine Eigenschaft überhaupt, wie z.B. das Leben beidem Geschöpf, oder als eine Beziehung auf Anderes,wie z.B. das Kluge bei der Seele, oder als ein Ober-stes, wie z.B. des Klugen bei dem vernünftigen Theileder Seele, oder als ein Haben, wie z.B. bei dem Inha-ber der Wissenschaft das der- Ueberre-dung-unzugänglich-Sein (denn nur weil er etwas innehat, ist er der Ueberredung unzugänglich), oder als einGehabt-werden, wie bei der Wissenschaft das der-Ueberredung-unzugänglich-Sein; oder als ein Er-fasst-werden, wie das Wahrnehmen bei dem Geschöpf(denn auch Anderes, z.B. der Mensch nimmt wahr,allein er thut es nur vermöge seiner Theilnahme andem Begriff Geschöpf), oder als ein Theilhaben, wiedas Leben bei einem einzelnen Geschöpfe.

Setzt man nun in dem ersten dieser Fälle nicht das»von Natur« hinzu, so begeht man einen Fehler, weildas von Natur Eigenthümliche auch einmal dem, wel-chem es von Natur zukommt, fehlen kann, wie z.B.einem Menschen, dass er zwei Füsse hat. Ebenso fehltman, wenn man das einfach daseiende Eigenthümli-che nicht als solches bezeichnet, weil solches Eigent-hümliche auch später nicht so sein kann, wie es jetztbesteht, wie z.B. dass der Mensch vier Finger habe!Ebenso ist es ein Fehler, wenn man nicht bestimmtangiebt, ob man die Eigenthümlichkeit von dem

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Ursprünglichen oder ob man sie von einem anderendarauf sich Beziehenden aufstellt; weil dann derName des Gegenstandes und der Begriff der Eigent-hümlichkeit nicht immer zusammen stimmen werden,wie wenn z.B. das Gefärbtsein als Eigenthümlichkeitder Oberfläche oder des Körpers bezeichnet wird.Ebenso wird gefehlt, wenn man nicht vorher sagt, obman die Eigenthümlichkeit auf das Haben, oder dasGehabtwerden stütze; denn stützt man die Eigenthüm-lichkeit auf letzteres, so wird sie dem Besitzer zukom-men, stützt man sie aber auf das Haben, so wird siedem Besessenen zukommen, z.B. wenn das »derUeberredung durch Gründe unzugänglich-Sein« alsEigenthümlichkeit der Wissenschaft oder des Wissen-den aufgestellt wird. Giebt man ferner nicht im Vor-aus an, ob auf dem Theilhaben an einem höheren Be-grifflichen oder auf dem Befasstwerden des höherenBegrifflichen die Eigenthümlichkeit sich stützt, sowird das Eigenthümliche auch in anderen Dingen ent-halten sein; denn wenn es auf dem Befasstwerden desHöheren beruht, so wird es dem Untergeordneten zu-kommen, und wenn es auf dem Theilhaben am Hö-hern beruht, dem Untergeordneten; z.B. wenn jemanddas Leben als die Eigenthümlichkeit eines einzelnenGeschöpfes oder des Geschöpfes überhaupt aufstellt.

Man begeht ferner einen Fehler, wenn man bei Be-stimmung des Eigenthümlichen der Art nach nicht

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angiebt, dass es nur einem Einzelnen von den darun-ter Befindlichen zukomme, von welchen das Eigent-hümliche aufgestellt wird; denn das höchste Masseiner Eigenschaft kommt nur einem zu, z.B. wennman von dem Feuer als Eigenthümlichkeit die grössteLeichtigkeit aussagt. Mitunter kann auch gefehlt wer-den, wenn man das Eigenthümliche der Art nach be-stimmt, denn es muss in solchem Falle nur eine Artvon dem angegebenen Gegenstande bestehen; diestrifft aber manchmal nicht zu, so z.B. auch bei demFeuer nicht; denn es giebt nicht blos eine Art vonFeuer, vielmehr sind die Kohlengluth und die Flammeund das Licht der Art nach verschieden, obgleichjedes von ihnen Feuer ist. Deshalb darf, wenn man dieEigenthümlichkeit der Art nach bestimmt, es nebender genannten nicht noch andere Arten geben, weildann das benannte Eigenthümliche der einen Artmehr, der anderen weniger zukommen wird; wie wennz.B. beim Feuer das Leichteste-sein als Eigenthüm-lichkeit genannt worden; denn das Licht ist leichterals die Kohlengluth und die Flamme. Eine solche Be-stimmung des Eigenthümlichen ist daher unzulässig,wenn nicht auch der benannte Gegenstand selbst dasich steigert, wo die Eigenthümlichkeit sich steigert,denn wo dies nicht der Fall ist, wird bei der gesteiger-ten Eigenthümlichkeit die Steigerung des Gegenstan-des fehlen. Dazu kommt noch, dass die

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Eigenthümlichkeit dann als dieselbe angegeben wirdfür den Gegenstand überhaupt und für die besondereArt, welche in der Gattung am meisten diese Eigent-hümlichkeit besitzt, wie das z.B. bei dem Feuer statthat, wenn von ihm ohne näheren Zusatz als Eigent-hümlichkeit angegeben wird, dass es der leichtesteKörper sei; denn auch von dem Licht ist es die Ei-genthümlichkeit, da das Licht der leichteste Körperist. Wenn sonach der Gegner eine Eigenthümlichkeitmangelhaft aufstellt, so muss man ihn hiernach an-greifen; stellt man aber selbst den Satz auf, so mussman dem Gegner zu diesem Einwurfe keine Gelegen-heit geben, sondern gleich bei Aufstellung des Satzesbestimmt angeben, in welchem Sinne die Eigenthüm-lichkeit zu verstehen sei.

Bei dem Widerlegen hat man ferner darauf zu ach-ten, ob der Gegenstand selbst als das Eigenthümlichevon ihm aufgestellt worden ist; denn dann ist dieskeine Eigenthümlichkeit, weil jeder Gegenstand alssolcher von sich nur sein Sein angiebt, und eine dasSein angebende Bestimmung keine Eigenthümlich-keit, sondern eine Definition ist. Giebt z.B. jemandals die Eigenthümlichkeit des Sittlichen das sich Ge-ziemende an, so hat er das Sittliche als das Eigent-hümliche des Sittlichen selbst angegeben (denn dasSittliche und das Geziemende sind dasselbe) und des-halb ist das Geziemende nicht die Eigenthümlichkeit

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des Sittlichen. Bei dem Aufstellen eines Satzes mussman also darauf achten, dass man nicht den Gegen-stand als die Eigenthümlichkeit von ihm selbst auf-stellt, aber dabei müssen doch das Eigenthümlicheund der Gegenstand, also beide von einander, ausge-sagt werden können; denn dann wird die Eigenthüm-lichkeit die richtige sein, wenn der Gegner auch dasEntgegengesetzte aufgestellt haben sollte. Setzt alsoz.B. jemand als Eigenthümlichkeit des Geschöpfesdas Beseelt-sein, so hat er den Gegenstand nichtselbst als seine Eigenthümlichkeit aufgestellt, unddoch kann Beides auch von einander ausgesagt wer-den; das Beseeltsein wird daher die Eigenthümlichkeitdes Geschöpfes sein.

Zur Widerlegung dient es ferner, wenn jemand voneinem in seinen Theilen gleichartigen Gegenstandeeine Eigenthümlichkeit angegeben hat, welche fürseine Theile nicht richtig ist, oder wenn die vom Thei-le angegebene Eigenthümlichkeit nicht von dem Gan-zen ausgesagt werden kann; denn die Eigenthümlich-keit ist dann nicht die wahre. Dies geschiet mitunter;denn Mancher giebt wohl von solchen gleichartigenDingen die Eigenthümlichkeit nur im Hinblick aufdas Ganze an und manchmal nur die, welche nur vondem Theile ausgesagt werden kann, indem er nur dar-auf seine Aufmerksamkeit richtet; allein es wird dannin beiden Fällen die Eigenthümlichkeit nicht richtig

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angegeben sein. So geschieht dies z.B. nur in Bezugauf das Ganze, wenn jemand als die Eigenthümlich-keit des Meeres aufstellt, dass es das meiste salzigeWasser enthalte; hier hat er zwar die Eigenthümlich-keit von dem aus gleichen Theilen bestehenden Gan-zen angegeben; aber sie selbst passt nicht für die ein-zelnen Theile des Meeres (denn ein einzelnes Meerenthält nicht das meiste salzige Wasser), und deshalbkann dies keine Eigenthümlichkeit des Meeres sein.Ebenso ist es derselbe Fehler, wenn nur auf die Theilegesehen wird, z.B. wenn jemand als die Eigenthüm-lichkeit der Luft angiebt, dass sie eingeathmet werdenkönne. Hier hat er zwar die Eigenthümlichkeit vonetwas in seinen Theilen Gleichartigem angegeben,aber doch so, dass es nur von einem Theile der Luft,aber nicht von der ganzen gilt (denn die ganze Luftkann nicht eingeathmet werden), und deshalb ist dieseBestimmung keine Eigenthümlichkeit der Luft. BeiAufstellung eines Satzes hat man daher zu prüfen, obdie Eigenthümlichkeit für jeden Theil des gleicharti-gen Gegenstandes gilt, denn dann ist es auch die Ei-genthümlichkeit für den ganzen und die wahre, wennder Gegner es auch bestreitet. Wenn z.B. von jedemTheile der Erde als Eigenthümlichkeit gilt, dass sievon Natur nach unten sich bewegt, so ist dies auchvon einem einzelnen Theile der Erde die Eigenthüm-lichkeit, und so wird dieses »von - Natur - nach -

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unten - sich - Bewegen« in Wahrheit die Eigenthüm-lichkeit der Erde sein.

Sechstes Kapitel

Man muss ferner die Prüfung auf die Gegensätzerichten, und zwar muss man zunächst bei den gegen-theiligen Dingen behufs der Widerlegung untersu-chen, ob etwa zu dem Gegentheile des Gegenstandesdas Gegentheil von dessen Eigenthümlichen nicht alsEigenthümliches gehören sollte; denn dann ist auchdas aufgestellte Eigenthümliche es nicht von seinemGegenstande. Da z.B. das Gegentheil der Gerechtig-keit die Ungerechtigkeit und das Gegentheil des Be-sten das Schlechteste ist, so ist, wenn das Beste nichtdas Eigenthümliche der Gerechtigkeit ist, auch dasSchlechteste nicht die Eigenthümlichkeit der Unge-rechtigkeit. Zur Begründug dient es dagegen, wenndas Gegentheil des Eigenthümlichen auch das Eigent-hümliche von dem Gegentheile des Gegenstandes ist;denn dann wird auch ersteres das Eigenthümliche desGegenstandes sein. Ist z.B. das Schlechte das Gegen-theil des Guten und das Wünschenswerthe das Gegen-theil von dem zu Fliehenden und ist das Wünschens-werthe die Eigenthümlichkeit des Guten, so wird auchdas zu Fliehende die Eigenthümlichkeit des

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Schlechten sein.Zweitens dienen die gegensätzlichen Beziehungen

zur Widerlegung, wenn bei zwei Beziehungen dassich Beziehende nicht das Eigenthümliche des andernsich Beziehenden ist; denn dann wird auch das eineBezogene nicht das Eigenthümliche des anderen Be-zogenen sein. Wenn z.B. das Doppelte sich auf dasHalbe bezieht und das Ueberragende sich auf dasUeberragte bezieht, und wenn das Ueberragende nichtdas Eigenthümliche des Doppelten ist, so wird auchdas Ueberragte nicht das Eigenthümliche des Halbensein. Zur Begründung dient es aber, wenn das Entge-gengesetzte hiervon stattfindet; dann wird, wenn vondem ersten Stücke beider Beziehungen das eine derGegenstand und das andere das ihm zukommende Ei-genthümliche sind, dies auch für die zweiten Stückein beiden Beziehungen gelten. Bezieht sich also z.B.das Doppelte auf das Halbe und die Zwei auf die Einsund ist das Eigenthümliche des Doppelten dasselbewie das Verhältniss der Zwei zur Eins, so wird auchdas Eigenthümliche des Halben das Verhältniss derEins zur Zwei sein.

Drittens dient es zur Widerlegung, wenn von demHaben das nach dem Haben Benannte nicht sein Ei-genthümliches ist; denn dann wird auch das von derBeraubung nach der Beraubung Benannte nicht des-sen Eigenthümliches sein. Ebenso kann, wenn das

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nach der Beraubung Benannte nicht das Eigenthümli-che der Beraubung ist, auch das nach dem Haben Be-nannte nicht das Eigenthümliche des Habens sein. Daz.B. das Unempfindlich-sein nicht als die Eigenthüm-lichkeit der Taubheit gilt, so wird auch das Empfind-lich-sein nicht das Eigenthümliche des Gehörs sein.Zur Begründung dient es aber, wenn das nach demHaben Benannte die Eigenthümlichkeit des Habensist, denn dann wird auch das nach der Beraubung Be-nannte das Eigenthümliche der Beraubung sein, undumgekehrt wird, wenn letzteres gilt, dasselbe auchvon dem Haben und dessen Eigenthümlichen gelten.Ist z.B. das Sehen die Eigenthümlichkeit des Ge-sichts, inwiefern wir dasselbe haben, so wird auch dasNichtsehen die Eigenthümlichkeit der Blindheit sein,insofern wir des Gesichts beraubt sind, obgleich wirvon Natur das Gesicht besitzen.

Ferner dienen die Bejahungen und Verneinungenzur Widerlegung, und zwar zunächst die ausgesagtenBestimmungen selbst. Dieser Gesichtspunkt kann nurzu Widerlegungen benutzt werden. Ist z.B. das demGegenstand bejahend Beigelegte, oder das danach Be-nannte das Eigenthümliche desselben, so ist die Ver-neinung desselben oder das danach Benannte nichtdas Eigenthümliche des Gegenstandes; und wenn dasvon dem Gegenstand Verneinte, oder danach Benann-te das Eigenthümliche desselben ist, so ist die

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Bejahung und das nach ihr Benannte nicht das Eigent-hümliche des Gegenstandes. Wenn z.B. das Eigent-hümliche des Geschöpfes in der Beseelung besteht, sowird das Seelenlose nicht die Eigenthümlichkeit desGeschöpfes sein.

Sodannn kann das Ausgesagte so wie dessen Ver-neinung und der Gegenstand, von dem es ausgesagtoder nicht ausgesagt wird, zur Widerlegung benutztwerden, wenn die bejahte Bestimmung von dem be-jahten Gegenstand nicht das Eigenthümliche ist; denndann wird auch die Verneinung jener nicht die Eigent-hümlichkeit des die Verneinung des Gegenstandesenthaltenden Gegenstandes sein. Ist ferner die Vernei-nung der Eigenthümlichkeit nicht das Eigenthümlichevon der Verneinung des Gegenstandes, so wird auchdie bejahte Bestimmung nicht das Eigenthümliche desbejahten Gegenstandes sein. Ist z.B. das Geschöpfnicht das Eigenthümliche des Menschen, so wird auchdas Nicht-Geschöpf nicht das Eigenthümliche desNicht-Menschen sein. Und wenn das Nicht-Geschöpfnicht als das Eigenthümliche des Nicht-Menschengilt, so wird auch das Geschöpf nicht das Eigenthüm-liche des Menschen sein. Bei der Aufstellung einesSatzes hat man dagegen zu prüfen, ob von dem bejah-ten Gegenstande die bejahte Bestimmung sein Eigent-hümliches ist; denn dann wird auch von der Vernei-nung des Gegenstandes die Verneinung dieser

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Bestimmung dessen Eigenthümliches sein; und ist dieVerneinung dieser Bestimmung das Eigenthümlicheder Verneinung des Gegenstandes, so wird auch dieBejahung der Bestimmung das Eigenthümliche desGegenstandes sein. Ist z.B. das Nicht-Leben das Ei-genthümliche des Nicht-Geschöpfes, so wird auch dasLeben das Eigenthümliche des Geschöpfes sein, undwenn das Leben sich als die Eigenthümlichkeit desGeschöpfes zeigt, so wird auch das Nicht-Leben dieEigenthümlichkeit des Nicht-Geschöpfes sein.

Drittens kann in Bezug auf das Unterliegende dieWiderlegung erfolgen, wenn die angegebene Bestim-mung das Eigenthümliche desselben ist, denn dannkann dasselbe nicht auch das Eigenthümliche seinerVerneinung sein; und ist es das Eigenthümliche seinerVerneinung, so kann es nicht das Eigenthümliche desUnterliegenden selbst sein. Ist z.B. das Beseelte dasEigenthümliche des Geschöpfes, so kann es nicht dasEigenthümliche vom Nicht-Geschöpfe sein. Zur Be-gründung könnte man es dagegen benutzen wollen,wenn die angegebene Bestimmung nicht das Eigent-hümliche des Unterliegenden ist, indem sie dann dasEigenthümliche von dessen Verneinung sein müsste;allein dieser Gesichtspunkt ist trügerisch, denn einebejahend ausgedrückte Bestimmung kann nicht dasEigenthümliche von der Verneinung eines Gegenstan-des sein, und eine verneinend ausgedrückte

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Bestimmung kann nicht das Eigenthümliche voneinem bejahend ausgedrückten Gegenstande sein;denn eine bejahend ausgedrückte Bestimmung ist inder Verneinung des Gegenstandes überhaupt nichtenthalten, und die Verneinung einer Bestimmungkann zwar in einem beziehend ausgedrückten Gegen-stande enthalten sein, aber nicht als dessen Eigent-hümliches.

Ist ferner der Gegenstand und auch die ausgesagteBestimmung in mehrere Arten theilbar, so kann es zurWiderlegung benutzt werden, wenn von den übrigenAlten der Bestimmung keine ein Eigenthümliches vonden übrigen Arten des Gegenstandes ist; denn dannwird auch die erste Art, welche als Eigenthümlichkeitder ersten Art des Gegenstandes aufgestellt worden,nicht dessen Eigenthümlichkeit sein. Ist z.B. das derWahrnehmung Fähige nicht das Eigenthümliche voneinem der sterblichen Geschöpfe, so wird auch dasdes Denkens Fähige nicht das Eigenthümliche derGottheit sein. Dagegen dient es zur Begründung,wenn von den übrigen Arten, in welche die ausge-sagte Bestimmung zerfällt, die einzelnen des Eigent-hümlichen von den übrigen Arten des Gegenstandessind, denn dann wird auch die erste Art der ausgesag-ten Bestimmung das Eigenthümliche des Gegenstan-des sein; wenn auch der Gegner dies in seinem aufge-stellten Satze bestreitet. Ist z.B. das Eigenthümliche

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der Klugheit, dass sie an sich und von Natur die Tu-gend des denkenden Theils der Seele ist, so wird,wenn man auch die übrigen Tugenden nach diesemGesichtspunkte betrachtet, das Eigenthümliche derSelbstbeherrschung sein, dass sie an sich und vonNatur die Tugend des begehrlichen Theils der Seeleist.

Siebentes Kapitel

Auch die Beugungen der Worte können zur Wider-legung benutzt werden. Wenn die Bestimmung, wel-che in der Beugung ihres Wortes nicht die Eigent-hümlichkeit des in gleicher Beugung seines Wortesbenannten Gegenstandes ist, so wird auch die aufge-stellte Bestimmung nicht die Eigenthümlichkeit desaufgestellten Gegenstandes sein. Ist z.B. von dem Ge-recht das Sittlich nicht die Eigenthümlichkeit, so wirdauch von dem Gerechten das Sittliche nicht die Ei-genthümlichkeit sein. Dagegen kann es zur Begrün-dung benutzt werden, wenn die in einer Beugung be-zeichnete Bestimmung das Eigenthümliche des in dergleichen Beugung ausgedrückten Gegenstandes ist,denn dann wird auch die aufgestellte Bestimmung dasEigenthümliche des aufgestellten Gegenstandes sein.Ist es z.B. das Eigenthümliche d e s Menschen

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zweifüssig und auf dem Lande lebend zu sein, so wirdes auch dem Menschen zukommen, ein Zweifüssiges,auf dem Lande Lebendes zu sein. Indess muss manhierbei nicht blos die aufgestellten Worte nach ihrenBeugungen prüfen, sondern auch deren Gegensätze,und zwar so, wie in den früheren Fällen. Es dientdann zur Widerlegung, wenn die Beugung des Wortesder gegensätzlichen Bestimmung nicht das Eigent-hümliche von dem Gegenstande ist, der mit der glei-chen Beugung des Namens des gegensätzlichen Ge-genstandes bezeichnet wird, denn dann wird dies auchnicht von der aufgestellten Bestimmung des aufge-stellten Gegenstandes gelten. Ist z.B. das Gut nichtdas Eigenthümliche des Gerecht, dann ist auch dasSchlecht nicht das Eigenthümliche des Ungerecht.Dagegen dient es zur Begründung, wenn die gleicheWortform vom Gegentheil der aufgestellten Bestim-mung des in gleicher Wortform ausgedrückten Gegen-theils des aufgestellten Gegenstandes ist; denn dannwird auch der aufgestellte Satz richtig sein. Ist z.B.das Beste die Eigenthümlichkeit des Guten, so wirdauch das Schlechteste die Eigenthümlichkeit desBösen sein.

Sodann kann auch aus dem ähnlichen Verhalten einGrund für die Widerlegung entnommen werden, wenndas sich ähnlich Verhaltende nicht das Eigenthümli-che des sich ähnlich verhaltenden Gegenstandes ist;

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denn dann wird auch das Aufgestellte nicht das Ei-genthümliche des Gegenstandes sein. Verhält sichz.B. der Baumeister zur Herstellung eines Hausesähnlich, wie der Arzt zur Herstellung der Gesundheit,und ist das Eigenthümliche des Arztes nicht die Her-stellung der Gesundheit, so ist auch das Eigenthümli-che des Baumeisters nicht die Herstellung des Hau-ses. Für die Begründung dient es aber, wenn das sichähnlich Verhaltende auch die Eigenthümlichkeit dessich ähnlich verhaltenden Gegenstandes ist, denndann wird auch das Aufgestellte die Eigenthümlich-keit des aufgestellten Gegenstandes sein. Wenn z.B.der Arzt sich zu dem, was gesund macht, ähnlich ver-hält, wie der Turnlehrer zu dem, was kräftig macht,und ist das Eigenthümliche des Turnlehrers, kräftig zumachen, so wird auch das Eigenthümliche des Arztessein, gesund zu machen.

Ferner kann aus dem sich Gleich-Verhalten einGrund zur Widerlegung entnommen werden, wenndas mit der aufgestellten Eigenschaft sich Gleich -Verhaltende nicht die Eigenthümlichkeit des aufge-stellten Gegenstandes ist; denn dann wird auch dieaufgestellte Eigenschaft selbst nicht das Eigenthümli-che des aufgestellten Gegenstandes sein. Ist dagegendas mit der aufgestellten Eigenschaft sich Gleichver-haltende die Eigenthümlichkeit des sich gleichverhal-tenden Gegenstandes, so wird die aufgestellte

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Eigenschaft nicht das Eigenthümliche des aufgestell-ten Gegenstandes sein. Verhält sich z.B. die Klugheitzu dem Sittlichen, wie zu dem Unsittlichen insoferngleich, als sie das Wissen von beiden ist, und bestehtdas Eigenthümliche der Klugheit nicht darin, dass siedas Wissen des Sittlichen ist, so wird auch das Ei-genthümliche derselben nicht darin bestehen, dass siedas Wissen des Unsittlichen ist. Ist dagegen das Ei-genthümliche der Klugheit das Wissen des Sittlichen,so wird das Wissen des Unsittlichen nicht ihr Eigent-hümliches sein; denn ein und dieselbe Eigenschaftkann nicht von mehreren Gegenständen das Eigent-hümliche sein. Für die Begründung kann dagegen die-ser Gesichtspunkt nicht benutzt werden, da hier dieeine gleiche Bestimmung mit mehreren Gegenständenverglichen wird.

Ferner giebt es einen Grund zur Widerlegung,wenn die aufgestellte seiende Bestimmung nicht dieEigenthümlichkeit des seienden Gegenstandes ist;denn dann wird es auch nicht die vergehende Bestim-mung von dem vergehenden Gegenstande sein undebenso nicht die werdende Bestimmung von demwerdenden Gegenstande. Ist z.B. die Eigenthümlich-keit des seienden Menschen nicht das seiende Ge-schöpf, so ist auch die Eigenthümlichkeit des werden-den Menschen nicht das werdende Geschöpf und dieEigenthümlichkeit des vergehenden Menschen nicht

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das vergehende Geschöpf. Derselbe Gesichtspunktkann aus dem Werden für das Sein und Vergehen undaus dem Vergehen für das Sein und Werden entnom-men werden, wie er jetzt für das Werden und Verge-hen aus dem Sein entnommen worden ist. Für die Be-gründung dient es dagegen, wenn die für das Sein auf-gestellte Bestimmung das Eigenthümliche des seien-den Gegenstandes ist, denn dann wird diese Bestim-mung als werdende auch die Eigenthümlichkeit deswerdenden Gegenstandes und als vergehende die Ei-genthümlichkeit des vergehenden Gegenstandes sein.Ist es z.B. für den seienden Menschen das Eigenthüm-liche sterblich zu sein, so wird auch für den vergehen-den Menschen das vergehende Sterbliche und für denwerdenden Menschen das werdende Sterbliche die Ei-genthümlichkeit sein. Derselbe Grund kann aus demWerden und Vergehen für das Sein der betreffendenGegenstände und Eigenthümlichkeiten benutzt wer-den, wie es bei der Widerlegung geschehen ist.

Ferner hat man auch auf die Idee des aufgestelltenGegenstandes zu achten. Zur Widerlegung dient es,wenn das aufgestellte Eigenthümliche des Gegenstan-des der Idee desselben nicht einwohnt, oder wenig-stens nicht in der Beziehung, in welcher es als das Ei-genthümliche vom Gegenstande aufgestellt wordenist; denn dann ist die aufgestellte Eigenthümlichkeitnicht die richtige. Ist z.B. in dem Menschen - an -

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sich die Unveränderlichkeit, insofern er Mensch ist,nicht enthalten, sondern nur in ihm, soweit er Idee ist,so wird die Unveränderlichkeit nicht das Eigenthümli-che des Menschen sein. Zur Begründung dient esaber, wenn die aufgestellte Eigenthümlichkeit in derIdee enthalten ist und in Bezug auf das ihr einwohnt,vermöge dessen die Eigenthümlichkeit dem Gegen-stand einwohnt, deren Einwohnen der Gegner bestrei-tet. Ist es z.B. in dem Geschöpf-an-sich enthalten,dass es aus Seele und Leib besteht, und ist dies in ihminsofern, als es Geschöpf ist, enthalten, so wird esauch die Eigenthümlichkeit des wirklichen Geschöp-fes sein, dass es aus Seele und Leib besteht.

Achtes Kapitel

Auch in Bezug auf das Mehr und Weniger hat manbehufs Widerlegung eines Satzes zu prüfen, ob dasMehr des Eigenthümlichen etwa nicht das Eigenthüm-liche von dem Mehr des Gegenstandes ist; denn dannkann auch das Weniger des Eigenthümlichen nichtdas Eigenthümliche von dem Weniger des Gegenstan-des sein, und dies gilt auch für das Wenigste und fürdas Meiste und für das Einfache der aufgestellten Ei-genthümlichkeit und des aufgestellten Gegenstandes.Ist z.B. das mehr-Gefärbtsein keine

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Eigenthümlichkeit des vermehrten Körpers, so wirdauch das weniger-Gefärbtsein keine Eigenthümlich-keit des verminderten Körpers sein und überhaupt dasGefärbtsein keine Eigenthümlichkeit des Körperssein. Dagegen dient es der Begründung, wenn dieSteigerung der aufgestellten Eigenthümlichkeit auchdie Eigenthümlichkeit des gesteigerten Gegenstandesist; denn dann wird auch das Weniger und das Ge-ringste und das Höchste der aufgestellten Eigenthüm-lichkeit das Eigenthümliche des in gleicher Weiseveränderten Gegenstandes sein, und ebenso wird dieeinfache Eigenthümlichkeit die des einfachen Gegen-standes sein. Ist also z.B. die gesteigerte Wahrneh-mung das Eigenthümliche des Geschöpfes von höhe-rem Grade, so wird auch dem niederen Geschöpfeeine niedere Wahrnehmung eigenthümlich zukom-men; und dasselbe gilt auch für die Veränderung bei-der nach dem höchsten oder geringsten Grad hin undebenso für dieselben, einfach aufgefasst.

Ebenso hat man bei der Widerlegung an dem einfa-chen Zustande zu prüfen, ob da die aufgestellte Be-stimmung keineswegs als die Eigenthümlichkeit desaufgestellten Gegenstandes gelten kann; denn dann istsie auch nicht die Eigenthümlichkeit, wenn die Be-stimmung und der Gegenstand als ein Mehr oder We-niger oder als ein Höchstes oder Geringstes genom-men werden. Ist also z.B. das Sittliche keine

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Eigenthümlichkeit des Menschen, so wird auch fürein Geschöpf, was mehr als der Mensch ist, das hö-here Sittliche nicht die Eigenthümlichkeit sein. Dage-gen dient es der Begründung, wenn das Einfachewirklich das Eigenthümliche des einfachen Gegen-standes ist, denn dann wird dies auch für das Mehrund Weniger, wie für das Höchste und Niedrigste bei-der der Fall sein. Ist also z.B. das in-der-Höhe-sich-Bewegen von Natur die Eigenthümlich-keit des Feuers, so wird dies auch für das Mehr vonbeiden von Natur gelten. In dieser Weise hat manauch in anderen Fällen nach allen diesen Richtungendie Prüfung anzustellen.

Zweitens dient es zur Widerlegung, wenn eine an-gegebene Bestimmung nicht die Eigenthümlichkeitdes aufgestellten Gegenstandes ist, obgleich hier mehrdafür spricht, denn dann wird dasselbe auch für dieangegebene Eigenthümlichkeit eines anderen Gegen-standes gelten, wo weniger dafür spricht. Wenn z.B.das Wahrnehmen mehr das Eigenthümliche des Ge-schöpfes sein würde, als das Wissen das Eigenthümli-che des Menschen, aber doch das Wahrnehmen keineEigenthümlichkeit des Geschöpfes ist, so wird auchdas Wissen keine Eigenthümlichkeit des Menschensein. Dagegen dient es der Begründung, wenn in demweniger wahrscheinlichen Falle die angegebene Be-stimmung die Eigenthümlichkeit des Gegenstandes

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ist; denn dann wird auch in dem mehr wahrscheinli-chen Falle die angegebene Bestimmung die Eigent-hümlichkeit des Gegenstandes sein. Ist z.B. das vonNatur Zahmsein weniger eine Eigenthümlichkeit desMenschen, als das Leben die Eigenthümlichkeit desGeschöpfes, ist aber das von Natur Zahmsein den-noch die Eigenthümlichkeit des Menschen, so wirdauch das Leben die Eigenthümlichkeit des Geschöp-fes sein.

Drittens dient es zur Widerlegung, wenn eine Be-stimmung von dem einen Gegenstande mehr dessenEigenthümliches sein müsste, als von dem andern undsie es dennoch von dem ersten nicht ist; denn dannwird sie es auch von dem letztem nicht sein; ja selbstwenn sie von dem ersteren das Eigenthümliche wäre,würde sie es doch deshalb nicht von dem letztem sein.So würde z.B. das Gefärbtsein mehr das Eigenthümli-che der Oberfläche als des Körpers sein; nun ist esaber selbst von der Oberfläche nicht das Eigenthümli-che, also noch weniger vom Körper; aber selbst wennes das Eigenthümliche der Oberfläche wäre, so wärees deshalb noch nicht das Eigenthümliche des Kör-pers. Für die Begründung kann jedoch dieser Ge-sichtspunkt nicht benutzt werden, denn ein und diesel-be Bestimmung kann nicht das Eigenthümliche vonverschiedenartigen Gegenständen sein.

Viertens dient es zur Widerlegung, wenn das, was

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einem Gegenstande mehr eigenthümlich sein sollte,als ein anderes, es demnach nicht ist; denn dann wirdauch das andere ihm nicht eigenthümlich zukommen.So würde es dem Geschöpfe eigenthümlicher zukom-men, dass es wahrnimmt, als dass es theilbar ist; istnun aber das Wahrnehmen keine Eigenthümlichkeitdesselben, so wird es auch das Theilbare nicht sein.Umgekehrt dient es zur Begründung, wenn das, waseinem Gegenstande weniger als Eigenthümlichkeit zu-kommen sollte, doch eine solche von ihm ist; denndann wird das mehr dazu Geeignete ebenfalls ihm ei-genthümlich sein. So ist z.B. dem Geschöpfe es weni-ger eigenthümlich, wahrzunehmen, wie zu leben; istnun aber jenes doch eine Eigenthümlichkeit des Ge-schöpfes, so ist auch das Leben eine solche.

Ferner dient es zur Widerlegung, wenn bei ähnlichsich verhaltenden Gegenständen die angegebene Be-stimmung bei dem einen keine Eigenthümlichkeit des-selben ist, denn dann wird die ähnliche Bestimmungbei dem ähnlichen Gegenstande auch keine Eigent-hümlichkeit desselben sein. Wenn z.B. zu dem be-gehrlichen Theil der Seele das Begehren als Eigent-hümliches sich ähnlich verhält, wie zu dem denken-den Theile der Seele das Denken, und wenn das Be-gehren nicht das Eigenthümliche des begehrlichenTheiles der Seele ist, so wird auch das Denken nichtdie Eigenthümlichkeit des denkenden Theiles der

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Seele sein. Umgekehrt dient es zur Begründung, wennunter gleichen Verhältnissen die eine Bestimmung einEigenthümliches ihres Gegenstandes bildet, denndann wird dies auch für die anderen in Bezug aufihren Gegenstand gelten. Verhält sich nämlich inBezug auf Eigenthümlichkeit das Klage als das Ober-ste zu dem denkenden Theile der Seele wie das Mas-sige als das Oberste zu dem begehrlichen Theil derSeele, und ist jenes wirklich eine Eigenthümlichkeitdes denkenden Theiles der Seele, so wird auch letzte-res eine Eigenthümlichkeit des begehrlichen Theilesder Seele sein.

Zweitens dient es zur Widerlegung, wenn bei ähnli-chem Verhalten zweier Bestimmungen zu einem Ge-genstande die eine Bestimmung nicht das Eigenthüm-liche des Gegenstandes ist; denn dann wird es auchdie andere nicht sein. So verhält sich z.B. in Bezugauf Eigenthümlichkeit das Sehen und das Hören beidem Menschen gleich; aber da das Sehen keine Ei-genthümlichkeit des Menschen ist, so ist dies auchmit dem Hören nicht der Fall. Umgekehrt dient es zurBegründung, wenn bei gleichem Verhalten die eineBestimmung eine Eigenthümlichkeit des Gegenstan-des ist; denn dann wird dies auch von der anderen gel-ten. Verhält sich z.B. in Bezug auf Eigenthümlichkeitder begehrliche Theil der Seele ursprünglich ebensowie der denkende Theil, und ist der begehrliche Theil

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ursprünglich eine Eigenthümlichkeit der Seele, so istes auch ursprünglich der denkende Theil.

Drittens dient es der Widerlegung, wenn bei einemähnlichen Verhalten einer Bestimmung zu mehrerenGegenständen diese Bestimmung für den einen Ge-genstand keine Eigenthümlichkeit ist; denn dann wirdsie es auch für den anderen nicht sein. Aber selbstwenn diese Bestimmung eine Eigenthümlichkeit füreinen Gegenstand sein sollte, so ist sie dann nochnicht auch eine Eigenthümlichkeit für die andern.Verhält sich z.B. in Bezug auf Eigenthümlichkeit dasBrennen ebenso zur Flamme wie zur glühendenKohle, ist aber das Brennen keine Eigenthümlichkeitder Flamme, so wird es auch für die glühende Kohlekeine Eigenthümlichkeit sein. Ist das Brennen abereine Eigenthümlichkeit der Flamme, so kann sie nichteine Eigenthümlichkeit der glühenden Kohle sein. Fürdie Begründung kann also dieser Gesichtspunkt nichtbenutzt werden.

Die Fälle des gleichen Verhaltens zu den Fällen desgleichen Enthaltens unterscheiden sich dadurch, dassbei jenen die Fälle nur nach der Aehnlichkeit aufge-stellt werden, ohne dass man auf das wirkliche Ent-haltensein der Bestimmung im Gegenstande achtet,während die letzteren nur nach dem wirklichen Ent-haltensein verglichen werden.

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Neuntes Kapitel

Es dient ferner zur Widerlegung, wenn die Eigent-hümlichkeit in Bezug auf ein Vermögen aufgestelltworden ist, und zwar in Bezug auf das Vermögeneines Gegenstandes, der möglicherweise auch nicht -sein kann, obgleich doch das Vermögen nicht ohneden Gegenstand bestehen kann; denn dann kann dieangegebene Bestimmung keine Eigenthümlichkeit desGegenstandes sein. Nennt z.B. jemand als Eigent-hümlichkeit der Luft, dass sie athmenbar sei, so hat erdie Eigenthümlichkeit nur nach einem Vermögen be-zeichnet (denn athmenbar ist das, was geathmet wer-den kann), und er hat die Eigenthümlichkeit auch inBezug auf einen nicht-daseienden Gegenstand aufge-stellt; denn die Luft kann da sein, auch wenn kein Ge-schöpf besteht, welches von Natur zum Einathmender Luft geeignet ist. Nun kann aber, wenn kein Ge-schöpf besteht, auch nicht eingeathmet werden, unddeshalb kann auch die Eigenthümlichkeit der Luftnicht so etwas wie das »Eingeathmet-werden« zu derZeit sein, wo es keine athmenden Geschöpfe giebt;folglich ist das Athmenbare überhaupt keine Eigent-hümlichkeit der Luft.

Umgekehrt dient es zur Begründung, im Fall dasEigenthümliche in ein Vermögen verlegt wird, wenn

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dabei das, was das Vermögen haben soll, entwederals seiend aufgestellt wird, oder als nicht seiend, so-fern nämlich demselben als einem Nicht-seienden dasVermögen zukommen kann; denn dann ist es ein Ei-genthümliches, wenn auch der Gegner es in dem auf-gestellten Streitsatz leugnet. Wenn z.B. jemand alsEigenthümlichkeit des Seienden aufstellt, dass es dasVermögen habe, zu erleiden, oder zu bewirken, so hater die Eigenthümlichkeit zwar nur nach einem Vermö-gen bezeichnet, aber doch dieselbe von dem Gegen-stande als seienden angegeben. Da nun, wenn der Ge-genstand ist, er auch vermag zu erleiden oder zu be-wirken, so wird deshalb es in Wahrheit die Eigent-hümlichkeit des Seienden sein, dass es das Vermögenhat zu leiden oder zu bewirken.

Ferner dient es der Widerlegung, wenn jemand duEigenthümliche in der Weise eines Uebermässigenaufgestellt hat; denn dann wird es nicht das Eigent-hümliche sein. Wenn nämlich die Eigenthümlichkeitso aufgestellt wird, so kann es kommen, dass die an-gegebene Eigenthümlichkeit nach ihrem Begriffenicht mehr zum Gegenstande seinem Namen nachpasst. Denn wenn der Gegenstand untergegangen ist,so wird dann doch die Eigenthümlichkeit bestehenbleiben und dann als solche desjenigen Gegenstandesgelten, welchem dann am meisten nächst dem Unter-gegangenen diese Eigenschaft zukommt. Giebt z.B.

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jemand von dem Feuer als Eigenthümlichkeit an, dasses der leichteste Körper sei, so wird, wenn das Feuerüberhaupt nicht mehr sein sollte, ein anderer Körperdann der leichteste sein und also diese Eigenthümlich-keit nicht mehr die des Feuers sein. Dagegen dient eszur Begründung, wenn das Eigenthümliche nicht inder Weise des höchsten Grades ausgedrückt wird;denn dann wird dasselbe in diesem Punkte richtig auf-gestellt sein. Giebt z.B. jemand als Eigenthümlichkeitdes Menschen an, dass er von Natur ein zahmes Ge-schöpf sei so ist das Eigenthümliche nicht in demhöchsten Grade ausgedrückt und insofern richtig auf-gestellt.

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Sechstes Buch

Erstes Kapitel

Die Untersuchung in Bezug auf die Begriffe zerfälltin fünf Theile. Entweder stimmen überhaupt die zudem Namen gehörenden Gegenständen und deren Be-griff nicht zusammen (denn die Definition vom Men-schen muss für jeden Menschen passen) oder der Ge-genstand ist, obgleich eine Gattung für ihn besteht, inkeine gestellt, oder nicht in die ihm zukommende(denn bei der Definition muss man den Gegenstanderst in seine Gattung einstellen und dann denArt-Unterschied ihm anpassen, da von den zur Defini-tion gehörenden Bestimmungen die Gattung am mei-sten das Wesen des zu definierenden Gegenstandesbezeichnet); oder der Begriff kommt dem Gegenstan-de nicht eigenthümlich zu (denn die Definition mussdemselben eigenthümlich zukommen, wie ich schonfrüher bemerkt habe); oder es ist, wenn auch alles bis-her Gesagte eingehalten worden, doch damit das we-sentliche Was des Gegenstandes weder bestimmt nochausgedrückt. Endlich ist es neben dem bisher Gesag-ten noch ein Fehler, wenn zwar die Definition richtig,aber nicht gut ausgedrückt ist.

Ob nun der aufgestellte Begriff für alle Dinge, die

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den Namen führen, richtig ist, muss nach den bei dennebensächlichen Bestimmungen erwähnten Gesichts-punkten geprüft werden; denn auch dort dreht dieganze Prüfung sich um die Frage, ob das aufgestellteNebensächliche richtig ist oder nicht. Betrifft nämlichdie Erörterung die Frage, ob das Nebensächliche indem Gegenstande enthalten sei, so muss man auchdort zeigen, dass der Satz der Wahrheit gemäss aufge-stellt worden; geht sie aber auf dasnicht-enthalten-Sein, so muss man zeigen, dass dasNebensächliche im Gegenstande nicht enthalten sei.Ob aber der Gegenstand in die ihm zugehörige Gat-tung gestellt worden und ob der aufgestellte Begriffder eigenthümliche sei, muss nach den bei der Gat-tung und bei deren Eigenthümlichen früher angegebe-nen Gesichtspunkten geprüft werden.

Ich habe daher nur noch anzugeben, wie zu verfah-ren ist, wenn das wesentliche Was nicht angegebenworden ist, oder wenn im Ausdrucke der Definitiongefehlt worden. Zunächst will ich den letzteren Falluntersuchen; denn es ist leichter, etwas überhaupt zumachen, als es gut zu machen; also wird bei letzteremmehr gefehlt werden, da diese Aufgabe schwierigerist, und mithin wird auch bei diesem Punkte der An-griff leichter als bei dem anderen sein.

Der unrichtige Ausdruck kann bei einer Definitionin zweierlei Weise vorkommen; einmal wenn man

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sich unklarer Ausdrücke bedient; (denn der Defini-rende muss die möglichst deutlichen Ausdrücke ge-brauchen, da die Definition zur Erweiterung der Er-kenntniss aufgestellt wird;) sodann, wenn mehr, als essoll, in die Definition gebracht worden ist; denn allesÜberflüssige in der Definition ist ungehörig. Von die-sen beiden Fehlern zerfällt jeder wieder in mehrereTheile.

Zweites Kapitel

Eine Weise des unklaren Ausdrucks ist es, wenndie gebrauchten Worte zweideutig sind, wie z.B.wenn das Entstehen als eine Einführung in das Sein,oder wenn die Gesundheit als ein Zusammenstimmendes Warmen und Kalten definirt wird; denn die Aus-drücke: Einführung und Zusammenstimmen sindzweideutig, und man weiss nicht, welche von denmehreren Bedeutungen dieser Worte gemeint seinsoll. Ebenso ist es ein Fehler, wenn der Name des zuDefinirenden zweideutig ist und man nicht bestimmt,welche Bedeutung man im Sinne hat. Da dann nichtklar ist, von welcher Bedeutung des Wortes die Defi-nition aufgestellt worden, so bleibt dem Gegner dieboshafte Einrede, dass der aufgestellte Begriff nichtauf alles passe, wovon man die Definition aufgestellt

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habe. Dem ist der Definirende vorzüglich da ausge-setzt, wo die Zweideutigkeit von ihm nicht bemerktworden ist. Indess kann man auch dann, wenn der De-finirende gesagt hat, in wie vielfachem Sinne das defi-nirte Wort gebraucht werde, noch einen Schluss dage-gen aufstellen; wenn nämlich die Definition für keineder verschiedenen Bedeutungen des Wortes zureicht,so wird sie auch für die hier gesetzte Bedeutung nichtgenügen.

Ein anderer Fehler ist es, wenn die Definition bild-lich ausgedrückt worden ist; z.B. wenn die Wissen-schaft unerschütterlich, oder die Erde eine Amme oderdie Selbstbeherrschung ein Zusammenstimmen ge-nannt worden ist; denn jeder bildliche Ausdruck istunklar. Ueberdem kann auch der, welcher solche bild-liche Ausdrücke gebraucht, in der Weise bedrängtwerden, dass man seine Worte so auffasst, als hätte ersie im eigentlichen Sinne gemeint; denn dann kannder aufgestellte Begriff, wie z.B. bei der Selbstbeherr-schung, nicht passen, weil alles Zusammenstimmenim eigentlichen Sinne nur für Töne gilt. Auch würde,wenn das Zusammenstimmen die Gattung der Selbst-beherrschung sein sollte, derselbe Gegenstand in zweiGattungen gehören, die einander nicht übergeordnetwären; denn weder das Zusammenstimmen ist derweitere Begriff und befasst die Tugend, noch ist dieTugend der weitere Begriff für das

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Zusammenstimmen.Es ist ferner ein Fehler, wenn man sich bei der De-

finition nicht der gebräuchlichen Worte bedient, sonennt z.B. Plato das Auge »wimpernumschattet«;oder wenn man die Spinnen »faulbissig« oder dasMark »knochenerzeugt« nennt; denn alle ungewöhnli-chen Ausdrücke sind unklar.

Manches wird weder zweideutig noch bildlich,noch mit den eigentlichen Worten ausgedrückt; z.B.wenn das Gesetz als das Mass oder Bild des vonNatur Gerechten erklärt wird; allein dergleichen istschlimmer als der Gebrauch bildlicher Ausdrücke,denn diese machen doch das Bezeichnete durch dieAehnlichkeit mit dem gebrauchten Bilde kenntlich, dajeder, welcher bildliche Ausdrücke gebraucht, diesnach einer gewissen Aehnlichkeit thut. Aber diesehier genannte Weise macht den Gegenstand nicht be-kannter, denn es besteht keine Aehnlichkeit, nach derdas Gesetz ein Mass oder Bild genannt werden könn-te, und ebenso pflegt man das Gesetz nicht eigentlichso zu nennen. Meint man es also im eigentlichenSinne, dass das Gesetz ein Mass oder Bild sei, sospricht man unwahr; denn Bild ist das, welches durchNachahmung entstellt, und eine solche Nachahmungist bei dem Gesetze nicht vorhanden; ist es aber nichtim eigentlichen Sinne gemeint, so ist der Ausspruchoffenbar undeutlich und schlechter, als irgend ein

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bildlicher Ausdruck.Auch ist es ein Fehler, wenn aus der aufgestellten

Definition nicht auch der Begriff des Gegentheilesklar wird; denn bei gut ausgedrückten Definitionenwird auch das dem definirten Gegenstande Entgegen-gesetzte mit deutlich. Auch ist es ein Fehler, wennman aus der aufgestellten Definition für sich nicht er-sehen kann, wessen Definition sie sein soll; eine sol-che gleicht den Werken der Maler aus alten Zeiten,wo man ohne Unterschied nicht erkennen konnte, wasdas Einzelne sein sollte.

Drittes Kapitel

Nach diesen Gesichtspunkten ist also zu prüfen, obeine Definition unklar ausgedrückt worden; ob aberdie Definition sich etwa zu weit erstrecke, ist zunächstdanach zu prüfen, ob dabei Bestimmungen benutztsind, welche in Allem enthalten sind, sei es in allemSeienden überhaupt oder in allen zu derselben Gat-tung mit dem definirten Gegenstand gehörigen Gegen-ständen; denn dann ist die Definition nothwendig zuweit gefasst, da die Gattung das zu Definirende vonden anderen Dingen und der Art-Unterschied es vondem, in der Gattung sonst noch Enthaltenen abson-dern soll. Das, was in Allen enthalten ist, sondert der

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Gegenstand von Nichts ab, und das, was allen zuderselben Gattung Gehörigen zukommt, sondert derGegenstand von den anderen Arten nicht ab. Deshalbist die Aufnahme einer solchen Bestimmung in dieDefinition nutzlos.

Man muss ferner prüfen, ob, wenn auch eine Be-stimmung in der Definition dem Gegenstande eigent-hümlich zukommt, doch, auch nach Wegnahme dieserBestimmung, das Uebrige noch eigenthümliche Defi-nition des Gegenstandes enthält und sein Wesen dar-legt. So ist z.B. der Zusatz zur Definition des Men-schen, dass er der Wissenschaft fähig sei, überflüssig,da, auch wenn man diesen Zusatz weglässt, dasUebrige dem Menschen ausschliesslich eigen ist undsein Wesen klar macht. Ueberhaupt ist alles in einerDefinition überflüssig, bei welchem, auch wenn eswegbleibt, das Uebrige das zu Definirende klarmacht. So ist auch der Begriff der Seele fehlerhaft,wonach sie als eine sich selbst bewegende Zahl be-stimmt wird; denn schon das »sich selbst Bewe-gende« bezeichnet die Seele, wie Plato sie definirthat. Oder sollte dieser Ausspruch zwar eine Eigent-hümlichkeit der Seele bezeichnen, aber nach Weglas-sung der Zahl nicht deren Wesen ausdrücken? Washier das Wahre ist, ist schwer deutlich zu machen, in-dess muss man in allen solchen Fällen dasjenige be-nutzen, was am brauchbarsten ist. Ist z.B. als

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Definition des Schleimes aufgestellt, dass er die erstevon der Nahrung herrührende unverdaute Feuchtigkeitsei, so kann man einwenden, dass das »Erste« nurEines sei und nicht Mehreres, deshalb sei der Zusatz»unverdaut« überflüssig, denn auch mit Weglassungdesselben werde die Definition noch immer die Ei-genthümlichkeit des Schleimes ausdrücken, da esnicht möglich sei, dass diese und noch eine andereFeuchtigkeit die erste sei. Allein man kann auch erwi-dern, dass der Schleim nicht von der Nahrung über-haupt, sondern von dem unverdaulichen Theile dersel-ben die erste Flüssigkeit sei und deshalb das Unver-dauliche nicht wegbleiben dürfe; denn ohnedem seider Begriff nicht richtig, da der Schleim nicht von derganzen Nahrung die erste Feuchtigkeit sei.

Man hat ferner zu prüfen, ob eine der in die Defini-tion aufgenommenen Bestimmungen in allen unter diezu definirende Art fallenden Einzelnen enthalten ist;eine Definition, wo dieses nicht stattfindet, istschlechter, als die, welche etwas enthält, was allemSeienden gemeinsam ist, denn im letzteren Falle kanndas Uebrige noch den eigenthümlichen Begriff enthal-ten, und deshalb wird auch die ganze Definition dieeigenthümliche bleiben, da überhaupt, wenn zu demEigenthümlichen noch irgend eine wahre Bestimmunghinzugefügt wird, das Ganze doch eine eigenthümli-che Definition bleibt. Ist aber eine in der Definition

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aufgenommene Bestimmung nicht in allen zu der defi-nirten Art gehörenden Einzelnen enthalten, so kanndie ganze Definition keine eigenthümliche sein, dennder Gegenstand kann nicht umgekehrt von der Defini-tion ausgesagt werden. Wird z.B. als Definition desGeschöpfes aufgestellt, dass es ein zweifüssiges, odervier Ellen hohes Landthier sei, so kann von ihr nichtumgekehrt das Geschöpf ausgesagt werden, weil nichtalle unter diese Art fallenden Einzelnen vier Ellenhoch sind.

Es ist ferner ein Mangel, wenn in der Definitionetwas mehrfach gesagt wird; z.B. wenn man von derBegierde sagt, sie sei ein Verlangen nach dem Ange-nehmen. Denn jede Begierde geht auf das Ange-nehme, so dass das Verlangen nach dem Angenehmenganz dasselbe ist, wie die Begierde nach dem Ange-nehmen; ein solche Definition der Begierde würdealso darauf hinauslaufen, dass sie ein Verlangen nachdem Angenehmen sei; denn ob man Begierde, oderVerlangen nach dem Angenehmen sagt, ist gleich,mithin gehen beide auf das Angenehme.

Oder sollte dies doch nicht widersinnig sein? Dennauch der Mensch ist zweifüssig, so dass also dasZweifüssige in der Definition schon in dem zweifüssi-gen Menschen enthalten ist. Nun ist aber das zweifüs-sige auf dem Lande lebende Geschöpf dasselbe wieder Mensch, mithin würde der Mensch ein

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zweifüssiges auf dem Lande lebendes Geschöpf sein.Allein dies beweist nicht, dass die Definition verkehrtsei, denn das Zweifüssige wird nicht von dem auf demLande lebenden Geschöpfe ausgesagt (denn dannwürde das Zweifüssige zweimal von demselben Ge-genstande ausgesagt), sondern das Zweifüssige wirdvon dem zweifüssigen auf dem Lande lebenden Ge-schöpfe und deshalb nur einmal ausgesagt. Ebensoverhält es sich mit der Begierde; denn das Angenehmewird nicht von dem Verlangen, sondern in Bezug aufdas Ganze ausgesagt, mithin wird diese Bestimmungauch hier nur einmal ausgesagt. Ueberhaupt ist esnichts Widersinniges, wenn dasselbe Wort zweimalausgesprochen wird, sondern widersinnig ist es nur,wenn ein und dasselbe vom Etwas mehrfach ausge-sagt wird, wie es z.B. in der Definition des Xenokra-tes geschieht, wo er die Klugheit als die Tugend defi-nirt, welche das Seiende sondert und betrachtet. Denndas Sondern fällt unter das Betrachten, so dass durchdas noch zugesetzte Wort das Betrachten zweimal ge-sagt wird. Derselbe Fehler ist es, wenn man die Erkäl-tung für eine Beraubung der natürlichen Wärme er-klärt; denn jede Beraubung bezieht sich auf ein vonNatur Vorhandenes; mithin ist der Zusatz »natürlich«hier überflüssig, und es genügte, wenn man die Erkäl-tung eine Beraubung der Wärme nennte, da das Wort:Beraubung von selbst andeutet, dass es sich um die

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natürliche Wärme handele.Ferner ist es ein Mangel, wenn zu der, in der Defi-

nition enthaltenen allgemeinen Bestimmung noch einebeschränktere hinzugefügt wird; z.B. wenn man dasBillige als eine Minderung des Zuträglichen und Ge-rechten definirt; denn das Gerecht ist etwas Zuträgli-ches und deshalb ist es in demselben enthalten, unddas »Gerechte« ist deshalb überflüssig. Man hatdamit zu dem schon im Allgemeinen befassten nochdas Besondere daneben ausgesprochen. Ebenso man-gelhaft ist es, wenn man die Arzneilehre die Wissen-schaft von dem den Geschöpfen und den MenschenGesunden nennt, oder das Gesetz als das Bild des na-türlichen Sittlichen und Gerechten definirt; denn dasGerecht ist ein Sittliches, und man hat dann ein unddasselbe zweimal gesagt.

Viertes Kapitel

Ob nun die Definition in der richtigen Weise, odernicht, aufgestellt worden, ist nach diesen und anderensolchen Gesichtspunkten zu prüfen; ob aber das we-sentliche Was des Gegenstandes darin angegeben unddefinirt worden ist, oder nicht, ist nach folgenden Ge-sichtspunkten zu prüfen.

Dies ist zunächst dann nicht geschehen, wenn die

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Definition nicht in Bestimmungen aufgestellt ist, diefrüher und bekannter als der definirte Gegenstandsind. Denn man stellt den Begriff nur auf, um denfraglichen Gegenstand kennen zu lernen, dies kannaber nicht aus jedwedem beliebigen Merkmal, son-dern nur aus solchen geschehen, die früher und be-kannter sind als der Gegenstand, wie dies auch beiden Beweisen geschieht; (denn aller Unterricht undalles Lernen verhält sich so). Wenn also die Definiti-on nicht durch solche Merkmale geschieht, so ist of-fenbar keine aufgestellt. Auch können, wenn diesnicht geschieht, mehrere Definitionen von demselbenGegenstande aufgestellt werden; denn dann ist auchdie Definition durch frühere und bekanntere Merkma-le eine und zwar die bessere, und es würden dannbeide Definitionen als solche gelten müssen. Dies istaber unzulässig; denn jedes Seiende hat als das, wases ist, nur ein Sein; könnten also mehrere Definitio-nen von demselben Gegenstande aufgestellt werden,so müsste für den, welcher sie aufstellt, das Sein desGegenstandes, wie es jede der Definitionen aufstellt,dasselbe sein; allein dies ist nicht möglich, wenn dieDefinitionen verschieden sind. Offenbar hat also der-jenige, welcher die Definition nicht mittelst frühererund bekannterer Merkmale aufstellt, keine richtigeDefinition aufgestellt.

Wenn ein Begriff nicht in bekannteren Merkmalen

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aufgestellt wird, so hat dies einen zweifachen Sinn;die Merkmale können entweder überhaupt unbekann-ter sein, oder sie können uns unbekannter sein; beideskann vorkommen. Ueberhaupt bekannter ist das Frü-here gegen das Spätere, wie z.B. der Punkt gegen dieLinie, die Linie gegen die Fläche und die Flächegegen den Körper und ebenso die Eins gegen dieZahl; denn die Eins ist das Frühere und der Aus-gangspunkt jeder Zahl. Dasselbe gilt für die Buchsta-ben gegen die Silben. Für uns findet dagegen mitunterdas Umgekehrte statt; denn die Körper fallen am mei-sten in die Sinneswahrnehmung und die Fläche wiedermehr als die Linie und die Linie mehr, als der Punkt.Die Menge lernt diese Gegenstände in dieser Ordnungkennen, und diese Kenntniss ist Sache des zufälligenDenkens, während jene aus dem genauen und überdas Gewöhnliche hinausgehenden Denken hervorgeht.

Im Allgemeinen ist es besser, wenn man sich be-strebt, das Spätere durch das Frühere kennen zu ler-nen; diese Weise entspricht mehr der Wissenschaft.Indess wird es allerdings für die, welche auf dieseWeise die Kenntniss sich nicht zu verschaffen vermö-gen, wohl nöthig, den Begriff ihnen durch das ihnenBekannte beizubringen. Solcher Definitionen giebt esfür den Punkt, für die Linie und für die Fläche, indemsie alle das Frühere durch Späteres bekannt machen;sie lauten dahin, dass der Punkt die Grenze der Linie,

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die Linie die Grenze der Fläche und die Fläche dieGrenze des Körpers sei. Indess darf man nicht überse-hen, dass der so Definirende nicht vermag, durch sol-che Definition das wesentliche Was des Gegenstandesdarzulegen, wenn nicht etwa zufällig das überhauptBekanntere auch für uns das Bekanntere ist; denn einerichtige Definition muss durch die Angabe der Gat-tung und der Art-Unterschiede erfolgen und diese ge-hören zu dem überhaupt Bekannteren und Früherengegen die Arten; denn mit Aufhebung der Gattungund des Art-Unterschiedes wird zugleich die Art auf-gehoben und deshalb sind jene das Frühere gegen dieArt. Sie sind aber auch das Bekanntere; denn um dieArt zu kennen, muss man schon die Gattung undderen Art-Unterschiede kennen (denn wer den Men-schen kennt, kennt auch das Geschöpf und das »aufdem Lande lebende«), aber aus der Kenntniss derGattung und des Art-Unterschiedes folgt nicht noth-wendig die Kenntniss der Art; mithin ist die Art dasUnbekanntere. Auch müssen die, welche behaupten,dass dergleichen Definitionen, welche aus Merkmalengebildet werden, die dem Einzelnen bekannt sind, dierichtigen seien, anerkennen, dass es dann viele Defini-tionen von demselben Gegenstande gäbe. Denn demEinen ist dies, dem Anderen jenes bekannter und kei-neswegs Allen dasselbe; daher müsste man für jedeneine andere Definition aufstellen, wenn die Definition

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überhaupt aus den, den Einzelnen bekannteren Merk-malen gebildet werden sollte. Auch bleibt für densel-ben Menschen nicht immer dasselbe das Bekannte;anfangs ist es das Wahrgenommene, kommt er aberzu einem schärferen Denken, so ist es umgekehrt; alsowäre selbst für denselben Menschen nicht immer die-selbe Definition die richtige, wenn, wie jene sagen,die Definition durch die dem Einzelnen bekannterenMerkmale erfolgen sollte. Es erhellt also, dass mannicht so, sondern durch die überhaupt bekannterenMerkmale definiren muss; denn nur dann bleibt esimmer bei einer und derselben Definition. Allerdingsmag das überhaupt Bekannte nicht immer das sein,was Allen bekannt ist, sondern nur denen, deren Den-ken in gutem Zustande sich befindet; ähnlich wie dasüberhaupt Gesunde nur für die passt, deren Körper ingutem Zustande sich befindet. Deshalb muss manzwar den einzelnen Fall in dieser Beziehung genaudurchdenken, aber bei der mündlichen Erörterung diesnur so benutzen, wie es da am nützlichsten ist. Un-zweifelhaft kann aber eine Definition dann am leichte-sten umgestossen werden, wenn sie weder aus denüberhaupt bekannteren, noch aus den uns bekannterenMerkmalen gebildet sein sollte.

Die eine Art, wo die Definition nicht durch Be-kannteres gegeben wird, ist, wie bemerkt, die, woman das Frühere durch das Spätere klar macht; eine

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andere Art ist es, wenn der Begriff von beharrendenund bestimmten Gegenständen durch Unbestimmtesund Veränderliches gegeben wird; denn das Beharrli-che und Bestimmte ist früher als das Unbestimmteund Veränderliche.

Der Fehler, dass die Definition nicht aus früherenBestimmungen aufgestellt wird, kann in dreifacherWeise begangen werden; einmal, wenn das zu Defini-rende durch sein Gegensätzliches definirt wird, z.B.wenn das Gute durch das Schlechte definirt wird;denn die Gegensätze sind von Natur zugleich. Auchnehmen Manche an, dass für beide Gegensätze nureine Wissenschaft bestehe und dass auch deshalb dereine Gegensatz nicht bekannter sein könne, als der an-dere. Indess darf man nicht übersehen, dass manchesnicht wohl anders definirt werden kann; so kann z.B.das Doppelte nicht ohne das Halbe definirt werden,und dies gilt für alles, was an sich zu den Beziehun-gen gehört; denn bei diesen allen gilt die Regel, dassdas eine sich irgendwie zu dem anderen verhält. Es istdeshalb unmöglich, das eine ohne das andere zu defi-niren, und deshalb muss in dem Begriff des einenauch das andere mit aufgenommen werden. Man mussnun zwar alles dies kennen, aber benutzen soll man esnur so weit, wie es für den betreffenden Streitfallbrauchbar erscheint.

Die zweite Weise ist die, wo man das zu

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Definirende selbst zur Definition benutzt. Man be-merkt dies nicht, wenn man in der Definition einenanderen Namen gebraucht, z.B. wenn man die Sonneals das am Tage scheinende Gestirn definirt; dennwenn man den Tag zur Definition benutzt, so benutztman auch die Sonne. Um dergleichen bemerkbar zumachen, muss man statt des Namens den Begriff be-nutzen; z.B. statt des Tages die Bewegung der Sonneüber die Erde hin. Wer sich so ausdrückte, hätte of-fenbar die Sonne genannt, und deshalb bedient sichder, welcher bei der Definition den Tag benutzt, inWahrheit der Sonne selbst.

Ferner wird dieser Fehler begangen, wenn von zweieinander nebengeordneten Arten die eine durch dieandere definirt wird, z.B. wenn das Ungerade als dasum Eins vergrösserte Gerade definirt wird; denn dieaus derselben Gattung abgeleiteten nebengeordnetenArten sind von Natur zugleich, und zu solchen gehörtdas Ungerade und das Gerade, da sie beide die Unter-scheidung der Zahlen bilden.

Ein gleicher Fehler ist es, wenn der höhere Begriffdurch untergeordnete Begriffe definirt wird, z.B. wennman die gerade Zahl als die durch Zwei theilbare Zahloder das Gute als den Besitz der Tugend definirt;denn das durch Zwei Theilbare ist von der Zwei abge-leitet, die zu den geraden Zahlen gehört, und die Tu-gend ist etwas Gutes; also sind dies niedere Begriffe

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von dem zu Definirenden. Ueberdem muss der, wel-cher zur Definition des höheren Begriffs die niederenbenutzt, auch den höheren Begriff selbst mit in dieDefinition aufnehmen; denn wer die Tugend zur Defi-nition des Guten benutzt, benutzt auch das Guteselbst dazu, da die Tugend zum Guten gehört. Ebensobenutzt der, welcher das durch zwei Theilbare ge-braucht, das Gerade, da jenes das in-zwei-Theile-getheilt-Werden bedeutet, die Zwei abereine gerade Zahl ist.

Fünftes Kapitel

Allgemein aufgefasst ist dies also ein fehlerhafterGesichtspunkt, wenn man den Begriff nicht durchFrüheres und Bekannteres bestimmt, und dieser Feh-ler kann auf die hier genannten mehreren Weisen be-gangen werden. Ein zweiter Gesichtspunkt ist es, dassman prüft, ob, wenn der Gegenstand zu einer Gattunggehört, er etwa in keine Gattung gestellt worden ist.Dieser Fehler trifft alle Definitionen, wo das Was desBegriffes nicht vorweg angegeben wird, z.B. wennder Körper dahin definirt wird, dass er drei Dimensio-nen habe, oder wenn man den Menschen dahin defi-nirt, dass er zu zählen verstehe; denn dort ist nicht ge-sagt, was drei Dimensionen habe und hier nicht,

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welches Seiende zu zählen versteht. Die Gattung sollnur das Was des Gegenstandes angeben und wirdunter den in der Definition enthaltenen Bestimmungenals die erste aufgestellt.

Ein anderer Fehler dieser Art ist es, wenn der zudefinirende Gegenstand mehr befasst, als in der Defi-nition angegeben ist, z.B. wenn die Sprachlehre defi-nirt wird, als die Lehre, vermöge deren man das Vor-gesagte niederschreiben kann; es fehlt darin, dassauch die Kenntniss des Lesens dazu gehört; denn der,welcher die Sprachlehre durch das Schreiben-könnendefinirt, hat sie nicht besser definirt, als der, welchersie durch das Lesen-können definirt; deshalb hat kei-ner von beiden, sondern nur der richtig definirt, wel-cher beides in die Definition aufgenommen hat; dennmehrere Definitionen von einem Gegenstande kann esnicht geben. Bei manchen Gegenständen verhält essich nun so, wie ich gesagt habe, bei anderen ist esaber nicht richtig, nämlich überall da nicht, wo nichtbeide Bestimmungen an sich dem Gegenstande ange-hören, z.B. wenn man die Heilkunst als die definirt,welche die Krankheit und die Gesundheit bewirkenkönnte; denn nur das eine wird an sich von ihr ausge-sagt, das andere aber nur nebenbei; denn im Allge-meinen gehört das Krankmachen nicht zur Heilkunst.Deshalb hat der, welcher beides in die Definition auf-nimmt, nicht besser definirt als der, welcher nur eines

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aufgenommen hat, ja eher schlechter, da auch jederbeliebige Andere vermag, jemanden krank zu machen.

Ferner wird dieser Fehler begangen, wenn das zuDefinirende in Bezug auf Mehreres ausgesagt wirdund man die Definition nicht auf das Bessere, sondernauf das Schlechtere beschränkt; denn jede Wissen-schaft und jedes Vermögen ist doch auf das Beste ge-richtet.

Ferner ist nach den früher über die Gattungen dar-gelegten Gesichtspunkten zu prüfen, ob der definirteGegenstand in die ihm zugehörige Gattung gestelltworden ist.

Ferner gehört hierher der Fehler, wenn man dieGattung überspringt, z.B. wenn man die Gerechtigkeiteine Gemüthsrichtung nennt, welche die Gleichheitbewirkt, oder welche gleich vertheilt; denn der Defini-rende überspringt dabei die Tugend und indem er dieGattung, zu der die Gerechtigkeit, gehört, über-springt, giebt er das wesentliche Was des Gegenstan-des nicht an; denn das Wesen jedes Gegenstandes istin seiner Gattung enthalten. Es ist dies derselbe Feh-ler, als wenn man den Gegenstand nicht in seine näch-ste Gattung stellt; denn thut man letzteres, so hat manauch alle höheren Gattungen mit angegeben, da allehöheren Gattungen durch die untere mit ausgesagtwerden. Man muss daher den Gegenstand entweder inseine nächste Gattung stellen, oder zu der höheren

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Gattung alle Art-Unterschiede hinzufügen, durch wel-che die nächste Gattung bestimmt wird; denn dannwäre nichts versehen, und statt des Namens der näch-sten Gattung wäre deren Begriff angegeben. Ist abernur die höhere Gattung angegeben, so ist damit dienächste Gattung nicht ersetzt, denn wer: Pflanze sagt,nennt damit noch nicht den Baum.

Sechstes Kapitel

Man muss ferner rücksichtlich der Art - Unter-schiede prüfen, ob auch die der Gattung zukommen-den Unterschiede angegeben worden sind. Denn wenndie Definition die eigenthümlichen Art-Unterschiededes Gegenstandes nicht angiebt oder Bestimmungenals solche aufstellt, welche überhaupt keinArt-Unterschied sein können, wie z.B. das Geschöpf,oder das Wesen, so hat man offenbar nicht definirt, dadergleichen überhaupt keine Art-Unterschiede von ir-gend etwas sind. Auch muss man prüfen, ob ein ent-gegengesetzter Art - Unterschied zu dem angegebe-nen vorhanden ist; ist dies nicht der Fall, so ist derangegebene offenbar kein Unterschied innerhalb derbetreffenden Gattung, da jede Gattung durch entge-gengesetzte Unterschiede in ihre Arten eingetheiltwird; das Geschöpf z.B. durch die Unterschiede: auf

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dem Lande lebend, geflügelt, im Wasser lebend undzweifüssig.

Man muss auch prüfen, ob der Art-Unterschied,wenn er auch seinen Gegensatz hat, doch nicht zu derGattung gehört, denn dann kann keiner von beidenzur Gattung wahrhaft gehören, da alle gegensätzli-chen Art-Unterschiede ihrer eigenen Gattung zukom-men müssen. Aber selbst wen der gegensätzliche Un-terschied in der Gattung enthalten ist, kann es kom-men, dass er doch durch seinen Zusatz zur Gattungkeine Art hervorbringt; auch dann ist offenbar dieseBestimmung kein artbildender Unterschied innerhalbder Gattung, und ist diese Bestimmung keinArt-Unterschied, so ist es auch die aufgestellte nicht,da jene den Gegensatz zu dieser bildet.

Auch muss man prüfen, ob die Gattung etwa durcheine Verneinung eingetheilt wird, wie dies z.B. ge-schieht, wenn man die Linie als eine breitlose Längedefinirt; denn dies sagt nichts anderes, als dass siekeine Breite habe. Dann nimmt die Gattung an derArt Theil, da jede Länge entweder Breite oder keineBreite hat, weil bei jedem Gegenstande entweder dieBejahung oder die Verneinung einer Bestimmungwahr sein muss, und mithin wird auch die Gattung derLinie eine Länge sein, die entweder Breite hat odernicht hat. Die Länge ohne Breite ist aber der Begriffeiner Art, ebenso wie die Länge, welche eine Breite

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hat, denn das Breite Habende oder nicht Habendesind die Art-Unterschiede. Nun besteht der Begriff derArt aus der Gattung und dem Art-Unterschied, mithinwürde die Gattung an dem Begriff der Art Theil neh-men. Ebenso würde dies mit dem Art-Unterschied derFall sein, da einer der beiden Unterschiede nothwen-dig von der Gattung ausgesagt wird.

Dieser Gesichtspunkt kann gegen diejenigen be-nutzt werden, welche das Dasein von Ideen behaup-ten. Giebt es nämlich eine Länge an sich, wie könnteman da von der Gattung aussagen, dass sie Breitehabe oder keine? Jede Länge muss doch eines vonbeiden sein, wenn sie der Gattung wahrhaft zugehörensoll. Dies geht aber bei der Idee der Länge nicht an,denn es giebt Längen, die Breite haben und welche,die keine haben. Deshalb ist dieser Gesichtspunkt nurgegen die zu benutzen, welche von der Gattung be-haupten, dass sie ein der Zahl nach Einzelnes sei, unddies thun die, welche Ideen annehmen, denn sie be-haupten, dass die Länge an sich und das Geschöpf ansich Gattungen seien.

Mitunter mag es wohl nothwendig sein, bei denDefinitionen auch Verneinungen zu benutzen; z.B. beidenen der Beraubungen; denn blind ist der, welcherdas Gesicht nicht hat, obgleich er seiner Natur nach eshaben sollte. Auch ist es gleich, ob man eine Gattungdurch eine solche bejahende, welcher nothwendig die

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verneinende behufs der Eintheilung entgegengestelltwerden muss. Wird z.B. eine Art als eine Länge defi-nirt, die keine Breite hat, so muss dieser die eine Brei-te habende Länge als zweite Art entgegengestellt wer-den und keine andere Art weiter, so dass doch dieVerneinung bei der Eintheilung der Gattung benutztwird.

Auch ist es ein Fehler, wenn die Art alsArt-Unterschied benutzt wird; z.B. wenn die Be-schimpfung als eine Beleidigung mit Verspottung de-finirt wird; denn die Verspottung ist eine Art der Be-leidigung; sie ist deshalb kein Unterschied, sonderneine Art selbst.

Auch muss man prüfen, ob etwa die Gattung alsArt-Unterschied benutzt worden ist; z.B. wenn mandie Tugend als eine gute oder sittliche Gemüthsrich-tung definirt; denn das Gute ist die Gattung der Tu-gend; oder vielmehr ist es nicht die Gattung, sondernder Art-Unterschied, wenn es richtig ist, dass ein unddasselbe nicht zu zwei Gattungen gehören kann, so-fern diese einander nicht untergeordnet sind. Hier istnun weder das Gute die höhere Gattung von der Ge-müthsrichtung, noch diese die höhere von dem Guten;denn nicht jede Gemüthsrichtung ist gut und nichtjedes Gute ist eine Gemüthsrichtung, deshalb kannkeine von beiden eine der andern übergeordnete Gat-tung sein. Ist nun die Gemüthsrichtung die Gattung

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von der Tugend, so erhellt, dass das »gut« nicht dieGattung, sondern den Art-Unterschied bezeichnet.Auch giebt die Gemüthsrichtung das Was der Tugendan, während das Gute kein Was, sondern eine Be-schaffenheit bezeichnet, da der Art-Unterschiedimmer eine Beschaffenheit anzeigt. Deshalb mussman auch untersuchen, ob der angegebeneArt-Unterschied etwa keine Beschaffenheit, sonderneinen Gegenstand bedeutet; denn jeder Art-Unterschied dürfte eine Beschaffenheit bezeichnen.

Auch muss man prüfen, ob der angegebene Unter-schied dem definirten Gegenstande nur nebensächlichanhaftet; denn kein Art-Unterschied gehört zu den ne-bensächlichen Bestimmungen eines Gegenstandes sowenig wie die Gattung; der Art-Unterschied kannnicht den zur Art gehörigen Gegenständen anhaftenund auch nicht anhaften.

Auch ist es keine richtige Definition, wenn derArt-Unterschied, oder die Art oder eine der Unterartender Gattung beigelegt wird; denn diese Bestimmungenkönnen von der Gattung nicht ausgesagt werden, dadie Gattung einen grösseren Umfang, als alle diese,hat. Ebenso ist es ein Fehler wenn die Gattung demArt-Unterschied beigelegt wird; denn die Gattungkann nicht von dem Art-Unterschied, sondern von denGegenständen, denen der Art-Unterschied beigelegtwird, ausgesagt werden. So wird z.B. das Geschöpf

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von den Menschen und vom Stier und von den andernLandthieren ausgesagt, aber nicht von demArt-Unterschiede selbst, der dieser Art zukommt.Könnte das Geschöpf von jedem seiner einzelnenArt-Unterschiede ausgesagt werden, so würden vieleGeschöpfe von der Art ausgesagt werden, denn dieArt-Unterschiede werden von der Art ausgesagt.

Auch würden alle Art-Unterschiede dann Artenoder Einzelgegenstände sein, wenn sie Geschöpfewären, da jedes Geschöpf entweder eine Art oder einEinzelgegenstand ist.

Ebenso muss man prüfen, ob etwa die Art oderetwas von ihren Unterarten von dem Art-Unterschiedausgesagt wird; denn dies ist unstatthaft, da derArt-Unterschied von mehr Gegenständen, als die Art,ausgesagt wird. Auch würde dann der Art-Unterschied selbst zu einer Art werden, da eine vonden Arten von ihm ausgesagt wird; denn wenn derMensch von dem Art-Unterschied ausgesagt wird, soist offenbar der Art-Unterschied ein Mensch. Auchmuss man prüfen ob auch der Art-Unterschied dasFrühere gegen die Art ist; denn er muss das Spätere inBezug auf die Gattung und das Frühere in Bezug aufdie Art sein.

Auch muss man prüfen, ob etwa der aufgestellteArt-Unterschied zu einer anderen Gattung gehört,welche der wahren weder über- noch untergeordnet

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ist; denn derselbe Art-Unterschied kann wohl nichtzwei, einander nicht untergeordneten Gattungen ange-hören, sonst würde, wenn dies zulässig wäre, auch dieArt selbst zu zwei, einander nicht untergeordnetenGattungen gehören; denn jeder Art-Unterschied bringtdie ihm zugehörige Gattung mit hinzu; wie z.B. das»mit Füssen versehen« und das Zweifüssige das Ge-schöpf mit hinzubringt. Deshalb würden dem Gegen-stande, von dem der Art-Unterschied ausgesagt wird,auch jede der beiden Gattungen zukommen. Indess istes doch wohl nicht unmöglich, dass derArt-Unterschied zu zwei einander nicht untergeordne-ten Gattungen gehört; vielmehr muss man noch hinzu-setzen, dass dies nur dann nicht möglich sei, wennbeide Gattungen auch nicht unter derselben höherenGattung stehen. So sind beide, das Füsse habende Ge-schöpf und das Flügel habende Geschöpf, Gattungen,die einander nicht untergeordnet sind, und dennochgilt bei beiden das Zweifüssige als einArt-Unterschied. Deshalb muss man noch hinzuset-zen, dass beide Gattungen auch nicht unter einer hö-heren stehen dürfen; denn die hier genannten stehenbeide unter der Gattung Geschöpf. Hieraus ergiebtsich auch, dass nicht nothwendig jederArt-Unterschied die ihm eigenthümliche Gattung mitsich führt, weil ein und derselbe Unterschied zweien,einander nicht untergeordneten Gattungen angehören

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kann; vielmehr muss der Art-Unterschied wenigstensdie eine Gattung und die ihr übergeordneten Gattun-gen mit sich führen, wie z.B. das zweifüssige Geflü-gelte und das zweifüssige Landthier das Geschöpf mitsich führen.

Auch muss man prüfen, ob etwa bei der Definitionals Art-Unterschied des Wesens eine Ortsbestimmungaufgestellt worden ist; denn das Wesen eines Dingeskann sich von dem eines andern nicht durch einen Un-terschied im Orte unterscheiden. Deshalb tadelt manes auch, wenn die Geschöpfe in Land- und Was-ser-Geschöpfe eingetheilt werden, weil dieser Unter-schied nur einen Unterschied des Ortes angiebt. In-dess ist der Tadel hier wohl nicht begründet, denn das»im Wasser lebend« bedeutet weder, dass etwas ineinem Wasser oder an einem Orte lebe, sondern viel-mehr eine Beschaffenheit; denn selbst wenn das Ge-schöpf auf dem Trocknen ist, bleibt es doch ein Was-serthier, und ebenso bleibt ein Landthier selbst imWasser ein Landthier und wird kein Wasserthier.Dessen-ungeachtet bleibt es ein Fehler, wenn der Um-stand wirklich einen Unterschied im Orte bezeichnet.

Auch ist es ein Fehler, wenn ein Zustand des defi-nirten Gegenstandes als Art - Unterschied desselbenaufgestellt wird. Denn jeder Zustand tritt, wenn erüber einen bestimmten Grad gesteigert wird, aus demWesen des Gegenstandes heraus, während der

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Art-Unterschied dies nicht thut; denn derArt-Unterschied dient mehr der Erhaltung seines Ge-genstandes und kein Gegenstand kann ohne den ihmzugehörigen Art-Unterschied bestehen; denn wenn eskein auf dem Lande Lebendes giebt, giebt es auchkeinen Menschen. Ueberhaupt ist alles, wodurch einGegenstand zu einem anderen wird, niemals einArt-Unterschied desselben, weil ein solcher durchseine Steigerung aus dem Wesen des Gegenstandeshinaustritt. Ist also so etwas als Art-Unterschied auf-gestellt worden, so ist es ein Fehler, denn durch dieArt-Unterschiede werden wir niemals ein anderesDing.

Auch ist es ein Fehler, wenn bei der Definitioneines bezogenen Gegenstandes der Art-Unterschiednicht auch als eine Beziehung aufgestellt wird; dennbei Beziehungen, wie dies z.B. für die Wissenschaf-ten gilt; denn man nennt sie theoretische, oder prakti-sche oder technische, und jeder dieser Unterschiedebezeichnet eine Beziehung; das Theoretische ist theo-retisch in Bezug auf etwas und das Technische tech-nisch in Bezug auf etwas und ebenso das Praktische.

Man muss auch prüfen, ob der Definirende beieinem, auf etwas sich beziehenden Gegenstande das,wozu er von Natur bestimmt ist, als solches angege-ben hat, denn Manches von solchen Gegenständenlässt sich nur zu dem benutzen, zu welchem es von

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Natur bestimmt ist und zu sonst nichts weiter; Man-ches kann aber auch noch anderweit benutzt werden.So kann man z.B. das Gesicht nur zum Sehen gebrau-chen, die Striegel aber wohl auch zum Wasserschöp-fen. Danach wäre es ein Fehler, wenn jemand dieStriegel als ein Instrument zum Wasserschöpfen defi-nirte, denn es ist dazu seiner Natur nach nicht be-stimmt. Diese natürliche Bestimmung wird daran er-kannt, dass der verständige Mann als solcher, oder dieWissenschaft, welcher der Gegenstand eigenthümlichangehört, denselben so gebrauchen würde.

Auch ist es ein Fehler, wenn bei einem Gegenstan-de, der zu Mehrerem gerechnet werden kann, nichtdas nächste in der Definition genannt wird; z.B. wennman die Klugheit als die des Menschen, oder derSeele und nicht als die des denkenden Theiles derSeele bezeichnet; denn zunächst ist die Klugheit eineTugend des denkenden Theiles der Seele, und inBezug auf diesen Theil sagt man, dass die Seele oderder Mensch klug sei.

Ferner ist es ein Fehler, wenn der Gegenstand, vondem das Definirte als dessen Zustand oder Erleiden,oder sonst wie definirt worden ist, dieses Zustandesnicht fähig ist; denn jeder Zustand und jedes Erleidenkann von Natur nur in dem entstehen, dessen Zustandoder Erleiden es ist; so kann die Wissenschaft nur inder Seele entstehen, da sie ein Zustand derselben ist.

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Mitunter wird hierbei gefehlt, z.B. wenn man denSchlaf als ein Unvermögen wahrzunehmen, oder denZweifel als die Gleichheit entgegengesetzter Gründe,oder den Schmerz als eine gewaltsame Trennung zu-sammengewachsener Theile definirt, denn der Schlafist nicht in dem Wahrnehmen enthalten und dochmüsste er dies sein, wenn er ein Unvermögen desWahrnehmens sein soll. Ebenso ist der Zweifel nichtin den entgegengesetzten Gründen enthalten und derSchmerz nicht in den zusammengewachsenen Theilen;denn sonst müsste auch das Leblose Schmerz empfin-den, wenn der Schmerz überhaupt bei ihnen vorkom-men kann. Auch die Definition der Gesundheit ist die-ser Art, wenn sie als die Zusammenstimmung desWarmen und Kalten definirt wird; denn dann müsstedas Warme und Kalte gesund sein; denn das Zusam-menstimmen bei einem Gegenstande ist in den Be-stimmungen enthalten, deren Zusammenstimmung esist, und deshalb wäre die Gesundheit in diesen enthal-ten. Auch kommt es bei solchen Definitionen vor,dass die Wirkung in die Ursache, oder umgekehrt,verlegt wird; denn die Trennung der zusammenge-wachsenen Theile ist nicht der Schmerz selbst, son-dern sie bewirkt nur denselben, und ebenso ist dasUnvermögen wahrzunehmen nicht der Schlaf, sonderndas eine bewirkt das andere; denn wir schlafen entwe-der in Folge des Unvermögens wahrzunehmen, oder

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wir sind unvermögend wahrzunehmen in Folge desSchlafes. Ebenso dürfte die Gleichheit der entgegen-gesetzten Gründe nur die Ursache des Zweifels sein,denn erst dann, wenn bei der Ueberlegung der beider-seitigen Folgen dieselben nach jeder der beiden Seitenals gleich erscheinen, schwankt man darüber, wasman thun soll.

Auch muss man sehen, ob die verschiedenen Zeitenetwa nicht zusammenpassen, wie dies z.B. der Fallwäre, wenn man das Unsterbliche als ein jetzt unver-gängliches Wesen definirte; denn das jetzt unvergäng-liche Wesen ist blos jetzt unsterblich. Oder sollte diesdoch wohl nicht in diesen Worten liegen? denn dasjetzt Unvergängliche ist ein zweideutiger Ausdruck; erbedeutet entweder, dass der Gegenstand jetzt nichtvergeht, oder dass er jetzt nicht vergehen kann, oderdass er jetzt so beschaffen ist, dass er niemals verge-hen kann. Sagt man also, dass ein Geschöpf jetzt un-vergänglich sei, so sagt man damit, dass es der Artsei, dass es niemals vergehen könne. Dies ist aberdasselbe, wie das unsterblich sein, und deshalb folgtdaraus nicht, dass es nur jetzt unsterblich sei. Aberimmerhin kann es kommen, dass die ausgesagte Be-stimmung nur jetzt oder früher in dem Gegenstandeenthalten ist, der Gegenstand selbst aber nicht der Artist; dann wird die Definition nicht dasselbe mit demGegenstande sein. Man hat deshalb diesen

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Gesichtspunkt so, wie ich gesagt habe, zu benutzen.

Siebentes Kapitel

Auch muss man prüfen, ob das zu Definirendemehr von etwas Anderem als von dem in der aufge-stellten Definition Angegebenen ausgesagt wird; diesist z.B. der Fall, wenn die Gerechtigkeit als ein Ver-mögen, gleich zu vertheilen, definirt wird; denn ge-recht ist vielmehr der, welcher vorzieht, gleich zu ver-theilen, als der, welcher es nur vermag. Deshalb istalso die Gerechtigkeit nicht ein Vermögen, gleich zuvertheilen; sonst würde derjenige von allen gerechtsein, der am meisten im Stande wäre, gleich zu ver-theilen.

Auch ist es ein Fehler, wenn der Gegenstand dasMehr annimmt, aber bei dem, was die Definition be-zeichnet, dies nicht der Fall ist; oder wenn umgekehrtdas in der Definition Bezeichnete das Mehr annimmtaber nicht der Gegenstand; denn entweder müssenbeide das Mehr annehmen, oder keines, weil das, wasdie Definition angiebt, mit dem Gegenstande genaudasselbe ist. Ebenso ist es ein Mangel der Definition,wenn zwar beide das Mehr annehmen, aber dies beibeiden nicht gleichzeitig stattfindet, wie z.B. wenn dieLiebe als ein Begehren nach dem Zusammensein

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definirt wird; denn der mehr Liebende verlangt nichtmehr nach dem Zusammensein; deshalb nehmen beidenicht gleichzeitig das Mehr an, was doch sein muss,wenn sie dasselbe sein sollen.

Ferner ist es ein Mangel, wenn der Gegenstand vondem einen zweier Dinge mehr ausgesagt wird und dasin der Definition Ausgedrückte weniger, wie dies z.B.der Fall ist, wenn das Feuer als der leichteste Körperdefinirt wird; denn die Flamme ist mehr Feuer als dasLicht, aber der leichteste Körper ist die Flamme weni-ger als das Licht, obgleich doch bei beiden die Steige-rung stattfinden müsste, wenn sie dasselbe sind.Ebenso fehlerhaft ist die Definition, wenn das eineden zwei Dingen gleichmässig zukommt, das andereaber nicht gleichmässig, sondern dem einen mehr alsdem andern.

Auch ist es ein Fehler, wenn die Definition inBezug auf zwei Dinge abgesondert aufgestellt wird,z.B. wenn das Schöne als das definirt wird, was fürdas Gesicht oder für das Gehör angenehm ist, undwenn das Seiende als das definirt wird, was vermö-gend ist zu leiden oder zu wirken. Dann folgt, dassdasselbe zugleich schön und nicht schön ist, und dassdas Seiende zugleich das Nicht - Seiende ist; dennnach dieser Definition ist das für das Gehör Ange-nehme dasselbe, wie das Schöne und also auch dasfür das Gehör Unangenehme dasselbe wie das

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Nicht-Schöne, da für dieselben Dinge auch die Ge-gensätze dieselben sind und dem Schönen dasNicht-Schöne gegenübersteht, wie dem für das GehörAngenehmen das für das Gehör Unangenehme; folg-lich ist das für das Gehör Unangenehme dasselbe mitdem Nicht-Schönen. Ist nun ein Gegenstand zwar fürdas Gesicht angenehm, aber nicht für das Gehör, soist er demzufolge sowohl schön, wie nicht-schön.Ebenso lässt sich zeigen, wie bei solchen Definitionendas Seiende dasselbe ist, wie das Nicht-Seiende.

Auch in Bezug auf die in der Definition vorkom-menden Gattungen, Art-Unterschiede und sonstigenBestimmungen muss man prüfen, ob etwa, wenn manstatt der Worte deren Begriffe setzt, etwasNicht-Uebereinstimmendes sich ergiebt.

Achtes Kapitel

Wenn das zu Definirende eine Beziehung enthält,sei es als solches, oder in seiner Gattung, so mussman prüfen, ob das, worauf es selbst oder dessen Gat-tung sich bezieht, in der Definition auch angegebenist, wie dies z.B. nicht der Fall wäre, wenn man dieWissenschaft als eine durch Ueberredung nicht zu än-dernde Annahme definirte, oder den Willen als einschmerzloses Verlangen; denn das Wesen jedes

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Bezogenen besteht in der Beziehung auf ein Anderes,da in jedem Bezogenen es enthalten ist, dass es sichzu etwas verhalte. Deshalb muss man die Wissen-schaft ein Annehmen des Wissbaren und den Willenein Verlangen nach dem Guten nennen. Der gleicheFehler wäre es, wenn man die Sprachkenntniss alseine Kenntniss der Schriften definirte; denn es mussin der Definition entweder das genannt werden, aufwas sich das zu Definirende oder seine Gattung be-zieht. Bei allen Dingen ist aber deren Ziel das Beste,um dessentwegen das Uebrige geschieht; deshalbmuss man das Beste oder das Endziel in der Definiti-on angeben und die Begierde deshalb nicht als einVerlangen nach dem Angenehmen, sondern als einVerlangen nach der Lust definiren; denn um deretwil-len verlangt man nach dem Angenehmen.

Auch muss man prüfen, ob das, auf welches das zuDefinirende in der Definition bezogen wird, ein Ent-stehen oder ein Thätigsein ist; denn von diesen ist kei-nes ein Ziel, da das Ziel mehr in dem Gethan-habenund in dem Entstanden-sein als in dem Entstehen undThun enthalten ist. Indess gilt dieser Gesichtspunktwohl nicht für alle Fälle; denn die meisten Menschenwollen wohl lieber sich vergnügen, als mit dem Ver-gnügen aufhören und deshalb würden sie wohl hierdas Thätig-sein mehr für das Ziel erklären, als dasGethan-haben.

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Auch muss man in manchen Fällen prüfen, ob inder Definition der Gegenstand nach seiner Grösseoder Beschaffenheit oder nach einer sonstigen Bestim-mung etwa nicht näher angegeben ist, z.B. wenn manbei dem Ehrgeizigen nicht angiebt, nach welcher undwie grosser Ehre er verlangt; denn alle Menschen ver-langen nach der Ehre, und deshalb nützt es nichts, dennach der Ehre Verlangenden einen Ehrgeizigen zunennen, sondern man muss die erwähnten Zusätzemachen. Ebenso muss bei dem Habsüchtigen gesagtwerden, in welchem Masse er nach dem Gelde ver-langt und bei dem Unmässigen, in welchen Lüsten eres ist. Denn nicht jeder, der von irgendwelcher Lustüberwältigt wird, heisst ein Unmässiger, sondern esgilt dies nur für gewisse Arten der Lust. Ferner wärees der gleiche Fehler, wenn man die Nacht den Schat-ten der Erde oder wenn man das Erdbeben eine Bewe-gung der Erde, oder den Schnee eine Verdichtung derLuft, oder den Wind als eine Bewegung der Luft defi-nirte; vielmehr muss noch der Grad oder die Beschaf-fenheit oder die Ursache dieser ausgesagten Bestim-mungen angegeben werden. Ebenso muss man in an-deren solchen Fällen verfahren; denn wenn derArt-Unterschied in irgend einer Weise weggelassenwird, so ist das wesentliche Was des Gegenstandesnicht ausgedrückt. Man muss also hier immer den An-griff auf den mangelhaften Punkt richten; denn nicht

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jedwede Bewegung der Erde und nicht jedweder Gradeiner solchen ist ein Erdbeben, und nicht jedwede Be-wegung der Luft und jedweder Grad derselben ist einWind.

Auch ist es bei der Definition der Begierden, undwo es sonst noch passt, ein Fehler, wenn nicht das»scheinbare« hinzugesetzt wird; z.B. wenn der Willeals ein Verlangen nach dem Guten und die Begierdeals ein Verlangen nach dem Angenehmen und nichtals ein Verlangen nach dem scheinbaren Guten unddem scheinbaren Angenehmen definirt wird. Denn ofterkennen die Verlangenden das wahre Gute und daswahre Angenehme nicht und deshalb braucht das, wassie verlangen, nicht das Gute und das Angenehme zusein, sondern nur das, was ihnen so erscheint. Des-halb muss man auch hiernach die Aufstellung ma-chen. Indess ist, selbst wenn dies nicht verabsäumtworden, derjenige, welcher Ideen annimmt, auf dieseIdeen hinzuweisen; denn von dem Erscheinendengiebt es keine Ideen, und die Idee müsste hier inBezug auf eine andere ausgesagt werden. So würdez.B. die Begierde-an-sich als nach dem Angeneh-men-an-sich und das Wollen-an-sich als das desGuten-an-sich definirt werden müssen. Hier kann manaber nicht sagen: die Begierde nach dem scheinbarguten oder scheinbar angenehmen, denn es wäre wi-dersinnig, ein scheinbar Gutes-an-sich und ein

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scheinbar Angenehmes-an-sich aufzustellen.

Neuntes Kapitel

Man muss ferner, wenn es sich um Definition einesHabens handelt, auch auf den Inhaber achten, undwenn es sich um die Definition des Inhabers handelt,auf das Haben, und ebenso hat man bei ähnlichen sol-chen Gegenständen zu verfahren. Wird z.B. das An-genehme als etwas Nützliches aufgestellt, so prüfeman auch, ob der Geniessende davon Nutzen hat. ImAllgemeinen trifft es sich, dass der Definirende mitsolchen Definitionen gewissermassen Mehreres defi-nirt. Denn wer die Kenntniss definirt, definirt gewis-sermassen auch die Unkenntniss, und wer dasWissbare definirt, auch das Nicht-Wissbare, undebenso definirt er mit dem Wissen auch dasNicht-Wissen. Denn wenn das erste erklärt wordenist, wird auch das andere gewissermassen mit klar.Man muss hier überall darauf achten, dass die Ueber-einstimmung nicht verletzt werde und zu dem Behufdie für die Gegentheile und für die Reihen verwandterBegriffe angegebenen Gesichtspunkte benutzen.

Man muss ferner bei den Beziehungen darauf ach-ten, ob auf etwas von dem, worauf die Gattung bezo-gen wird, auch die Art sich bezieht; z.B. ob, wenn die

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Vorstellung auf das Vorstellbare überhaupt bezogenwird, auch die einzelne Vorstellung auf das einzelneVorstellbare bezogen worden ist, und ob, wenn dasVielfache auf das Vielgetheilte bezogen worden ist,das einzelne Vielfache auch auf das einzelne Vielge-theilte bezogen worden ist; denn wenn dies nicht ge-schehen sein sollte, so wäre es ein Fehler.

Man muss ferner prüfen, ob für den entgegenge-setzten Gegenstand auch der entgegengesetzte Begriffpasst, z.B. ob für das Halbe der entgegengesetzte Be-griff von dem Begriff des Doppelten aufgestellt wor-den ist; wenn z.B. das Doppelte das Einfache über-ragt, so muss das Halbe das sein, was von dem Einfa-chen überragt wird. Dasselbe gilt für die Gegentheile;denn der Begriff des Gegentheils wird auch von demGegentheile selbst nach einer der Gegenüberstellun-gen des Gegentheiligen gelten müssen. Ist z.B. nütz-lich das, was das Gute bewirkt, so ist schädlich das,was das Schlechte bewirkt oder was das Gute zer-stört; denn eines von diesen beiden muss nothwendigdas Gegentheil des zuerst Genannten sein. Ist nun kei-nes von beiden das Gegentheil des zuerst Genann-ten , so kann offenbar auch keine der aufgestelltenDefinitionen den Begriff des Gegentheils ausdrücken,und deshalb kann auch die anfangs aufgestellte Defi-nition nicht die richtige sein. Da indess manche vonden Gegentheilen in der Weise einer Beraubung des

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ersten ausgedrückt werden, wie z.B. die Ungleichheitals eine Beraubung der Gleichheit gilt (denn ungleichwird das Nicht-Gleiche genannt), so ist klar, dass dasals Beraubung ausgedrückte Gegentheil nur vermit-telst seines Gegentheils definirt werden kann; aberletzteres darf nicht durch jenes definirt werden, dennsonst würde von beiden gegentheiligen Gegenständenjeder durch den andern erklärt. Man muss also bei dengegentheiligen Dingen auf diese Fehler Acht haben;z.B. wenn jemand sagt, die Gleichheit sei das Gegen-theil von der Ungleichheit; denn dann würde sie durchdas, nur nach der Beraubung bezeichnete Gegentheildefinirt. Auch würde bei solchem Definiren das Defi-nirte selbst dazu benutzt, wie sich ergiebt, wenn manstatt des Namens den Begriff setzt; denn es ist einer-lei, ob man Ungleichheit oder Beraubung der Gleich-heit sagt, und dann ist also die Gleichheit das Gegen-theil von der Beraubung der Gleichheit, mithin ist sieselbst zu ihrer Definition benutzt. Wenn aber keineder einander entgegengesetzten Bestimmungen alseine Beraubung gelten kann und die Definition dochin solcher Weise aufgestellt wird, z.B. dass das Gutedas Gegentheil des Bösen sei, so ist klar, dass danndas Böse das Gegentheil des Guten sein muss, undman kann dann von beiden gegentheiligen Bestim-mungen die Definition in gleicher Weise aufstellen, sodass sich ergiebt, wie auch hier das zu Definirende zu

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seiner Definition benutzt wird. Denn in dem Begriffedes Bösen ist das Gute mit enthalten; ist also dasGute das Gegentheil des Bösen, so ist das Böse vondem Gegentheil des Guten nicht verschieden, und dasGute ergiebt sich dann als das Gegentheil vom Ge-gentheil des Guten, woraus erhellt, dass es durch sichselbst definirt wird.

Es ist ferner ein Fehler, wenn in der Definitionetwas als Beraubung aufgestellt worden ist, aber nichtangegangen worden, wessen Beraubung es sein solle;ob es z.B. die Beraubung des Habens oder des Ge-gentheils oder wessen sonst sein solle; oder wenn derGegenstand, in welchem die betreffende Bestimmungvon Natur besteht, überhaupt nicht genannt wordenist, oder nicht der Gegenstand, in welchem sie zu-nächst von Natur besteht; z.B. wenn jemand die Un-wissenheit als eine Beraubung definirt, ohne sie eineBeraubung des Wissens zu nennen; oder ohne dass erdas angiebt, in welchem dieselbe von Natur entstehenkann; oder ohne dass er das angiebt, in welchem die-selbe von Natur entstehen kann; oder ohne dass er dasangiebt, in welchem sie zunächst entsteht, z.B. wenner als solches nicht den denkenden Theil der Seele,sondern den Menschen oder die Seele angiebt; in allendiesen Fällen wird er gefehlt haben. Ebenso wäre esein Fehler, wenn er die Blindheit nicht als die Berau-bung des Sehens durch die Augen definirt; denn bei

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einer richtigen Definition muss das Was und dasjeni-ge, dessen Beraubung das Definirte ist, und ebenso,was das Beraubte ist, angegeben werden.

Auch muss man prüfen, ob etwas durch Beraubungdefinirt worden ist, was nicht in dieser Weise besteht.Diesen Fehler würden z.B. die begehen, welche dieje-nige Unwissenheit so definirten, welche nicht alsblosse Verneinung des Wissens gemeint ist. Denn indiesem Sinne ist nicht das, was gar kein Wissen hat,unwissend, sondern vielmehr ist der sich Irrende un-wissend; deshalb nennt man weder das Leblose, nochdie kleinen Kinder unwissend, und diese Unwissen-heit gilt deshalb nicht als eine Beraubung des Wis-sens.

Zehntes Kapitel

Auch muss man prüfen, ob zu denselben Beugun-gen des Wortes auch dieselben Beugungen des Be-griffes passen; ist z.B. das die Gesundheit Bewir-kende nützlich, so nützt auch das, was die Gesundheitbewirkt und hat genützt, was die Gesundheit bewirkthat.

Auch in Bezug auf die betreffende Idee muss manprüfen, ob die aufgestellte Definition zu ihr passt;denn mitunter trifft dies nicht zu, z.B. wenn Plato das

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Sterbliche in Anpassung an die Definitionen der Ge-schöpfe definirt; denn die Idee ist nicht sterblich, z.B.der Mensch-an-sich, und deshalb stimmt dann der Be-griff nicht mit seiner Idee. Ueberhaupt können alleDefinitionen, in welche etwas zu Bewirkendes oder zuErleidendes aufgenommen ist, mit der Idee nicht über-einstimmen, denn die, welche das Dasein von Ideenbehaupten, halten sie für leidlos und unveränderlich.Gegen solche Ansichten sind daher auch dergleichenGesichtspunkte zu benutzen.

Ferner muss man prüfen, ob etwa der Gegner beizweideutigen Worten einen Begriff für alle Bedeutun-gen des Wortes aufgestellt habe; denn nur bei Wor-ten, die blos eine Bedeutung haben, kann ein Begriffaufgestellt werden; wenn also der bei zweideutigenWorten angegebene Begriff für alle seine Bedeutun-gen passt, so ist klar, dass er von keinem der zu die-sem Worte gehörenden Gegenstände der Begriff seinkann. An diesem Fehler leidet auch die von Dionysiosgegebene Definition des Lebens, wonach es die derGattung von Natur anhaftende Bewegung sein soll;denn diese Definition passt ebenso für die Pflanzen,wie für die Thiere und das Wort: Leben bezeichnetwohl nicht blos ein Einfaches, sondern ist bei denThieren etwas Anderes, als bei den Pflanzen. Mankann nun, wenn man will, den Begriff davon entwederso aufstellen, als wenn das Wort überhaupt nur das

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Leben der einen Art von Dingen bezeichnete; oderman kann auch, selbst wenn man die Zweideutigkeitkennt und den Begriff blos von der einen Art aufstel-len will, es doch übersehen, dass man nicht den Be-griff dieser Art, sondern den für beide Arten gemein-sam angiebt. Indess wird man trotzdem in beiden Fäl-len gefehlt haben. Da indess die Zweideutigkeit man-cher Worte nicht bemerkt zu werden pflegt, so mussman als Fragender dergleichen Worte so benutzen, alshätten sie nur eine Bedeutung (denn dann passt derBegriff von der einen Art nicht auf die andere Art, sodass der Gegner glauben wird, dass er nicht richtigdefinirt habe, weil Worte mit nur einer Bedeutung füralles zu ihnen Gehörige passen müssen); soll manaber selbst antworten, so muss man die verschiedenenBedeutungen von einander trennen. Da indess mancheAntwortende behaupten, dass ein Wort, was nur eineBedeutung hat, mehrdeutig sei, sobald der von ihnenaufgestellte Begriff für alles unter das Wort Fallendenicht passt, und da sie umgekehrt zweideutige Wortefür eindeutig erklären, wenn ihre Definition für jededer Bedeutungen passt, so muss man über diese Frageim Voraus entweder sich vereinigen, oder vorweg be-weisen, dass das Wort, je nach seiner Natur, zweideu-tig oder eindeutig sei, denn der Gegner wird hier eherbeitreten, wenn er das daraus weiter Folgende nichtbereits kennen gelernt hat. Wenn aber der Gegner

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hierbei nicht zustimmt und behauptet, dass das ein-deutige Wort ein mehrdeutiges sei, weil der aufge-stellte Begriff nicht auf einzelne bestimmte noch unterdas Wort fallende Gegenstände passt, so muss manprüfen, ob der für diese letzteren Gegenstände aufzu-stellende Begriff auch für alle anderen, von dem Wortbefassten Gegenstände passe, denn dann ist klar, dassdas Wort ein eindeutiges ist, da dieser letzte Begrifffür alles passt. Ist dies aber nicht der Fall, so ergäbesich das Widersinnige, dass es dann für diese anderenGegenstände des Wortes mehrere wahre Definitionengäbe, da dann zwei Definitionen für diese passenwürden, die zuerst aufgestellte und die spätere.

Wenn ferner jemand ein vieldeutiges Wort definirthätte und diese Definition nicht auf Alles passte under dann behauptete, das Wort sei nicht zweideutig,sondern passe nur nicht für Alles, und deswegenpasse auch die Definition nicht für Alles, so mussman einem solchen entgegnen, dass man sich derüberlieferten und gebräuchlichen Ausdrucksweise be-dienen müsse und nicht daran rütteln dürfe, wenn manauch Einzelnes nicht so wie die Menge bezeichnenkönne.

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Elftes Kapitel

Wenn jemand von einem zusammengesetzten Aus-druck eine Definition aufstellt, so muss man prüfen,ob, wenn die Definition des einen Theiles des Aus-drucks abgetrennt wird, das Uebrige die Definitiondes übrigen Theiles des Ausdruckes ist; denn wenndies nicht der Fall ist, so kann auch die ganze Defini-tion nicht die richtige Definition des ganzen Gegen-standes sein. Wenn z.B. jemand eine begrenzte geradeLinie definirte als die Grenze einer begrenzten Ebene,wo die Mitte die beiden Enden verdeckt, so bildet hierdie Grenze einer begrenzten Ebene die Definition derbegrenzten Linie, und das Uebrige, welches lautet: wodie Mitte die beiden Enden verdeckt, muss dann dieDefinition des Geraden sein. Allein die unbegrenztegerade Linie hat weder eine Mitte, noch Enden und istdoch gerade, und deshalb ist dieser übrige Theil derDefinition nicht die Definition des übrigen Theilesdes Ausdrucks.

Auch muss man prüfen, ob bei Definitionen vonzusammengesetzten Ausdrücken die Definition etwagleichgliedrig mit dem Definirten aufgestellt wordenist. Gleichgliedrig heisst eine Definition dann, wennsie ebensoviel Hauptworte und Zeitworte befasst, alsder zusammengesetzte Ausdruck Theile hat. Denn in

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solchen Fällen müssen nothwendig die Worte im Aus-druck und dessen Definition sich austauschen lassen,entweder alle oder wenigstens einige, da ja in der De-finition nicht mehr als vorher in dem Ausdruck gesagtist. Also muss man dann die Definitionen der einzel-nen Worte auch für diese gebrauchen können undzwar bei allen Worten, oder doch bei den meisten. Indieser Weise könnte ja auch bei einfachen Aus-drücken, wenn man nur die Hauptworte austauscht,dies eine Definition abgeben, z.B. wenn man stattUeberzieher Mantel setzte.

Noch grösser ist der Fehler, wenn man die bekann-teren Worte mit unbekannteren vertauscht, z.B. wennman statt: weisser Mensch, sagte: hellglänzenderSterblicher; denn dies ist keine Definition, da ein sol-cher Ausdruck weniger deutlich ist.

Auch muss man bei dem Austausch von Haupt-worten bei solchen Definitionen prüfen, ob etwa beidenicht dasselbe bedeuten, z.B. wenn jemand die theore-tische Wissenschaft eine theoretische Annahme nennt.Denn Annahme ist mit Wissenschaft nicht dasselbe,was doch sein muss, wenn das Ganze dasselbe seinsoll. Hier ist zwar das: theoretisch beiden Ausdrückengemeinsam, aber das andere ist verschieden.

Auch wäre es ein Fehler, wenn man bei einer sol-chen Definition mittelst blossen Wechsels der Worte,diesen Wechsel nicht bei dem Art- Unterschied,

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sondern bei der Gattung vornähme, wie dies in demvorigen Beispiel geschehen ist. Denn das Theoreti-sche ist ein unbekannteres Wort, als die Wissen-schaft, da letzteres die Gattung und jenes denArt-Unterschied bezeichnet und die Gattung überalldas Bekanntere ist. Es hätte also nicht das Wort, wasdie Gattung bezeichnet, sondern das für denArt-Unterschied umgetauscht werden sollen, da diesesdas weniger bekannte ist. Indess dürfte dieser Tadelwohl lächerlich erscheinen; denn es kann ja sehr wohlkommen, dass der Art-Unterschied durch ein bekann-teres Wort, als die Gattung, bezeichnet wird, undwenn dies der Fall ist, so ist klar, dass der Austauschder Worte nicht bei dem Art-Unterschied, sondern beider Gattung geschehen muss. Kann indess das Wortnicht mit einem Worte, sondern nur mit dessen Be-griff vertauscht werden, so ist offenbar nöthiger, denArt-Unterschied, als die Gattung zu definiren, da dieDefinition um der Erkenntniss willen aufgestellt wirdund dann der Art-Unterschied weniger bekannt ist, alsdie Gattung.

Ist nur die Definition von dem Art-Unterschied auf-gestellt worden, so muss man prüfen, ob diese Defini-tion nicht etwa noch Anderes befasst; z.B. wenn je-mand die ungerade Zahl für die Zahl erklärt, welchekeine Mitte habe; denn dann muss noch weiter be-stimmt werden, in welcher Art sie keine Mitte habe;

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da die Zahl beiden Ausdrücken gemein ist und nur derBegriff des ungeraden ausgetauscht worden ist. Nunhat aber auch die Linie und der Körper eine Mitte,ohne dass sie ungerade sind und deshalb kann jenerAusdruck nicht für die Definition des Ungeraden gel-ten. Hat aber der Ausdruck: eine Mitte haben, mehre-re Bedeutungen, so ist näher anzugeben, in welcherArt dies gemeint sei. Deshalb ist hier entweder einefehlerhafte Definition aufgestellt, oder man hat bewie-sen, dass überhaupt keine Definition aufgestellt wor-den ist.

Zwölftes Kapitel

Ferner ist es ein Mangel, wenn das Definirte zudem Seienden gehört, das unter der Definition Be-fasste aber zu dem Nicht-seienden gehört; z.B. wenndas Weisse für eine mit Feuer gemischte Farbe erklärtworden ist. Denn das Unkörperliche lässt sich nichtmit Körperlichen vermischen, und deshalb kann auchdie Farbe sich nicht mit dem Feuer vermischen; dasWeisse ist aber etwas Seiendes.

Auch die, welche bei Beziehungen nicht unterschei-den, auf was der Gegenstand bezogen werde, sondernzu Vieles dafür angeben, stellen entweder eine durch-aus falsche Definition auf, oder fehlen in einem

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einzelnen Punkte. Dies ist z.B. der Fall, wenn jemanddie Heil-Wissenschaft als eine solche erklärt, die sichauf Seiendes bezieht. Denn bezieht sich dieselbe aufgar nichts Seiendes, so ist diese Definition ganzfalsch; bezieht sich dieselbe aber auf einiges Seiendeund auf anderes nicht, so ist die Definition in diesemPunkte falsch; denn sie muss sich auf alles Seiendebeziehen, wenn sie an sich und nicht blos nebenbeials auf das Seiende sich beziehend erklärt wird, wiedies auch bei anderen Bezogenen der Fall ist; dennalles Wissbare heisst so in Bezug auf die Wissen-schaft, und ebenso verhält es sich mit anderen Bezo-genen, da bei allen Beziehungen die Bezogenen sichumkehren lassen. Sollte aber eine Definition, die dasBezogene nicht an sich, sondern nur nebenbei meint,als eine richtige gelten, so würde jede Beziehungnicht blos auf Eines, sondern auf Mehreres sich bezie-hen. Denn ein und dasselbe kann sowohl ein Seien-des, wie auch ein Weisses und ein Gutes sein; mithinwürde jeder, welcher eines von diesen als das Bezoge-ne aufstellte, richtig definirt haben, sofern die Defini-tion, welche das Bezogene blos in einem nebensächli-chen Sinne meint, eine richtige Definition sein soll.Auch wäre es dann unmöglich, dass eine solche Defi-nition dem betreffenden Gegenstande eigenthümlichzukäme. Denn nicht blos die Heil-Wissenschaft, son-dern noch viele von den anderen Wissenschaften

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beziehen sich auf ein Seiendes, so dass also jedederselben eine Wissenschaft des Seienden wäre. Einesolche Definition ist daher von keiner Wissenschaftzulässig, da die Definition dem Definirten aus-schliesslich zukommen muss.

Mitunter wird nicht der Gegenstand überhaupt defi-nirt, sondern nur der, welcher in gutem oder vollkom-menen Zustande sich befindet. Dahin gehört es, wennder Redner als derjenige definirt wird, welcher inallen Fällen die überzeugenden Gründe erfasst undnichts davon übersieht, und wenn der Dieb als der de-finirt wird, welcher etwas heimlich an sich nimmt;denn dieser Art ist offenbar nur der gute Redner undder geschickte Dieb; denn Dieb überhaupt ist nichtder, welcher heimlich nimmt, sondern wer heimlichnehmen will.

Es ist ferner ein Fehler, wenn das um sein selbstwillen Wünschenswerthe als ein etwas zu Stande zuBringendes, oder als ein etwas Auszuführendes oderüberhaupt als etwas definirt wird, was um eines an-dern willen wünschenswerth ist; z.B. wenn man dieGerechtigkeit als eine Erhalterin der Gesetze oder dieWeisheit als die Bewirkerin der Glückseligkeit defi-nirt; denn das, was nur etwas bewirkt, oder erhält, ge-hört zu dem, was um eines andern willen wünschens-werth ist. Nun hindert zwar nichts, dass das um seinselbst willen Wünschenswerthe auch um anderer

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Dinge willen wünschenswerth ist, aber dennoch bleibteine solche Definition des um sein selbst willen Wün-schenswerthen fehlerhaft; denn das Beste von jederSache ist in ihrem Wesen enthalten. Deshalb mussdas um sein selbst willen Wünschenswerthe bessersein, als das um anderes willen und deshalb mussauch die Definition dies mehr hervorheben.

Dreizehntes Kapitel

Auch muss man prüfen, ob die Definition den Ge-genstand so aufstellt, als sei er Mehreres, oder beste-he aus Mehreren, oder sei Eines mit einem Andern.Wird der Gegenstand so aufgestellt, dass er Mehreressei, so folgt, dass er in beiden und doch in keinem vonbeiden enthalten ist, z.B. wenn man die Gerechtigkeitals die Selbstbeherrschung und als die Tapferkeit de-finirte. Denn wenn von zwei Personen jede die einedieser Tugenden hat, so werden sie beide zusammengerecht sein, aber doch keiner allein, da sie beide zu-sammen wohl die Gerechtigkeit haben, aber keiner al-lein sie hat. Wenn nun auch dergleichen nicht als wi-dersinnig gelten kann, weil es bei anderen Dingenvorkommen kann (denn es kann ja sein, dass Zweieine Mine Goldes haben, aber keiner allein sie hat),so würde es doch durchaus widersinnig sein, wenn die

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entgegengesetzten Bestimmungen von ihnen ausge-sagt würden, und dies würde eintreten, wenn demEinen von ihnen die Selbstbeherrschung und die Feig-heit zukäme und dem Andern die Tapferkeit und dieZuchtlosigkeit; denn dann kommt beiden die Gerech-tigkeit und die Ungerechtigkeit zu; denn wenn die Ge-rechtigkeit in der Selbstbeherrschung und Tapferkeitbesteht, so muss auch die Ungerechtigkeit aus derZuchtlosigkeit und Feigheit bestehen. Ueberhauptkönnten alle die Fälle, wo man zeigen kann, dass dieTheile nicht dasselbe sind, wie das Ganze, für denhier aufgestellten Gesichtspunkt benutzt werden; dennbei solchen Definitionen werden die Theile für dassel-be, wie das Ganze, erklärt. Am einleuchtendsten istdies bei solchen Gegenständen, wo die Zusammenset-zung der Theile klar vorliegt, wie z.B. beim Hauseund ähnlichen Dingen; denn hier zeigt sich, dass,wenn auch alle Theile vorhanden sind, das Ganzedoch nicht zu sein braucht, dass folglich die sämmtli-chen Theile nicht dasselbe wie das Ganze sind.

Wird aber die Definition nicht in der Weise, dassder Gegenstand Mehreres sei, aufgestellt, sonderndass er aus Mehreren entstanden sei, so muss man zu-nächst prüfen, ob auch aus den angegebenen Einzel-nen Eines entstehen kann; denn Mehreres verhält sichmitunter so zu einander, dass aus demselben Nichtsentstehen kann, wie z.B. die Linie und die Zahl. Auch

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muss man prüfen, ob das zu Definirende seiner Naturnach aus einem Gegenstande ursprünglich entsteht,während nach der Definition es aus Mehreren hervor-gehen soll, die nicht ursprünglich aus Einem hervor-gehen, sondern Jedes aus einem Andern; denn dannkann offenbar auch das zu Definirende aus diesemMehreren nicht hervorgehen; denn das, was die Theileenthält, muss auch das Ganze enthalten. Mithinmüsste das Ganze, wenn die aufgestellte Definitionrichtig sein sollte, nicht ursprünglich aus Einem, son-dern ursprünglich aus Mehrerem hervorgehen. Solltenaber sowohl die Theile wie das Ganze ursprünglichaus Einem hervorgehen, so muss man prüfen, obbeide etwa nicht aus demselben, sondern das Ganzeaus Diesem und die Theile aus Anderem hervorgehen.Ferner, ob mit dem Ganzen auch die Theile zu Grun-de gehen; denn umgekehrt muss es wohl kommen,dass mit dem Untergange der Theile auch das Ganzeuntergeht; allein wenn das Ganze untergeht, brauchennicht auch die Theile unterzugehen. Ferner hat man zuprüfen, ob das Ganze zwar gut, oder schlecht ist, dieTheile aber keines von beiden, oder ob umgekehrt dieTheile zwar gut oder schlecht sind, das Ganze aberkeines von beiden; denn aus dem, was weder gut nochschlecht ist, kann nicht etwas werden, was gut oderschlecht ist, und aus dem, was schlecht oder gut ist,kann nicht etwas werden, was keines von beiden ist.

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Ferner muss man prüfen, ob von den Theilen dereine mehr gut, als der andere schlecht ist, das Ganzeaber nicht mehr gut als schlecht ist; z.B. wenn dieSchamlosigkeit als aus der Tapferkeit und einer fal-schen Meinung hervorgehend definirt worden ist.Denn hier ist die Tapferkeit mehr gut, als die falscheMeinung schlecht ist; deshalb muss auch in dem dar-aus Hervorgehenden das Mehr sich so verhalten undentweder das Ganze einfach gut oder wenigstens mehrgut als schlecht sein. Indess dürfte dies wohl nur danothwendig sein, wo jeder der Theile nicht an sich gutoder schlecht ist, denn es giebt Vieles, was für sichallein nicht gut ist, aber wohl, wenn es gemischt wird,und umgekehrt giebt es Vieles, wo das Einzelne gutist, aber gemischt das Ganze schlecht oder keines vonbeiden. Am deutlichsten zeigt sich dies bei dem, wasgesund oder krank macht; denn manche Arzneimittelsind der Art, dass jedes für sich gut ist, dass sie abergemischt eingegeben schlecht wirken.

Man hat ferner zu prüfen, ob, wenn Etwas auseinem Besseren und einem Schlechteren hervorgehensoll, das Ganze auch schlechter ist als das Bessereund besser als das Schlechtere. Doch ist auch dieswohl da nicht nothwendig, wo die Theile, aus denendas Ganze besteht, nicht an sich gut sind; denn dannkann das Ganze trotzdem nicht gut werden, wie z.B.in dem vorher angegebenen Falle.

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Auch hat man zu prüfen, ob das Ganze mit demeinen der Dinge, aus denen es bestehen soll, dieselbeBedeutung hat; denn dies darf nicht sein; auch nichtbei den Silben, denn die Silbe hat mit keinem derBuchstaben, aus denen sie besteht, gleiche Bedeu-tung.

Ferner muss auch die Art der Verbindung in derDefinition angegeben sein, denn es genügt zur Er-kenntniss des Gegenstandes nicht, dass man sagt, erentstehe aus diesen Stücken. Das Wesen der zusam-mengesetzten Dinge besteht nicht blos in diesemWerden aus Anderem, sondern in dem, wie sie darauswerden; wie z.B. bei dem Hause; denn ein solchesentsteht nicht aus jeder beliebigen Zusammensetzungseiner Bestandtheile.

Ist nämlich bei einer Definition gesagt worden,dass Dieses mit Jenem den zu definirenden Gegen-stand bilde, so muss man zunächst geltend machen,dass der Ausdruck: Dieses mit Jenem oder mit Jenendasselbe besagt, wie der Ausdruck, dass der Gegen-stand aus Diesen bestehe; denn wer sagt: Honig mitWasser, meint entweder damit: Honig und Wasseroder das aus Honig und Wasser Werdende. Giebt hierder Gegner nun zu, dass das: »Dieses mit Jenem« das-selbe, wie einer dieser beiden letzten Ausdrücke be-deute, so wird dann auf seine Definition Dasselbe anEntgegnungen passen, was für diese beiden

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Ausdrücke vorher gesagt worden ist. Ist aber von ihmangegeben, in wie vielfacher Bedeutung der Ausdruck»das Eine mit dem Andern« gebraucht werde, so mussman prüfen, ob keine dieser Bedeutungen hier an-wendbar ist; z.B. wenn »das Eine mit dem Andern«so gebraucht worden wie: »das Eine in einem, zu des-sen Aufnahme fähigem Anderen«, wie z.B. die Ge-rechtigkeit und die Tapferkeit in der Seele sind oderwie Mehreres in demselben Orte oder in derselbenZeit ist. Für solche Verhältnisse kann der Ausdruck:»mit einander« durchaus nicht gebraucht werden, unddeshalb ist die aufgestellte Definition dann für keinesrichtig, da in solchen Fällen das Eine nicht mit demAndern ist. Wenn aber von den verschiedenen Bedeu-tungen jenes Ausdruckes die eine richtig dahin geht,dass jedes der Mehreren in demselben Zeitpunkte ist,so muss man weiter prüfen, ob jedes der mehrerenGegenstände auf etwas Anderes bezogen werdenkann. Hätte z.B. jemand die Tapferkeit als eine Kühn-heit mit richtiger Kenntniss definirt, so lässt sich hierder Besitz der Kühnheit absondern und die richtigeKenntniss auf das Gesunde beziehen, und da wäredoch gewiss derjenige kein Tapferer, der zu derselbenZeit das eine mit dem anderen hätte. Auch prüfe man,ob beides sich auf dasselbe beziehen lässt, z.B. aufArzneimittel; so kann jemand sehr wohl die Kühnheit,wie die richtige Kenntniss in Bezug auf Arzneimittel

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haben, und doch würde der, welcher so das eine mitdem anderen hätte, kein Tapferer sein; vielmehr dür-fen nicht jedes auf etwas Anderes, noch beide aufjedes Beliebige sich beziehen lassen, sondern beidenur auf das Ziel der Tapferkeit, also auf die Gefahrenim Kriege, oder auf das, was etwa sonst noch als Zielder Tapferkeit gelten kann.

Auch fallen manche der so aufgestellten Definitio-nen durchaus nicht unter die besagten Eintheilungendes Ausdrucks »mit«; z.B. wenn der Zorn als einSchmerz mit der Annahme, dass man gering geschätztwerde, definirt worden ist. Denn es soll zwar damitgesagt sein, dass der Schmerz durch eine solche An-nahme verursacht werde, aber der Ausdruck, dassetwas durch ein anderes werde, besagt nach keinerder vorhergehenden Eintheilungen dasselbe mit dem:dass etwas mit einem anderen sei.

Vierzehntes Kapitel

Wenn ferner die Definition ein Ganzes als eineVerbindung bestimmter Theile angiebt, z.B. die desGeschöpfes als eine Verbindung der Seele und desLeibes, so muss man zunächst prüfen, ob etwa die Artder Verbindung nicht angegeben worden ist, z.B.wenn das Fleisch, oder die Knochen als eine

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Verbindung von Feuer, Erde und Luft definirt wordensind. Denn es nützt nichts, blos die Verbindung zunennen, man muss auch angeben, welche Art vonVerbindung es sei, da nicht aus jeder beliebigen Ver-bindung dieser Stücke Fleisch entsteht, sondernFleisch durch eine Verbindung dieser und Knochendurch eine Verbindung jener Art; ja es scheint keinesvon beiden das, was es ist, durch eine Verbindung zusein, denn jede Verbindung hat zu ihrem Gegentheildie Auflösung, aber keiner der beiden Gegenständehat ein solches Gegentheil. Wenn ferner es gleichglaubwürdig ist, dass jedes Zusammengesetzte eineVerbindung ist, wie, dass es keine Verbindung ist,aber von den Geschöpfen, obgleich jedes ein zusam-mengesetztes ist, keines eine Zusammensetzung ist,so wird auch von dem anderen Zusammengesetztenkeines eine Zusammensetzung sein.

Wenn ferner derselbe Gegenstand seiner Naturnach zu verschiedenen Zeiten das Entgegengesetzteenthalten kann, derselbe aber nur durch das eine derEntgegengesetzten definirt worden ist, so ist klar,dass dies keine richtige Definition ist; denn sonstgäbe es von dem einen Gegenstand mehrere Definitio-nen, da man dann den Gegenstand ebensogut durchdas eine, wie durch das andere definiren könnte, weiler für beide von Natur gleich empfänglich ist. SolcherArt wäre z.B. die Definition der Seele, wenn sie ein

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des Wissens fähiges Geschöpf genannt würde, dennsie ist ebenso auch der Unwissenheit fähig.

Wenn man die vom Gegner aufgestellte Definitionnicht im Ganzen angreifen kann, weil man das Ganzenicht näher kennt, so muss man es bei einem Theilederselben versuchen, welcher uns näher bekannt istund nicht richtig definirt zu sein scheint; denn kannman bei diesem Theile die Definition widerlegen, sofällt auch die ganze Definition. Sind die Definitionenaber unklar aufgestellt, so muss man sie zu berichti-gen und in eine bessere Form zu bringen suchen undsehen, ob sich auf diesem Wege etwas ergiebt, wasman angreifen kann; denn der Antwortende muss ent-weder das von dem Anderen Aufgestellte annehmen,oder selbst deutlicher sagen, was er mit der Definitionmeine. So wie man in den Volksversammlungen einenanderen Gesetzentwurf vorzubringen pflegt unddamit, wenn dieser besser ist, den zuerst eingebrach-ten beseitigt, so muss man auch bei den Definitionenverfahren und selbst eine andere Definition aufstellen.Denn wenn diese als die bessere erscheint und das zuDefinirende mehr klar legt, so ist offenbar die vomGegner aufgestellte Definition umgestossen, da esnicht mehrere Definitionen von demselben Gegenstan-de geben kann.

Bei allen Definitionen ist es keiner der geringstenGesichtspunkte, dass man zunächst für sich den

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vorliegenden Gegenstand richtig zu definiren oder gutgefasste Definitionen sich in das Gedächtniss zu rufenversuche; denn indem man dann darauf, wie auf einMuster schaut, wird man es nothwendig bemerken,wenn an der vom Gegner aufgestellten Definitionetwas Nöthiges fehlt, oder etwas Ueberflüssiges zuge-setzt ist, so dass man dadurch mehr Mittel zum An-griff bekommt.

So viel sei über die Definitionen gesagt.

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Siebentes Buch

Erstes Kapitel

Ob zwei Dinge ein und dasselbe oder verschiedensind und zwar in der wichtigsten der davon angenom-menen Bedeutungen (als deren wichtigsten habe ichaber die genannt, wonach das der Zahl nach Eine einund dasselbe ist), dies muss man nach den Beugungender Worte, nach den Reihen der verwandten Begriffeund nach den Gegensätzen prüfen. Wenn z.B. die Ge-rechtigkeit dasselbe ist wie die Tapferkeit, so gilt diesauch für den Gerechten und Tapferen und für das ge-recht und tapfer. Ebenso ist es mit den Gegensätzen;sind nämlich zwei Bestimmungen dieselben, so sindauch ihre Gegensätze dieselben und zwar nach jedwe-der Art von Entgegensetzung; dann ist es gleich, obman den Gegensatz von der einen oder der anderenBestimmung nimmt, da sie dasselbe sind. Ebenso hatman dies aus dem zu entnehmen, was diese Bestim-mungen zu Stande bringt, oder zerstört, und aus demWerden und Untergehen derselben und überhaupt ausAllem, was sich bei beiden gleich verhält; denn beiAllem, was überhaupt als ein und dasselbe gilt, sindauch das Werden und das Untergehen und das, was eszu Stande bringt und zerstört, dasselbe.

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Auch muss man prüfen, ob, wenn von dem einenam meisten irgend etwas ausgesagt wird, dies auchvon dem anderen dieser beiden Gegenstände gesche-hen kann. So zeigte Xenokrates, dass das glückseligeund das sittliche Leben ein und dasselbe sei, weil vonallen verschiedenen Lebensweisen die sittliche unddie glückselige am meisten wünschenswerth sei undweil das wünschenswertheste und grösste immer nureines sei. Das Gleiche findet in anderen solchen Fäl-len statt, aber jedes von den beiden, die als dasgrösste und wünschenswertheste genannt werden,muss der Zahl nach eines sein; denn ohnedem ist dieDieselbigkeit derselben nicht bewiesen. Wenn z.B.von den Griechen die Peloponnesier und die Lakedä-monier die tapfersten sind, so ist es nicht nothwendig,dass die Peloponnesier dieselben wie die Lakedämo-nier sind, da weder jene noch diese der Zahl nachEines sind; vielmehr müssen dann die einen von denanderen befasst werden, wie z.B. die Lakedämoniervon den Peloponnesiern; ist dies nicht der Fall, soWürde folgen, dass gegenseitig die einen besserwären als die anderen, sofern nämlich die einen vonden anderen nicht mit befasst werden, denn es müssendann die Peloponnesier tapferer sein als die Lakedä-monier, da ja die einen von den anderen nicht mit be-fasst werden; denn sie sollen ja besser als alle die üb-rigen sein. Ebenso müssen die Lakedämonier dann

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tapferer sein als die Peloponnesier, denn auch sie sol-len ja tapferer als alle übrigen sein, und so wären siegegenseitig die einen tapferer als die anderen. Es istalso klar, dass das, was für das Beste und Grösste er-klärt wird, Eines der Zahl nach sein muss, wenn da-durch die Dieselbigkeit bewiesen werden soll. Des-halb hat auch Xenokrates seinen Satz nicht bewiesen,denn das glückselige und das sittliche Leben sindnicht Eines der Zahl nach; deshalb brauchen sie auchnicht dasselbe zu sein, denn beide sind wohl die wün-schenswerthesten, allein nur weil das eine von demanderen befasst wird.

Man muss ferner prüfen, ob das, wodurch das einedasselbe ist, auch das ist, wodurch das andere dassel-be ist; denn wenn beide nicht durch ein und dasselbedieselben sind, so sind sie auch offenbar gegen einan-der nicht dasselbe.

Auch muss man auf das solchen angeblich Diesel-bigen nebensächlich Zukommende Acht haben undebenso, welchen Dingen diese Dieselbigen neben-sächlich zukommen; denn das, was dem einen neben-sächlich zukommt, muss auch dem anderen neben-sächlich zukommen, und welchen Dingen das eine ne-bensächlich zugehört, denen muss auch das anderenebensächlich zugehören. Stimmen sie in einem die-ser Punkte nicht überein, so sind sie offenbar nichtdasselbe.

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Auch muss man prüfen, ob etwa beide nicht zueiner Kategorien-Gattung gehören, sondern das eineetwa eine Beschaffenheit und das andere eine Grösseoder eine Beziehung bezeichnet. Ferner ob etwa dieGattung von beiden nicht dieselbe ist, sondern daseine ein Gut, das andere ein Uebel, oder das eine eineTugend, das andere eine Wissenschaft ist; oder obzwar die Gattung für beide dieselbe ist, aber von bei-den nicht dieselben Art-Unterschiede ausgesagt wer-den, z.B. dass das eine eine theoretische, das andereeine praktische Wissenschaft ist. Ebenso ist in ande-ren Fällen zu verfahren.

Auch nach dem Vermehren ist die Dieselbigkeit zuprüfen; ob nämlich das eine die Vermehrung annimmtund das andere nicht, oder ob beide zwar sie anneh-men, aber nicht gleichzeitig. So verlangt der mehrLiebende nicht auch mehr nach dem Beisammensein,und deshalb sind die Liebe und das Verlangen nachdem Beisammensein nicht ein und dasselbe.

Ebenso ist in Bezug auf einen Zusatz zu prüfen,ob, wenn dasselbe beiden hinzugefügt wird, dasGanze bei beiden etwa nicht dasselbe ist; oder ob,wenn dasselbe von jedem weggenommen wird, derUeberrest bei beiden etwa nicht derselbe ist; z.B.wenn man sagte, dass das Doppelte von der Hälfteund das Vielfache von der Hälfte dasselbe sei. Wennman hier von jedem die Hälfte wegnimmt, so müsste

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dann der Rest bei beiden derselbe sein, allein dies istnicht der Fall; also bedeuten das Doppelte und dasVielfache nicht dasselbe.

Auch muss man nicht blos prüfen, ob schon aus derblossen Aufstellung sich etwas unmögliches ergiebt,sondern auch ob die Möglichkeit der Aufstellung auchbei einer gewissen Voraussetzung bestehen bleibt,wie z.B. wenn behauptet würde, dass das Luftleereund das mit Luft Erfüllte dasselbe sei; denn offenbarist, wenn die Luft austritt, die Leere nicht geringer,sondern grösser, während, wenn sie voll Luft ist, diesnicht der Fall ist. Wenn also bei einer Voraussetzung,mag sie wahr sein oder nicht (denn dies macht keinenUnterschied), das eine von beiden aufgehoben wird,das andere aber nicht, so können sie beide nicht das-selbe sein. Ueberhaupt muss man nach den von jedemder beiden ausgesagten Bestimmungen und nach denGegenständen, von denen beide ausgesagt werden,prüfen, ob etwa hier nicht alles zusammenstimmt;denn die von dem einen ausgesagten Bestimmungenmüssen sich auch von dem anderen aussagen lassen,und von den Gegenständen, von welchen das eineausgesagt wird, muss auch das andere sich aussagenlassen.

Da ferner der Ausdruck: »Dasselbe« in vielerleiSinne gebraucht wird, so muss man auch prüfen, obdie aufgestellten Gegenstände in einem anderen Sinne

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dieselben seien, denn das der Art, oder Gattung nachdasselbe braucht, oder kann nicht auch der Zahl nachdasselbe sein; man muss deshalb auch prüfen, ob siein diesem Sinne dieselben sind, oder nicht.

Ebenso muss man prüfen, ob das eine ohne das an-dere sein kann; denn dann würden sie nicht dasselbesein.

Zweites Kapitel

So viel Gesichtspunkte lassen sich in Bezug aufden Ausdruck: Dasselbe, benutzen. Auch erhellt ausdem Gesagten, dass alle zur Widerlegung der Diesel-bigkeit benutzbaren Gesichtspunkte auch für die Wi-derlegung bei den Definitionen benutzt werden kön-nen, wie ich früher gesagt habe. Denn wenn der Nameund der Begriff nicht dasselbe bezeichnen, so ist klar,dass die aufgestellte Definition nicht als solche geltenkann. Dagegen ist von den für die Begründung derDieselbigkeit brauchbaren Gesichtspunkten keiner fürdie Begründung der Definition zu benutzen; denn derBeweis, dass der aufgestellte Satz und der Gegen-stand dasselbe sind, hilft nichts für den Beweis, dassjener die Definition enthalte, vielmehr muss die Defi-nition auch Alles, was ich sonst früher noch angege-ben habe, enthalten.

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Drittes Kapitel

Eine aufgestellte Definition zu widerlegen kannalso immer in dieser Weise und durch diese Mittelversucht werden. Will man aber eine aufgestellte De-finition begründen, so muss man zunächst sich verge-genwärtigen, dass durch keines, oder nur durch we-nige der besprochenen Mittel eine Definition erschlos-sen werden kann, sondern man fängt vielmehr gleichmit einer Definition an, wie dies in der Geometrie undbei den Zahlen und anderen dergleichen Unterrichts-gegenständen geschieht. Auch ist es die Aufgabe eineranderen Wissenschaft, genau darzulegen, was eineDefinition ist und wie man definiren soll; während eshier für den gegenwärtigen Zweck genügt, wenn ichsage, dass ein Schluss auf die Definition und das we-sentliche Was eines Gegenstandes allerdings gezogenwerden kann. Denn wenn die Definition ein Aus-spruch ist, welcher das wesentliche Was des Gegen-standes bezeichnet und wenn das in der DefinitionAngegebene nur von dem wesentlichen Was des Ge-genstandes allein ausgesagt werden kann, in dem Wasaber die Gattung und der Art-Unterschied angegebenwird, so ist klar, dass, wenn man nur diese Bestim-mungen als in dem Was des Gegenstandes enthaltenaufnimmt, ein solcher Satz nothwendig die Definition

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des Gegenstandes sein muss; denn eine andere Defini-tion kann es nicht geben, da in dem Was des Gegen-standes nichts Anderes ausgesagt wird.

Dass also ein Schlusssatz auf die Definition gezo-gen werden kann, ist klar; woher aber dazu das Nö-thige zu entnehmen ist, habe ich anderwärts genauerangegeben. Für die hier vorliegende Untersuchungaber können dieselben Gesichtspunkte benutzt wer-den. Man hat also auf die Gegentheile und die ande-ren Gegensätze zu achten, indem man dabei die Be-griffe im Ganzen und nach ihren Theilen untersucht.Denn wenn der entgegengesetzte Begriff dem entge-gengesetzten Gegenstande entspricht, so muss auchder aufgestellte Begriff dem vorliegenden Gegenstan-de entsprechen. Da indess die Gegentheile in mehrfa-cher Weise auf einander bezogen werden können, somuss man diejenigen Gegentheile nehmen, deren De-finition sich am meisten als die gegentheilige heraus-stellt. Die ganzen Definitionen hat man also in dieserWeise zu untersuchen, die Theile derselben aber fol-gendermassen. Zunächst also prüfe man, ob die ange-gebene Gattung die richtige ist Denn wenn der gegen-theilige Gegenstand in der gegentheiligen Gattungenthalten ist, aber der vorliegende Gegenstand nichtin derselben Gattung enthalten ist, so muss er offen-bar in der dieser entgegengesetzten enthalten sein, dagegentheilige Gegenstände nothwendig entweder in

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ein und derselben, oder in gegentheiligen Gattungenenthalten sein müssen. Auch muss von dem gegen-theiligen Gegenstande auch der gegentheiligeArt-Unterschied ausgesagt werden können, z.B. vondem Weissen das Schwarze, denn das eine dient demGesicht zum Unterscheiden, das andere zum Verei-nen. Können demnach von den gegentheiligen Gegen-ständen die gegentheiligen Art-Unterschiede ausge-sagt werden, so gelten auch die aufgestelltenArt-Unterschiede von dem vorliegenden Gegenstande.

Ist nun auf diese Weise die Gattung und derArt-Unterschied richtig aufgestellt, so ist auch dieaufgestellte Definition die richtige. Indess ist es wohlnicht immer nothwendig, dass von den gegentheiligenGegenständen gegentheilige Art-Unterschiede ausge-sagt werden, sofern nämlich beide nicht zu derselbenGattung gehören; vielmehr können, wenn sie zu ge-gentheiligen Gattungen gehören, die gleichenArt-Unterschiede von ihnen ausgesagt werden, wiez.B. von der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; denndie eine ist eine Tugend, die andere eine Schlechtig-keit der Seele, und mithin können die für die Seelegeltenden Art-Unterschiede von beiden ausgesagtwerden, da es ja auch eine Tugend und eine Schlech-tigkeit für den Leib giebt. Es ist deshalb wohl dasRichtige, dass von gegentheiligen Gegenständen ent-weder die gegentheiligen oder dieselben

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Art-Unterschiede gelten müssen. Wenn also von demgegentheiligen Gegenstande der gegentheiligeArt-Unterschied ausgesagt werden kann, von demvorliegenden Gegenstande aber nicht, so ist klar, dassjener Art-Unterschied von ihm ausgesagt werdenkann. Ueberhaupt kann man, da die Definition aus derGattung und den Art- Unterschieden besteht, sagen,dass, wenn die Definition des gegentheiligen Gegen-standes einleuchtend ist, auch die von dem vorliegen-den Gegenstande aufgestellte Definition es sein wird.Denn der gegentheilige Gegenstand muss entweder zuderselben, oder zu der gegentheiligen Gattung gehö-ren, und ebenso müssen die Art-Unterschiede des ge-gentheiligen Gegenstandes entweder die gegentheili-gen oder dieselben sein, und deshalb muss von demvorliegenden Gegenstande und seinem Gegentheileentweder ein und dieselbe Gattung gelten und nur dieArt-Unterschiede müssen entweder alle oder einigegegentheilig sein, während die übrigen die gleichensein können; oder es müssen umgekehrt die Art - Un-terschiede dieselben sein, aber die Gattungen gegen-theilige, oder es müssen sowohl Gattungen wieArt-Unterschiede gegentheilige sein; denn beide kön-nen nicht für beide Gegenstände dieselben sein, weilsonst dieselbe Definition für den Gegenstand und fürsein Gegentheil gelten müsste.

Auch die Beugungen der Worte und die

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verwandten Begriffe können zur Aufstellung der Defi-nition benutzt werden; denn die Gattungen müssenhierbei den Gattungen und die Begriffe den Begriffenentsprechen. Ist z.B. die Vergesslichkeit ein Verlustdes Wissens, so ist auch das Vergessen ein Verlierendes Wissens und das Vergessen-haben ein Verlo-ren-haben des Wissens. Stimmt hier irgend eine dieserBeugungen überein, so müssen bei einer richtigen De-finition auch die übrigen stimmen. Ist ferner der Un-tergang eine Auflösung des Wesens, so ist auch dasUntergehen ein Auflösen des Wesens und das, dasUntergehen Bewirkende, ein das Auflösen Bewirken-des; und ist das Untergängliche das Auflösbare desWesens, so ist auch der Untergang die Auflösung desWesens. Dasselbe gilt für andere Fälle; stimmt irgendeine von diesen Beugungen der Worte, so müssen beirichtigen Definitionen auch alle übrigen stimmen.

Auch das gleiche Verhalten der Gegenstände zueinander kann zur Definition benutzt werden; dennwenn das Gesunde die Gesundheit bewirkt, so wirdauch das Behagliche das Wohlbehagen bewirken unddas Nützliche das Gute; denn jeder dieser Gegenstän-de verhält sich in gleicher Weise zu seinem eigent-hümlichen Ziele; gilt also bei dem einen die Definiti-on, dass es sein Ziel bewirkt, so wird auch von jedemder übrigen dieselbe Art der Definition gelten.

Auch das Mehr und Gleich dient zur Aufstellung

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der Definitionen, so weit dieser Gesichtspunkt beiVergleichung von zweien mit zweien anwendbar ist.Ist z.B. die Definition von diesem Gegenstande esmehr, als die Definition von dem andern Gegenstan-de, so ist, wenn die Definition von letzterem Gegen-stande doch die richtige ist, auch jene die richtige De-finition von jenem Gegenstande. Ist aber die Definiti-on des einen Gegenstandes und die des andern Gegen-standes in diesem Punkte sich gleich, und ist die eineDefinition die richtige, so ist es auch die andere vonihrem Gegenstande. Dagegen hilft, wenn eine Defini-tion mit zwei Gegenständen verglichen wird, oderzwei Definitionen mit einem Gegenstande, diese Prü-fung nach dem Mehr nichts, denn es kann weder zweiDefinitionen zu einem Gegenstande noch zwei Ge-genstände zu einer Definition geben.

Viertes Kapitel

Diese jetzt genannten Gesichtspunkte, sowie dieaus der Verwandtschaft der Begriffe und aus den Beu-gungen der Worte sind die, welche am meisten zu ge-brauchen sind; man muss deshalb auf sie am meistenachten und sie zur Hand haben; denn sie lassen sichin den meisten Fällen gebrauchen. Auch von den übri-gen Gesichtspunkten muss man vorzugsweise die im

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Auge behalten, welche für die meisten Fälle passen,da sie wirksamer sind, als die übrigen; dahin gehörtz.B., dass man auf die Einzelnen und die Arten achtetund prüft, ob die Definition auf sie alle passt, da mitder Art nur gleichartige Dinge bezeichnet werden.Auch kann man diesen Gesichtspunkt gegen diejeni-gen brauchen, welche das Dasein von Ideen anneh-men, wie ich früher gezeigt habe. Auch ist zu prüfen,ob der Name des Gegenstandes bildlich gebrauchtworden ist, oder ob etwas von ihm selbst, als voneinem verschiedenen, ausgesagt worden ist. Wennsonst noch ein gemeinsamer und durchschlagenderGesichtspunkt vorhanden ist, so hat man auch diesenzu benutzen.

Fünftes Kapitel

Dass die Begründung einer Definition schwerer istals ihre Widerlegung, wird sich aus dem Folgendenergeben. Denn eine Definition zu finden und nebendem Gefragten solche Vordersätze aufzustellen, ausdenen der Beweis dafür sich ergiebt, ist nicht leicht,wie z.B. dafür, dass in der aufgestellten Definition dieGattung und der Art-Unterschied enthalten und dassdiese zu dem Was des Gegenstandes gehören. Ohnesolche Sätze kann aber kein Schluss auf die

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Richtigkeit der Definition gezogen werden. Dennwenn dies und jenes zu dem Was des Gegenstandesgehört, so bleibt unerkennbar, ob die aufgestellte De-finition oder eine andere die wahre ist, da die Definiti-on ein das wesentliche Was des Gegenstandes be-zeichnender Satz ist. Auch erhellt dies aus Folgen-dem: Es ist leichter Eines als Vieles zu erschliessen;zur Widerlegung genügt nun, die Erörterung aufeinen Satz zu richten (denn wenn irgend Eines wider-legt ist, hat man die Definition selbst widerlegt); zurBegründung gehört aber, dass man Alles beweist, wasals in der Definition enthaltend aufgestellt ist. Fernermuss für die Begründung der Schluss allgemein auf-gestellt werden; denn die Definition muss von jedemeinzelnen durch den Namen befassten Gegenstandausgesagt werden können und auch mit demselbensich austauschen lassen, wenn die aufgestellte Defini-tion die eigenthümliche sein soll.

Für die Widerlegung bedarf es aber keines allge-meinen Beweises; es genügt, wenn man zeigen kann,dass der Begriff für einen unter dem Namen befasstenGegenstand nicht der wahre ist; selbst wenn man dieWiderlegung allgemein begründen müsste, wäre dabeidoch ein Beweis, wie der, dass Definition und Gegen-stand sich austauschen lassen, nicht nöthig; für dieallgemeine Widerlegung reicht es aus, wenn gezeigtwird, dass von einzelnen Gegenständen, von denen

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der Name ausgesagt wird, die Definition nicht ausge-sagt werden kann; das Umgekehrte, dass von einzel-nen der Gegenstände, von welchen die Definition gilt,der Name nicht ausgesagt werde, braucht nicht bewie-sen zu werden. Ueberdem ist auch die Definition dannwiderlegt, wenn sie zwar für Alles, was der Name be-fasst, gut ist, aber nicht lediglich für dieses Alles.

Ebenso verhält es sich bei dem Eigenthümlichenund der Gattung; bei beiden ist es leichter, einen siebetreffenden Satz zu widerlegen als zu begründen.Für das Eigenthümliche ergiebt sich dies aus dem Ge-sagten; denn da das Eigenthümliche meistentheilsdurch einen Mehreres enthaltenden Satz ausgedrücktwird, so kann man durch Widerlegung eines einzelnenTheiles des Satzes den ganzen widerlegen, währendbei der Begründung jede einzelne Bestimmung bewie-sen werden muss. Auch das, was sonst in Bezug aufdie Definition gesagt worden ist lässt sich beinahAlles auf das Eigenthümliche anwenden, denn bei derBegründung des Eigenthümlichen muss von Jedem,was unter seinen Namen fällt, gezeigt werden, dassdas Eigenthümliche in ihm enthalten ist, während fürdie Widerlegung es genügt, wenn man zeigt, dass esin einem von diesen Gegenständen nicht enthalten ist.Selbst wenn das Eigenthümliche in allen von demNamen befassten Gegenständen enthalten ist, abernicht ausschliesslich in denselben, so ist dasselbe, wie

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die Definition, widerlegt. Die Gattung ist aber des-halb schwerer zu begründen als zu widerlegen, weilman nur auf eine Art beweisen kann, dass sie injedem Einzelnen enthalten ist, während die Widerle-gung in zwiefacher Weise geschehen kann; denn dieaufgestellte Gattung ist widerlegt, wenn man zeigt,dass sie in keinem Einzelnen oder dass sie nur in eini-gen Einzelnen enthalten ist. Auch genügt für die Be-gründung der Gattung nicht, dass gezeigt wird, sie seiin allen einzelnen Gegenständen enthalten, sondern esmuss auch dargelegt werden, weshalb sie als Gattungdarin enthalten ist; bei der Widerlegung genügt esaber, wenn man zeigt, dass sie nicht als Gattung ent-weder in einigen oder in allen enthalten ist. Es scheintdaher, dass, wie in andern Fällen, das Zerstören leich-ter ist, als das Anfertigen, so auch hier das Widerle-gen leichter ist als das Begründen.

Bei den nebensächlichen Bestimmungen ist das all-gemeine Zukommen derselben leichter zu widerlegenals zu begründen; denn bei letzterem muss gezeigtwerden, dass es allen zukommt, während zur Widerle-gung der Beweis genügt, dass es einem nicht zu-kommt. Dagegen ist das beschränkte Zukommen desNebensächlichen leichter zu begründen als zu wider-legen; denn bei jenem braucht man nur zu zeigen,dass es einzelnen zukommt, während bei diesem manzeigen muss, dass es keinem zukommt.

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Hieraus erhellt auch, dass von allen Widerlegungendie der Definition die leichteste ist; denn sie enthältim Vergleich zu den andern die meisten Bestimmun-gen, und je mehr solcher sind, desto leichter kann einSchluss gegen die Definition gefunden werden, indemda, wo Vieles beobachtet werden muss, leichter ge-fehlt werden kann, als da, wo nur Weniges zu beob-achten ist. Auch kann die Definition vermittelst derandern hier behandelten Bestimmungen angegriffenwerden; denn wenn die Definition dem Gegenstandenicht eigenthümlich zukommt, oder wenn die aufge-stellte Gattung nicht die richtige ist, oder wenn etwasin der Definition nicht in dem Gegenstande enthaltenist, so ist die Definition widerlegt. Bei jenen anderenBestimmungen kann man aber nicht die für die Defi-nition anwendbaren oder alle die andern sonstigenMittel zur Widerlegung benutzen; denn nur die fürdas Nebensächliche anwendbaren Mittel der Widerle-gung können bei allen andern benutzt werden. Esmuss zwar in dem Gegenstande jede der hier behan-delten Bestimmungen enthalten sein; wenn aber auchdie Gattung dem Gegenstande nicht eigenthümlicheinwohnt, so ist damit die Gattung niemals widerlegt.Ebenso braucht das Eigenthümliche nicht wie dieGattung und das Nebensächliche nicht wie die Gat-tung oder das Eigenthümliche in dem Gegenstandeenthalten zu sein, sondern es genügt bei letzterem,

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wenn es überhaupt darin enthalten ist, deshalb kannman die Mittel der Widerlegung bei dem einen nichtauch bei dem andern benutzen, ausgenommen bei derDefinition.

Es ist also klar, dass die Definition am leichtestenzu widerlegen und am schwersten zu begründen ist;denn bei ihr muss alles das, was bei den andern Be-stimmungen nöthig ist, bewiesen werden (nämlichdass die aufgestellten Bestimmungen in dem Gegen-stande enthalten sind, und dass die aufgestellte Gat-tung die richtige ist und dass der aufgestellte Begriffdem Gegenstande eigenthümlich ist) und danebenauch noch, dass die Definition das wesentliche Wasdes Gegenstandes ausdrückt und dass dies in ange-messener Weise geschehen ist.

Von den anderen Bestimmungen steht das Eigent-hümliche der Definition in dieser Beziehung am näch-sten; denn es ist leichter zu widerlegen, weil es mei-stentheils durch mehrere Worte ausgedrückt wird, undzu begründen ist es von den übrigen am schwersten,weil man Vieles zu beweisen hat und ausserdem noch,dass das Aufgestellte dem Gegenstande ausschliess-lich zukommt und sich mit ihm austauschen lässt.

Am leichtesten von Allen ist das Nebensächlichezu begründen; denn bei den übrigen Bestimmungenmuss man nicht allein beweisen, dass sie in dem Ge-genstande enthalten sind, sondern dass sie auch als

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solche darin enthalten sind, während bei dem Neben-sächlichen es genügt, wenn nur das Enthaltensein des-selben in dem Gegenstande bewiesen wird. Die Wi-derlegung ist dagegen bei ihm die schwerste, weil inihm die wenigsten Bestimmungen zum Angriff gebo-ten werden; denn bei dem Nebensächlichen wird nichtgesagt, wie es im Gegenstande enthalten ist. Daherkann bei den andern Bestimmungen die Widerlegungin zweifacher Weise geschehen, entweder dahin, dasssie nicht in dem Gegenstande enthalten sind, oderdass sie nicht als solche darin enthalten sind, währendman das Nebensächliche nur durch den Beweis, dasses in dem Gegenstande nicht enthalten, widerlegenkann.

Damit werden die Gesichtspunkte, durch die mangut ausgerüstet ist, um jeden Streitsatz anzugreifen,wohl vollständig aufgezählt sein.

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Achtes Buch

Erstes Kapitel

Ich habe nun noch über die Folgeordnung und überdie Art und Weise, wie man fragen soll, zu sprechen.Zunächst muss der, welcher das Fragen übernehmenwill, den Gesichtspunkt ausfindig machen, von woaus ein Angriff geschehen kann; sodann hat er beisich selbst die Fragen über jedes Einzelne zu stellenund zu ordnen, und drittens endlich hat er dies danngegen den Andern auszusprechen. Bis zur Auffindungdes passenden Gesichtspunktes ist die Untersuchungbei dem Philosophen dieselbe wie bei dem Disputi-renden. Dagegen ist die Ordnung des Stoffes und dieFragestellung dem letzteren eigenthümlich; denn inBezug auf alles dieses Uebrige ist es dem Philoso-phen und dem, der für sich allein forscht, sofern nurdie Vordersätze, auf welchen der Schluss beruht, wahrund bekannt sind, gleichgültig, dass der antwortendeGegner sie etwa nicht anerkenne, weil sie den ober-sten Grundsätzen zu nahe stehen, oder weil der Geg-ner das daraus Abzuleitende voraussieht; vielmehrwird der Philosoph sich bestreben, seine Ansätzemöglichst aus Bekannterem und den obersten Grund-sätzen nahe Stehendem aufzustellen, da die

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wissenschaftlichen Schlüsse aus diesen abgeleitetwerden.

Ueber die Gesichtspunkte, woraus die Angriffsmit-tel zu entnehmen, habe ich bisher gesprochen; undwenn ich jetzt über die Folgeordnung und über dieFragestellung sprechen soll, so muss ich die Sätze,welche neben den nothwendigen noch zu benutzensind, eintheilen. Nothwendig heissen die, mittelst wel-chen der Schluss sich bildet; die neben diesen zu be-nutzenden sind viererlei; entweder dienen sie der In-duktion, damit das Allgemeine zugegeben werde, odersie werden zum Ueberfluss und der Ausschmückunghalber aufgenommen, oder sie dienen der Verhüllungdes Schlusssatzes, oder zur Verdeutlichung der Rede.Neben diesen hat man keine weiteren Sätze zu benut-zen, sondern man muss mittelst dieser die Fragen zustellen und zu unterstützen suchen. Die auf die Ver-hüllung abzielenden Sätze sind nur des Streites wegennöthig; da indess dieses ganze disputirende Verfahrenes mit einem Gegner zu thun hat, so muss man auchsolche Sätze benutzen.

Die nothwendigen Sätze, durch welche der Schlusserfolgt, muss man nicht gleich voranstellen, sondernzurückstellen, weil sie auf Höheres sich stützen. Sodarf man z.B. vom Gegner nicht das Anerkenntnissverlangen, dass Gegentheile zu einer Wissenschaftgehören, im Fall man diesen Satz benutzen will,

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sondern man muss diese Behauptung für entgegenge-setzte Begriffe aufstellen. Denn wenn dies zugegebenist, so kann es auch für die Gegentheile bei demSchliessen benutzt werden, da diese zu dem Entge-gengesetzten gehören. Wird dieser Satz aber nicht zu-gegeben, so muss man ihn durch Induktion zu begrün-den versuchen, indem man einzelne Gegentheile demGegner vorhält. Denn die nothwendigen Sätze mussman entweder durch Induktion, oder durch Schlüssefeststellen, oder die einen durch Induktion, die ande-ren durch Schlüsse. Die Sätze, welche sehr klar sind,kann man auch unmittelbar aufstellen; denn das, wasman folgern will, wird durch seinen Abstand vomSchlusssatze und ebenso bei der Induktion nicht soleicht erkannt. Wenn man diese Mittel nicht leicht zubenutzen vermag, so kann man die nöthigen Vorder-sätze auch unmittelbar aufstellen. Die neben den noth-wendigen Sätzen noch aufzustellenden muss manjener wegen aufstellen, und man muss jeden so benut-zen, dass man von dem Einzelnen zum Allgemeinenund von dem Bekannteren zu dem Unbekannteren dieBegründung fortführt, wobei als bekannter die Sätzeanzusehen sind, welche auf der Sinneswahrnehmungüberhaupt, oder für die meisten Menschen beruhen.Will man aber den Beweis verhüllen, so muss manzuvor die Vordersätze durch Schlüsse feststellen, mit-telst welcher dann der Schluss gegen den im Anfang

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aufgestellten Streitsatz sich ergeben soll, und von die-sen Vordersätzen möglichst viele so begründen. Dieswäre dann der Fall, wenn jemand nicht blos die noth-wendigen Vordersätze unmittelbar, sondern auch eini-ge darauf hinführende vorher durch Schlüsse begrün-dete. Auch darf man seinen letzten Schlusssatz nichtvorher aussprechen, sondern ihn zuletzt aus allen ver-einigten Schlüssen ableiten; denn auf diese Weisewird der Satz als Schlusssatz am weitesten von seineranfänglichen Aufstellung abstehen. Im Ganzen ge-nommen muss bei diesem versteckten Verfahren derFragende so verfahren, dass er die ganze Beweisfüh-rung in Fragen kleidet und den Schlusssatz zwar aus-spricht, aber doch der Grund, wodurch dieser Schluss-satz sich ergiebt, vom Gegner noch zu suchen bleibt.Dies wird sich am meisten nach dem vorher angege-benen Gesichtspunkte machen lassen; denn wenn nurder letzte Schlusssatz ausgesprochen wird, so ist nichtersichtlich, wie er sich ergiebt, weil der Antwortendenicht im voraus ersieht, durch welche Sätze er sich er-geben wird, indem die vorausgehenden Schlüsse nichtin der richtigen Reihenfolge vom Fragenden hinge-stellt werden. Der Beweis für den letzten Schlusssatzwird nämlich dann zweckmässig geordnet sein, wenndie Vordersätze dazu nicht genannt worden sind, son-dern nur diejenigen Sätze, durch welche erst jene vor-bereitet werden, aus denen der letzte Schluss sich

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ergiebt.Auch ist es rathsam, die Vordersätze nicht zusam-

menhängend aufzustellen, aus denen die Schlüsse ab-geleitet werden sollen, sondern mit den Vordersätzenfür die einzelnen Schlusssätze abzuwechseln; dennwenn man die für jeden Schluss nöthigen Sätze hintereinander angiebt, so wird der daraus sich ergebendeSchlusssatz mehr offenbar.

Man muss auch versuchen, den allgemeinen Vor-dersatz, wo es angeht, durch eine Definition zu erlan-gen, und zwar nicht unmittelbar, sondern durch ver-wandte Begriffe; denn die Antwortenden werden irregeführt, wenn die Definition nur für einen verwandtenBegriff aufgestellt wird, und glauben dann, dass sieden allgemeinen Satz damit nicht zugestehen. Wennz.B. der Satz gebraucht würde, dass der Erzürntewegen der anscheinenden Geringschätzung seinernach Bestrafung des Anderen verlange, und man stell-te dann nur den Satz auf, dass der Zorn ein Verlangennach Bestrafung wegen der anscheinenden Gering-schätzung sei. Hier ist klar, dass, wenn diese Definiti-on zugestanden wird, man den allgemeinen Satz er-langt hat, welchen man braucht. Wenn man aber un-mittelbar auf diesen Satz die Definition richtet, sotrifft es sich oft, dass der Antwortende sie nicht zuge-steht, weil er dagegen eher einen Einwurf bei derHand hat, wie etwa, dass der Erzürnte nicht nach der

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Bestrafung verlange, weil man auch manchmal seinenEltern zürne, ohne doch deren Bestrafung zu verlan-gen. Nun ist zwar dieser Einwurf nicht zutreffend,denn mitunter genügt als Strafe schon, dass die Per-son, welcher man zürnt, sich betrübe und sich Sorgenmache; dessenungeachtet hat aber solcher Einwurfetwas für sich, weil dadurch wenigstens der Scheinabgewendet wird, als wolle der Antwortende den auf-gestellten Satz ohne allen Grund nicht einräumen. Da-gegen kann gegen die ähnliche Definition des Zornesnicht so leicht ein Einwurf erhoben werden.

Auch ist es rathsam, einen Satz nicht um seinselbst willen, sondern um eines anderen willen aufzu-stellen; denn gegen die den Streitsatz treffenden Sätzenehmen sich die Antwortenden in Acht. Im Allgemei-nen muss man es möglichst unerkennbar lassen, obman den aufgestellten Satz oder seinen Gegensatz be-nutzen wolle; denn wenn das, was man gegen denStreitsatz benutzen will, nicht hervortritt, so giebt derGegner eher das, was ihm wahr scheint, zu.

Auch muss man die Frage auf Aehnliches stellen;denn dies erscheint glaubhafter und verhüllt mehr dasAllgemeine; z.B. muss man fragen, ob nicht, da dasWissen ebenso, wie das Nichtwissen immer beide Ge-gentheile befasse, auch derselbe Sinn beide Gegen-theile befasse, oder umgekehrt, ob, da der Sinn fürbeide derselbe sei, nicht auch die Wissenschaft für

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beide dieselbe sei? Dieses Mittel ähnelt der Induktion,aber ist doch keine; denn bei der Induktion wird ausdem Einzelnen das Allgemeine erlangt; dagegen istder durch einen ähnlichen Satz unterstützte Satz nichtder allgemeine, welcher all' das Aehnliche befasst.

Auch muss der Fragende sich mitunter selbst einenEinwurf machen, denn die Antwortenden schöpfengegen Diejenigen keinen Verdacht, welche anschei-nend bei dem Angriff redlich verfahren. Auch nütztes, wenn man bei einigen Sätzen hinzufügt, es sei all-bekannt und selbstverständlich; denn wenn die Geg-ner keinen Einwurf zur Hand haben, so scheuen siesich das Allbekannte zu leugnen. Zugleich schütztman solche Sätze vor ihrer Ableugnung, wenn mansich derer selbst bedient. Auch muss man nicht zu eif-rig sich zeigen, wenn es auch im Allgemeinen nütz-lich ist, da die Antwortenden gegen die eifrigen Fra-gesteller sich mehr verneinend verhalten. Auch ist esrathsam, den Satz in Form eines Gleichnisses aufzu-stellen; denn wenn ein Satz in Form eines andern auf-gestellt wird oder nicht als ein solcher, wie er benutztwerden soll, so wird er eher eingeräumt. Auch mussman Sätze, die man beweist, nicht unmittelbar aufstel-len, sondern mehr solche, aus denen jene nothwendigfolgen. Denn die Antwortenden geben letztere eher zu,weil das daraus Abzuleitende nicht ebenso klar er-kennbar ist; wird aber Letzteres eingeräumt, so ist

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auch jener Satz erlangt. Auch muss man das, was manam meisten zugestanden zu haben wünscht, zuletztzur Frage stellen; denn die Antwortenden verneinendie zuerst aufgestellten Sätze am meisten, weil diemeisten Fragenden das, was ihnen am meisten amHerzen liegt, zuerst vorbringen. Bei manchen Perso-nen muss man jedoch letzteres zuerst aufstellen; dennbedenkliche Gegner pflegen das erste am leichtestenzuzugeben, sofern der daraus zu ziehende Schlussnicht ganz offenbar ist, und werden erst gegen dasEnde schwierig. Dasselbe gilt für Personen, die sehrhitzig im Antworten sind; solche geben das Meiste zuund greifen nur gegen das Ende zu Spitzfindigkeiten,wonach der Schlusssatz aus dem Zugegebenen nichtfolgen sollte. Solche geben im Anfange bereitwilligSätze zu, indem sie auf ihre Gemüthsrichtung sichverlassen und meinen, sie könnten in Nichts überwie-sen werden. Auch die Weitläufigkeit in der Begrün-dung und das Einschieben von für den Beweis nützli-chen Sätzen ist rathsam, ähnlich Denjenigen, welchedie zu dem Beweise nöthigen Figuren falsch hinzeich-nen. Denn sind der Sätze viele, so ist der falsche Satzmehr verhüllt. Deshalb machen die Fragenden mitun-ter nur nebenbei Zusätze, welche der Gegner nicht be-merkt, aber die er, wenn sie geradezu aufgestellt wor-den wären, nicht zugestanden haben würde.

Zur Verhüllung der Beweisführung sind sonach die

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vorgenannten Mittel zu benutzen; zur Verzierung desVertrags ist dagegen die Induktion und die Abschei-dung verwandter Begriffe zu benutzen. Was die In-duktion ist, ist bekannt; das Abscheiden geschieht da-gegen in der Weise, dass man z.B. bemerkt, die eineWissenschaft sei besser als die andere, entweder weilsie genauer sei oder bessere Gegenstände behandle,ferner, dass die Wissenschaften in theoretische, prak-tische und technische zerfallen. Dergleichen Bemer-kungen helfen die Begründung ausschmücken, ohnedass sie doch für das Beweisthema nöthig sind.

Zur Verdeutlichung dient die Anführung von Bei-spielen und Gleichnissen. Die Beispiele müssen aberden Gegenstand betreffen und von bekannteren Din-gen hergenommen sein; also so, wie Homer sie bietetund nicht so, wie Choirilos; denn nur dann werden dieAufstellungen deutlicher werden.

Zweites Kapitel

Bei den Disputationen muss man sich der Schlüssemehr gegen die im Disputiren Geübten, als gegen dieMenge bedienen; dagegen der Induktion mehr gegendie Menge. Ich habe hierüber mich schon früher ge-äussert. In manchen Fällen kann man auf induktivemWege durch Fragen das Allgemeine feststellen; in

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andern Fällen ist es aber nicht leicht, weil die gleichenGegenstände nicht sämmtlich einen gemeinsamenNamen haben; ist es jedoch nothwendig, das Allge-meine festzustellen, so muss man die Wendung ge-brauchen, dass es sich in allen solchen Fällen ebensoverhalte; denn zu unterscheiden, was von den Einzel-fällen sich ebenso verhält und was nicht, gehört zuden schwierigsten Aufgaben. Auch gerathen die Dis-putirenden hierüber oft mit einander in Streit, indemdie einen behaupten, dass Dinge einander gleichseien, die es nicht sind, die andern aber die wirklicheGleichheit bezweifeln. Man muss deshalb versuchen,einen Namen für alle Einzelfälle aufzustellen, damitder Antwortende nicht mehr die Gleichheit des Vorge-brachten bezweifeln kann, und der Fragende nichtfälschlich etwas als gleichbedeutend einschwärzenkann; denn vieles, was nicht gleichbedeutend ist, hatdoch einen solchen Anschein.

Wenn trotz einer auf vieles Einzelne gestützten In-duktion der Antwortende doch den allgemeinen Satznicht zugiebt, so kann man verlangen, dass er einenEinwurf dagegen vorbringe. Wenn aber der Spre-chende selbst Manches von der Regel ausnimmt, sohat er kein Recht, für das Uebrige einen Einwurfdahin zu verlangen, dass es sich nicht so verhalte;vielmehr hat der Fragende erst seine Induktion auszu-führen, ehe er verlangen kann, dass ein Einwurf

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dagegen aufgestellt werde. Auch kann der Fragendeverlangen, dass der Gegner seinen Einwurf nicht gera-de gegen den aufgestellten Satz erhebe, es müsstedenn sich dabei eben nur um einen einzigen Fall han-deln, wie z.B. in dem Satze, dass die Zwei die ersteder geraden Zahlen sei; vielmehr muss der Antwor-tende seinen Einwurf auf andere Fälle richten, odersagen, dass es sich nur um diesen einen Gegenstandhandle. Wenn aber derselbe seinen Einwurf gegen denSatz als allgemeinen erhebt, aber dieser Einwurf vonihm nicht aus demselben Gebiete entnommen wird,sondern aus einem andern, blos gleichnamigen, wenner z.B. behauptet, dass jemand nicht seine eigeneFarbe, oder Hand, oder seine eigenen Füsse habenkönne (denn auch der Thiermaler habe Farbe und derKoch Füsse, die nicht die seinen sind), so muss manzunächst diese mehreren Bedeutungen sondern unddann erst fragen; denn so lange der Doppelsinn unbe-merkt bleibt, kann es scheinen, der Einwurf sei gegenden richtigen Satz erhoben.

Wenn aber der Einwurf nicht einen blos gleichna-migen, sondern den eigentlichen Gegenstand trifft undso den Fragenden aufhält, so muss dieser das, wasvon dem Einwurf betroffen wird, absondern und nurdas Uebrige wieder in einen allgemeinen Satz fassen,bis er das Brauchbare getroffen hat. Dies gilt z.B. fürdie Vergesslichkeit und das Vergessen-haben; wenn

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nämlich der Satz, dass der, welcher das Wissen verlo-ren habe, vergessen habe, nicht zugestanden wird,weil, wenn die Sache verloren gegangen, man zwardas Wissen derselben verloren, aber diese selbst dochnicht vergessen habe. Deshalb muss man, nach Besei-tigung dessen, wo der Einwurf zutrifft, das Uebrige ineinen allgemeinen Satz fassen, z.B. sagen, dass, wennjemand trotz des Fortbestehens der Sache die Wissen-schaft von ihr verloren habe, so habe er sie vergessen.Ebenso muss man verfahren, wenn gegen den Satz,dass dem grösseren Gut das grössere Uebel entgegen-steht, der Einwurf entgegengestellt wird, dass der Ge-sundheit, obgleich sie ein geringeres Gut als dasWohlbefinden sei, doch ein grösseres Uebel entgegen-steht, weil die Krankheit ein grösseres Uebel sei, alsdas Uebelbefinden. Hier muss man also das, wogegender Einwurf erhoben worden, beseitigen und den Satzmehr so fassen, dass dem grösseren Gut das grössereUebel entgegenstehe, ausgenommen, wenn das einedas andere mit sich führe, wie das Wohlbefinden dieGesundheit. Auch muss man dies nicht blos in Folgeeines Einwandes thun, sondern selbst dann, wennohne Vorbringung eines Einwurfes der Satz blos ge-leugnet worden ist; denn man kann einen solchen Ein-wurf erwarten. Wird hier das, was dieser Einwurftrifft, im Voraus ausgenommen, so wird der Gegnergenöthigt sein, den Satz anzuerkennen, indem er bei

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dem so beschränkten Satz keinen solchen Einwurfmehr gegen Einzelnes in Bereitschaft hat; und leugnetder Gegner dennoch, so wird er, wenn man einen Ein-wurf von ihm verlangt, nichts darauf vorbringen kön-nen. Es giebt also solche Sätze, die zum Theil wahr,zum Theil falsch sind, und bei solchen kann mandurch Aufstellung einer Ausnahme das Uebrige zueinem wahren Satze erheben. Ist aber ein Satz induk-tiv durch viele vorgebrachte Fälle begründet wordenund kein Einwurf dagegen erhoben worden, so kannman fordern, dass er anerkannt werde; denn ein sol-cher Satz, welcher durch viele Einzelheiten bestätigtworden und gegen den kein Einwurf erhoben worden,genügt für Disputationen.

Wenn man einen Satz sowohl geradezu, wie ver-mittelst der Unmöglichkeit des Gegentheils beweisenkann, so ist es für den, welcher einen wirklichen Be-weis führen und nicht blos den Gegner im Disputirenbesiegen will, gleichgültig, ob er den Beweis auf dieeine oder andere Art führen will; dagegen ist bei Dis-putationen der Unmöglichkeitsbeweis zu vermeiden;denn den directen Beweis kann man nicht bezweifeln;ist aber der Beweis durch die Unmöglichkeit des Ge-gentheils geführt, so kann der Gegner, im Fall die Un-möglichkeit nicht ganz offenbar ist, immer sagen, essei doch nicht unmöglich; die Fragenden erreichenalso damit nicht das, was sie wollen.

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Man muss im Allgemeinen das behaupten, was invielen Fällen sich so verhält, und wogegen ein Ein-wurf überhaupt nicht vorhanden ist, oder nicht leichtaufgefunden werden kann; denn da der Gegner hierdie Fälle, wo die Regel nicht gilt, nicht übersehenkann, so wird er sie als wahr zugestehen.

Den eigentlichen Schlusssatz muss man mit in eineFrage bringen, denn wenn dies geschieht und derGegner ihn bestreitet, so ist kein Schluss vorhanden.Denn oft geschieht es, dass selbst, wenn solcherSchlusssatz nicht in die Frage aufgenommen, sondernnur als die nothwendige Folge dargelegt wird, derGegner ihn doch bestreitet, und indem er so verfährt,hält er sich nicht für widerlegt, weil er die Folgen ausden aufgestellten Sätzen nicht übersieht. Ist aber derSchlusssatz, ohne zu sagen, dass er sich als Folge er-giebt, nur in eine Frage aufgenommen worden, undder Andere bestreitet ihn, so scheint überhaupt keinSchluss zu Stande gekommen zu sein.

Indess ist nicht jede aufgestellte allgemeine Fragezur Disputation geeignet; z.B. die Frage: Was ist derMensch? oder in wie vielen Bedeutungen wird dasWort: Gut ausgesagt?, denn nur derjenige Satz ist zurDisputation geeignet, auf den man mit ja oder neinantworten kann, was man in diesen beispielsweise ge-nannten Fällen nicht kann und deshalb sind solcheFragen nicht zum Disputiren geeignet, es müsste denn

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der Fragende selbst das Gefragte trennen und selbsteintheilen, und z.B. fragen: Wird das Gute also in die-ser oder jener Bedeutung gesagt? Denn dann ist dieAntwort entweder bejahend oder verneinend leicht zuertheilen. Deshalb muss der Fragende versuchen, sol-che Sätze in dieser Form aufzustellen. Zugleich kannder Fragende aber auch mit Recht von dem Antwor-tenden verlangen, dass er selbst angebe, in welchenBedeutungen er das Gute meine, wenn er der von ihmselbst vorgenommenen Eintheilung und Aufstellungdes Satzes nicht beistimmt.

Wer einen Satz lange Zeit hindurch zur Fragestellt, fragt nicht in richtiger Weise; denn hat der Ge-fragte die Frage beantwortet, so fragt jener entwedervielerlei Fragen oder wiederholt ein und dieselbe. Ertreibt also leeres Geschwätz oder er kann den Satznicht beweisen, denn jeder Beweis bedarf nur wenigerVordersätze. Antwortet aber der Gefragte gar nicht,so thut man unrecht, die Frage zu wiederholen, son-dern man muss dann den Gegner tadeln oder von derDisputation abstehen.

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Drittes Kapitel

Manche aufgestellten Sätze sind schwer anzugrei-fen und leicht aufrecht zu erhalten, nämlich die, wel-che die obersten und die untersten Begriffe betreffen;denn die obersten bedürfen einer Definition und dieuntersten müssen durch viele Begriffe hindurch er-schlossen werden, wenn man sie im Zusammenhangmit den obersten erhalten will; denn sonst erscheintder Angriff derselben nur als ein sophistischer; da,wenn man nicht von den, dem betreffenden Gebiet ei-genthümlichen obersten Grundsätzen beginnt und vonda stetig bis zu den untersten fortschreitet, die Be-weisführung unmöglich ist. Nun verlangen aber dieAntwortenden keine Definition, und ebenso weniggeben sie Acht, wenn der Fragende definirt; ist aberder Sinn des aufgestellten Streitsatzes nicht offenbargeworden, so ist auch der Angriff desselben nichtleicht. Am meisten trifft dies nun bei den höchstenGrundsätzen ein; denn alles Andere wird mittelst ihrerbewiesen, aber sie selbst können nicht durch Anderesbewiesen werden, und man kann deshalb Grundsätzedieser Art nur durch Definitionen kennen lernen.

Auch Sätze, die den höchsten Grundsätzen sehrnahe stehen, sind schwer anzugreifen; denn gegendiese lassen sich nicht viele Gründe herbeischaffen,

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da hier nur wenige Mittel-Begriffe zwischen ihnenund den höchsten Grundsätzen bestehen, durch wel-che der Beweis für das Folgende geführt werdenmuss.

Am schwersten sind diejenigen Definitionen anzu-greifen, zu welchen solche Worte benutzt werden, dieerstens entweder ganz unbekannt oder zweideutigsind, und bei denen zweitens nicht zu erkennen ist, obsie im eigentlichen Sinne oder im bildlichen Sinnevon dem zu definirenden Gegenstande gebraucht wer-den. Sind also die Definitionen unklar, so kann mankeinen Angriff unternehmen, und weiss man nicht, obdie Unklarheit von einer bildlichen Ausdrucksweiseherkommt, so kann man auch nicht einmal einenTadel aussprechen.

Ueberbaupt ist bei jedem Streitsatz, der sichschwer anfechtbar zeigt, zu vermuthen, dass eine De-finition dazu gegeben werden muss, oder dass viel-deutige Worte, oder Worte im bildlichen Sinne dabeigebraucht sind, oder dass der Satz den oberstenGrundsätzen nahe steht, oder man ist zunächst dar-über nicht im Klaren, gegen welchen der hier genann-ten Punkte das verstösst, was die Verlegenheit inBezug auf den Angriff veranlasst. Ist dies erst aufge-klärt, so erhellt, dass die Definition aufgestellt werdenmuss, oder die verschiedenen Bedeutungen gesondert,oder die Mittelsätze herbeigeschafft werden müssen,

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durch welche die unteren Sätze zu beweisen sind.Bei vielen Streitsätzen kann eine Disputation dar-

über und ein Angriff gegen dieselben deshalb nichtleicht geführt werden, weil die nöthige Definitionnicht richtig aufgestellt worden ist; z.B. bei demStreit, ob das Gegentheil von Einem Eines oder Meh-rere sind. Ist aber hier zuvor definirt, was Gegentheilesind, so kann man nach irgend einem Gesichtspunkteleichter feststellen, ob die Mehreren das Gegentheilvon Einem sein können oder nicht. Ebenso muss manbei allen anderen Sätzen verfahren, zu denen nocheine Definition nöthig ist. Auch in der Mathematikkann Manches wegen unterlassener Definition nichtleicht dargelegt werden, z.B. dass eine Linie, welcheein Parallelogramm parallel mit einer seiner Seitendurchschneidet, die Seite und die Fläche in gleichemVerhältniss theilt. Wird aber der Ausdruck: »in glei-chem Verhältniss« definirt, so erhellt die Richtigkeitdes Satzes; denn sowohl von der Fläche, wie von denSeiten werden dieselben Theile weggenommen unddieses ist die Definition des gleichen Verhältnisses.Ueberhaupt lassen sich, wenn die Definitionen vonden obersten Begriffen der elementaren Sätze in derMathematik feststehen, z.B. was die Linie und wasder Kreis ist, die Beweise am leichtesten aufstellen,wobei man freilich gegen solche Sätze wenig zu sagenvermag, da der Mittelbegriffe bei deren Beweis nur

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wenige sind. Sind aber die Definitionen der oberstenBegriffe nicht festgestellt, so ist der Angriff gegensolche Sätze schwer, oder wohl auch ganz unmöglich.Aehnlich wie bei diesen mathematischen Begriffenverhält es sich auch bei denen, welche bei den Dispu-tationen vorkommen.

Man darf es daher nicht übersehen, dass, im Fallein Satz schwer angreifbar ist, bei demselben inBezug auf die besprochenen Punkte ein Mangel be-steht. Im Fall ein Grundsatz oder ein Vordersatzschwieriger zu bekämpfen ist, als der zur Erörterunggestellte Satz, so kann man zweifeln, ob man solcheSätze nicht lieber zugeben solle. Thut man dies nicht,und will man auch darauf die Erörterung ausdehnen,so legt man dem Gegner etwas Schwierigeres auf, alsder aufgestellte Streitsatz selbst enthält. Will manaber sie zugeben, so wird dem Gegner es möglich, ausweniger glaubwürdigen Sätzen das mehr Glaubwür-dige zu beweisen. Da man nun die Begründung desStreitsatzes dem Gegner nicht zu schwer machen soll,so müsste man dergleichen Vordersätze zugestehen;da aber der Streitsatz aus bekannteren Vordersätzenabgeleitet werden soll, so dürfte man jene Sätze wie-der nicht zugestehen. Daher hat man vielmehr wohldem Lernenden dergleichen Sätze nicht zuzugestehen,sofern sie nicht bekannter sind, als der Streitsatz; aberdem Gegner bei der Disputation darf man sie

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einräumen, sofern sie als wahr erscheinen. Hieraus er-hellt, dass von dem Fragenden bei der Disputationund von dem Lehrer nicht in gleicher Weise verlangtwerden kann, dass sie solche Vordersätze zugestehen.

Viertes Kapitel

Das Bisherige wird für die Fragestellung und Ord-nung des Stoffes genügen, was aber die Antwortenanlangt, so habe ich zunächst die Aufgabe des gutAntwortenden, wie des gut Fragenden näher zu be-zeichnen. Der Fragende hat die Erörterung in der Artzu leiten, dass der Antwortende genöthigt ist, das Un-wahrscheinlichste zu behaupten, indem es zur Be-gründung des Streitsatzes nöthig wird; dagegen mussder Antwortende sich so verhalten, dass nicht auf ihndie Schuld fällt, wenn solche unmögliche oder ver-kehrte Sätze sich ergeben, sondern dass dies an demaufgestellten Satze selbst liege; denn der Fehler istnicht derselbe mit dem, wo man Streitsätze aufstellt,die man nicht hätte aufstellen sollen, oder wo maneinen aufgestellten Satz nicht in der gehörigen Weisevertheidigt.

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Fünftes Kapitel

Für die, welche der Uebung und des Versuchs wil-len Disputationen über Sätze anstellen wollen, sindbisher keine Regeln aufgestellt worden. Offenbar sindjedoch für die Lehrer und Lernenden die Ziele hierbeinicht dieselben, wie für die, welche darüber mit ein-ander disputiren wollen. Ebenso sind die Ziele derletzteren und derer, die das Gespräch nur behufs Er-mittelung der Wahrheit führen wollen, verschieden.Dem Schüler muss man immer das Richtig-scheinende zugeben, denn kein Lehrer versucht, denSchülern Falsches zu lehren. Bei den Disputationenmuss aber der Fragende sich den Schein bewahren,dass er alles das thue, was nöthig ist und der Antwor-tende, dass er in keinem Punkte besiegt werde. Fürsolche Zusammenkünfte aber, wo die mündlichen Be-sprechungen nicht um des Streites willen geschehen,sondern wo man sich bestrebt, dadurch die Wahrheitzu erreichen, sind nirgends von Jemand Regeln dar-über aufgestellt worden, was der Antwortende imAuge behalten solle, was er zugeben solle und wasnicht, damit der aufgestellte Satz als gut oder nichtgut vertheidigt gelten kann. Da somit Andere unshierüber nichts überliefert haben, werde ich selbstversuchen, darüber etwas zu sagen.

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Dem Antwortenden liegt also bei einem solchenGespräche ob, den aufgestellten Satz aufrecht zu er-halten, mag er glaubwürdig, oder unglaubwürdig,oder keines von beiden sein, und mag er dies allge-mein sein, oder nur in beschränkter Weise sein, z.B.wenn er nur einem Einzelnen so erscheint, mag erselbst oder ein Anderer dieser Einzelne sein. Dabei istes gleichgültig, in welcher dieser Weisen der Satzglaubwürdig, oder unglaubwürdig ist; denn die Art,richtig zu antworten und das Gefragte zuzugeben odernicht, bleibt dieselbe. Ist nun der aufgestellte Satz un-glaubwürdig, so muss der Schlusssatz des Gegenbe-weises glaubwürdig sein, und unglaubwürdig, wennjener glaubwürdig ist; denn der Fragende folgertimmer das, was dem aufgestellten Satze widerspricht.Ist aber der aufgestellte Satz weder glaubwürdig,noch unglaubwürdig, so wird der Schlusssatz des Ge-genbeweises auch der Art sein. Da nun bei einem gutbeschaffenen Schluss das, was man erweisen will, ausglaubwürdigeren und bekannteren Sätzen abgeleitetwerden muss, so erhellt, dass, wenn der aufgestellteSatz überhaupt unglaubwürdig ist, der Antwortendeweder das zugestehen darf, was überhaupt nichtglaubwürdig erscheint, noch das, was weniger glaub-würdig scheint, als der Schlusssatz des Gegenbewei-ses. Denn ist der aufgestellte Satz unglaubwürdig, soist der Schlusssatz des Gegenbeweises glaubwürdig,

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und deshalb muss Alles, was der Antwortende zu-giebt, glaubwürdig sein und auch mehr glaubwürdig,als der Schlusssatz des Gegenbeweises, weil das we-niger Bekannte aus Bekannterem gefolgert werdensoll. Ist also von den gefragten Sätzen einer nicht sobeschaffen, so darf ihn der Antwortende nicht zuge-ben.

Ist dagegen der aufgestellte Satz überhaupt glaub-würdig, so muss offenbar der Schlusssatz des Gegen-beweises überhaupt unglaubwürdig sein. Der Antwor-tende kann daher dann Alles zugeben, was glaubwür-dig scheint und von dem, was nicht so scheint, Alles,was weniger unglaubwürdig ist, als der Schlusssatzdes Gegenbeweises. Dann wird der Antwortende dieErörterung seinerseits gut geführt haben. Ebenso istzu verfahren, wenn der aufgestellte Satz weder glaub-würdig, noch unglaubwürdig erscheint; dann kann derAntwortende Alles, was ihm glaubwürdig scheint, zu-geben, und von anderen Sätzen die, welche ihmglaubwürdiger erscheinen, als der Schlusssatz des Ge-genbeweises, denn dann kann dieser Gegenbeweis nurzu Glaubwürdigerem führen.

Hiernach ist also bei allgemein glaubwürdigen oderallgemein unglaubwürdigen Sätzen durch Verglei-chung derselben zu ermessen, was zuzugeben ist. Istaber die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeitkeine allgemeine, sondern gilt sie nur dem

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Antwortenden als eine solche, so muss er nach sichselbst beurtheilen, was er als glaubwürdig oder nichtglaubwürdig zugeben kann. Richtet sich aber der Ant-wortende nach dem Dafürhalten eines Dritten, so istklar, dass er auf dieses Dritten Urtheil Rücksicht neh-men muss und danach prüfen, was er zugeben kannund was nicht. Wer deshalb die Meinungen Andereraufnimmt, z.B. den Satz, dass gut und schlecht das-selbe seien, wie Heraklit behauptete, der darf auchnicht zugeben, dass Gegentheiliges nicht zugleich andemselben Gegenstande bestehen könne, nicht etwa,weil er selbst dieser Ansicht ist, sondern weil er demHeraklit gemäss so sprechen muss. Auch die, welchegegenseitig von einander die zu vertheidigenden Sätzeübernehmen, verfahren so, denn sie bestreben sich sozu sprechen, wie der, welcher den Satz aufgestellt hat.

Sechstes Kapitel

Es erhellt somit, worauf der Antwortende Achthaben muss, mag der aufgestellte Satz allgemein odernur Einzelnen als glaubwürdig erscheinen. Da nunjeder zur Frage gestellte Satz nothwendig entwederglaubwürdig oder unglaubwürdig oder keines vonbeiden sein muss, und da ferner jedes Gefragte entwe-der zur Sache gehört oder nicht, so hat der

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Antwortende, wenn er es für glaubwürdig, aber nichtzur Sache gehörend hält, es zuzugeben, indem er dieGlaubwürdigkeit zugesteht; erscheint ihm aber dasGefragte nicht glaubwürdig und auch nicht zur Sachegehörig, so hat er es zwar zuzugeben aber dabei zubemerken, dass es ihm nicht glaubwürdig erscheine,damit er nicht als einfältig erscheine. Ist das Gefragteaber zur Sache gehörend und glaubwürdig, so hat erzwar die Glaubwürdigkeit anzuerkennen, aber auchzu sagen, dass es dem anfänglich aufgestellten Streit-satze zu nahe stehe und dass dieser mit Annahme desGefragten widerlegt werde. Ist aber der gefragte Satz,dessen Zugeständniss der Fragende fordert, zwar zurSache gehörig, aber sehr unglaubwürdig, so muss derAntwortende zwar einräumen, dass mit Zugestehungdesselben sein Streitsatz falle, aber bemerken, dassetwas sehr Einfältiges gefragt werde.

Ist das Gefragte aber weder glaubwürdig, noch un-glaubwürdig und nicht zur Sache gehörig, so muss eres zugeben, ohne weiter etwas zu bemerken; ist esaber zur Sache gehörig, so muss er auch noch andeu-ten, dass der anfänglich aufgestellte Satz durch dasZugeständniss des Gefragten widerlegt werde. Wennder Antwortende so verfährt, so wird er nicht selbstseine Besiegung verschulden, weil er bei seinen Zuge-ständnissen immer das daraus sich Ergebende voraus-gesehen, und der Fragende wird seinen Beweis nur

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dadurch zu Stande bringen, dass ihm Alles, wasglaubwürdiger ist, als sein Schlusssatz, zugegebenwird. Will der Fragende aber versuchen, aus Sätzen,die unglaubwürdiger sind, als sein Schlusssatz, seinenBeweis zu führen, so verfährt derselbe dann offenbarnicht richtig, und deshalb ist ihm dann das Gefragtenicht zuzugeben.

Siebentes Kapitel

Ebenso muss man unklaren und mehrdeutigen Sät-zen entgegentreten. Denn es ist dem Antwortenden,wenn er etwas nicht versteht, gestattet, zu sagen, dasser es nicht verstehe, und bei zweideutigen Fragen ister weder genöthigt, das Gefragte einzuräumen, nochzu bestreiten. Deshalb darf er offenbar, wenn das Ge-fragte unverständlich ist, vor Allem nicht zögern undmuss sagen, dass er es nicht verstehe; denn wenn eretwas undeutlich Gefragtes zugiebt, geräth er oft inSchwierigkeiten. Ist dann die Frage zwar verständlich,aber zweideutig, so hat der Antwortende, wenn dasGefragte in jeder seiner Bedeutungen wahr oder falschist, dasselbe einfach entweder einzuräumen oder zuverneinen; ist dagegen das Gefragte in dem einenSinne wahr und wird bei dem anderen falsch so ist aufdie Zweideutigkeit aufmerksam zu machen und

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weshalb es in dem einen Sinne wahr, in dem andernfalsch sei; da, wenn der Antwortende erst später die-sen Unterschied geltend macht, es ungewiss bleibt, ober auch im Anfang die Zweideutigkeit erkannt habe.Hat der Antwortende aber die Zweideutigkeit nichtvorher bemerkt, sondern nur an die eine Bedeutunggedacht und deshalb das Gefragte zugegeben, so musser dem Fragenden, welcher das Zugeständniss in demandern Sinne benutzt entgegnen, dass er das Zuge-ständniss nicht in dem letzteren Sinne der Frage, son-dern in dem andern Sinne abgegeben habe. Dennwenn verschiedene Gegenstände unter dasselbe Wortoder dieselbe Rede fallen, so tritt leicht eine Uneinig-keit ein. Ist dagegen das Gefragte deutlich und un-zweideutig, so muss darauf mit ja oder nein geant-wortet werden.

Achtes Kapitel

Da nun jeder auf den Schluss bezügliche Satz ent-weder zu denen gehört, aus welchen der Schlusssatzabgeleitet werden kann, oder zu denen, aus welchenein Vordersatz zu diesem Schluss gewonnen werdensoll, und da daraus, dass vieles einander Aehnlichegefragt wird, erhellt, dass der betreffende Satz behufsAbleitung eines andern aufgestellt wird (denn das

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Allgemeine wird meistentheils mit Hülfe der Indukti-on oder der Aehnlichkeit aufgestellt) so muss der Ant-wortende das Einzelne alles zugeben, wenn es wahroder glaubwürdig ist; aber er muss versuchen, gegendie Allgemeinheit einen Einwurf aufzustellen; dennwollte er, obgleich kein Einwurf wirklich oder an-scheinend vorhanden ist, den Satz dennoch bestreiten,so würde dies nur zeigen, dass er unnöthige Schwie-rigkeiten macht. Denn wenn er trotz vieler beige-brachten, den Satz bestätigenden Fälle den Satz inseiner Allgemeinheit doch nicht zugiebt, ohne einenEinwurf zu machen, so ist klar, dass er blos Schwie-rigkeiten machen will, und dies würde noch viel mehrangenommen werden müssen, wenn er keinen Angriffgegen die Wahrheit des Satzes zu unternehmen ver-möchte. Indess kann man selbst in diesem Fall nichtimmer einen solchen Beweggrund annehmen; denn esgiebt viele Sätze, die der gewöhnlichen Meinung wi-derstreiten und die man doch schwer widerlegen kann,z.B. den Satz Zeno's, dass die Bewegung unmöglichsei und dass man die Rennbahn nicht durchlaufenkönne. Durch solche Sätze darf man sich also nichtabhalten lassen, die ihnen entgegengesetzten Sätzedennoch aufzustellen. Also ist ein Missmuth bei demAntwortenden nur dann offenbar vorhanden, wenn erkeinen Einwurf erhebt, noch den Beweis des Fragen-den angreift, noch selbst einen entgegengesetzten Satz

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aufstellt. Denn ein Missmuth ist bei Disputationendann vorhanden, wenn man eine Antwort giebt, wel-che die Schlussfolgerung unmöglich macht, ohne siedoch in der angegebenen Weise zu rechtfertigen.

Neuntes Kapitel

Es ist auch gut, wenn der Antwortende, bevor derFragende den Angriff beginnt, für sich den Satz oderdie Definition, welche er vertheidigen will, überlegt;denn es ist klar, dass er denjenigen Gründen entge-gentreten muss, durch welche der Fragende den aufzu-stellenden Streitsatz widerlegen will.

Doch muss er sich in Acht nehmen, einen unglaub-würdigen Satz aufrecht zu erhalten. Dies Unglaub-würdige findet in zweifacher Weise statt; erstensdann, wenn man etwas behauptet, aus dem etwas Wi-dersinniges folgt, z.B. wenn jemand behauptete, ent-weder bewege sich Alles, oder nichts; und zweitens,wenn man Etwas behauptet, was von einem schlech-ten Charakter zeugt oder der eigenen Ueberzeugungwiderspricht, wie z.B., dass die Lust das Gute sei,oder dass Unrecht thun besser sei, als Unrecht leiden.Denn man hasst nicht den, welcher der Vertheidigungwegen im Streit dergleichen behauptet, aber den, wel-cher es als seine Meinung ausspricht.

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Zehntes Kapitel

Wenn eine Begründung zu einem falschen Schluss-satz führt, so muss man dem so entgegentreten, dassman den Satz widerlegt, durch welchen die falscheFolgerung entsteht; denn die wahre Lösung eines sol-chen Falles besteht nicht darin, dass man irgend einenSatz beseitigt, selbst wenn er auch falsch sein sollte,weil eine Begründung mehreres Falsche in sich habenkann; z.B. wenn jemand die Sätze aufstellte, dass, wersitzt, schreibe und dass Sokrates sitze; woraus folgenwürde, dass Sokrates schreibe. Wenn nun hier auchwiderlegt worden wäre, dass Sokrates sitze, so wäredoch die Begründung deshalb in ihrem Mangel nichtwiderlegt, obgleich dieser Untersatz falsch ist; denndie Begründung ist nicht deshalb falsch, da, wenn je-mand zufällig sässe aber nicht schriebe, jene Widerle-gung nicht passen würde. Deshalb muss man nichtdiesen letzten Satz widerlegen, sondern den Obersatz,dass wer sitzt, schreibe, da nicht jeder Sitzendeschreibt. Deshalb ist die Widerlegung nur dann allge-mein gültig wenn derjenige Satz widerlegt wird, ausdem das Falsche hervorgeht; und derjenige kenntdiese Widerlegung, welcher weiss, dass auf diesemSatze die Begründung beruht, wie dies z.B. bei denender Fall ist, welche eine mathematische Figur falsch

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zeichnen, um den Schüler irre zu führen. Es genügtalso in solchem Falle nicht, dass man einen Einwurferhebt, oder einen anderen Satz widerlegt, der auchfalsch ist, sondern man muss den Satz zeigen, ausdem das Falsche hervorgeht; denn dann kann ersehenwerden, ob, wenn ein Einwurf erhoben wird, man denFehler schon kennt, oder ihn noch nicht kennt.

Man kann überhaupt auf vierfache Weise hindern,dass eine Begründung zu einem Schlusssatz gelange;entweder kann man den Satz widerlegen, aus dem dasFalsche folgt; oder man kann dem Fragenden einenEinwurf entgegenstellen; denn oft hat der Antwor-tende ihn damit zwar nicht widerlegt, aber der Fra-gende kann seinen Angriff dann nicht weiter fortfüh-ren; drittens kann man sich gegen das Gefragte rich-ten, denn es kann kommen, dass aus dem Gefragten,selbst wenn es zugestanden würde, nicht das folgt,was der Fragende bezweckt, weil er schlecht gefragthat und der Schlusssatz noch eines weiteren Zuge-ständnisses bedarf. Kann also der Fragende die Be-gründung nicht zu Ende führen, so muss sich der Ein-wurf gegen die Person des Fragenden richten; im an-dern Falle gegen das Gefragte selbst. Der vierte undschlechteste Einwurf stützt sich auf die Zeit; dennManche erheben solche Einwürfe, dass zu deren Erör-terung es einer längern Zeit bedarf, als die gegenwär-tige Disputation dauern kann.

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Man kann also, wie gesagt, in viererlei Weise einenEinwurf erheben; jedoch ist nur die zuerst bespro-chene Weise eine Widerlegung, die übrigen dienennur dazu, die Begründung des Schlusssatzes aufzuhal-ten oder zu erschweren.

Elftes Kapitel

Der Tadel gegen die Begründung eines Satzesselbst ist nicht derselbe, wie der gegen die Fragestel-lung denn oft trifft den Gefragten die Schuld, weil erdas nicht einräumt, was zur guten Widerlegung desStreitsatzes hätte benutzt werden können; denn es istnicht blos Sache des Einen, dass das gemeinsameWerk gut zu Ende geführt werde. Manchmal mussalso der Fragende seinen Angriff gegen den Antwor-tenden und nicht gegen den aufgestellten Satz richten,nämlich wenn der Antwortende aus Böswilligkeit dasGegentheil von dem Gefragten hartnäckig festhält. Er-bitterte Personen führen so die Erörterungen nur umzu streiten und nicht nach den Regeln des Disputi-rens. Da aber diese Disputationen nicht des Unter-richts wegen geschehen, sondern zur Uebung und umseine Kräfte zu versuchen, so erhellt, dass in solchenDisputationen nicht blos das Wahre, sondern auchdas Falsche durch Schlüsse festgestellt werden darf,

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und dass dies auch nicht immer durch wahre Vorder-sätze, sondern auch durch falsche geschehen darf.Denn wenn auch der Gegner einen wahren Satz auf-stellt, muss man ihn doch bei der Disputation widerle-gen und deshalb einen falschen Satz aufstellen.Manchmal muss auch, wenn der Gegner einen fal-schen Satz aufstellt, man denselben durch falscheSätze widerlegen. Denn es kann sein, dass jemand dasUnwahre mehr als das Wahre billigt, so dass, wenndie Erörterung sich auf das von ihm Gebilligte stützt,er mehr überführt als belehrt sein wird. Indess dürfenUeberschreitungen nicht blos des Streites wegen ge-schehen, sondern nur in der Weise, wie es beim Dis-putiren sich gehört, da auch der Geometer seinenSatz, mag er falsch oder wahr sein, nur auf geometri-sche Weise begründet.

Welche Schlüsse bei den Disputationen zulässigseien, ist früher von mir gesagt worden. Da nun jederGenosse schlecht ist, der dem gemeinsamen Werkhindernd in den Weg tritt, so gilt dies auch für dieDisputationen, denn auch hier besteht ein für Alle Ge-meinsames, ausgenommen, wenn man sich dabei blosstreiten will. Wollen zwei sich blos streiten, so kön-nen sie allerdings nicht beide dasselbe Ziel erreichen,denn mehr als einer kann unmöglich Sieger sein.Dabei ist es gleich, ob dies im Antworten oder imFragen geschieht; denn wer nur um des Streites willen

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Fragen stellt, disputirt nicht richtig, ebenso fehlt derAndere, wenn er das Glaubwürdige nicht zugiebt odernicht auf das wartet, was der Fragende etwa fragenwird. Aus dem Gesagten erhellt, dass man die Erörte-rung und den Fragenden nicht gleicherweise tadelnkann; denn es kann wohl sein, dass die Erörterungschlecht geschieht, aber der Fragende doch die Erörte-rung nach Möglichkeit gut mit dem Antwortenden ge-führt hat, da man gegen ärgerliche Gegner nicht gera-de die Schlüsse, die man will, sondern nur diejenigenzu Stande bringen kann, welche nach den Antwortenmöglich sind.

Indess ist es nicht zu berechnen, wenn die Men-schen ihre anfängliche Ansicht festhalten und wennsie das Gegentheil davon behaupten, denn oft nehmensie, wenn sie bei sich eine Sache überlegen, das sichWidersprechende an und leugnen erst, was sie späteranerkennen, deshalb geben sie, wenn sie gefragt wer-den, oft das Gegentheil von dem im Anfang Zugestan-denen zu. Deshalb müssen die Disputationen dadurchschlecht werden. Die Schuld trifft dann den Antwor-tenden, der bald denselben Satz zugiebt, bald wiederbestreitet; hieraus erhellt, dass der Tadel nicht immerden Fragenden trifft, wenn die Disputation schlechtausfällt.

Gegen die Disputation selbst kann nun in fünffa-cher Weise ein Tadel erhoben werden. Erstlich dann,

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wenn aus dem, was gefragt worden, weder derSchlusssatz noch ein anderer gefolgert werden kann,indem von dem, was gefragt wurden und aus dem derSchlusssatz folgen soll, Alles oder das Meiste falschoder unglaubwürdig ist, und dieser Schlusssatz selbstdann sich nicht ergiebt, wenn von den gefragten Sät-zen etwas abgenommen oder zugesetzt, oder theils ab-genommen, theils zugesetzt wird. Zweitens ist dieDisputation mangelhaft, wenn aus solchen falschenVordersätzen und solchen, wie ich sie eben genannthabe, kein Schluss gegen den Streitsatz sich ergiebt.Drittens ist die Disputation mangelhaft, wenn derSchlusssatz sich erst ergiebt, wenn noch etwas hinzu-gefügt wird, dies aber schlechter ist, als das Gesagteund weniger glaubwürdig als der Schlusssatz. Vier-tens ist die Disputation zu tadeln, wenn sie Ueber-flüssiges mit befasst, was zu beseitigen ist; denn mit-unter wird in den Vordersätzen mehr behauptet alsnothwendig ist, so dass der Schlusssatz sich aus ihnennicht so, wie sie sind, ergiebt. Endlich ist es fehler-haft, wenn der Schlusssatz aus Vordersätzen abgelei-tet wird, welche unglaubwürdiger und weniger sichersind als der Schlusssatz; oder wenn diese Vordersätzezwar wahr sind aber schwieriger zu beweisen sind alsder aufgestellte Streitsatz.

Man darf jedoch nicht verlangen, dass bei allenStreitsätzen die Schlüsse gleich glaubwürdig und

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einleuchtend seien; denn schon von Natur ist Manchesleichter, Manches schwerer zu erreichen, und deshalbführt derjenige die Erörterung am besten, welcher denBeweis aus den möglichst glaubwürdigen Sätzen ab-leitet. Man muss auch bei einer Disputation unter-scheiden, ob diese an sich Tadel verdient, oder nur inBezug auf den aufgestellten Streitsatz. Denn es kannwohl sein, dass die Erörterung an sich zu tadeln ist,aber in Bezug auf den aufgestellten Streitsatz dochLob verdient und umgekehrt, dass die Erörterung ansich zu loben ist, aber in Bezug auf den Streitsatz zutadeln ist. Ersteres ist dann der Fall, wenn derSchlusssatz aus mehreren und leichter einzusehendenund wahren Vordersätzen hätte abgeleitet werdenkönnen. Es kann auch kommen, dass eine abgeschlos-sene Disputation schlechter ist, als die, welche zu kei-nem Schlusssatz geführt hat; nämlich wenn bei jenerder Schlusssatz aus einfältigen Sätzen abgeleitet wird,während der aufgestellte Streitsatz nicht solcher Artist; diese dagegen nur noch einiger glaubwürdigenoder wahren Sätze bedarf, ohne dass der Beweis aufdiesem Hinzuzunehmenden beruht. Wenn aus fal-schen Vordersätzen ein wahrer Schlusssatz abgeleitetwird, so darf man dies nicht tadeln; denn in den Ana-lytiken habe ich dargelegt, dass zwar Falsches nur ausFalschem abgeleitet werden kann, aber dass Wahresauch aus falschen Vordersätzen gefolgert werden

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kann.Wenn die Begründung zwar etwas beweist, aber in

dem Streitsatze noch mehr daneben enthalten ist, sogilt der Schluss nicht auch gegen dieses, und wenndies doch so scheint, so ist der Beweis nur ein sophi-stischer und kein wahrer. Ein Philosophem ist einstreng zu beweisender Schluss; ein Epichrem ist derin einer Disputation geführte Schluss; ein Sophismeist ein nur des Streites halber aufgestellter Schlussund ein Aporem ist ein das Gegentheil in der Disputa-tion begründender Schluss.

Wenn ein Satz aus zwei glaubwürdigen Vordersät-zen abgeleitet wird, aber der eine Vordersatz glaub-würdiger ist, als der andere, so kann recht wohl derabgeleitete Schlusssatz glaubwürdiger sein, als jederder beiden Vordersätze. Wenn aber von jenen Vorder-sätzen der eine glaubwürdig ist, der andere aberweder glaubwürdig, noch unglaubwürdig, oder wennder eine glaubwürdig, der andere aber unglaubwürdigist, so wird, wenn dies Glaubwürdige und Unglaub-würdige in gleichem Grade statt hat, auch derSchlusssatz in gleichem Grade glaubwürdig oder un-glaubwürdig sein; ist aber die Glaubwürdigkeit oderUnglaubwürdigkeit des einen Vordersatzes grösserals die des anderen, so wird auch der Schlusssatz derArt sein.

Ein Fehler bei dem Schliessen ist auch dann

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vorhanden, wenn der Beweis durch Schwierigeres ge-führt wird, während er durch Einfacheres, was auch inder Erörterung enthalten ist, hätte geführt werdenkönnen. Wäre z.B. der Satz zu beweisen, dass eineMeinung es mehr sei, als eine andere, so beginge je-mand diesen Fehler, wenn er behauptete, dass die Ideejeder Sache am meisten deren Natur enthalte und dasses in Wahrheit eine Idee von der Meinung gebe, siealso mehr Meinung sei, als die einzelnen Meinungen.Wo nun die Natur einer Sache eine Steigerung zu-lasse, da gelte dies auch für das darauf Bezogene.Nun sei aber die Idee der Meinung auch wahr, da siegenauer sei, als die einzelnen Meinungen. Nun sei an-genommen worden, dass die Idee der Meinung wahrsei und dass die Idee von jeder Sache deren Natur ammeisten enthalte; deshalb werde also auch die am mei-sten wahre Meinung am meisten Meinung sein. Worinliegt hier wohl der Fehler? Doch wohl darin, dass derwahre Grund für das, worüber disputirt wird, dadurchverhüllt wird.

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Zwölftes Kapitel

Eine Begründung kann in zweifacher Weise klarsein; in der einen Weise, welche am allgemeinsten alseine klare gilt, dann, wenn die Schlussfolgerung derArt ist, dass man nichts weiter an Zugeständnissendazu bedarf; in der anderen Weise, welche insbeson-dere so heisst, wenn die Folgerung zwar aus Sätzenerfolgt, aus denen sie mit Nothwendigkeit sich er-giebt, aber der Schlusssatz erst aus weiteren Schlüs-sen sich ergiebt; ferner wenn nur sehr glaubwürdigeSätze dabei fehlen.

Falsch wird eine Begründung in vierfacher Weise;erstens, wenn sie zwar den Schein einer Begründunghat, aber es nicht in Wahrheit ist; sie heisst das streit-süchtige Schliessen; zweitens, wenn die Begründungzwar einen Beweis enthält, aber dieser nicht gegenden aufgestellten Satz geht. Dies kommt am meistenbei den Unmöglichkeits-Beweisen vor; drittens, wenndamit zwar der aufgestellte Satz widerlegt wird, abernicht vermittelst der Regeln derjenigen Wissenschaft,zu welcher er gehört. Dies geschieht dann, wenn derSchluss anscheinend aus der Heilkunde abgeleitetwird, ohne dass dies wirklich der Fall ist, oder schein-bar aus der Geometrie, ohne dass dies wirklich derFall ist, oder wenn er aus scheinbar

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Wahrscheinlichen, aber nicht aus wirklichen Wahr-scheinlichen abgeleitet wird, wobei es gleichgültig ist,ob die gezogene Folgerung wahr oder falsch ist. Vier-tens, wenn der Schlusssatz aus falschen Vordersätzenabgeleitet ist; hier kann der Schlusssatz bald wahr,bald falsch sein; denn Falsches kann zwar nur aus fal-schen Sätzen geschlossen werden, aber Wahres kannauch aus Unwahrem geschlossen werden, wie früherschon bemerkt worden ist.

Wenn nun die Begründung falsch ist, so liegt die-ser Fehler mehr an der Person als an der Sache, undauch selbst nicht immer an der Person, sondern nurdann, wenn sie es nicht bemerkt, da man an sich eineBegründung aus falschen Sätzen oft vielen, die auswahren Sätzen geschehen, vorzieht, sofern man ausfalschen, aber sehr glaubwürdig scheinenden Sätzenetwas als wahr Behauptetes aufhebt. Denn eine solcheBegründung dient als Beweis für andere Wahrheiten;insofern nämlich in den aufgestellten Sätzen etwasnicht durchaus wahr ist, gegen welches dann der Be-weis geführt wird. Wird dagegen etwas Wahres durchFalsches und sehr Unglaubwürdiges gefolgert, sowürde eine solche Begründung schlechter sein als die,welche aus falschen Sätzen Falsches folgert, weil dortman auch leicht auf einen falschen Schlusssatz gera-then kann. Hieraus erhellt, dass man bei der Prüfungjeder Begründung als solcher zunächst zu sehen hat,

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ob sie zu einem Schlusssatze führt, zweitens, ob derSchluss wahr oder falsch ist, und drittens, wie dieVordersätze beschaffen sind. Wenn nämlich die Be-gründung aus falschen, aber glaubwürdigen Sätzenerfolgt, so ist sie logisch, erfolgt sie aber aus wahren,aber unglaubwürdigen Sätzen, so ist sie schlecht; er-folgt sie endlich aus falschen und zugleich sehr un-glaubwürdigen Sätzen, so ist es klar, dass sie schlechtist, und zwar entweder überhaupt, oder rücksichtlichdes betreffenden Gegenstandes.

Dreizehntes Kapitel

In welchen Fällen der Fragende bei Disputationendas Zugeständniss von Sätzen oder von deren Gegen-theilen ohne Recht verlangt, darüber habe ich, soweites Disputationen betrifft, welche die Wahrheit zumZiele haben, in den Analytiken gehandelt; soweit diesaber bei gewöhnlichen Disputationen vorkommt, dienur Wahrscheinliches verlangen, soll hier das Nöthigegesagt werden. Ein solches unbegründetes Verlangen,dass Sätze vom Gegner anerkannt werden sollen,kann in fünffacher Weise geschehen. Zunächst undam offenbarsten dann, wenn die Anerkennung geradedessen verlangt wird, was zu beweisen ist. Dies kannan sich nicht leicht unbemerkt bleiben, aber bei

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Worten, die nur eine Bedeutung haben und wo Wortund Begriff dasselbe bezeichnen, kann es wohl vor-kommen. Die zweite Weise ist die, wo die Anerken-nung eines Satzes, der nur in beschränktem Umfangezu beweisen ist, in seiner Allgemeinheit verlangtwird; z.B. wenn jemand zu beweisen hat, dass gegen-theilige Dinge zu einer Wissenschaft gehören und erverlangt, dass man diesen Satz von Gegensätzenüberhaupt anerkennen solle; denn hier verlangt er,dass das, was er zu beweisen hat, zugleich noch mitvielem Anderen anerkannt werden solle. Die dritteWeise ist es, wenn ein allgemeiner Satz zu beweisenist und man verlangt, dass derselbe in beschränkteremUmfange anerkannt werden solle; z.B., wenn vonallem Gegentheiligen zu beweisen ist, dass immer nureine Wissenschaft Beides befasst und für einzelneGegentheile das Anerkenntniss dieses Satzes verlangtwird; denn auch hier wird das Anerkenntniss vonEtwas verlangt, was mit mehrerem Andern erst zu be-weisen ist. Viertens, wenn jemand den aufgestelltenSatz theilt und für diese Theile einzeln deren Aner-kenntniss verlangt; z.B. wenn er zu beweisen hat,dass die Heilkunst sowohl das Gesunde wie Krankezum Gegenstande habe und er nur das Anerkenntnissdes Satzes für jeden dieser Theile besonders verlangt.Fünftens, wenn zwei Sätze gegenseitig auseinanderabgeleitet werden können und das Anerkenntniss des

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einen von beiden verlangt wird, z.B. wenn zu bewei-sen ist, dass die Diagonale eines Quadrats durch seineSeite nicht gemessen werden kann, und das Aner-kenntniss verlangt wird, dass die Seite des Quadratsvon der Diagonale desselben nicht gemessen werdenkann. Das unbegründete Verlangen, dass das Entge-gengesetzte von dem, was anfänglich behauptet wor-den, anerkannt werde, kann in ebenso vielfacherWeise geschehen, wie es bei dem anfangs aufgestell-ten Satze geschehen kann. Erstens, wenn jemand dasAnerkenntniss der Bejahung und auch der Verneinungdesselben Satzes verlangt; zweitens, wenn jemand dasAnerkenntniss eines Satzes mit gegentheiligen Begrif-fen verlangt, z.B., dass das Gute und das Schlechtedasselbe sei. Drittens, wenn jemand zunächst einenallgemeinen Satz aufgestellt hat und dann den entge-gengesetzten Satz in beschränktem Umfange aner-kannt verlangt; z.B. wenn er zunächst sagt, dass vonGegentheilen es nur eine Wissenschaft gebe und dannverlangt, dass die Wissenschaft vom Gesunden eineandere sei, als die vom Kranken; oder wenn er umge-kehrt erst das Zugeständniss dieses Satzes verlangtund dann verlangt, dass man den entgegengesetztenSatz allgemein anerkennen solle. Ferner, wenn je-mand das Gegentheil von dem anerkannt verlangt,was aus den aufgestellten Sätzen sich mit Nothwen-digkeit ergiebt; endlich, wenn jemand zwar nicht

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unmittelbar die Gegensätze anerkannt verlangt, aberdoch zwei solche Sätze, aus deren Verbindung derGegensatz sich zusammensetzt. Der Unterschied zwi-schen der Forderung, gegentheilige Sätze anzuerken-nen und der Forderung, dass anfänglich aufgestellteSätze anerkannt werden sollen, liegt darin, dass letz-tere ein Fehler in Bezug auf den Schlusssatz sind(denn in Hinblick auf diesen Schlusssatz, sagt man,dass das anfänglich Aufgestellte anerkannt verlangtwerde). Bei den einander entgegengesetzten Sätzenliegt aber der Fehler darin, dass sie als Vordersätzebenutzt, in dem entgegengesetzten Verhältniss zu ein-ander stehen.

Vierzehntes Kapitel

Was nun die Uebung und Pflege solcher Disputa-tionen anlangt, so muss man auch zunächst in derUmkehrung der Schlüsse eine Geschicklichkeit ver-schaffen; denn dadurch erlangt man mehr Mittel zumBekämpfen der aufgestellten Streitsätze und lernt auswenigen Sätzen viele Gründe entwickeln. Die Umkeh-rung besteht in der Umkehrung des Schlusssatzes, umdann mit Benutzung der übrigen gefragten Sätze einender zugegebenen Sätze zu widerlegen. Denn wenn derSchlusssatz nicht gilt, so muss nothwendig einer der

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Vordersätze falsch sein, da der Schlusssatz sich nurdarauf stützt, dass alle Vordersätze richtig sind. Esmuss ferner bei jedem Streitsatze der Angriff sowohlgegen die Bejahung wie gegen die Verneinung dessel-ben in Betracht gezogen werden, und wenn man einenBeweis nach der einen Richtung gefunden hat, mussman sich gleich zur Widerlegung desselben wenden.Auf diese Weise erlangt man die nöthige Uebung so-wohl für das Fragen, wie für das Antworten. Hat mankeinen Gegner, so muss man sich in dieser Weise fürsich allein üben. Man muss dann die Beweismittel fürund gegen neben einander stellen, indem man für denentgegengesetzten Satz die Angriffsmittel aufsucht.Es hilft viel für die Bekräftigung eines Satzes, undebenso gewährt es viele Hülfe bei der Widerlegungdesselben, wenn jemandem viele Gründe zu Gebotestehen, sowohl dafür, dass Etwas sich so verhalte, wiedass es sich nicht so verhalte; man kann dann nachbeiden Richtungen hin wachsam sein. Selbst für dieErkenntniss und für die philosophische Forschung istes kein geringes Hülfsmittel, wenn man übersehenkann oder schon erwogen hat, welche Folgen aus derBejahung und aus der Verneinung eines aufgestelltenSatzes sich ergeben; denn man kann dann das Rich-tige von beiden erwählen. Dergleichen verlangt indesseine gute natürliche Anlage und zwar eine gute Anla-ge in Bezug auf die Wahrheit, d.h. auf das Vermögen,

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richtig das Wahre zu erfassen und das Falsche zu ver-meiden. Gute Naturen vermögen dies; denn indem siedas lieben und das hassen, was sich gehört, sind sieam besten im Stande, aufgestellte Behauptungen rich-tig zu beurtheilen.

Für die am meisten zur Verhandlung gelangendenStreitsätze muss man vorzugsweise die Gründe genauinnehaben, besonders für die obersten Grundsätze;denn bei diesen geben die Antwortenden oft vor Un-geduld die Vertheidigung auf. Auch muss man in derBenutzung der Begriffe wohlbewandert sein und so-wohl von den glaubwürdigen, wie von den oberstenGrundsätzen immer welche zur Hand haben, da durchdiese die Schlüsse zu Stande kommen. Auch mussman die Begriffe, auf welche die Disputationen mei-stentheils gerathen, genau innehaben; denn so, wie esfür die Geometrie von Nutzen ist, wenn man sich inderen Elementen geübt hat, und so, wie es bei derZahlenlehre einen grossen Unterschied macht, ob manim Einmaleins sicher ist, um die vielfachen Zahlen zuerkennen, so nützt es auch bei den mündlichen Erörte-rungen, wenn man die obersten Grundsätze zur Handhat und die Vordersätze auswendig kann. Denn so,wie bei dem in der Gedächtnisskunst Geübten dieblosse Aufzählung der Merkzeichen auch sofort dieSachen selbst in das Gedächtniss zurückruft, so wer-den auch jene Mittel eine grössere Geschicklichkeit

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im Schliessen verschaffen, wenn man sie einzeln derZahl nach übersieht. Sätze muss man übrigens sichmehr als Begriffe in das Gedächtniss einprägen; dennes ist schwer, auch nur einigermassen in den oberstenGrundsätzen und Aufstellungen gewandt zu sein.

Auch muss man sich üben, die eine Begründungdes Gegners in viele zu verwandeln und das ihn mög-lichst wenig merken zu lassen. Es wird dies dann ge-lingen, wenn man so viel als möglich die Begriffe,welche mit denen des Streitsatzes verwandt sind, ver-meidet. Die allgemeinsten Sätze können am meistenin dieser Weise ausgedehnt werden, z.B. dass es vonmehreren Gegenständen nicht eine Wissenschaftgiebt, denn so allgemein gefasst erstreckt sich dieserSatz auch auf die Beziehungen und auf die Gegen-theile und auf die verwandten Begriffe.

Auch muss man bei Wiedergabe der Sätze desGegners dieselben zu allgemeineren machen, selbstwenn er sie in beschränktem Sinne aufgestellt hat;denn auch damit kann man aus einer Begründungviele machen. Aehnliches geschieht in der Redner-kunst mit den nicht ausdrücklich ausgesprochenenSätzen. Umgekehrt muss man sich selbst möglichstdavor hüten, seine Schlüsse allgemein zu machen.Auch muss man immer auf die Begründungen Achthaben und prüfen, ob sie über Gemeinsames sich er-strecken; denn alle beschränkten Begründungen sind

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auch allgemeine und in dem Beweise eines Be-schränkten ist auch der Beweis des Allgemeinen ent-halten, da man ohne einen allgemeinen Satz über-haupt keinen Schluss ziehen kann.

Die Uebung in den induktiven Begründungen mussman mit den Anfängern, und die durch Schlüsse ge-schehenden mit den Geübteren vornehmen. Man mussauch sich bemühen, von dem im Schliessen Erfahre-nen die Vordersätze abzulernen und von den in derInduktion Erfahrenen die Beispiele; da jeder in denseinigen am meisten geübt ist. Ueberhaupt muss mansuchen, aus den zur Uebung angestellten Disputatio-nen einen Schluss für Etwas, oder eine Widerlegung,oder einen Satz oder einen Einwurf davon zu tragen,mag dabei richtig gefragt worden sein oder nicht, undmag dies von einem selbst oder von dem anderen ge-schehen sein, oder von beiden in einzelnen Punkten.Dadurch erlangt man das Geschick zu disputiren, unddie Uebungen geschehen nur um dieser Geschicklich-keit willen. Am meisten muss die Aufstellung vonVordersätzen zu einem Schluss und von Einwürfengeübt werden, denn im Ganzen genommen ist derwahre Disputant derjenige, welcher die Vordersätzezu den Schlüssen und die Einwürfe gut aufzustellenversteht. Jenes besteht darin, dass man Vieles zuEinem macht; (denn das, gegen welches die Begrün-dung gerichtet ist, muss im Ganzen genommen

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werden). Das Aufstellen von Einwürfen besteht dage-gen darin, dass man das Eine zu Vielem macht, dennentweder theilt man, oder widerlegt man, indem manvon den aufgestellten Sätzen den einen zugiebt, denanderen aber nicht.

Man muss sich auch nicht mit jedem in eine Dispu-tation einlassen und nicht mit dem, welchen man ge-rade trifft, eine Uebung anstellen. Denn mit manchenPersonen muss die Erörterung nothwendig schlechtausfallen; denn wenn man überhaupt den Versuch,mit einem durchaus Geübten zu disputiren, vermeidet,so ist dies zwar billig, aber doch nicht gerade anstän-dig. Deshalb darf man nicht leicht mit jedem, den mantrifft, Erörterungen beginnen; denn sie müssen noth-wendig schlecht ausfallen, da auch die, welchen esnur um die Uebung zu thun ist, sich nicht immer ent-halten können, die Erörterung in streitsüchtiger Weisezu führen.

Auch muss man immer die Beweise für solcheStreitsätze bereits fertig haben, bei welchen man mitden wenigsten Mitteln sie doch zu den meisten Sätzenbenutzen kann. Dergleichen Beweise sind die allge-meinen und solche, gegen die der Angriff am schwer-sten aus dem Alltäglichen und Offenliegenden ent-nommen werden kann.

Ende.

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Ueber die sophistischen Widerlegungen

(Peri sophistikôn elenchôn)

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Erstes Kapitel

Ich werde über die sophistischen Widerlegungensprechen und über die, welche nur scheinbar Widerle-gungen, aber in Wahrheit Fehlschlüsse und keine Wi-derlegungen sind, indem ich der Natur der Sache nachmit den ersteren beginne.

Dass nun manche derselben wirklich lo-gisch-richtige Schlüsse sind, andere aber nicht, son-dern solche nur zu sein scheinen, ist klar. So wie diesbei andern Dingen in Folge einer gewissen Aehnlich-keit stattfindet, so verhält es sich auch bei den Be-gründungen. So benehmen sich manche Menschengut; bei andern scheint es nur so, indem sie sich gehö-rig aufblasen und zurecht richten. Ebenso sind Man-che schön durch ihre Schönheit; Andere scheinen nurso, indem sie sich aufputzen. Auch bei leblosen Din-gen findet sich das Gleiche; manches von ihnen istechtes Silber oder Gold; anderes ist keines von bei-den, aber hat ein solches Aussehen, wie z.B. das Ge-räthe aus Messing oder aus einer Mischung von Zinnund Silber, oder das von einer goldgelben Farbe. Inderselben Weise ist auch der eine Schluss und dieeine Widerlegung wirklich eine solche; andere sind esnicht, aber scheinen dem Unerfahrenen es zu sein, dadie Unerfahrenen nur so, wie Entfernte, von Weitem

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hinsehen. Der wirkliche Schluss besteht aus gewissenVordersätzen und sagt etwas von diesen Verschiede-nes, aber vermittelst derselben mit Nothwendigkeitaus: und die wirkliche Widerlegung ist ein Schluss,welcher das Entgegengesetzte von einem gezogenenSchlusssatze ergiebt. Manche Widerlegungen leistendies nicht, aber scheinen es zu leisten, indem sie dabeivon mancherlei Gesichtspunkten ausgehen, unter wel-chen der Gesichtspunkt, welcher sich auf die Wortestützt, der natürlichste ist und am meisten vorkommt.Da man nämlich bei den Disputationen die Dinge,über welche man streitet, nicht selbst herbeinehmenkann, sondern statt deren sich der Worte, als Zeichender Dinge bedient, so meint man, dass das, was beiden Worten sich ergiebt, auch bei den Dingen geltenmüsse, ähnlich wie bei dem Rechnen mit den Rechen-steinen. Allein mit den Worten verhält es sich hierbeinicht, wie mit den Gegenständen; die Zahl der Worteund die Menge der Begriffe ist begrenzt, aber die Zahlder Dinge ist unbegrenzt. Deshalb muss derselbe Be-griff und das eine Wort mehrere Dinge bezeichnen.So wie nun die, welche in der Behandlung der Re-chensteine nicht besonders bewandert sind, von denKennern irre geführt werden, ebenso machen auch diein der Bedeutung der Worte Unerfahrenen bei demBegründen Fehlschlüsse, sowohl wenn sie selbstsprechen, wie wenn sie Andere hören. Aus diesen und

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anderweit zu besprechenden Gründen kommt zwarscheinbar ein Schluss oder eine Widerlegung zu Stan-de, aber nicht in Wirklichkeit.

Da nun Manchem mehr daran liegt, weise zu schei-nen, als es zu sein und dabei es nicht zu scheinen(denn die sophistische Weisheit ist nur eine schein-bare, keine wirkliche, und der Sophist verdient sichGeld mit scheinbarer, aber nicht mit wirklicher Weis-heit), so erhellt, dass solche Leute nothwendig lieberso scheinen wollen, als trieben sie das Geschäft einesWeisen, als dass sie es wirklich trieben, aber dabeiden Schein davon nicht hätten. Das Geschäft des Wis-senden ist aber, um dieses neben jenes zu stellen, derArt, dass er von den Dingen, die er kennt, nichts Un-wahres sagt und dass er vermag, die falschen Behaup-tungen eines Anderen aufzudecken, d.h. dass er theilsselbst Rechenschaft abzulegen, theils sie von Andernabzunehmen im Stande ist. Wer nun den Sophistenmachen will, muss jene besagte Art des Disputirenszu erlangen suchen; denn sie ist für seinen Zweckdienlich, weil eine solche Geschicklichkeit ihm denSchein eines Weisen geben wird, worauf es bei ihmabgesehen ist.

Dass es nun eine solche Art von Begründungengiebt und dass die, welche man Sophisten nennt, einesolche Geschicklichkeit erstreben, ist klar, und ichwerde nun darüber sprechen, wie viele Arten der

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sophistischen Begründungen es giebt, aus wie vielenErfordernissen der Zahl nach diese Geschicklichkeitsich zusammensetzt und wie viele Theile diese Unter-suchung hat und von dem, was sonst noch zu dieserKunst erforderlich ist.

Zweites Kapitel

Es giebt vier Arten von mündlichen Erörterungen,die belehrende, die dialektische, die erprobende unddie streitsüchtige. Die belehrenden Erörterungen stüt-zen sich auf die eigenthümlichen obersten Grundsätzeder betreffenden Wissenschaft und nicht auf das, wasdem Antwortenden als glaubwürdig gilt; (denn derLernende muss vertrauen); die dialektischen stützenden Beweis ihres Gegensatzes auf das, was glaubwür-dig ist; die, welche den Gegner auf die Probe stellenwollen, auf das, was der Antwortende billigt, und aufdas, was der, welcher vorgiebt, die Wissenschaft innezu haben, nothwendig wissen muss. (In welcherWeise dies geschieht, ist anderwärts auseinanderge-setzt worden.) Die streitsüchtigen Begründungen end-lich stützen sich auf scheinbare, aber nicht wirklichglaubwürdige Sätze, oder auf nur scheinbare Beweise.Ueber die beweisenden Begründungen habe ich in denAnalytiken gehandelt; über die dialektischen und die

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auf Prüfung des Gegners abzielenden anderwärts;über die nur auf Kampf und Streit abzielenden Erörte-rungen werde ich aber jetzt sprechen.

Drittes Kapitel

Ich habe zuerst die vielerlei Ziele Derjenigen anzu-geben, welche nur des Kampfes und Wetteifers wegendisputiren. Dieser Ziele sind fünf, nämlich die Wider-legung, das Falsche, das Unglaubwürdige, derSprachfehler und fünftens die Verleitung des Geg-ners zu leerem Geschwätz. (Dies besteht darin, dassder Antwortende genöthigt wird, vielmal dasselbe zusagen.)

Entweder wollen die Sophisten diese Ziele wirklicherreichen, oder doch wenigstens scheinbar. Am mei-sten trachten sie danach, den Gegner scheinbar wider-legt zu haben; an zweiter Stelle suchen sie darzuthun,dass der Gegner Falsches behauptet habe; drittens su-chen sie ihn zu unglaubwürdigen Behauptungen zuverleiten; viertens suchen sie ihn zu Sprachfehlern zuveranlassen (dies geschieht dadurch, dass der Antwor-tende in Folge der Erörterung zur Begehung groberSprachfehler gebracht wird); endlich suchen sie ihn zunöthigen, dass er vielemal dasselbe sagt.

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Viertes Kapitel

Die Widerlegung kann der Sophist auf zweierleiArt erreichen; die eine stützt sich auf die Ausdrucks-weise, die andere benutzt dieses Mittel nicht. DerMittel, wo durch die Ausdrucksweise der Schein einerWiderlegung gewonnen wird, sind sechs an Zahl;nämlich die Gleichnamigkeit, die Zweideutigkeit, dieVerbindung, die Trennung, die Betonung und dieForm der Rede. Die Richtigkeit dieser Aufzählunglässt sich sowohl induktiv, wie durch Schlüsse bewei-sen, wenn irgend ein besonderer Fall herbeigenom-men wird. Desgleichen dadurch, dass man nur auf soviele Arten mit denselben Worten und Reden Ver-schiedenes ausdrücken kann.

Die Gleichnamigkeit wird in solchen Reden be-nutzt, wie z.B. dass die Wissenden lernen, denn dieSchüler lernen das auswendig Hergesagte; das Lernenbezeichnet nämlich zweierlei; einmal das Einsehen,indem von dem Gewussten Gebrauch gemacht wird,und zweitens das Erwerben des Wissens. Ferner, dassdas Uebel das Gute ist; wenn das, was sein muss, istgut, und das Uebel muss sein. Das »muss« bezeichnetnämlich zweierlei; einmal das Nothwendige, was beiden Uebeln sehr oft vorkommt (denn manches Uebelist nothwendig), und zweitens sagt man auch von dem

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Guten, dass es geschehen muss. Ferner gehören hier-her die Reden, dass Sitzen und Stehen dasselbe sei;ebenso Krank- und Gesund-sein; denn wer aufsteht,steht, und wer gesund geworden, ist gesund, aufstehenkönne aber nur der Sitzende und gesund werden nurder Kranke.

Hier bezeichnet der Ausdruck, dass der Kranke ir-gend etwas thue oder erleide, nicht immer dasselbe,sondern bald, dass der jetzt Kranke oder Sitzendeetwas thue oder erleide, bald derjenige, der vorherkrank gewesen ist. Allerdings sind beide, der krankSeiende und der Kranke geheilt worden, aber gesundist nicht der krank Seiende, sondern der Kranke, näm-lich der nicht jetzt, sondern Vorher-Kranke.

Die Zweideutigkeit wird in solchen Reden benutzt,wie z.B.: Lass mich die Feinde ergreifen. Ferner: Waseiner erkennt, erkennt das? Denn in diesem Satzekann das »erkennt« sowohl auf die erkennende Per-son, wie auf den erkannten Gegenstand bezogen wer-den. Ferner: Was einer sieht, sieht das? Nun sieht erdie Säule, also sieht die Säule. Ferner: Also was Dusagst, es sei, das sagst Du zu sein? Nun sagst Du, derStein sei, also sagst Du, dass Du ein Stein seiest. Fer-ner kann der Schweigende sprechen? Denn das »derSchweigende kann sprechen« bedeutet zweierlei, ein-mal, dass der Sprechende schweigt und zweitens, dasder Vortrag schweigt.

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Es giebt sonach drei Weisen, in denen die Gleich-namigkeit und die Zweideutigkeit benutzt werdenkann; die eine ist die, wo die Rede oder das Wort imeigentlichen Sinne Mehreres bedeutet; z.B. das WortAdler oder Hund; zweitens wenn man so zu sprechengewöhnt ist; drittens, wenn Worte verbunden Mehre-res bedeuten getrennt aber nur eine Bedeutung haben,wie z.B. das Buchstabenwissen; denn hier bezeichnetjedes dieser Worte getrennt nur Eines, aber beide zu-sammen Mehreres; nämlich einmal, dass die Buchsta-ben selbst ein Wissen haben, und zweitens, dass einAnderer das Wissen von ihnen hat.

Die Gleichnamigkeit und die Zweideutigkeit stütztsich also auf diese Wendungen; auf der Verbindungberuhen dagegen folgende Fälle, z.B. dass der Sit-zende zu gehen und der Nicht-Schreibende zu schrei-ben vermöge. Hier bedeutet es nicht dasselbe, ob mangetrennt oder verbunden aussagt, dass der Sitzende zugehen und der Nicht-Schreibende zu schreiben vermö-ge; denn man kann diese Worte auch so verbinden,dass der Nicht-Schreibende schreibe und sie bedeutendann, dass derselbe, während er nicht schreibt, schrei-be. Verbindet man aber die Worte nicht in dieser Art,so bedeuten sie, dass jemand, auch wenn er nichtschreibt, doch das Vermögen zu schreiben habe. Fer-ner: Er lernt jetzt die Wissenschaften, da er lernte,was er weiss. Ferner, dass der, welcher nur Eines

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tragen kann, Vieles tragen kann.Die Trennung wird benutzt, wenn man z.B. sagt:

Die Fünf ist zwei und drei, also ist die Fünf geradeund ungerade. Ferner: Das Grössere ist gleich; dennes ist eben so viel und noch etwas dazu. DieselbeRede bedeutet nämlich getrennt nicht immer dasselbe,wie verbunden, so: durch mich ist der Freie derKnecht geworden; und: der göttliche Achilleus liessder fünfhundert Männer hundert.

Die Benutzung der Betonung kann bei mündlichenErörterungen nicht leicht geschehen, wohl aber inSchriften und Gedichten. So berichtigen Manche auchden Homer, wenn ihm vorgeworfen wird, dass er Ver-kehrtes spreche mit den Worten: »Wie vom Regenverfaulende Baumstämme«, indem sie dies durch dieBetonung verbessern und aus dem »wie« ein »nie«machen. Ebenso ist es bei der Stelle, welche denTraum des Agamemnon betrifft, weil Zeus gesagt:Gieb ihm, was er zu haben sich wünscht, indem Zeusnämlich nicht selbst gesagt habe: Wir geben, was ergebeten, sondern dem Traumgotte es zu geben aufge-tragen habe. So verhält es sich also mit der Betonung.

In der Form des Ausdruckes kann die Widerlegunggeschehen, wenn Verschiedenes in gleicher Weisesprachlich ausgedrückt wird; z.B. wenn das Männli-che weiblich und das Weibliche männlich ausge-drückt wird; oder wenn dies mit dem zwischen beiden

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Stehenden so geschieht und wenn weiter dass Be-schaffene als ein Grosses, oder das Grosse als ein Be-schaffenes, oder das Bewirkende wie ein Erleidendes,oder ein Zustand wie ein Wirken, oder sonst in einerWeise, wie es früher gesondert worden, bezeichnetwird; denn es kommt vor, dass etwas, was kein Thäti-ges ist, wie ein Thätiges in der Sprache behandeltwird, so wird z.B. das Gesunden in sprachlichemAusdruck wie das Schneiden und das Hausbauen be-handelt, obgleich jenes eine Beschaffenheit oder eingewisses Verhalten bezeichnet und dieses ein Thun.Ebenso verhält es sich in den übrigen hierher gehö-renden Fällen.

Fünftes Kapitel

Die auf die Ausdrucksweise sich stützenden Wider-legungen gehen also von diesen Gesichtspunkten aus;dagegen giebt es von den nicht auf die Ausdruckswei-se sich stützenden Widerlegungen sieben Arten; dieerste stützt sich auf das Nebensächliche, die zweiteauf das überhaupt Gesagte oder auf dasnicht-überhaupt, sondern in Beziehung auf ein wie,oder wo, oder wenn, oder ein im Verhältniss Gesagte;die dritte benutzt die Unbekanntschaft mit den sophi-stischen Widerlegungen; die vierte das dem

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Gegenstande Zukommende, die fünfte benutzt beiihrem Beweis den im Anfang aufgestellten Satz alszugestanden; die sechste benutzt einen Nicht-Grundals Grund, die siebente macht mehrere Fragen zueiner.

Ein Fehlschluss vermittelst des Nebensächlichenist dann vorhanden, wenn man behauptet, dass irgendetwas sowohl der Sache selbst, wie dem von ihr Aus-gesagten zukomme; denn derselben Sache kann Vie-les zukommen, und es ist nicht nothwendig, dassAlles, was dem von ihr Ausgesagten zukommt, auchder Sache selbst zukomme. Ist z.B. Koriskos von demMenschen verschieden, so wird gefolgert, dass er auchvon sich selbst verschieden sei, weil er ein Menschist; oder wenn Koriskos ein anderer ist, als Sokrates,Sokrates aber ein Mensch ist, so behaupten sie, manhabe zugegeben, Koriskos sei von dem Menschenverschieden, weil es sich getroffen hat, dass derjenigeein Mensch ist, der als von Koriskos verschieden er-klärt worden ist.

Ein Fehlschluss, welcher sich auf das überhaupt,oder auf das nur beziehungsweise und nicht eigent-lich Ausgesagte stützt, ist vorhanden, wenn etwas be-schränkt Gesagtes so genommen wird, als sei es über-haupt gesagt, z.B. wenn das Nicht-Seiende vorstellbarist, das Nicht-Seiende deshalb sein soll; denn dasEtwas-sein ist nicht dasselbe wie das Sein überhaupt.

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Oder umgekehrt, wenn gefolgert wird, das Seiende seinicht-seiend, wenn es etwas von dem Seienden nichtist, z.B. kein Mensch. Aber es ist nicht dasselbe,überhaupt nicht zu sein, oder nur dieses Einzelnenicht zu sein; es scheint nur deshalb so, weil beideAusdrucksweisen einander sehr nahe stehen und dasEtwas-sein wenig von dem Ueberhaupt-sein verschie-den scheint und ebenso das Etwas-nicht-sein von demUeberhaupt-nicht-sein. Ebenso verhält es sich mit denSchlüssen, welche sich auf das nur beziehungsweiseund das überhaupt Gesagte stützen. Wenn z.B. derIndier, der ganz schwarz ist, an den Zähnen weiss ist,so soll er weiss und auch nicht-weiss sein; oder wennBeides irgendwie statt hat, so soll deshalb das Entge-gengesetzte zugleich in dem Gegenstande enthaltensein. Manche dieser Fehlschlüsse kann jeder leicht alssolche erkennen, z.B. wenn einer zugestanden erhält,dass der Aethiopier schwarz sei und weiter fragte, ober an den Zähnen weiss sei, und man anerkennte, dasser hier weiss sei, und jener nun folgerte, der Aethio-pier sei sowohl schwarz als nicht-schwarz und mein-te, er habe mittelst der Ausdehnung des gefragten Sat-zes richtig geschlossen. Bei manchen Fehlschlüssenwird jedoch dies oft nicht bemerkt, wenn nämlich auseinem nur beschränkt Gesagten auch dasselbe über-haupt zu folgen scheint und wenn aus den Fragennicht leicht ersehen werden kann, was als das

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Hauptsächliche zu behandeln ist. Letzteres kommt beiGegenständen vor, denen das Entgegengesetzte ingleichem Verhältniss einwohnt; hier möchte man zu-geben, dass überhaupt Beides, oder Keines von demGegenstande auszusagen sei. Ist z.B. ein Gegenstandhalb weiss und halb schwarz, so fragt es sich, ob erweiss, oder ob er schwarz zu nennen ist.

Die dritte Art der sophistischen Widerlegungen be-ruht darauf, dass nicht festgehalten wird, was einSchluss und was eine Widerlegung ist, sondern diesemit Weglassung eines Theiles des Gesagten erfolgen.Denn die wahre Widerlegung besteht in einemSchlusssatze, der das Entgegengesetzte ist von dem-selben und einem, was der Gegner behauptet, undwelcher sich nicht blos auf den Namen, sondern aufdie Sache bezieht, und welcher auch nicht gleichna-mige Worte benutzt, sondern Worte, die dasselbe be-zeichnen. Der Schlusssatz muss ferner sich auf dasstützen, was zugegeben ist, er muss sich nothwendigergeben, er darf das zu Beweisende dabei nicht schonals ein Bewiesenes benutzen, er muss sich auf dassel-be und in Bezug auf dasselbe richten und in gleicherWeise und für dieselbe Zeit sich ergeben, wie der vomGegner aufgestellte Satz. Nach diesen verschiedenenRichtungen kann nun auch eine falsche Widerlegungüber etwas aufgestellt werden. Manche lassen etwasvon dem, was verhandelt worden, weg und gelangen

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so zu dem Schein einer Widerlegung; wie z.B. dassein und dasselbe ein Doppeltes und nicht ein Doppel-tes sei; denn die Zwei ist das Doppelte von der Eins,aber nicht das Doppelte von der Drei; oder dass einund dasselbe das Doppelte und nicht das Doppeltevon sich selbst sei. Dies gilt indess nicht für dieselbeEigenschaft; denn es ist wohl das Doppelte in derLänge, aber nicht in der Breite. Oder wenn die Wider-legung zwar denselben Gegenstand und in derselbenBeziehung und in gleichem Sinne betrifft, aber nichtfür dieselbe Zeit; deshalb ist sie nur eine scheinbareWiderlegung. Man könnte diese Art der Widerlegun-gen wohl auch zu denen rechnen, welche sich auf dieAusdrucksweise stützen.

Die sophistischen Widerlegungen, welche den erstzu beweisenden Satz bei ihrem Schlusse schon alseinen bewiesenen ansetzen, können eben so und sovielfach geschehen, wie dieser Fehler überhaupt ge-schehen kann. Der Schein der Widerlegung entstehtdadurch, dass man nicht übersehen kann, was dassel-be ist und was verschieden ist.

Die sophistischen Widerlegungen, welche sich aufdas Beifolgende stützen, erfolgen, weil man meint,dass das Beifolgende oder Ausgesagte sich auch um-kehren lasse. Wenn nämlich, im Fall das Eine ist,nothwendig auch das Andere ist, so meint man, dasswenn Letzteres ist, nothwendig auch das Erstere sei.

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Daher kommen auch die Irrthümer in den Meinungen,welche sich auf Sinneswahrnehmungen stützen; dennman hat schon oft die Galle für Honig gehalten, weildie gelbe Farbe auch mit dem Honig verbunden ist;ebenso meint man, dass weil die Erde, wenn es reg-net, feucht wird, es auch, wenn die Erde feucht ist, ge-regnet habe. Allein dies ist nicht nothwendig. Auchvon den rednerischen Begründungen gehören die Be-weise, welche sich auf Zeichen stützen, zu denen, diedas Beifolgende benutzen. Wenn sie z.B. beweisenwollten, dass der Betreffende ein Ehebrecher sei, sobenutzten sie das Beifolgende, nämlich dass er einStutzer sei, oder dass man ihn des Nachts hat herum-streichen sehen. Indess findet sich dergleichen beiVielen, aber deshalb sind sie keine Ehebrecher. Aehn-liches findet sich auch bei den Beweisen durchSchlüsse, wie z.B. bei dem Ausspruch des Melissos,dass das All unbegrenzt sei. Er nahm an, dass das Allungeworden sei (weil aus dem Nicht-Seienden nichtsentstehen könne), das Gewordene aber habe einen An-fang gehabt; sei also das All nicht geworden, so habees auch keinen Anfang, also sei es unbegrenzt. - Al-lein dies folgt nicht nothwendig; denn wenn auch allesGewordene einen Anfang hat, so ist doch nicht Alles,was einen Anfang hat, geworden, und zwar so wenig,wie, wenn der Fiebernde warm ist, nothwendig derWarme fiebern muss.

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Die Widerlegungen, welche einen Nicht-Grund alseinen Grund benutzen, geschehen, wenn derNicht-Grund so hinzugenommen wird, als wenn mit-telst dessen die Widerlegung zu Stande gekommensei. Dergleichen kommt bei den auf das Unmöglicheführenden Schlüssen vor, da man bei ihnen einen derVordersätze als falsch darlegen muss. Wenn also zuden Fragen, welche für den unmöglichen Schlusssatznothwendig sind, auch etwas mit hinzugenommenwird, so wird es oft scheinen, als habe die Widerle-gung auf Grund dieses Zusatzes sich ergeben, wiez.B., wenn die Widerlegung zeigen will, dass dieSeele und das Leben nicht dasselbe sei, und sie diesso folgert: Wenn das Entstehen das Gegentheil desUntergehens ist und ein bestimmtes Entstehen dasGegentheil eines bestimmten Untergehens; und wennder Tod ein bestimmtes Untergehen und das Gegen-theil von Leben ist, so folgt, dass das Leben ein Ent-stehen und Leben gleich Entstehen ist. Da dies aberunmöglich ist, so ist auch die Seele und das Lebennicht dasselbe. - Allein dies ist kein richtiger Beweis,denn jener unmögliche Schlusssatz ergiebt sich auchdann, wenn man das Leben nicht für dasselbe mit derSeele erklärt, da nur das Leben das Gegentheil vomTode, als einem Untergehen ist, und das Entstehendas Gegentheil vom Untergehen. Dergleichen Begrün-dungen sind also nicht überhaupt logisch unrichtig,

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aber wohl in Bezug auf den vorliegenden Satz. Der-gleichen wird selbst von den Fragenden oft nicht be-merkt.

Dieser Art sind also die Begründungen, welchesich auf das Mitfolgende und auf eine Nicht-Ursachestützen; die Widerlegungen aber, welche sich daraufstützen, dass mehrere Fragen zu einer gemacht wer-den, entstehen dann, wenn der Gefragte dieses Mehre-re nicht bemerkt und als wäre nur Eines gefragt, auchnur eine Antwort giebt. In manchen Fällen lässt sichleicht ersehen, dass es mehrere Fragen sind und dassdeshalb keine Antwort darauf zu geben ist, z.B. aufdie Frage, ob die Erde das Meer sei, oder der Him-mel? In anderen Fällen ist dies weniger ersichtlich,und der Gefragte gilt dann, wie bei Fragen, die nurEines betreffen, wenn er nicht antwortet, als einer, dereinverstanden ist, oder er wird scheinbar widerlegt; soz.B. bei der Frage: Ist dieser und jener ein Mensch?Wird dies bejaht, so folgert der Sophist, dass wennjemand diesen und jenen schlägt, er einen Menschenund nicht die Menschen schlage. Ferner: Wenn vonMehreren Einiges gut, Anderes nicht gut ist, ist daAlles gut oder nicht gut? Welches von beiden manhier auch antwortet, immer lässt sich daraus eine Wi-derlegung oder etwas Falsches scheinbar ableiten;denn sagt man, dass von den Nicht-guten Einiges gutsei, oder von den Guten Einiges nicht-gut, so ist das

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falsch, oder wenn man etwa noch der Antwort etwashinzufügt, so kann sogar eine wahre Widerlegungsich ergeben; wie z.B. wenn jemand zugiebt, dass ingleicher Weise Eines und Vieles weiss, und nackendund blind genannt werde; weil, wenn ein Blindes dasist, was kein Gesicht hat, obgleich es nach seinerNatur es haben müsste, auch mehrere Blinde dieseien, welche kein Gesicht, haben, obgleich sie esnach ihrer Natur haben müssten. Also sagt der So-phist, werden, wenn Eines ein Gesicht hat, das Ande-re aber nicht, beide entweder Sehende, oder Blindesein, was doch unmöglich ist.

Sechstes Kapitel

Man muss also die scheinbaren Schlüsse und Wi-derlegungen entweder so, wie hier geschehen, einthei-len, oder alle auf die Unwissenheit dessen, was einewahre Widerlegung ist, zurückführen und in dieserWeise beginnen; denn alle diese besprochenen Artenvon Widerlegungen lassen sich auf den Begriff derWiderlegung zurückbringen. Erstens kann dies ge-schehen, wenn sie nicht richtig schliessen, weil derSchlusssatz aus den aufgestellten Vordersätzen folgenmuss, und zwar mit Nothwendigkeit und nicht blosscheinbar. Dann kann die Zurückführung auch in

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Bezug auf die einzelnen Bestimmungen geschehen,welche in dem Begriffe der Widerlegung enthaltensind. Von denen, die auf der Ausdrucksweise beruhen,stützt sich ein Theil auf das Doppelsinnige, z.B. aufdie Gleichnamigkeit, oder auf einen zweideutigenSatz, oder auf die gleiche Beziehungsform (denn manist gewöhnt, dies alles wie ein Dieses zu nehmen), da-gegen beruhen die Widerlegungen vermittelst der Ver-bindung, oder der Trennung der Worte, oder mittelstder Betonung darauf, dass die Rede nicht denselbenSinn beibehält, oder dass das Wort nicht gleich betontwird; obgleich dies ebenso hätte geschehen sollen,wie ja auch die Sache dieselbe bleiben muss, wenneine Widerlegung oder ein Schluss zu Stande kom-men soll. Ist z.B. ein Satz für den Umwurf zugestan-den, so darf der Schlusssatz nicht auf den Mantel,sondern muss auf den Umwurf lauten; da zwar auchder Satz für den Mantel wahr ist, aber der Schlussnicht dahin führt; vielmehr bedarf es dann auch einerFrage, dass er dasselbe im Umwurf bedeute, wennnach dem Grunde dafür gefragt wird.

Die auf das Nebensächliche gestützten Widerle-gungen erkennt man ebenfalls durch die Definitiondes Schlusses; denn auch die Widerlegung muss sodefinirt werden mit der Ausnahme, dass sie auf dasEntgegengesetzte lauten muss, da die Widerlegungein Schluss auf das Entgegengesetzte ist; kann also

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von dem Nebensächlichen kein Schluss auf den Ge-genstand selbst abgeleitet werden, so kann dies auchmit keiner Widerlegung geschehen. Denn wenn, so-fern jene Bestimmungen sind, nothwendig dieses seinmuss, und dieses zufällig weiss von Farbe ist, so folgtdies »Weiss« nicht nothwendig aus dem Schlusse.Auch wenn die Winkel des Dreiecks zweien rechtengleich sind und dem Dreieck nebenbei zukommt, dasses eine Figur, oder das Erste, oder das Grundlegendeist, so folgt keineswegs aus diesem Schlusse, dass dasDreieck eine Figur oder das Erste oder das Grundle-gende ist, denn der Beweis stützt sich nicht darauf,dass das Dreieck eine Gestalt, oder das Erste ist, son-dern darauf, dass es ein Dreieck ist. Aehnliches giltfür andere solche Fälle. Ist also die Widerlegung einSchluss, so wird die auf das Nebensächliche gestützteWiderlegung keine gültige Widerlegung sein. Aufdiese Weise werden auch die Handwerker und über-haupt die Sachverständigen von den der Sache Un-kundigen widerlegt, indem sie ihre Schlüsse gegen dieKundigen auf Nebensächliches stützen. Wenn diesenun dies nicht unterscheiden können, so geben sie esentweder auf Befragen zu, oder werden auch, wenn siedies nicht thun, als widerlegt angesehen.

Die Widerlegungen, welche sich fälschlich auf dasBeziehungsweise und überhaupt Gültige stützen, sinddaran erkenntlich, dass die Bejahung und Verneinung

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nicht denselben Gegenstand betrifft. Denn von demnur irgendwie Weissen ist die Verneinung das irgend-wie-nicht-Weisse, und von dem Weiss überhaupt dasnicht-Weiss überhaupt. Wenn also der Fragende dasZugeständniss, dass der Gegenstand irgendwie weisssei, als ein solches nimmt, was das Weiss überhauptzugesteht, so macht er zwar keine Widerlegung, abererreicht den Schein einer solchen, weil der Gegnernicht weiss, was eine Widerlegung ist.

Am leichtesten erkennbar sind die, welche schonfrüher als die gegen den Begriff der Widerlegung ver-stossenden aufgeführt worden; deshalb haben sie auchdiesen Namen erhalten; denn der Schein der Widerle-gung wird hier dadurch erreicht, dass etwas in derenbegründenden Sätzen weggelassen wird, und wer sodie Eintheilung der Widerlegungen machen will, dermuss allen solchen Widerlegungen die gemeinsameBezeichnung »der Weglassung von Etwas bei der Be-gründung« geben.

Die Widerlegungen, welche das zu Beweisende alsbewiesen benutzen, und die, welche einen Nicht-Grund als einen Grund aufnehmen, offenbaren sichdurch den Begriff des Schlusses als falsch; denn derSchlusssatz muss sich dadurch ergeben, dass geradediese Vordersätze den Grund dafür bilden, was beiden aus einem Nicht-Grund abgeleiteten Schlusssät-zen nicht der Fall ist. Ebenso darf der Schlusssatz

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sich nicht auf den im Anfange aufgestellten und erstzu beweisenden Satz stützen, welches die nicht inne-halten, welche sich auf eine solche Benutzung des erstzu beweisenden Satzes stützen.

Die auf das Mitfolgende sich stützenden Widerle-gungen bilden einen Theil der das Nebensächliche be-nutzenden, denn das Mitfolgende ist ein Nebensächli-ches und unterscheidet sich von dem eigentlichen Ne-bensächlichen nur dadurch, dass letzteres blos füreinen Gegenstand benutzt werden kann; z.B. bei demSatze, dass das Gelbe und der Honig, oder das Weis-se und der Schwan dasselbe seien, während das Mit-folgende immer für Mehreres benutzt werden kann.Die in einer einzelnen Bestimmung einander Gleichenwerden dabei als solche behandelt, die sich auchselbst einander gleich sind, und dadurch vollzieht sichdie auf das Mitfolgende gestützte Widerlegung. Sieist aber nicht in allen Fällen eine wahre; z.B. wenndas Weisse bei einem Gegenstande nur ein Neben-sächliches ist; denn der Schnee z.B. und der Schwansind im Weiss einander gleich. Ebenso wenn man,wie in der Begründung des Melissos, dass das »Ge-worden-sein« und das »einen Anfang-haben« ein unddasselbe sei; oder wenn man das einanderGleich-Gewordene auch als dieselbe Grösse habendannimmt. Denn Melissos folgert, dass, weil das Ge-wordene einen Anfang habe, auch das, was einen

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Anfang habe, geworden sei; als wenn beides, das»einen Anfang-Haben«, das »Gewordene« und das»Begrenzte«, dasselbe sei. Ebenso geschieht es beidem Gleich-Gewordenen; weil Dinge, welche dieselbeund eine Grösse annehmen, einander gleich werden,so soll auch das Gleich-Gewordene dieselbe Grössehaben. Es wird also hier das Mitfolgende zum Schlus-se benutzt. Da nun die auf das Nebensächliche sichstützende Widerlegung in der Unkenntniss der wahrenWiderlegung besteht, so erhellt, dass dies auch für dieauf das Mitfolgende sich stützende gilt. Es ist diesauch noch anderwärts zu beachten.

Die Widerlegungen, wo mehrere Fragen in eine ge-zogen worden sind, beruhen darauf, dass man den Be-griff des Vordersatzes nicht zergliedert und sondert;denn ein Vordersatz sagt Eines von Einem aus; denndieselbe Definition gilt sowohl für das Einzelne, wiefür den Gegenstand überhaupt; so gilt die des Men-schen überhaupt auch für den einzelnen Menschen,und dasselbe findet auch für andere Gegenstände statt.Wenn nun der einzelne Vordersatz derjenige ist, wel-cher Eines von Einem aussagt, so wird eine gleichgefasste Frage auch überhaupt einen Vordersatz abge-ben. Nun geht der Schluss aus Vordersätzen hervor,und die Widerlegung ist ein Schluss, also muss auchdie Widerlegung aus Vordersätzen hervorgehen. Istnun der Vordersatz die Aussage Eines von Einem, so

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erhellt, dass auch diese Art der Widerlegung in einerUnkenntniss der wahren Widerlegung besteht, dennder Vordersatz scheint nur ein solcher zu sein, ist esaber nicht wirklich. Hat also der Gefragte die Antwortauf die Frage so, als wäre sie eine, gegeben, sokommt die Widerlegung wirklich zu Stande; hat eraber nicht geantwortet und dadurch scheinbar zuge-stimmt, so ist auch die Widerlegung eine scheinbare.

Somit fallen alle Gesichtspunkte unter die Un-kenntniss der wahren Widerlegung, und zwar weil beidenen, welche auf der Ausdrucksweise beruhen, derGegensatz, in welchem das Eigenthümliche der Wi-derlegung besteht, nur ein scheinbarer ist und weil dieübrigen den Begriff des Schlusses nicht einhalten.

Siebentes Kapitel

Die Täuschung entsteht bei den auf der Zweideutig-keit der Worte oder der Rede beruhenden Schlüssendadurch, dass man die verschiedenen Bedeutungendes Mehrdeutigen nicht zu sondern vermag (dennManches lässt sich nicht leicht sondern, wie z.B. dasVieldeutige der Worte, sowie das Eine, das Seiendeund das Dasselbige). Bei den auf der Verbindungoder Trennung beruhenden Widerlegungen geschiehtsie, weil man meint, die Rede habe, sei sie verbunden

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oder getrennt, keinen verschiedenen Sinn, wie dies jaauch meistentheils der Fall ist. Gleiches gilt für dieauf die Betonung sich stützenden Widerlegungen;denn die Rede mit erhobener oder mit nachlassenderStimme scheint überhaupt nicht Verschiedenes zu be-zeichnen oder wenigstens in vielen Fällen nicht.

Die Widerlegungen, welche sich auf die Form desAusdrucks stützen, täuschen durch die Gleichheit derSprachform; indem es sich da schwer unterscheidenlässt, was in gleichem und was in verschiedenemSinne gemeint ist, und da der, welcher dies vermag,der Erkenntniss des Wahren ziemlich nahe ist und ammeisten versteht, durch Zunicken es zu unterstützen,dass der Gegner alles von einem Gegenstande Ausge-sagte als ein Selbstständiges auffasse und wie Einesverstehe; denn dem Einen und dem selbstständigenDinge scheint am meisten auch das »Dieses« und das»Seiende« mitzufolgen. Deshalb muss man diesesMittel zu denen zählen, welche sich auf die Aus-drucksweise stützen, weil erstens die Täuschungleichter geschieht, wenn man etwas in Gemeinschaftmit anderen Personen, als wenn man es für sich alleinprüft (denn die Prüfung mit Anderen geschieht mit-telst der Worte, aber die für sich allein geschehendenicht minder auch mittelst Erwägung der Sacheselbst); und dann täuscht man sich wohl auch für sichselbst, wenn man die Untersuchung nur auf die Worte

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richtet; auch entspringt ja jede Täuschung aus einerAehnlichkeit und die Aehnlichkeit liegt in der Aus-drucksweise. Bei den Widerlegungen, die sich auf einNebensächliches stützen, geschieht die Täuschung,wenn der Gegner nicht unterscheidet, was dasselbeund was verschieden ist, und was Eines und was Vie-les ist, und dass nicht alles das, was den von einemGegenstande ausgesagten Beschaffenheiten zukommt,auch dem Gegenstande selbst zukommt. Ebenso ver-hält es sich bei den auf das Mitfolgende gestütztenWiderlegungen, da das Mitfolgende ein Theil des Ne-bensächlichen ist. Auch scheint es in vielen Fällen so,und es wird auch behauptet, dass, wenn Dieses vonDiesem sich nicht trennt, auch das Andere von demAnderen sich nicht trennt. Bei den auf Weglassungvon Etwas aus der Rede und auf dem »irgend wie«und dem »überhaupt« beruhenden Widerlegungen ge-schieht die Täuschung, weil sie nur bei etwas Klei-nem sich vollzieht; denn da das »ein« und das »in ge-wisser Weise« und das »wie« und das »jetzt« das inder Rede darauf Folgende noch nicht erkennen lassen,so giebt man leicht die Zustimmung zu dem Satzeüberhaupt. Aehnlich ist es bei denjenigen Widerle-gungen, welche den anfangs aufgestellten Satz alseinen bewiesenen benutzen und welche sich auf einenNicht-Grund stützen und welche mehrere Fragen wieeine stellen. In allen diesen Arten geschieht die

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Täuschung durch eine Kleinigkeit, indem man ausdiesem Grunde es mit den Begriffen der Vordersätzeund des Schlusses nicht so genau nimmt.

Achtes Kapitel

Nachdem ich ermittelt habe, in wie vielerlei Wei-sen die scheinbaren Schlüsse zu Stande kommen, sohabe ich damit auch ermittelt, wie die sophistischenSchlüsse und Widerlegungen zu Stande kommendürften. Zn einem sophistischen Schluss und einersolchen Widerlegung rechne ich nämlich nicht blosden scheinbaren Schluss und die scheinbare Widerle-gung, sondern auch die, welche zwar die logischenRegeln einhalten, aber nur scheinbar den Gegenstandbetreffen. Es sind dies die, welche nicht in Bezug aufden Gegenstand widerlegen und die Unwissenheit desAntwortenden darlegen, was das Geschäft der prüfen-den Kunst ist, die einen Theil der Dialektik bildet undwelche etwas Falsches zu schliessen vermag, weil derAntwortende aus Unwissenheit die Begründung zu-giebt. Dagegen lassen die sophistischen Widerlegun-gen, selbst wenn sie ihren entgegengesetzten Satzdurch einen Schluss beweisen, nicht erkennen, ob derGegner unwissend ist, weil sie auch den Kundigendurch solche Begründungen in Schwierigkeiten

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verwickeln.Dass nun diese Art der Widerlegungen auf demsel-

ben Verfahren beruht, ist klar; denn durch alle dieMittel, welche bei den Zuhörern den Schein erzeugen,als sei aus den gefragten Vordersätzten der Schluss-satz richtig abgeleitet worden, wird auch bei den Ant-wortenden diese Meinung entstehen, und die falschenSchlüsse werden deshalb ebenfalls durch alle dieseMittel, oder doch durch mehrere derselben zu Standegebracht, da auch der Nicht-Gefragte glauben wird, erhabe das zugegeben, was er auf Befragen zugebenwürde. Nur bei einigen Widerlegungen trifft es sich,dass das noch Nöthige gefragt und so das Falsche of-fenbar gemacht wird, wie dies bei den auf der Aus-drucksweise ruhenden und auf die Sprachfehler ge-richteten Widerlegungen der Fall ist. Wenn nun diefalschen Schlüsse für den entgegengesetzten Satz zuden scheinbaren Widerlegungen gehören, so ist klar,dass die Schlüsse auf das Falsche sich auf eben die-selben Mittel stützen werden, durch welche derscheinbare Schluss zu Stande kommt. Die scheinbareWiderlegung stützt sich aber auf einzelne Theile desWahrhaften; denn wenn Einzelnes weggelassen wird,so verwandelt sich die Widerlegung in eine schein-bare, wie dies bei denen geschieht, die sich auf etwasstützen, was aus der Begründung nicht folgt, so wiebei denen, welche zu dem Unmöglichen führen, und

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bei Widerlegungen, die zwei Fragen zu einer machenund damit gegen den Begriff des Vordersatzes ver-stossen; ferner bei denen, welche das Nebensächlicheals ein An-sich benutzen, oder bei der Art derselben,welche sich auf das Mitfolgende stützt; ferner beidenen, wo der Schluss nur für die Worte, aber nichtfür die Sache sich ergiebt; ferner bei denen, welcheihren Gegensatz nicht so allgemein wie den zu wider-legenden Streitsatz fassen und ihn nicht auf dasselbe,und nicht in Bezug auf dasselbe richten und so gegeneinzelne oder gegen alle diese Erfordernisse verstos-sen; ferner bei denen, welche in ihrem Schlusssatzesich auf einen Obersatz stützen, der doch erst bewie-sen werden soll. Damit wären die Weisen dargelegt,in welchen die Fehlschlüsse entstehen; in noch weite-ren Weisen dürfte dies nicht geschehen, vielmehr wer-den alle in den hier angegebenen Verfahrungsweisensich bewegen.

Die sophistische Widerlegung ist nun keine Wider-legung überhaupt, sondern nur eine Widerlegung inBezug auf eine bestimmte Person, und dasselbe giltfür den sophistischen Schluss. Denn wenn der Fra-gende gerade nicht zugestanden bekommt, dass daszweideutige Wort nur Eines bedeutet und dass das ingleichen Sprachformen ausgedrückte Mehrere nur die-ses Bestimmte bedeutet, und wenn nicht bei den übri-gen Arten Aehnliches geschieht, so kommt weder eine

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Widerlegung, noch ein Schluss zu Stande, und zwarweder überhaupt, noch in Bezug auf den Gefragten.Gesteht dieser es ihm aber zu, so werden sie zwargegen diesen Zugestehenden Widerlegungen sein,aber nicht überhaupt; denn es ist ihm nicht etwas zu-gestanden, was in Wirklichkeit nur einen Sinn hat,sondern was nur so scheint, und darauf ist die Wider-legung gestützt.

Neuntes Kapitel

Die Frage, wie viele der Dinge überhaupt sind, wodie Gefragten widerlegt werden können, darf mannicht erheben, wenn man nicht die Wissenschaft vonallen Dingen besitzt; dies kann aber durch keineKunst erreicht werden, denn die Wissenschaften sindwohl unbegrenzt und folglich auch die Beweise. Auchgiebt es wahre Widerlegungen, da bei allem, was sichbeweisen lässt, derjenige, welcher das Gegentheil desWahren behauptet, auch widerlegt werden kann. Hatz.B. jemand behauptet, dass die Diagonale des Qua-drats und dessen Seiten durch ein gleiches Massmessbar seien, so würde er wahrhaft durch einen Be-weis widerlegt werden, dass ein solches für beide gül-tiges Mass nicht besteht. Man müsste daher Alleswissen, da manche Widerlegungen sich auf die

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Grundsätze der Geometrie und die daraus gefolgertenLehrsätze stützen können und andere auf die Sätze derArzneikunst und wieder andere auf die Sätze andererWissenschaften. Aber auch die falschen Widerlegun-gen haben kein begrenztes Gebiet; denn in jeder Wis-senschaft können auch falsche Schlüsse gezogen wer-den; so geometrische in der Geometrie und medicini-sche in der Medicin. Ich meine eben mit den Worten:»in jeder Wissenschaft« die in derselben vorhandenenobersten Grundsätze. Man kann also offenbar die Ge-sichtspunkte für alle Widerlegungen nicht erschöpfen,sondern man muss sich auf diejenigen beschränken,welche aus der Dialektik zu entnehmen sind; da dieGesichtspunkte bei dieser gleichmässig für alle Wis-senschaften und jedes Vermögen gelten. Die Widerle-gungen innerhalb einzelner Wissenschaften hat dahernur derjenige, welcher dieselben inne hat, zu prüfenund zu sehen, ob sie nur scheinbar eine Widerlegungsind, oder wenn sie wirkliche sind, weshalb dies derFall ist; die Widerlegungen dagegen, welche aus ge-meinsamen und nicht blos für eine Wissenschaft gel-tenden Gesichtspunkten entnommen sind, haben dieDialektiker zu prüfen. Kennt man hier die Mittel,durch welche sich glaubwürdige Schlüsse für jedwe-des beschaffen lassen, so kennt man auch die Mittelfür die glaubwürdigen Widerlegungen; denn die Wi-derlegung ist ein Schluss auf die Verneinung des

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durch einen vorgehenden Schluss dargelegten Satzes,so dass ein oder zwei auf die Verneinung lautendeSchlüsse die Widerlegung bilden. Nun kennen wir be-reits die Zahl der Gesichtspunkte, welche die Wider-legungen überhaupt für sich benutzen, und wenn mandiese kennt, so kennt man auch die Auflösung, d.h.die Aufdeckung der Fehler solcher Widerlegungen;denn die Einwürfe gegen ihre Mittel ergeben auch dieLösung. Wir haben nun auch die Anzahl der Mittelkennen gelernt, auf welche die scheinbaren Widerle-gungen sich stützen, und zwar nicht die für irgendeinen Einzelnen scheinbaren, sondern nur die für diein der Dialektik erfahrenen Personen, da die Mittel,durch welche die Widerlegungen für irgend welchenEinzelnen zu scheinbaren werden, unbegrenzt sindund deshalb nicht erschöpft werden können. Deshalbkann nur der Dialektiker die Zahl der Mittel überse-hen, durch welche vermittelst der gemeinsamenGrundsätze die wirkliche und die scheinbare Widerle-gung erreicht wird, sei die Widerlegung eine dialekti-sche, oder eine nur scheinbar dialektische, oder einenur versuchsweise zur Prüfung des Gegners angestell-te.

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Zehntes Kapitel

Es besteht also kein Unterschied in den Begrün-dungen, wie Einige behaupten, nach denen es Begrün-dung in Bezug auf die Worte und andere in Bezug aufden Sinn des erörterten Satzes geben soll. Vielmehrist die Voraussetzung verkehrt, wonach die Begrün-dungen, welche sich an die Worte halten, von denenverschieden sein sollen, die sich an den Sinn des Sat-zes halten, und es ist verkehrt, dass beide nicht diesel-ben seien. Denn was ist ein Streiten nicht nach demSinn anders, als dass man die Worte nicht in demSinne nimmt, in welchem der Gefragte sie eingeräumthat und in welchem er sich einbildet, gefragt wordenzu sein? Ein solches Streiten ist also ein Streiten umWorte, aber auch ein Streiten um den Sinn, wenn dieweitere Ausführung von dem Fragenden nur auf denSinn gestützt wird, welchen der Antwortende mit sei-ner Antwort gemeint hat. Wenn ferner bei einem dop-pelsinnigen Worte sowohl der Fragende wie der Ge-fragte meinen, das Wort habe nur einen Sinn, und dieErörterung z.B. den Satz betrifft, dass Alles Eines sei,so wird auch eine solche Erörterung sich auf das Wortoder auf den von dem Gefragten damit verknüpftenSinn beziehen. Meint aber einer der Streitenden, dassdas Wort vielerlei bedeute, so wird er die Erörterung

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nicht als eine auf den Sinn sich beziehende führen.Denn einmal beziehen sich solche Disputationen, wodie Worte eine mehrfache Bedeutung haben, auf dieWorte und den Sinn; und sodann findet dies auch beijeder andern Disputation statt; denn das: »nach demSinn« liegt nicht in der Begründung, sondern darin,wie der Antwortende das, was er zugegeben hat, ge-meint hat. Auch wäre es dann statthaft, alle Disputa-tionen nur für solche zu nehmen, welche blos dieWorte betreffen, denn der Ausdruck »die Worte be-treffen« heisst hier so viel als nicht den Sinn betref-fen. Sollte dies nicht für alle Disputationen gelten, somüsste es dann noch welche geben, die weder auf dieWorte, noch auf den Sinn sich bezögen, währenddoch Jene ihre Eintheilung als für alle Erörterungengültig behaupten und dieselben nur in solche, welcheWorte und in solche, welche den Sinn betreffen,eintheilen, ohne eine dritte Art aufzustellen. Indesssind von den Schlüssen, welche sich auf eine Zwei-deutigkeit stützen, nur einige auf die Worte gestützt,denn es ist eine verkehrte Behauptung, wie ich schongesagt habe, dass alle auf die Ausdrucksweise ge-stützten Schlüsse solche seien, welche über die Worteaufgestellt würden; vielmehr beruhen manche Fehl-schlüsse nicht darauf, dass der Antwortende sich zuihnen irgendwie verhält, sondern darauf, dass schondie Frage ein Wort enthält, was mehrere Bedeutungen

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hat.Ueberhaupt ist es verkehrt, die Widerlegungen zu

untersuchen, ohne zuvor den Schluss besprochen zuhaben; denn die Widerlegung ist eine Art des Schlus-ses, und deshalb muss man über den Schluss ehersprechen, als über die falschen Widerlegungen; dadiese nur der scheinbare Schluss auf den Gegensatzsind. Der Fehler ist deshalb hier entweder in demSchlusse oder in dem Gegensatze enthalten (dennletzterer muss vorliegen), oder auch in beiden, wenndie Widerlegung nur eine scheinbare ist. So liegt derFehler bei dem Ausspruch, dass das Schweigendespreche, in dem aufgestellten Gegensatze und nicht indem Schlusse; dagegen bei dem Satze, dass jemanddas, was er nicht hat, geben könne, in beiden, und beidem Satze, dass das Gedicht des Homer eine Gestaltsei, weil es einen Kreis bilde, in dem Schlusse. Ist inkeinem dieser beiden Stücke gefehlt, so ist derSchluss ein wahrer.

Um indess auf meinen Ausgangspunkt zurückzu-kehren, so könnte man auch fragen, ob die Begrün-dungen in der Mathematik sich auf den Sinn beziehenoder nicht? Ob insbesondere, wenn der Antwortendemeint, dass das Wort: Dreieck mehrere Bedeutungenhabe und sein Zugeständniss sich nicht auf die Gestaltbezogen habe, an welcher bewiesen worden, dassderen Winkel zwei rechte enthalten, man sagen

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könne, der Beweis des Fragenden habe sich auf denSinn, den der Antwortende mit dem Worte verbunden,bezogen, oder nicht bezogen?

Wenn ferner das Wort zwar vieldeutig ist, der Ant-wortende dies aber nicht weiss und auch nicht glaubt,sollte in diesem Falle derselbe nicht in Bezug auf denSinn disputirt haben? Oder sollte man etwa andersfragen, als so, dass man dem Antwortenden die Wahllässt, also in der Art, dass man früge: Kann derSchweigende sprechen oder nicht? Oder: Ist es nichtso, oder ist es so? Wenn hier nun der Antwortendesagte: Durchaus nicht, der Gegner aber bewiese, dasses der Fall sei, sollte da nicht die Disputation sich aufden Sinn bezogen haben, trotzdem sie zu denen gehö-ren dürfte, welche die Worte betreffen? Es giebt daherkeine besondere Art der Disputation, die sich nur aufden Sinn bezöge, aber wohl betreffen manche nur dieWorte; zu dieser Art gehören jedoch nicht alle Wider-legungen, und zwar weder alle wirklichen, noch alleblos scheinbaren, da es auch scheinbare Widerlegun-gen giebt, die sich nicht auf den Ausdruck stützen,wie die, welche ein Nebensächliches wie ein Wesent-liches benutzen und andere mehr.

Wenn man aber verlangt, dass ich, wenn ich be-haupte, der Schweigende spreche, sagen sollte, wiedies theils so, theils anders zu verstehen sei, so istdies zunächst verkehrt (denn mitunter scheint das

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Gefragte nicht vieldeutig, und es ist unmöglich da zutheilen, wo die Vieldeutigkeit nicht bemerkt wird);und wäre dies dann etwas Anderes als ein Belehren?Der Fragende müsste dann seinen Gegner offenbarmachen, wie die Sache sich verhielte, während derGegner sie weder untersucht hat, noch weiss, nochvermuthet, dass die Frage zweideutig ist. Was hindertdann, dass auch bei nicht zweideutigen Worten diesgeschehen müsste, z.B. bei der Frage, ob die Einhei-ten in den vierfachen Zahlen den zwiefachen Zahlengleich seien? Denn die zwiefachen Zahlen sind baldso, bald so darin enthalten. Ferner bei der Frage: Obfür Gegentheile eine Wissenschaft bestehe oder nicht?denn es gehört auch das Gewusste und das Nichtge-wusste zu den Gegentheilen. Wer also hier erst eineErläuterung verlangt, scheint nicht zu wissen, dassdas Lehren von dem Disputiren verschieden ist unddass der Lehrer nicht fragen, sondern selbst die Sacheerklären, der Disputirende aber fragen muss.

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Elftes Kapitel

Auch liegt es dem, welcher etwas beweisen will,nicht ob, von dem Anderen eine Bejahung oder Ver-neinung zu verlangen, sondern dies kommt nur demzu, welcher eine Prüfung vornimmt. Denn die prü-fende Kunst gehört zur dialektischen Kunst; sie ver-handelt nicht mit dem Kenner, sondern mit dem Un-wissenden, der sich für einen Kenner ausgiebt. Wernun in Bezug auf die Sache nur die allgemeinerenGrundsätze benutzt, ist ein Dialektiker, und der, wel-cher dies nur scheinbar thut, ein Sophist. Der nur demStreit dienende Schluss und der sophistische Schlusssind zum Theil scheinbare Schlüsse, mit welchen sichdie auf die Probe stellende Dialektik beschäftigt, undwobei der Schlusssatz auch wahr sein kann; denn dieTäuschung ist hier nur in dem Mittelbegriff oder indem Grunde des Schlusssatzes enthalten; zum Theilsind beide aber Fehlschlüsse, die nur scheinbar dieGrundsätze einer besonderen Wissenschaft benutzen,aber in Wahrheit das richtige Verfahren nicht einhal-ten. So sind die falschen Verzeichnungen keine demStreit dienende Schlüsse (weil die Fehlschlüsse hiersich wirklich innerhalb der betreffenden Wissenschafthalten) und dies gilt auch, wenn die falsche Verzeich-nung sich auf etwas Wahres bezieht, wie z.B. die

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Verzeichnung des Hippokrates, oder die Quadraturdes Kreises vermittelst der mondförmigen Abschnitte.Dagegen ist das Verfahren des Bryson, womit er dieQuadratur des Kreises versuchte, ein sophistisches,selbst wenn damit die Quadratur des Kreises wirklicherreicht würde, weil seine Vordersätze nicht aus dergeometrischen Wissenschaft entlehnt sind. Sonachgiebt es zwei Arten der auf den Streit abzielendenSchlüsse; die eine hält die allgemeinen oder formalenRegeln nur scheinbar ein, die andere hält die Regelnder betreffenden Wissenschaft nur scheinbar ein,selbst wenn der Schluss ein richtiger ist. Denn er hältsich nur scheinbar an die Sache; ist also betrügerischund unrecht. Denn so wie es im Wettkampfe eine ArtUnrecht giebt und wie es in der Schlacht ein unrechtesVerfahren giebt, so ist bei dem Disputiren das auf denStreit abzielende Verfahren die unrechte Kampfweise.Dort ergreifen die, welche durchaus den Sieg gewin-nen wollen, jedwedes Mittel und hier thun dasselbedie blos Streitsüchtigen. Solche Menschen, welchenur, um den Sieg zu gewinnen, das Disputiren betrei-ben, scheinen auch streitsüchtig zu sein, und die, wel-che nur des Ansehens wegen, damit sie Geld verdie-nen, streiten, sind Sophisten. Denn die Kunst der So-phisten will, wie ich schon gesagt, durch den Scheinder Weisheit Geld erwerben, und deshalb streben sienach scheinbaren Beweisen. Beide, die

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Streitsüchtigen und die Sophisten benutzen dieselbenBegründungen, aber nicht des gleichen Zieles wegen.Auch kann dieselbe Begründung sophistisch undstreitsüchtig sein, aber nicht in Beziehung auf Glei-ches, da die streitsüchtige nur geschieht, um scheinbarden Sieg zu gewinnen, und die sophistische um desScheines der Weisheit willen; da die sophistischeWeisheit nur eine scheinbare, aber keine wirklicheWeisheit ist.

Der Streitsüchtige verhält sich zu dem Dialektikerungefähr wie der, welcher falsche Verzeichnungen zuseinen Beweisen benutzt, zu dem Geometer; denn ermacht aus denselben Gründen Fehlschlüsse gegen dieDialektik, aus denen der falsche Verzeichner demGeometer entgegentritt. Der falsche Verzeichner istaber kein Streitsüchtiger, weil er seinen Beweis an derfalschen Figur doch aus den Grundsätzen undSchlusssätzen der Geometrie ableitet; der andere aberwendet zwar die Regeln der Dialektik an, aber imUebrigen ist er offenbar ein Streitsüchtiger. So istz.B. der Beweis für die Quadratur des Kreises vermit-telst der mondförmigen Abschnitte kein streitsüchti-ger, wohl aber der von Bryson dafür aufgestellte Be-weis. Jener Beweis lässt sich nicht für andere Wissen-schaften, als die Geometrie benutzen, weil dieser Be-weis auf den der Geometrie eigenthümlichen Grund-sätzen beruht; dagegen richtet sich der Beweis des

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Bryson an die Menge, welche das Mögliche und Un-mögliche bei jedem Dinge nicht zu unterscheiden ver-mag; denn für solche wird sein Beweis passen; oderer hat die Quadratur des Kreises wie Antiphon aufge-stellt. Oder wenn Jemand leugnete, dass das Spazie-rengehen nach der Mahlzeit gut sei, und zwar aus denGründen Zeno's gegen die Bewegung, so wäre seineBegründung keine ärztliche, da sie für vieles Andereauch passte.

Wenn nun die streitsüchtige Begründung sich ganzso zu der dialektischen verhielte, wie der falsche Ver-zeichner zu dem Geometer, so gäbe es in der Geome-trie keine streitsüchtigen Begründungen; allein diedialektische Begründung ist auf keine bestimmte Gat-tung von Gegenständen beschränkt, auch beweist siekeinen Satz und stützt sich nicht auf die dem Gegen-stande eigenthümlichen Gesetze; denn Alles kannnicht blos zu einer Gattung gehören, und selbst wenndies möglich wäre, könnte alles Seiende nicht unterdenselben obersten Grundsätzen stehen. Deshalbstellt keine jener Wissenschaften, welche über die be-sondere Natur ihrer Gegenstände Beweise führen,Fragen; bei ihnen ist es nicht erlaubt, irgend ein Stückblos auf das Zugeständniss zu stützen und der Schlusskann hier nicht aus beiden, d.h. aus Zugegebenen undobersten Grundsätzen sich ableiten. Dagegen bewegtsich die dialektische Wissenschaft in Fragen; denn

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würde sie etwas wirklich beweisen wollen, so würdesie, wenn auch nicht über Alles, doch nicht über dieobersten und die jedem Gebiet eigenthümlichenGrundsätze Fragen stellen, da, wenn ihr das Betref-fende nicht zugegeben würde, sie keine Unterlagemehr hätte, von wo aus sie die Erörterung gegen denEinwurf fortführen könnte. Das dialektische Verfah-ren stellt auch den Gegner auf die Probe. Diese Kunstgleicht nicht der Geometrie, vielmehr kann auch derUnwissende sie üben: denn auch der, welcher von derSache nichts versteht, kann den Unwissenden auf dieProbe stellen, wenn dieser die Aufstellungen jenes zu-giebt; dies kann er nicht vermöge seiner Wissenschaftund auch nicht vermöge des dem Gegenstande Eigent-hümlichen, sondern vermöge anderer, dem Gegen-stande zukommenden Bestimmungen, welche der Artsind, dass der, welcher sie kennt, die betreffende Wis-senschaft selbst nicht zu kennen braucht und dass der,welcher sie nicht kennt, nothwendig auch der betref-fenden Wissenschaft unkundig sein muss. Hieraus er-hellt, dass es keinen Gegenstand giebt, über den dieauf die Probe stellende Kunst sich nicht ausdehnenkönnte; vielmehr erstreckt sie sich über Alles, da alleWissenschaften auch von gewissen gemeinsamenGrundsätzen Gebrauch machen. Aus diesem Grundemacht jedermann von der dialektischen und auf dieProbe stellenden Kunst Gebrauch, selbst solche thun

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dies, welche sie nicht kennen, da Alle bis zu einemgewissen Grade es versuchen, diejenigen, welcheetwas zu verstehen vorgeben, zu beurtheilen. Sie be-nutzen dazu die für alle Wissenschaften geltenden ge-meinsamen Grundsätze, welche sie dennoch kennen,wenn sie auch anscheinend über Dinge, die nicht zurSache gehören, sprechen. Alle unternehmen deshalbWiderlegungen, da sie, ohne die dialektische Kunstgelernt zu haben, doch dasjenige innehaben, was,wenn kunstgemäss gebraucht, die Dialektik ausmachtund was vermöge der Kunst zu schliessen, den auf dieProbe stellenden Dialektiker ausmacht. Da nun Vielesgleicher Art ist und von Allem gilt und nicht der Artist, dass es eine besondere Natur oder eine besondereGattung wäre, sondern so, wie z.B. die Verneinungen;da aber Anderes nicht solcher Art ist, sondern das denDingen Eigenthümliche ausmacht, so kann man mit-telst jener einen Weise über Alles auf die Probe stel-len und es besteht auch eine Kunst der Art, die abernicht so beschaffen ist, wie die beweisenden Wissen-schaften. Deshalb verhält sich der Streitsüchtige nichtdurchaus so, wie der, welcher eine falsche Verzeich-nung benutzt, denn er benutzt nicht die Grundsätzeeines bestimmten Gebiets zu seinen Fehlschlüssen,sondern streitet über alle Gattungen der Dinge.

Dies sind nun die Weisen und Gesichtspunkte dersophistischen Widerlegungen, und man kann daraus

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leicht entnehmen, dass der Dialektiker dieselben inBetracht nehmen und auch selbst zu Stande zu brin-gen vermögen muss, denn die Lehre von den Schlüs-sen befasst auch diese ganze Untersuchung.

Zwölftes Kapitel

So viel über die scheinbaren Widerlegungen; wasaber die Darlegung, dass etwas Falsches behauptetworden, und die Verleitung des Gegners zu unglaub-würdigen Behauptungen anlangt (denn dies war dasZweite, wonach die sophistische Kunst strebt), sokommt dies zunächst dadurch am meisten zu Stande,dass in einer besonderen Weise gefragt wird und dieFragen gestellt werden. Denn das Fragen, was auf kei-nen bestimmten Satz sich richtet, geht auf dieses Zielaus, da bei planlosem Sprechen leichter Fehler began-gen werden, und ein planloses Sprechen ist vorhan-den, wenn kein Satz zur Besprechung vorliegt. So-dann kann auch, selbst wenn ein bestimmter Satz zurBesprechung aufgestellt ist, vermittelst vielen Fra-gens, sowie durch die Aufforderung an den Gegner,doch das zu sagen, was er darüber meint, derselbeleicht zu unglaubwürdigen oder falschen Behauptun-gen verleitet werden. Wenn hierbei der Gefragte etwasin dieser Art behauptet, oder verneint, so kann der

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Sophist die Erörterung so leiten, dass solche Behaup-tung leicht zu widerlegen ist. Indess können die So-phisten gegenwärtig mit diesen Mitteln weniger scha-den, als früher; denn die Gefragten verlangen jetztvon ihnen die Angabe, wie solches sich zu dem imAnfang aufgestellten Satze verhalte? Denn das ele-mentare Mittel, den Gegner zur Behauptung vonetwas Falschem oder Unglaubwürdigem zu bringen,besteht darin, dass die Frage nicht gleich für einen be-stimmten Satz gestellt wird, sondern dass man vor-giebt, man früge nur, um zu lernen; die Untersuchung,welche dann der Gefragte unternimmt, giebt Gelegen-heit zu Kunstgriffen.

Um das Falsche in den Behauptungen des Gegnersdarzulegen, bestellt ein eigenthümliches sophistischesMittel darin, dass die Sophisten den Gegner zu sol-chen Behauptungen verleiten, wo sie viele Gründe fürdie Widerlegung zur Hand haben. So zu verfahren,kann sowohl recht, als unrecht sein, wie ich früherdargelegt habe.

Um ferner den Gegner zu unglaubwürdigen Be-hauptungen zu veranlassen, dient es, dass man ermit-telt, zu welcher Schule derselbe sich hält, und danndie Fragen auf das richtet, was da an Sätzen gelehrtwird, welche der Menge unglaubwürdig erscheinen;denn in jeder Schule finden sich dergleichen. Jeneselementare Mittel besteht dann darin, dass solche

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Sätze der einzelnen Schulen als Vordersätze benutztwerden. Der passende Schutz in solchem Falle istdann der, dass man zeigt, wie das Unglaubwürdigenicht aus der Begründung folge; denn der streitendeSophist will immer auch dies.

Auch der Gegensatz des innerlich Gewollten unddes offen Ausgesprochenen dient für dieses Ziel.Denn die Absichten stimmen oft nicht zu den Worten,vielmehr sprechen die Menschen in der anständigstenWeise, während sie innerlich das wollen, was ihnenGewinn zu bringen scheint. So sagen sie, man müsseeinen ehrenvollen Tod einem angenehmen Leben vor-ziehen, und man müsse eher als ein Gerechter darben,als wie auf schlechte Weise reich sein; aber innerlichwollen sie das Entgegengesetzte. Antwortet nun derGefragte so, wie er es innerlich wünscht, so wird dieöffentliche Meinung gegen ihn geltend gemacht, undspricht er dieser gemäss, so wird er auf die verheim-lichten Absichten gedrängt. In beiden Fällen mussdann der Gefragte Unglaubwürdiges behaupten undentweder gegen die offen ausgesprochene oder gegendie heimliche, von ihm gehegte Meinung sprechen.

Am meisten wird dasjenige Mittel, um jemand zuunglaubwürdigen Behauptungen zu verleiten, benutzt,was auch Kallikles in dem geschriebenen Dialog Gor-gias anwendet und was in früheren Zeiten als untrüg-lich galt, nämlich der Widerspruch zwischen dem

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Naturgemässen und dem Gesetzlichen, weil Natur undGesetz Gegentheile seien und z.B. die Gerechtigkeitnach dem Gesetze etwas Schönes, aber nach derNatur nichts Schönes sei. Wenn also der Gegner derNatur gemäss spricht, so muss man ihm mit dem Ge-setz entgegentreten, und wenn er dem Gesetz gemässspricht, ihm die Natur vorhalten; auf beide Weisenmuss er dann Unglaubwürdiges behaupten. Mannahm dabei damals an, dass das naturgemässe Han-deln das wahre sei, das gesetzliche Handeln aber nurdas fordere, was der Menge gefalle. So konnten dieSophisten sowohl in früheren Zeiten, wie auch jetzt esdahin bringen, dass der Antwortende entweder wider-legt wurde oder Unglaubwürdiges behauptete.

Manche Fragen haben das Eigne, dass die Antwortnach beiden Alternativen unglaubwürdig ausfällt; z.B.die Fragen, ob man eher den weisen Männern odereher dem Vater gehorchen solle? ferner: Ob man dasNützliche, oder das Gerechte thun solle? und ob maneher Unrecht erleiden, als einen Anderen beschädigensolle? Der Sophist muss dem Antwortenden in denGegensatz zwischen der Meinung der Menge und derder Weisen verwickeln; spricht er also, wie die Ken-ner der Sache, so muss er auf die Meinung der Mengegeleitet, und wenn er nach der Meinung der Mengespricht, auf die Meinung der Kenner geleitet werden.Denn nach diesen muss der Glückliche auch immer

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gerecht sein, während der Menge es verkehrt vor-kommt, dass ein König nicht glücklich sei. Uebrigensist die Verleitung zu solchen unglaubwürdigen Be-hauptungen derjenigen ganz gleich, welche in den Ge-gensatze von Natur und Gesetz verwickelt. Denn dasGesetz ist das, was die Menge billigt, während dieWeisen der Natur und Wahrheit gemäss sich ausspre-chen.

Dreizehntes Kapitel

Um den Gegner zu unglaubwürdigen Behauptun-gen zu verleiten, sind also die hier angegebenen Mit-tel zu benutzen; was aber die Verleitung zu leeremGeschwätz anlangt, so habe ich bereits gesagt, wasich unter solchem Geschwätz verstehe. Alle solcheReden der Sophisten wollen das erreichen, wie z.B.dass, wenn es gleich ist, ob man etwas nach seinemNamen oder nach seinem Begriff bezeichnet, mithindas Doppelte dasselbe ist, wie das Doppelte der Hälf-te, und, wenn es somit ein Doppeltes der Hälfte giebt,es dann auch ein Doppeltes von der Hälfte der Hälftegebe; und wenn man dann hier wieder statt des Dop-pelten das Doppelte der Hälfte setzt, so wird letzteredrei Mal ausgesagt werden, als das Doppelte derHälfte von der Hälfte der Hälfte. Ferner: Giebt es eine

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Begierde nach dem Angenehmen? Nun ist aber dieBegierde ein Streben nach dem Angenehmen; also istdie Begierde nach dem Angenehmen ein Streben nachdem Angenehmen des Angenehmen.

Alle solche Reden bewegen sich in Beziehungen,bei denen nicht blos die Gattungen der Dinge, son-dern diese auch in Bezug auf Etwas ausgesagt werdenund zwar bezogen auf ein und dasselbe. So ist dasStreben auch das Streben nach etwas und die Begier-de auch die Begierde nach etwas, und das Doppelteist das Doppelte von Etwas und auch das Doppeltevon der Hälfte. Bei Gegenständen aber, deren Wesennicht ganz in einer Beziehung besteht, wie z.B. beiden Richtungen des Gemüths oder bei den Leiden-schaften oder bei sonst etwas der Art, wird in derenBegriffe noch dargelegt, dass sie in Bezug auf ein Be-stimmtes ausgesagt werden. So ist z.B. das Ungeradeeine Zahl, welche eine Mitte hat; nun giebt es aberungerade Zahlen, also ist die Zahl eine Zahl, die eineMitte hat. Ist ferner das Stumpfnäsige eine Hohlheitder Nase, und giebt es stumpfnäsige Nasen, so giebtes eine hohle Nase-Nase.

Mitunter scheint es so, als verleite man zu leeremGeschwätz, ohne dass es doch der Fall ist, indem mannicht noch besonders fragt, ob das Doppelte, für sichausgesprochen, etwas bedeute oder nichts bedeute,und ob, wenn es etwas bedeutet, es dasselbe oder

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etwas Anderes bedeute, als der begriffliche Ausdruck,sondern gleich den Schlusssatz zieht. Hier scheint derName, weil er derselbe bleibt, auch dasselbe zu be-zeichnen.

Vierzehntes Kapitel

Was ein Sprachfehler ist, habe ich früher dargelegt.Ein solcher kann erstens wirklich begangen werden;zweitens kann es nur so scheinen, dass man einen be-geht, ohne dass es doch geschieht, und drittens kanner begangen werden, ohne dass es so scheint, wie z.B.Protagoras sagte, dass der Zorn und der Helm Worteweiblichen Geschlechts seien; wer also der verderbli-che Zorn und der Helm sagte, der beging nach ihmeinen Sprachfehler, aber nicht nach der Meinung derübrigen Menschen; wer dagegen: die verderblichensage, der fehle nach ihm zwar scheinbar aber nichtwirklich. Es erhellt, dass man dies wohl auch durchKunstgriffe erreichen kann; deshalb scheinen vieleReden der Sophisten einen Sprachfehler zu beweisen,ohne dass es wirklich der Fall ist, wie ja das Gleicheauch bei den Widerlegungen geschehen kann.

Beinah alle scheinbaren Sprachfehler werden ent-weder durch das Neutrum veranlasst, oder dadurch,dass gewisse Beugungen der Worte das Männliche

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oder Weibliche nicht ausdrücken, sondern das zwi-schen ihnen liegende Neutrum. So bezeichnet das»Dieser« das männliche Geschlecht und das »Diese«das weibliche; dagegen will das »Dieses« (als Neu-trum) das zwischen jenen beiden Befindliche bezeich-nen, oft aber bezeichnet es auch eines von jenen bei-den; z.B. bei der Frage: Was ist dieses? Antwort:Dieses ist die Kalliope, oder das Holz, oder der Ko-riskos. Bei den männlichen und weiblichen Wortenlauten die Beugungsfälle sämmtlich verschieden; da-gegen ist es bei den zwischen ihnen stehenden Wortennur theilweise der Fall. Oft wird nun blos »dieses«(das Neutrum) eingeräumt, aber geschlossen wirddann, als hätte man »diesen« gesagt. Ebenso wird einBeugungsfall statt eines andern benutzt, derFehlschluss kommt dann dadurch zu Stande, dass das»Dieses« für mehrere Beugungsfälle gilt, denn das»Diesen« bezeichnet bald den Nominativ, bald denAccusativ, und es muss beide Bedeutungen wechsels-weise annehmen. Wird es mit dem »er ist« verbunden,so ist das »Dieser« gemeint und mit dem »sein« ver-bunden, wird das »Diesen« gemeint; z.B. »der Koris-kos ist« und »den Koriskos sein«. Auch mit den weib-lichen Worten verhält es sich ebenso; desgleichen mitdem sogenannten »Geräthe«, was bald eine männli-che, bald eine weibliche Benennung hat. Blos dieStücke, welche sich auf z oder b endigen, werden mit

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dem Neutrums-Namen des Geräthes belegt, wie dasHolz und das Sieb; die Worte aber, die nicht so endi-gen, sind männlicher oder weiblicher Art, und auchvon diesen bezieht man einige auf das Geräthe; so istder Schlauch männlichen Geschlechts und die Bett-stelle weiblichen Geschlechts. Daher wird sich auchbei diesen das »Ist« und das »Sein« in der gleichenWeise unterscheiden.

In gewisser Weise gleicht die Benutzung derSprachfehler denjenigen Widerlegungen, welche sichdarauf stützen, dass Ungleiches doch dieselbe Be-zeichnung führt; so wie dort der Sprachfehler inBezug auf die Gegenstände selbst begangen wird, sogeschieht es hier mit den Namen; so ist z.B.»Mensch« und »Weisses« sowohl ein Gegenstand,wie ein Name. Man muss daher suchen, den Sprach-fehler aus den hier genannten Beugungen der Namenzu folgern.

Dies sind sonach die Arten und die Unterarten unddie besprochenen Gesichtspunkte bei streitigen Erör-terungen. Indess macht es einen grossen Unterschied,ob die Fragen hierbei so gestellt werden, dass derKunstgriff nicht bemerkt werden soll, wie dies bei dendialektischen Fragen geschieht. Ich werde daher, an-schliessend an das bisher Gesagte, dies zunächst be-sprechen.

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Fünfzehntes Kapitel

Ein Mittel zur sophistischen Widerlegung des Geg-ners besteht in der Länge derselben; denn es istschwer, Vieles auf einmal zu übersehen. Um eine sol-che Länge zu erreichen, muss man die früher genann-ten Mittel benutzen. Ein anderes Mittel ist die Schnel-ligkeit der Rede; denn die hintennach Kommendenkönnen weniger voraussehen. Auch der Zorn und derWetteifer sind Mittel dafür, da alle, welche in Con-flict gerathen, sich weniger in Acht nehmen können.Die Mittel, um den Antwortenden in Zorn zu verset-zen, bestehen darin, dass man ihm merken lässt, manwolle ihm Unrecht thun und im Allgemeinen in einemunverschämten Benehmen. Ferner hilft es für das Wi-derlegen, wenn man mit den Fragen wechselt, insofernman für denselben Satz mehrere Gründe hat, oderwenn man Gründe sowohl für dessen Bejahung wieVerneinung hat; denn dann muss der Gegner gleich-zeitig entweder auf Mehreres, oder auf das Entgegen-gesetzte Acht haben. Ueberhaupt kann alles das, wasich früher in Bezug auf das Verbergen des Zieles ge-sagt habe, auch für die streitsüchtigen Begründungenbenutzt werden; denn man verbirgt etwas, damit esnicht bemerkt werde, und man will es vom Gegnernicht bemerkt haben, um ihn zu täuschen.

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Wenn aber der Gegner das verneint, wovon er glau-ben mag, dass der Fragende es zu seinem Beweise be-nutzen will, so muss dieser die Fragen auf das Entge-gengesetzte richten, als wollte er dieses beweisen,oder er muss seine Fragen so stellen, dass der Ge-fragte nicht entnehmen kann, ob der Fragende die Be-jahung oder die Verneinung benutzen will; denn derGefragte wird weniger schwierig in seinen Zugeständ-nissen sein, wenn er nicht entnehmen kann, ob derFragende die Bejahung oder die Verneinung benutzenwill. Im Falle aber der Antwortende Einzelnes stück-weise zugiebt, so darf der Fragende, welcher induktivverfahren will, das Allgemeine nicht mehrmals zurFrage stellen, sondern er muss dies Allgemeine so, alswäre es bereits zugegeben, für seine Begründung be-nützen; denn mitunter glauben die Gefragten selbst,es zugestanden zu haben, und auch den Zuhörernscheint es so, weil sie die Induktion im Gedächtnisshaben und die Fragen nicht für nutzlos gestellt halten.

In den Fällen, wo für das Allgemeine das Wortfehlt, muss man sich mit einem Aehnlichen für seineZwecke zu helfen suchen, denn es wird oft nicht be-merkt, dass nur ein Aehnliches vorliegt. Auch mussman, um das Zugeständniss eines Satzes zu erlangen,das Entgegengesetzte daneben stellen und in dieserWeise fragen. Wenn z.B. der Fragende das Zuge-ständniss des Satzes braucht, dass man dem Vater in

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Allem gehorchen müsse, so muss er fragen, ob manden Eltern in Allem gehorchen müsse, oder in Allemnicht gehorchen? Und statt des »oft« muss man das»viel« benutzen und fragen, ob man den Eltern inVielem oder in Wenigem zu Willen sein müsse? dennder Gegner wird, wenn er so wählen muss, sich eherfür das »viel« entscheiden, weil, wenn man die Ge-gentheile nebeneinander stellt, diese dem Menschengrösser oder gross erscheinen und schlechter oder bes-ser.

Am stärksten und häufigsten erzeugt jene am mei-sten sophistische Täuschung den Schein, dass manden Gegner widerlegt habe, wonach man, ohne einenSchluss gezogen zu haben, den Streitsatz gar nicht ineine Frage aufnimmt, sondern ihn als Schlusssatz aus-spricht, als hätte man erwiesen, dass das und dasnicht wahr sei, was der Gegner gesagt habe.

Auch ist es ein sophistisches Verfahren, wenn manverlangt, dass der Gegner antworten solle, welcherMeinung er in Bezug auf den aufgestellten unglaub-würdigen Satz sei, indem man etwas Glaubwürdigesvorangeschickt hat, welches zum Beweise des un-glaubwürdigen Satzes benutzt werden kann, und dannmit der Frage beginnt, ob er letzteres nicht für richtighalte? denn wenn die Frage etwas betrifft, was bejahtzur Widerlegung des Gegners führt, so muss der Ant-wortende sich entweder einer Widerlegung aussetzen,

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oder er muss etwas Unglaubwürdiges behaupten.Denn giebt er das Gefragte zu, so wird er widerlegt,und thut er dies nicht und sagt er, dass es ihm auchnicht so scheine, so spricht er etwas Unglaubwürdigesaus; antwortet er aber, dass es ihm so scheine, ohnejedoch die Frage zuzugeben, so führt auch dies zueiner Art von Widerlegung.

Ferner ist es, wie bei den rhetorischen Ausführun-gen, auch bei den sophistischen Widerlegungen rath-sam, auf die Sätze des Antwortenden zu achten, wel-che entweder mit anderen von ihm ausgesprochenenin Widerspruch stehen, oder mit Sätzen, die er selbstals wahr oder sittlich anerkannt hat, oder die wenig-stens einen solchen Schein für sich haben oder ihnenähnlich sind, sei es, dass jene Sätze den meisten, oderallen von diesen letzteren Sätzen widersprechen. Wienun die Antwortenden oft bei einer ihnen drohendenWiderlegung das Zweideutige benutzen, im Fall dieSache sich so gestaltet, dass sie widerlegt werdenkönnten, so müssen auch die Fragenden sich diesesMittels gegen diejenigen bedienen, die ihnen mit Ein-würfen kommen, und sie müssen, im Fall in demeinen Sinne das, was sie behaupten, sich ergiebt, indem anderen Sinne aber nicht, sagen, dass sie es imersten Sinne gemeint haben, wie Kleophon es in derTragödie Mandrobulos thut. Auch muss der Fragendemitunter von der Begründung Abstand nehmen, um

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dem Gegner weitere Einwendungen abzuschneiden;antwortet man aber selbst und der Fragende merkt,dass er mit einem Beweisgrunde nicht durchkommenwerde, so muss man, wenn er diesen Grund aufgebenwill, ihm zuvorkommen und ihm zureden, dass er denBeweisgrund nicht fallen lasse. Mitunter muss derFragende sich gegen Anderes, was den Streitsatz nichtbetrifft, wenden und diesen selbst fallen lassen, wenner ihn mit nichts angreifen kann. So machte es Lyko-phron, als von ihm gefordert wurde, er solle die Leierprüfen. Wenn aber der Antwortende verlangt, dass derFragende einen bestimmten Satz angreife und der Fra-gende billigerweise den Grund angeben muss, wes-halb er von dem ursprünglich aufgestellten Satze ab-gehe, so muss er Einiges vorbringen, aber sorgfältigden allgemeinen Schlusssatz in seinen Widerlegungenverschweigen und nur das Entgegengesetzte behaup-ten, also das, was der Antwortende gesagt, verneinenund was jener verneint hat, bejahen; aber er darf nichtden Schlusssatz, zu welchem er gelangen will, be-stimmter bezeichnen, z.B. dass es von Gegentheilennur eine Wissenschaft gebe, oder dass es nicht bloseine davon gebe. Auch darf der Fragende denSchlusssatz seines Beweises bei seinen Fragen nichtvoranstellen, und Manches darf er gar nicht in seineFragen aufnehmen, sondern muss es so benutzen, alswäre es zugestanden.

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Sechszehntes Kapitel

Ich habe somit gesagt, woher bei den streitsüchti-gen Erörterungen die Fragen zu entnehmen sind undwie man zu fragen hat; nunmehr habe ich über dieAntworten zu sprechen und anzugeben, wie man dieWiderlegungen des Fragenden zu entkräften und wasman dabei zu beobachten hat; ferner, zu was derglei-chen Erörterungen nützlich sind.

Für die Philosophie sind sie aus zwei Gründennützlich. Da nämlich diese Erörterungen meistentheilssich auf die Ausdrucksweise stützen, so gewähren sieerstens eine grössere Gewandtheit in Bezug auf zwei-deutige Ausdrücke; man lernt schärfer unterscheiden,in welchen Punkten die Sachen und die Worte zu den-selben und in welchen sie zu verschiedenen Folgerun-gen führen. Zweitens nützen sie auch für die Untersu-chungen, die man für sich allein anstellt; denn wennman leicht von einem Andern durch Fehlschlüsse irregeführt wird und dies nicht bemerkt, so kann manGleiches oft auch in den für sich allein angestelltenUntersuchungen durch sich selbst erleiden. Aber esdient auch drittens dem eignen Ansehn, wenn es be-kannt ist, dass man die Fähigkeit besitzt, über Allesin Erörterungen einzutreten, und dass man in jedemGebiete bewandert ist. Denn wenn man in einer

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solchen Erörterung die Sätze des Gegners nur tadeltund ihre Mängel durch nichts aufdecken kann, so ge-räth man leicht in den Verdacht, als ob man ärgerlichgeworden und zwar nicht um der Wahrheit willen,sondern wegen der eigenen Unerfahrenheit.

Wie aber der Gefragte solchen streitsüchtigen Be-gründungen entgegenzutreten hat, ist klar, sofern ichim Vorgehenden die Ursachen richtig dargelegt habe,aus welchen die Fehlschlüsse hervorgehen und das Ir-reführende der Fragen deutlich aufgezeigt habe. Es istaber nicht dasselbe, eine Begründung vorzunehmenund da ihre Fehler zu erkennen und aufzulösen, wieals Antwortender dem Fragenden schnell entgegenzu-treten. Denn oft erkennt man selbst das nicht, wasman weiss, wenn dasselbe umgestellt worden ist.Auch hier, wie in andern Dingen, hängt die Schnellig-keit und Langsamkeit der Entgegnung von derUebung ab. Weiss man also etwas, aber giebt mannicht Acht, so kommt man oft zu spät und versäumtdie rechte Zeit. Auch begegnet einem bei diesen Erör-terungen mitunter dasselbe wie bei den mathemati-schen Figuren; auch hier kann man oft den Beweis inseine Theile zerlegen, aber diese nicht wieder zusam-mensetzen. Ebenso weiss man bei den sophistischenWiderlegungen oft, wohinaus die Begründung führenwird, und doch vermag man nicht, dieselbe zu wider-legen.

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Siebzehntes Kapitel

Sowie man einen nur glaubwürdigen Schlussmanchmal einem wahren vorziehen muss, so mussman als erste Vorschrift, auch mitunter bei Auflösungder sophistischen Widerlegungen, mehr das Glaub-würdige als das Wahre benutzen. Ueberhaupt hat manStreitsüchtige nicht als solche, welche wahrhaft wi-derlegen, zu bekämpfen, sondern als solche, welchenur den Schein dessen erstreben, da man ja nicht aner-kennt, dass sie wirkliche Schlüsse bilden, und esdaher genügt, den blossen Schein derselben aufzu-decken. Wenn also die wahre Widerlegung in dem un-zweideutigen Beweis des Entgegengesetzten aus be-stimmten Vordersätzen bestellt, so braucht der Geg-ner bei Bekämpfung eines sophistischen Schlussesnicht über die Zweideutigkeit und Gleichnamigkeit imAllgemeinen zu sprechen, da er selbst keinen Schlussaufstellt; sondern er hat nur den verschiedenen Sinnder Sätze darzulegen, damit der gezogene Schlusssich als eine blos scheinbare Widerlegung ergebe.Man hat sich deshalb hier nicht vor der wirklichenWiderlegung, sondern vor der blos scheinbaren inAcht zu nehmen, da Fragen mit zweideutigen Wortenund mehrfachem Sinne, sowie andere dergleichen ver-fängliche Mittel sowohl die wahre Widerlegung

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verdunkeln, wie nicht erkennen lassen, ob der Ant-wortende widerlegt ist, oder nicht; denn zuletzt ist esdann dem Widerlegten immer noch erlaubt, zu sagen,dass dasjenige nicht widerlegt worden sei, was er be-hauptet habe, da das betreffende Wort Verschiedenesbezeichne. Wenn er daher auch noch so sehr dasselbewie der Gegner gemeint hat, so bleibt es doch unge-wiss, ob er widerlegt worden, da man nicht wissenkann, ob er jetzt es ernstlich meint. Wären dagegenbei einer Frage die verschiedenen Bedeutungen vorherauseinandergelegt worden, so wäre die sophistischeWiderlegung leicht erkannt worden. Das was früherdie auf den Streit Ausgehenden mehr, als jetzt, ver-langten, nämlich dass der Gegner blos mit Ja oderNein das Gefragte beantworten solle, würde dannauch jetzt geschehen können. Da aber jetzt nicht mehrrichtig gefragt wird, müssen die Befragten einen Theilder Frage in ihre Antwort mit aufnehmen, um denMangel der Frage zu beseitigen; wird jedoch gehörigbei der Frage unterschieden, so muss allerdings derAntwortende darauf mit Ja oder Nein antworten.Wenn man annähme, dass die auf eine Zweideutigkeitsich stützende Widerlegung eine wahre Widerlegungsei, so könnte der Antwortende kaum der Widerle-gung entgehen; denn bei sichtbaren Gegenständenmuss er bald das Wort, was er gebraucht hat, vernei-nen, bald das, was er verneint hat, gebrauchen. Auch

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nützt das Mittel, womit Manche sich hier helfen wol-len, nichts. Sie sagen nämlich nicht, Koriskos ist ge-bildet und ungebildet, sondern dieser Koriskos ist ge-bildet und dieser Koriskos ungebildet. Allein dieRede bleibt dieselbe, ob ich »Koriskos«, oder »diesenKoriskos« gebildet oder ungebildet nenne, denn esbleibt immer bei der, beide zugleich treffenden Ver-neinung oder Bejahung. Indess bezeichnet der letztereAusdruck doch wohl nicht dasselbe, und wohl auchder blosse Name vorher nicht; es ist also allerdingsein Unterschied vorhanden. Wollte man aber sich sohelfen, dass man bei dem ersten einfach Koriskossagte und bei dem andern das »ein« oder »dieser« hin-zusetzte, so wäre dies verkehrt; denn diese Bezeich-nung kommt auch dem ersten zu, und es kommt keinUnterschied heraus, mag man das »dieser« dem einenoder dem andern zusetzen.

Da indess, wenn der Antwortende die Zweideutig-keit nicht aufdeckt, es ungewiss bleibt, ob er wider-legt worden ist, oder nicht, so ist, da in den Disputa-tionen diese Aufdeckung erlaubt ist, klar, dass es einFehler ist, wenn er diese Aufdeckung nicht vornimmt,sondern die Frage einfach zugiebt, und es gleicht dannseine Rede einer widerlegten, wenn auch nicht erselbst widerlegt worden ist. Indess kommt es oft vor,dass der Antwortende zwar die Zweideutigkeit be-merkt, aber zaudert, sie aufzudecken, wegen der

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Mienen derer, welche mit dergleichen Zweideutigkei-ten sich wappnen, und weil er den Schein vermeidenwill, als sei er über alles unzufrieden; auch glaubt erwohl nicht, dass daraus die Widerlegung entnommenwerden dürfte, und so begegnet es ihm, dass etwasUnglaubwürdiges gegen ihn bewiesen wird. Ist alsodie Aufdeckung der Zweideutigkeit gestattet, so darfer, wie ich vorher gesagt habe, damit nicht zögern.

Wenn der Fragende aus zwei Fragen nicht einemachte, so würde auch der auf die Zweideutigkeit ge-stützte Fehlschluss nicht gelingen, sondern es würdesich entweder eine wahre Widerlegung oder gar keineergeben. Denn was ist da für ein Unterschied zwi-schen dem Fall, wo gefragt wird, ob Kallias und The-mistokles gebildet seien, und dem Fall, dass Beidedenselben Namen führen, aber doch verschiedene Per-sonen sind? Denn wenn der Name mehr als Eines be-zeichnet, so ist auch mehr als Eines gefragt worden.Wenn es also unrichtig ist, auf zwei Fragen eine Ant-wort mit einfachem Sinn zu verlangen, so erhellt, dassNiemand auf eine zweideutige Frage einfach zu ant-worten braucht, selbst wenn auch die Antwort für alleBedeutungen derselben richtig wäre, für welchen Falles Manche verlangen. Denn dies ist ebenso, als wennman früge: Sind Koriskos und Kallias zu Hause, odernicht zu Hause? mögen nun beide zu Hause sein odernicht beide; denn in beiden Fällen sind es mehrere

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Sätze, und wenn man auch beide Fragen mit einerAntwort richtig beantworten kann, so wird dadurchdie Frage doch nicht zu einer. Es ist ja möglich, dassman selbst zehntausend gestellte verschiedene Fragenmit einem Ja oder Nein richtig beantworten kann; al-lein deshalb darf man sie doch nicht mit einer Ant-wort beantworten, da das Zwiegespräch dadurch auf-gehoben wird. Es ist dies ebenso, als wenn man ver-schiedenen Dingen denselben Namen gäbe. Darf manalso auf mehrere Fragen nicht mit einer Antwort ant-worten, so erhellt, dass man auch zweideutige Fragennicht mit Ja oder Nein beantworten darf; denn wenndies geschieht, hat der Betreffende nicht geantwortet,sondern nur gesprochen. Trotzdem wird bei dem Dis-putiren dies verlangt, weil von dem Gefragten nichtimmer bemerkt wird, was daraus gefolgert werdenkann.

So wie nun nach dem Bisherigen manche Widerle-gungen keine sind, aber den Schein solcher haben, sogiebt es auf dieselbe Weise auch Auflösungen dersel-ben, welche zwar solche zu sein scheinen, aber keinesind, und ich habe bereits gesagt, dass man diesescheinbaren Lösungen mitunter als die wirklichen beidem streitsüchtigen Disputiren und bei Aufdeckungder Zweideutigkeiten benutzen solle. Auf Fragen, dieetwas Wahrscheinliches betreffen, hat man mit denWorten: Es mag so sein, zu antworten; dann wird

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man sich am wenigsten einer sophistischen Widerle-gung aussetzen; muss man aber etwas Unglaubwürdi-ges sagen, so muss man da besonders hinzufügen,dass es so scheine, denn dann wird weder eine sophi-stische Widerlegung erfolgen, noch etwas Unglaub-würdiges nachgewiesen werden können. Da bekanntist, wie das erst zu Beweisende in den Vordersätzenals schon bewiesen aufgenommen zu werden pflegt,und Alle glauben, dass, wenn die Widerlegung nahebevorsteht, man Einzelnes umstossen und nicht ein-räumen müsse, weil es erst zu beweisen sei und nichtals schon bewiesen behandelt werden dürfe, so mussman, wenn der Fragende etwas behauptet, was zwareine nothwendige Folge des Streitsatzes, aber falschoder unglaubwürdig ist, von demselben Mittel Ge-brauch machen; denn das, was nothwendig aus demStreitsatze sich ergiebt, gehört ja auch zu dem Streit-satz selbst. Wenn ferner der Fragende das Allgemeinenicht mit einem bestimmten Namen, sondern ver-gleichsweise bezeichnet, so muss man geltend ma-chen, dass er das Allgemeine nicht in dem Sinnenehme, wie es zugestanden und wie es von ihm zu-nächst aufgestellt worden sei; denn auch auf solcheWeise wird oft eine sophistische Widerlegung herbei-geführt. Wenn aber alle diese Mittel nicht anwendbarsind, so muss man zu der Behauptung schreiten, dassder Beweis nicht richtig geführt sei, indem man dem

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Gegner unter Benutzung der früher von der Widerle-gung angegebenen Definition entgegentritt.

Bei den im eigentlichen Sinne gebrauchten Wortenmuss man entweder einfach, oder mit Unterscheidungder einzelnen Fälle antworten; bei dem aber, was mannoch in einem anderen Sinne verstehen kann, also wonicht deutlich, sondern unvollständig gefragt worden,da kann eine Widerlegung zu Stande kommen; sokann z.B. bei der Frage: Ist das, was zu Athen gehört,Eigenthum von Athen? eine solche Widerlegung ge-schehen, wenn der Gefragte darauf mit Ja antwortet.Aehnlich stellt man Fragen, z.B. die andere Frage: Obder Mensch zu den Geschöpfen gehört? Antwort: Ja;also schliesst der Fragende, ist der Mensch das Eigen-thum der Geschöpfe. - Denn vom Menschen sagtman, er gehört zu den Geschöpfen, weil er ein Ge-schöpf ist und von dem Lysander sagt man, er gehörtzu den Lacedämoniern, weil er ein solcher ist. Es istalso klar, dass man unklar gestellte Fragen nicht ein-fach zugestehen darf.

Wenn von zwei Bestimmungen, sofern die eine be-steht, nothwendig auch die andere bestehen muss, um-gekehrt aber aus dem Bestehen der letzteren nicht dasder ersteren nothwendig folgt, so hat man in solchenFällen eher das Geringere zuzugeben, da dem Fragen-den es schwer fällt, aus mehreren Sätzen seinen Be-weis zu führen. Wenn aber der Fragende einwendet,

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dass für die eine Bestimmung ein Gegentheil bestehe,aber nicht für die andere, so muss der Antwortende,wenn dies richtig ist, behaupten, dass auch für letztereein Gegentheil bestehe, nur fehle der Name dafür.

Es giebt Manches, wo die Menge, wenn der Ant-wortende es nicht zugesteht, sagen dürfte, dass er un-wahr spreche; bei Anderem ist dies aber nicht derFall, wie da, wo die Meinungen getheilt sind (so giltes für die Menge nicht als ausgemacht, ob die Seelender Thiere vergehen oder unsterblich sind). Wo es nunungewiss ist, wie die alternative Frage von der Mengeentschieden zu werden pflegt, da muss man eher so,wie die Sinnsprüche es thun antworten; denn Sinn-sprüche nennt man sowohl die richtigen Aussprüche,wie die allgemeinen Verneinungen, z.B. dass für dieDiagonale und die Seiten eines Quadrats kein gemein-sames Mass bestehe. Auch kann der Antwortende da,wo über eine Frage verschiedene Ansichten bestehen,der Widerlegung am leichtesten entgehen, wenn er inden Worten des Streitsatzes wechselt. Hier wird mansein Verfahren nicht für sophistisch halten, weil esunklar ist, auf welcher Seite die Wahrheit ist, und beider Verschiedenheit der Ansichten wird er nicht alseiner gelten, der Falsches behauptet, während derWechsel in den Worten seinen Ausspruch unwider-legbar machen wird.

Ferner muss der Antwortende in Bezug auf die

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Fragen, welche er voraussieht, im voraus Einwürfemachen und sie im voraus aufstellen; denn auf dieseWeise wird er dem Fragenden am besten entgegentre-ten.

Achtzehntes Kapitel

Die wahre Auflösung besteht in der Aufdeckungdes falschen Schlusses und in der Bezeichnungderjenigen Frage, vermittelst welcher das Falsche ge-folgert worden ist. Der falsche Schluss ist aber eindoppelter (entweder ist es ein logisch richtiger, abermateriell falscher Schluss, oder der Schluss ist nurscheinbar ein Schluss, aber nicht wirklich). Einewahre Auflösung befasst daher bei den blos scheinba-ren Schlüssen auch die Aufzeigung der Frage, durchwelche der Schein eines Schlusses vom Gegner er-reicht worden ist. Die Aufdeckung der logisch richti-gen Schlüsse erfolgt somit durch Widerlegung, unddie der nur scheinbaren Schlüsse durch Trennung undTheilung. Da nun die logisch richtigen Schlüsse ent-weder einen materiell richtigen, oder materiell fal-schen Schlusssatz haben, so lassen sich die letzterenin zwiefacher Weise auflösen; entweder kann manEtwas von dem Gefragten widerlegen, oder man kannzeigen, dass der Schlusssatz nicht wahr ist. Wenn der

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Fehler in den Vordersätzen liegt, so muss man dasFalsche in diesen widerlegen, denn der Schlusssatz istda richtig gezogen. Wer also die sophistischen Be-gründungen auflösen will, der muss zunächst prüfen,ob logisch richtig geschlossen ist, oder nicht; dem-nächst, ob der Schlusssatz materiell wahr ist, oderfalsch. Man muss also durch Zertheilung oder durchWiderlegung die Auflösung vollführen, und zwar dieWiderlegung entweder auf eine oder die andere derbeiden vorhin angegebenen Weisen. Es ist aber eingrosser Unterschied, ob man beim Disputiren eineBegründung auflösen soll, oder ob dies ausserhalbdes Disputirens geschehen soll; denn das Vorausse-hen des Kommenden ist schwer, dagegen in Mussedas Geschehene zu übersehen, ist leichter.

Neunzehntes Kapitel

Bei denjenigen sophistischen Widerlegungen, wel-che sich auf die Gleichnamigkeit oder auf Zweideutig-keiten stützen, enthalten entweder die Fragen Wortemit mehreren Bedeutungen, oder der Schlusssatz istzweideutig. So ist bei dem Satze, dass der Schwei-gende spreche, der Schlusssatz doppelsinnig, aber beidem Satze, dass der Wissende nicht wisse, ist eine derFragen zweideutig. Das, was durch das

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Doppelsinnige bezeichnet wird, ist bald wirklich vor-handen, bald nicht; denn das Zweideutige bezeichnetbald ein Seiendes, bald ein Nicht-Seiendes.

Wenn die Zweideutigkeit in dem Schlusssatze liegt,so ergiebt sich für den Sophisten keine Widerlegung,wenn er nicht die Zustimmung des Antwortenden fürden Gegenstand erlangt, wie in dem Beispiele: Blindesehen; denn ohne den Gegensatz wäre hier keine Wi-derlegung vorhanden. Wo dagegen die Zweideutigkeitin den Fragen liegt, da braucht der Antwortende nichtim voraus das Zweideutige zu verneinen, weil die Be-gründung hier nicht auf diese Zweideutigkeit geht,sondern vermittelst ihrer erfolgt.

Bemerkt man gleich im Anfange das Zweideutigeder Worte oder der Rede, so muss man antworten,dass das Gefragte in gewissem Sinne wahr sei, ineinem anderen Sinne aber nicht; z.B. auf die Frage,ob der Schweigende rede, dass es in gewissem Sinneder Fall sei, in einem anderen Sinne aber nicht; eben-so ist auf die Frage, ob man das Schuldige thun solle,zu antworten, dass man Manches davon thun solle,Manches aber nicht thun solle, da das Schuldigezweideutig sei. Bemerkt man aber die Zweideutigkeitnicht sogleich im Anfange, so muss man am Schlussedie Frage zurecht stellen; so hat man z.B. auf dieFrage, ob der Schweigende spreche, zu antworten:»Nein, aber dieser Schweigende spricht«. Auch da,

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wo bei der Begründung die Zweideutigkeit in denVordersätzen liegt, ist so zu verfahren. So ist auf dieFrage: Weiss einer auch das, was er weiss? zu ant-worten: Ja, aber nicht derjenige, welcher es nur so undso weiss. Denn es ist nicht dasselbe, ob man über-haupt es nicht weiss oder ob die in einer bestimmtenArt Wissenden es nicht wissen. Ueberhaupt muss manden Fragenden, auch wenn sein Schluss allgemeinlautet, so bekämpfen, dass das, was er gesagt hat,nicht die Sache, sondern nur den Namen derselben be-treffe, und daher auch keine Widerlegung geschehensei.

Zwanzigstes Kapitel

Es ist auch klar, wie man die sophistischen Wider-legungen, welche sich auf die Trennung und Verbin-dung der Worte stützen, aufzulösen hat. Bezeichnetnämlich der Satz, je nachdem man seine Worte trenntoder verbindet, Verschiedenes, so muss der Antwor-tende das Gegentheil vom Schlusssatz behaupten.Alle solche Begründungen stützen sich auf die Ver-bindung oder Trennung der Worte; z.B. bei der Frage:Womit du sahst, dass dieser Mensch geschlagenwurde, wurde damit derselbe geschlagen? Ferner:Womit er geschlagen wurde, hast du damit ihn

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gesehen? Solche Fragen haben auch etwas von zwei-deutigen Fragen an sich, aber trotzdem gehören sie zuden auf der Verbindung der Worte beruhenden Fra-gen; denn das, was sich auf die Trennung der Wortestützt, kann nicht als zweideutig gelten, weil es nichtmehr dieselbe Rede bleibt, wenn sie getrennt wird; daja nicht einmal dasselbe Wort, oros und horos wegender verschiedenen Aussprache dasselbe bedeutet. Ge-schrieben ist es zwar dasselbe Wort, da es mit densel-ben Buchstaben in beiden Fällen und gleich geschrie-ben wird, obschon man auch da noch ein besonderesZeichen hinzufügt; aber gesprochen sind beide nichtein und dasselbe Wort, und deshalb beruht auch der,auf die Trennung der Worte sich stützende Schlussauf keinem Doppelsinn. Hieraus erhellt, dass nichtalle sophistischen Widerlegungen auf einem Doppel-sinn der gebrauchten Worte beruhen, wie von Man-chen behauptet wird.

Der Antwortende muss also die Worte der Fragetrennen, denn: Mit den Augen sehen, dass jemand ge-schlagen wird, ist nicht dasselbe, als wenn man sagt,man sehe, dass jemand mit den Augen geschlagenwerde. Der Art ist auch die Frage des Euthydemos:Kennst du, während du in Sizilien bist, jetzt im Pi-raeos liegende Schiffe. Ferner: Kann man als einGuter ein Schlechter sein. Es kann aber ein Guter einschlechter Schuster sein; also wird ein guter Schuster

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ein schlechter Schuster sein. Ferner ist es gut, das zulernen, was zu wissen gut ist? Nun ist das Lernen desBösen ein Gutes, also ist das Böse ein Gutes-Lernen.Allein es giebt ein Böses und auch ein Lernen desBösen, also ist das Lernen des Bösen etwas Böses,aber es ist gut, dass man das Böse kennen lerne. Fer-ner: Ist es jetzt wahr, dass Du geboren bist? Antwort:Ja; also bist Du jetzt geboren. Allein, wenn man dieWorte der Frage sondert, so bedeutet sie etwas Ande-res; denn man kann in Wahrheit jetzt sagen, dass Dugeboren bist, aber nicht, dass Du jetzt geboren bist. -Ferner die Frage: Wirst Du das auch so thun, wie Dues kannst und was Du kannst? Antwort: Ja. Nunspielst Du die Zither jetzt nicht, obgleich Du sie spie-len kannst, also spielst Du die Zither, wenn Du sienicht spielst. Allein man kann die Zither nicht in derZeit spielen, wo man sie nicht spielt, aber wenn mansie nicht spielt, hat man doch das Vermögen, es zuthun.

Manche lösen diesen Fall auch in anderer Weise.Denn wenn der Antwortende zugegeben habe, dass erdie Zither spielen könne, so folge nach ihrer Meinungnicht dass er sie, auch wenn er sie nicht spielt, spiele;denn, er habe nicht ganz so zugegeben, dass er esthue, wie er es thun könne; es sei vielmehr nicht das-selbe, ob man sage, dass man es könne und dass mandurchaus es thue, wie man es könne. Indess ist dies

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keine gute Lösung; denn für Schlüsse, die sich aufdieselben Gründe stützen, muss auch die Lösung die-selbe sein, während diese letztere Lösung auf alle Ge-fragten und nicht auf alle Fragestellungen passt; dennsie richtet sich gegen den Fragenden und nicht gegenseine Begründung.

Einundzwanzigstes Kapitel

Sophistische Widerlegungen, welche sich auf dieBetonung stützen, giebt es weder geschriebene, nochgesprochene, mit Ausnahme einiger wenigen Fälle,wie z.B. bei folgender Rede: Ist das, was Du zer-störst, nicht ein Haus? Antwort: Ja. Ist nun dasNicht-zerstören die Verneinung des Zerstörens? Ant-wort: Ja. Nun hast Du aber gesagt, dass das, was Duzerstörst, ein Haus sei, also ist das Haus eine Vernei-nung. Hier ist klar, wie diese Begründung zu lösenist, indem die schärfere und die schwächere Ausspra-che eines Wortes nicht dasselbe bedeutet.

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Es ist auch klar, wie man den sophistischen Wider-legungen, welche sich darauf stützen, dass Verschie-denes in der Sprache gleich behandelt wird, entgegen-zutreten hat; dazu hat man nämlich die verschiedenenGattungen der Kategorieen zu benutzen. Hier hat z.B.der Eine auf Befragen zugegeben, dass von dem, wasein selbstständiges Ding bezeichnet, keines von einemanderen Dinge ausgesagt werde; der Andere hat abergezeigt, dass etwas von den Beziehungen, oder vonden Grossen auch von anderen Dingen ausgesagtwerde und dabei nach der Ausdrucksweise etwasSelbstständiges bezeichne, wie dies z.B. in folgenderBegründung der Fall ist: Ist es wohl möglich, dassman dasselbe zugleich thut und gethan hat? Antwort:Nein. Aber es ist doch möglich, dass man dasselbeund in Bezug auf dasselbe zugleich sieht und gesehenhat. Ferner: Ist einer von den leidenden Zuständenauch ein thuender Zustand? Antwort: Nein. Nun wer-den aber die Ausdrücke: Es wird zerschnitten, es wirdverbrannt, es wird wahrgenommen in gleicher Weisegesprochen und bezeichnen alle ein Leiden. Fernerwerden die Worte: Sprechen, Laufen, Sehen in glei-cher Weise eines wie das andere gesprochen; nun istaber das Sehen ein Wahrnehmen, und somit ist ein

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und dasselbe zugleich ein Leiden und ein Thun. -Wenn nun auch hier jemand zugiebt, dass es unmög-lich sei, dass ein und dasselbe zugleich thue und ge-than habe aber für das Sehen und Gesehen-haben diesals möglich zugiebt, so ist er deshalb doch noch nichtwiderlegt, sofern er nur das Sehen nicht als ein Han-deln, sondern nur als ein Leiden anerkennt. Denn einehierauf gerichtete Frage ist zur Widerlegung noch nö-thig. Indess wird von dem Gegner angenommen, dassder Gefragte dies zugestanden habe, weil er einge-räumt hat, dass das Schneiden ein Thun und das Ge-schnitten-haben ein Gethan-haben sei und dass Glei-ches bei Allem gelte, was ebenso sprachlich behandeltwerde; denn der Zuhörende setzt dann das Uebrigeselbst hinzu, als wenn es sprachlich ebenso gemeintsei. Allein Manches wird nicht sprachlich gleich ge-meint, sondern scheint nur so, wegen der Ausdrucks-weise. Es ergiebt sich hier dasselbe, wie bei den zwei-deutigen Worten, da bei solchen der Antwortende,welcher die Zweideutigkeit nicht kennt, meint, dieSache und nicht das Wort verneint zu haben. Deshalbgehört hier zur Widerlegung noch die Frage, ob derAntwortende das zweideutige Wort in ein und dem-selben Sinne meine; nur wenn er dies zugiebt, kommtdie Widerlegung zu Stande.

Diesen ähnlich sind folgende Redensarten: Ob der-jenige das, was er hatte und nachher nicht mehr hat,

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verloren habe? Denn der, welcher nur einen Würfelverliert, wird nicht mehr zehn Würfel haben. Alleinein Ding, was man nicht mehr hat, aber früher hatte,dieses hat man allerdings verloren; hat man aber nichtmehr so viel oder so viele, wie früher, so ist es nichtnothwendig, dass man ebenso viel verloren habe. Der,welcher nach dem fragt, was man hat, bezieht dies aufdie Anzahl; denn die Zehn gehört zu den Grössen.Wenn also gleich im Anfange der Fragende gefragthätte, ob, im Fall Jemand nicht mehr so Vieles habe,wie früher, er so Vieles verloren habe, so würde diesNiemand zugegeben haben, sondern nur, dass er ent-weder ebenso Vieles oder etwas davon verlorenhabe. - Ebenso ist es mit der Behauptung, dass Je-mand das gebe, was er nicht habe; denn er habe nichtblos einen Würfel. Allein er hat nicht ein Ding gege-ben, was er nicht hatte, sondern wie er es nicht hatte,nämlich den einen Würfel; denn das »blos« bezeich-net weder ein selbstständiges Ding, noch eine Be-schaffenheit, noch eine Grösse, sondern ein Verhält-niss zu Anderem, z.B. dass es nicht mit Anderem ge-meinsam geschehen sei. Es ist ebenso, als wenn Je-mand früge: Kann man das geben, was man nicht hat?und wenn dies nicht eingeräumt wird, er früge: Obman das schnell geben könne, was man nicht schnellhabe und er bei dessen Bejahung nun folgerte, dassman das gäbe, was man nicht habe. Dies ist offenbar

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kein Schluss, denn das »schnell« bezeichnet nicht dasGeben einer Sache, sondern nur die Art des Gebens;und deshalb kann man allerdings etwas in einer Artgeben, wie man es nicht hat, z.B. wenn man es gernhat und ungern weggiebt.

Dem ähnlich sind auch solche Schlüsse, wie diefolgenden: Kann man wohl mit einer Hand schlagen,wenn man sie nicht hat? Oder: Kann man wohl miteinem Auge sehen, wenn man es nicht hat? Antwort:Allerdings, denn man hat nicht blos eine Hand undnicht blos ein Auge. Manche lösen diesen Fall so,dass sie sagen, auch der habe ein Auge oder sonstEines, welcher deren mehrere habe. Manche lösen denSatz, dass einer, was er hat, bekommen habe, in derWeise, dass er es so habe, wie er es bekommen; dennjener habe blos ein Steinchen gegeben und dieserhabe blos ein Steinchen von jenem bekommen. Ande-re wollen jedoch die Frage damit beseitigen, dass siesagen, es sei sehr wohl möglich, dass man das habe,was man nicht bekommen habe; so habe man süssenWein bekommen, habe aber, da er währenddem ver-dorben sei, saueren. Indess gehen diese Lösungen,wie ich schon früher bemerkt habe, sämmtlich nichtgegen die Rede, sondern gegen die Person. Dennwenn dies eine wahre Lösung wäre, so könnte der,welcher denjenigen Satz zugiebt, dessen Unwahrheitdie richtige Lösung darthut, den sophistischen

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Schluss nicht auflösen, und dies gilt auch für die an-deren Fälle. Wenn z.B. die wahre Auflösung darin be-steht, dass man das Gefragte nur theilweise zugiebtund theilweise nicht, so gelangt, wenn man die Frageunbeschränkt zugiebt, der Fragende in solchem Fallezu einem richtigen Schlusssatz, und es gelingt die vonihm unternommene Widerlegung. Wenn also selbstmit Beibehaltung dessen, worin nach der Auflösungdes Antwortenden der Fehler liegen solle, kein wider-legender Schlusssatz sich ergiebt, so ist dann auchdiese Auflösung eine falsche. Nun können in allenden vorerwähnten Beispielen alle Vordersätze zuge-geben werden, und dennoch kann man nicht sagen,dass der Schluss sich daraus ergebe.

Auch folgende Fälle sind dieser Art: Was geschrie-ben ist, das hat Jemand geschrieben; nun steht jetztgeschrieben, dass Du sitzest; dies ist falsch; aber eswar richtig, als es geschrieben wurde; also hat manetwas Falsches und zugleich Wahres geschrieben. In-dess bezeichnet das »falsch« oder »wahr«, was eineRede oder Meinung sein soll, keinen selbstständigenGegenstand, sondern nur eine Beschaffenheit; dersel-be Grund gilt auch für die Meinung. Ferner: Ist das,was der Lernende lernt, dasjenige, was er lernt? Ant-wort: Ja; aber er lernt doch das Langsame schnell.Also hat die Frage nicht den Gegenstand des Lernens,sondern die Art des Lernens gemein. Ferner: Betritt

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man das, was man durchgeht? Antwort: Ja. Er gehtaber den ganzen Tag durch, also betritt er den Tag. -Hier ist aber nicht der Gegenstand, sondern die Zeitdes Gehens in der Frage gemeint; wie man ja auch beidem: Einen Becher trinken, nicht meint, dass man denGegenstand trinke, sondern nur aus demselben. Fer-ner: Weiss Einer das, was er weiss, entweder durchBelehrung oder durch eigene Auffindung? Antwort:Ja. Aber was dann einer theils gelernt, theils selbstaufgefunden hat, das ist keines von Beiden. - Alleinhier wird einmal alles zusammen, und dann wiederjedes einzeln gemeint. Ferner, dass es noch einen drit-ten Menschen gebe, neben dem Menschen an sich undneben dem einzelnen Menschen. - Allein der Menschund alles Gemeinsame bezeichnet nicht ein bestimm-tes Dieses, sondern etwas Beschaffenes, oder Bezoge-nes, oder ein nur Seiendes, oder sonst etwas derglei-chen. Es ist ebenso, wie mit dem Koriskos und demgebildeten Koriskos bei der Frage, ob sie dieselbenoder verschieden sind; das eine bezeichnet einen die-sen, das andere einen so beschaffenen; man kann alsoletzteren nicht für sich als selbstständig heraussetzen.Indess macht nicht das Heraussetzen schon den drit-ten Menschen, sondern nur das Einräumen, dass er soeiner, wie dieser einzelne Mensch sei; denn das: »Kal-lias-Sein« und das: »Mensch-Sein«, bezeichnet nichtdas: »dieser einzelne Sein«. Auch macht es keinen

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Unterschied, wenn jemand sagt, das Herausgesetztewerde nicht als ein dieses, sondern als ein Beschaffe-nes gemeint, denn das »neben den Vielen« wird Einessein, wie z.B. der Mensch. Es ist also klar, dass mannicht zugeben darf, dass das als ein Gemeinsames vonallen Ausgesagte ein Dieses sei, sondern es sei einBeschaffenes, oder ein Bezogenes, oder ein Grosses,oder sonst etwas der Art.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Ueberhaupt stützt sich bei den sophistischen Wi-derlegungen, welche die Ausdrucksweise benutzen,die Auflösung auf den Gegensatz dessen, worauf dieWiderlegung sich gründet. Stützt sich also diese aufeine besondere Verbindung der Worte, so geht dieAuflösung auf Trennung dieser Worte, und stützt sichjene auf deren Trennung, so diese auf deren Verbin-dung. Beruht ferner die Widerlegung auf einer schar-fen Betonung, so liegt die Auflösung in der schwa-chen Betonung und umgekehrt. Beruht die Widerle-gung auf der Gleichnamigkeit, so liegt die Lösung inder Angabe des entgegengesetzten Wortsinnes ; fol-gert z.B. der Fragende, dass also ein Lebendiges spre-che, so muss man dies bestreiten, indem man klarlegt, in welcher Weise hier das Lebendige zu

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verstehen ist. Hat der Fragende aber ein Lebloses auf-gestellt und in seinem Schluss es als lebendig erwie-sen, so muss man darlegen, wie dieses Leblose zuverstehen sei. Aehnliches gilt für die Zweideutigkei-ten. Stützt sich aber die Widerlegung auf die Gleich-heit des sprachlichen Ausdrucks, so liegt die Auflö-sung in dem Entgegengesetzten. Auf die Frage, ob je-mand wohl das, was er nicht hat, geben könne, mussman entgegnen, dass dies nicht für den Gegenstand,aber für die Art des Gebens statt haben könne, wiez.B. den einen Würfel. Wenn ferner die Frage lautet:Weiss man das, was man weiss, entweder durch Be-lehrung, oder durch Auffindung? so entgegne man,dass man nicht alles, was man weiss, entweder blosdurch Auffindung oder blos durch Belehrung wisse;und auf die Frage, ob jemand das betritt, was er be-geht, muss man entgegnen, dass der darauf gestützteSchluss die Zeit und nicht den betretenen Ort betreffe.Auch bei den übrigen Fällen dieser Art hat man so zuverfahren.

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Für die auf das Nebensächliche sich stützenden so-phistischen Widerlegungen giebt es nur eine Art derLösung für alle. Denn da es unbestimmt ist, ob dasdem Nebensächlichen Zukommende auch von derSache selbst ausgesagt werden könne und dies zwarin einzelnen Fällen statt hat und behauptet wird, beianderen Fällen aber nicht, so muss man entgegnen,dass das dem Nebensächlichen Zukommende nichtnothwendig auch der Sache allemal zukomme; dochmuss man Beispiele dafür zur Hand haben. Die hierfolgenden Fälle stützen sich sämmtlich auf das Ne-bensächliche; nämlich: Weisst Du, was ich Dich fra-gen werde? Kennst Du den Vorübergehenden oderden Verhüllten? Ist die Bildsäule Dein Werk? Ist derHund Dein, Vater? Ist das Wenigemal-Wenig wenig?

Es ist klar, dass in allen diesen Fällen das für dasNebensächliche Geltende nicht auch für den Gegen-stand selbst gilt. Nur wenn das Nebensächliche undder Gegenstand selbst dem Wesen nach dasselbe undeine sind, so kommt alles, was jenem zukommt, auchdiesem zu; nun ist aber für das Gut sein dessen Gutsein und das Gefragt werden nicht dasselbe. Ferner istes für den Herankommenden oder für den Verhülltennicht ein und dasselbe, ein Herankommender und ein

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Koriskos zu sein. Wenn ich daher auch den Koriskoskenne und den Herankommenden nicht kenne, so wirddoch derselbe Gegenstand nicht von mir zugleich ge-kannt und nicht gekannt. Ebenso ist, wenn dieseSache mein ist und die Sache ein Werk ist, deshalbdie Sache noch nicht mein Werk, sondern mein Be-sitzthum, oder meine Sache, oder sie ist sonst wiemein. Ebendies gilt auch für die anderen Fälle.

Manche lösen diese Fälle dadurch, dass sie dieFrage aufheben. Sie behaupten nämlich, dass mandenselben Gegenstand sowohl wissen oder kennen,wie nicht wissen oder nicht kennen kann. Wenn manalso den Herankommenden nicht kenne, aber den Ko-riskos kenne, so behaupten sie, dass man denselbenGegenstand sowohl kenne, wie nicht kenne, nur nichtin Beziehung auf ein und dieselbe Bestimmung. In-dess muss, wie ich schon gesagt habe, für alle Be-gründungen, die sich auf dieses Mittel stützen, auchein und dieselbe Art der Lösung statt finden; dieswürde aber nicht der Fall sein, wenn derselbe Satznicht für das Wissen oder Kennen, sondern für dasSein oder für ein sonstiges Verhalten aufgestellt wird;z.B. wenn gesagt wird: Wenn dieser Hund Vater ist,so ist er dein Vater. Wenn auch in manchen Fällen eswahr und möglich ist, dass man denselben Gegen-stand kennt und nicht kennt, so ist doch hier dieseAuflösung nicht anwendbar. - Auch kann ja eine

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Begründung an mehreren Fehlern leiden, und es istdann die Offenlegung irgendwelches einzelnen Feh-lers noch keine Lösung, da man sehr wohl darlegenkann, dass der Gegner Falsches geschlossen habe,ohne dass man doch gezeigt hat, durch was dies ge-schehen; wie z.B. bei des Zeno Beweis, dass es keineBewegung gebe. Selbst wenn jemand hier versuchte,die Unmöglichkeit des von Zeno Behaupteten darzu-legen, so wäre dies doch keine Lösung, selbst wenn ertausendmal dies bewiesen hätte, da dies keine Lösungist. Diese hat nämlich die falsche Stelle des Schlussesoffen zu legen, wodurch er falsch wird; ist also nichtlogisch richtig vom Gegner geschlossen worden,gleichviel ob er einen wahren oder falschen Satzdamit begründen will, so liegt die Lösung doch alleinin der Offenlegung des logisch mangelhaften Verfah-rens. Wenn nun auch diese von Manchen behaupteteLösung mitunter zutreffen mag, so würde dies dochnicht einmal bei dem obigen Beispiel der Fall sein,denn der Betreffende weiss, dass Koriskos Koriskosist und dass der Herankommende ein Herankommen-der ist. Indess ist es wohl möglich, dass man ein unddenselben kennt und nicht kennt; z.B. dass manweiss, dass er von heller Farbe ist und nicht weiss,dass er gebildet ist; in dieser Weise kann man densel-ben Gegenstand zugleich kennen und nicht kennen,nur nicht in Beziehung auf dieselbe Bestimmung,

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dagegen kennt man den Herankommenden und denKoriskos, nämlich man weiss, das jener herankommtund dieser Koriskos ist.

Aehnlich ist der Fehler derer, welche den früher er-wähnten Fall dahin lösen, dass jede Zahl auch wenigsei. Ist nämlich überhaupt nicht richtig geschlossenworden, so fehlen sie darin, dass sie dies bei Seite las-sen und den Schlusssatz für einen wahren erklären, daAlles ebensowohl viel, wie wenig sei.

Andere wollen solche Beweise, wie z.B., dass derVater, oder der Sohn, oder der Sklave deiner sei,damit widerlegen, dass sie einen Doppelsinn in den-selben behaupten. Allein offenbar muss bei einer Wi-derlegung, welche sich auf die Mehrdeutigkeit stützt,das Wort, oder die Rede im eigentlichen Sinne mehr-deutig sein; wenn aber jemand sagt, dieser sei dasKind von jenem, so gebraucht er diese Worte, wennjener der Herr desselben ist, nicht im eigentlichenSinne, es ist also hier keine Zweideutigkeit vorhan-den, sondern der sophistische Schluss stützt sich aufdie falsche Benutzung eines blos Nebensächlichen,oder auf eine falsche Verbindung der Worte; denn derBeweis lautet: Ist dieser da dein? Ja; es ist aber dieserein Kind, also ist es dein Kind. Hier ist allerdings die-ser Mensch nebensächlich der deine und auch einKind, aber nicht dein Kind.

Ebenso ist es bei dem Schluss, dass von den

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Uebeln eines ein Gut sei, weil die Klugheit eineKenntniss der Uebel sei; denn dass dieses eines jenersei, ist nicht eine zweideutige Rede, sondern bezeich-net das Zugehören. Aber selbst wenn diese Aus-drucksweise zweideutig wäre (denn man sagt ja auch,dass von den Geschöpfen eines der Mensch sei, ohnedass er deshalb denselben zugehören solle), so wäre,wenn etwas zu den Uebeln mit der obigen Ausdrucks-weise gerechnet wird, dies auch nur vermittelst einesanderen Umstandes ein Uebel, aber nicht als solchesein Uebel. Der falsche Schluss liegt also in der Ver-tauschung des Beziehungsweisen und des Ansich. In-dess kann allerdings der Satz, dass ein Gut eines vonden Uebeln sei, wohl zweideutig sein, aber nicht beijener Ausdrucksweise, sondern eher dann, wenn derGegenstand der gute Sklave eines Schlechten wäre;indess wäre wohl auch hier keine Zweideutigkeit vor-handen; denn wenn etwas gut ist und diesem gehört,so ist es nicht ein von diesem ausgesagtes Gut. Eben-so wenig ist der Ausspruch zweideutig, dass der Ge-schöpfe eines der Mensch ist; denn es ist keine Zwei-deutigkeit, wenn man etwas unter Weglassung einzel-ner Worte andeutet, z.B. wenn man auch nur die Hälf-te des Anfangs von der Iliade sagt, also, gieb mir:Singe O Göttin den Zorn, statt: gieb mir die Iliade.

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Diejenigen Beweise der Sophisten, welche sichdarauf stützen, dass etwas eigentlich und an sich, oderin einer Beschränkung durch wohin, oder wie, oderwo, oder in einer Beziehung und nicht an sich gemeintwird, müssen dadurch aufgelöst werden, dass man un-tersucht, wie der widerlegende Schlusssatz sich zueiner wirklichen Verneinung der Thesis verhält, undob er einen Mangel dieser Art enthält. Denn das Ge-gentheilige und das sich Widersprechende, ebenso dieBejahung und Verneinung können an sich ein unddemselben Gegenstand nicht einwohnen; dagegensteht nichts entgegen, dass jedes von beiden in irgendeiner Beschränkung oder blos beziehungsweise und ingewisser Beschaffenheit demselben Gegenstand ein-wohnt oder auch, dass das eine unbeschränkt und dasandere in gewisser Weise ihm zukommt, so dass,wenn das eine überhaupt, das andere aber beschränktgemeint ist, die Widerlegung nicht statt hat. Manmuss also bei dem Schlusssatz der Widerlegung inBetracht nehmen, wie sich derselbe zu einer wirkli-chen Verneinung der Thesis verhält.

Alle hierher gehörigen Widerlegungen verhaltensich aber so, z.B.: Kann das Nicht-Seiende sein? -Nein! - Aber es ist doch ein Nicht-Seiendes! -

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Ebenso wird auch das Seiende nicht-sein, denn eswird nicht-sein etwas von dem Seienden. Ferner:Kann derselbe Mensch zugleich wahr schwören undfalsch schwören? Und kann derselbe Mensch demsel-ben anderen Menschen zugleich glauben undnicht-glauben? -

Allein das »Etwas sein« und das »Sein überhaupt«ist nicht dasselbe; das Nicht-Seiende aber ist nicht einsolches überhaupt, wenn es doch etwas ist. Ebensowenig schwört der, welcher dieses oder in dieserWeise wahr schwört, überhaupt wahr, und wer ge-schworen hat, dass er falsch schwören werde, schwörtwahr, wenn er nur dieses falsch beschwört, aber erschwört nicht an sich wahr. Ebenso glaubt der Un-gläubige nicht überhaupt nicht, sondern er glaubt nuretwas nicht. Ebenso verhält es sich mit dem Aus-spruch, dass derselbe Mensch zugleich lüge und dieWahrheit sage, weil man aber nicht leicht übersehenkann, ob man das »die Wahrheit-Sagen« oder das»Lügen« als das im Allgemeinen Gültige zugestehensoll, so scheint der Fall schwierig zu lösen. Indesskann ja Jemand sehr wohl an sich ein Lügner sein,und doch in einer gewissen Weise oder bei einem ein-zelnen Punkte die Wahrheit sagen; ebenso kann er beieinigen Dingen wahrhaft sein und doch nicht-wahrhaft überhaupt.

Ebenso verhält es sich mit den Aussprüchen,

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welche durch Beziehungen, oder durch: wo, oder:wenn beschränkt sind; sie stimmen alle in diesemPunkte überein. Z.B. ist die Gesundheit oder derReichthum ein Gut? Wird dies bejaht, so entgegnetder Fragende, dass der Reichthum oder die Gesund-heit für den Unverständigen und für den, welcher kei-nen rechten Gebrauch davon macht, kein Gut sei; alsosei der Reichthum und die Gesundheit ein Gut undauch nicht ein Gut. Ferner: Ist das »Gesund sein«oder »die Macht im Staate Haben« gut? Aber manch-mal ist es doch besser, sie nicht zu haben; sonach istalso ein und dasselbe demselben Menschen gut undauch nicht gut. - Allein es kann sehr wohl ein an sichGutes für diesen Menschen nicht gut sein, oder eskann für ihn zwar gut sein, aber nicht jetzt, oder nichtan diesem Orte. Ferner: Ist das, was der Kluge nichtmag, ein Uebel? Nun will er aber das Gute nicht ver-lieren, also ist das Gute ein Uebel. Allein es ist nichtdasselbe, ob ich sage: das Gute ist ein Uebel, oder derVerlust des Guten ist ein Uebel. Aehnlich verhält essich mit dem Ausspruch über den Dieb; denn wennder Dieb schlecht ist, ist nicht auch das Nehmenschlecht; er will also nicht das Schlechte, sondern dasGute, denn ein Gutes zu nehmen ist gut. Auch dieKrankheit ist ein Uebel, aber nicht das Verlieren derKrankheit. Ferner: Ist nicht das Gerechte dem Unge-rechten und das gerechter-Weise dem

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ungerechter-Weise vorzuziehen? Allein das ungerech-ter-Weise-Sterben ist doch vorzuziehen? Ferner: Ist esrecht, dass jeder das Seine habe? Was aber der Rich-ter nach seiner Meinung zuspricht, das ist nach demGesetz gültig, wenn seine Meinung auch falsch ist.Somit ist ein und dasselbe zugleich gerecht und unge-recht. Ferner: Wem soll man Recht geben, dem, derGerechtes sagt, oder dem, der Ungerechtes sagt? Al-lein auch der, dem Unrecht geschehen ist, kann mitRecht sagen, was er Ungerechtes erlitten hat; dies waraber Ungerechtes. Indess ist deshalb, weil man eherein Unrecht leiden soll, das Unrecht dem Recht nichtvorzuziehen, sondern man soll überhaupt recht han-deln, was aber nicht ausschliesst, dass etwas mitRecht, oder mit Unrecht geschehen kann. Ebenso istes recht, dass man das Seinige habe und unrecht dasFremde zu haben; deshalb kann aber der richterlicheAusspruch für letzteres dennoch gerecht sein, wennder Richter dabei nach seiner Ueberzeugung entschie-den hat; denn wenn etwas nur in dieser oder jenerWeise gerecht ist, so ist es noch nicht unbedingt ge-recht. Ebenso kann man sehr wohl mit Recht Unge-rechtes sagen, denn wenn es recht ist, es zu sagen, soist es deshalb nicht nothwendig, dass das Gesagte einGerechtes ist; ebenso wie es nützlich sein mag, etwaszu sagen, ohne dass dieses selbst ein Nützliches ist.Ebenso verhält es sich mit dem Gerechten, und

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deshalb siegt nicht der, welcher Unrechtes aussagt,wenn auch das von ihm Ausgesagte wirklich Unrech-tes ist, denn er sagt nur das, was er mit Recht sagendarf, obgleich es an sich und wenn man es erleidet,ein Unrecht ist.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Denjenigen Widerlegungen, welche gegen den Be-griff der Widerlegung verstossen, muss man, wie ichfrüher angedeutet habe, in der Weise entgegentreten,dass man bei dem vom Gegner auf das Entgegenge-setzte des Streitsatzes gezogenem Schlusse unter-sucht, ob er denselben Gegenstand betrifft, von wel-chem der Streitsatz handelt, und ob er rücksichtlicheben desselben und in Beziehung auf eben denselbenlautet, und so fort, und ob er auch die gleiche Zeit be-trifft. Wird gleich anfangs der Satz aufgestellt, es seiunmöglich, dass etwas das Doppelte und auch nichtdas Doppelte sei, so muss man dies nicht zugeben,sondern es für möglich erklären, nur nicht in derWeise, dass daraus die Widerlegung abgeleitet wer-den kann. Alle diese Widerlegungen stützen sich aufsolche Mittel, z.B.: Wer jegliches kennt, dass es jegli-ches ist, kennt der den Gegenstand? und gilt dies auchebenso für den, der jegliches nicht kennt? Nun kennt

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man aber den Koriskos als den Koriskos; man weissaber nicht, dass er gebildet ist; also kennt man einund dasselbe und kennt es auch nicht. Ferner: Ist dasVierellige grösser, als das Dreiellige? Nun kann aberder Länge nach aus dem Dreielligen ein Vierelligeswerden, und das Grosse ist grösser als das Kleine,folglich ist ein und dasselbe grösser und kleiner als esselbst.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Wenn man bei den Widerlegungen, welche sichdarauf stützen, dass der im Anfang aufgestellte Satzbei der Bildung des Schlusses als ein zugegebener be-handelt wird, gefragt wird, so darf man, wenn mandies gleich anfänglich bemerkt, den Satz nicht zuge-ben, selbst wenn er glaubwürdig ist; man muss viel-mehr die Wahrheit sagen und den Fehler des Schlus-ses angeben. Hat man aber diesen Fehler nicht gleichbemerkt, so muss man, vermittelst der Fehlerhaftig-keit solcher Beweise, die Unkenntniss von sich aufden Fragenden schieben und ihm vorhalten, dass ernicht richtig disputirt habe, weil die Widerlegung sichnicht auf die Benutzung des aufgestellten Streitsatzes,als eines bereits zugestandenen, stützen dürfe; oderman kann auch sagen, dass man den Satz nicht

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zugegeben habe, damit davon bei dem Beweise Ge-brauch gemacht werden könne, sondern nur als einenSatz, gegen den vom Gegner diese Widerlegung ge-richtet werden würde, also nicht in dem Sinne, wie esbei sophistischen Widerlegungen geschieht.

Achtundzwanzigstes Kapitel

Bei den Widerlegungen, welche sich darauf stüt-zen, dass das in dem Schlusssatz Ausgesagte sich alsFolge mit ergebe, muss auf die Begründung selbsthingewiesen werden; denn diese falsche Behandlungdes Ausgesagten kann in zweifacher Weise gesche-hen; einmal, wenn das, was von dem Theile gilt, auchvon dem Ganzen behauptet wird, z.B. wenn das vomMenschen Geltende auch von dem Geschöpfe behaup-tet wird, und zweitens in Bezug auf die Gegensätze,wenn behauptet wird, dass, wenn Eines mit dieser Ei-genschaft verbunden sei, das Entgegengesetzte dannmit der entgegengesetzten Eigenschaft verbunden sei.Darauf stützt sich auch jene Begründung des Melis-sos; da nämlich das Gewordene einen Anfang hat, somöchte er behaupten, dass das Nicht-Gewordene kei-nen Anfang habe; ist also der Himmel nicht gewor-den, so sei er grenzenlos. Allein dies ist kein Beweis,weil die Verbindung umgekehrt wird.

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Wenn die Widerlegung sich darauf stützt, dass zudem Schlusse noch etwas hinzugenommen worden ist,so muss man prüfen, ob das Unmögliche, auch wennder Zusatz weggenommen wird, sich dennoch ergebe.Ist dies der Fall, so muss man dies aufdecken undsagen, dass man den Zusatz nicht als seine eigeneMeinung zugegeben habe, sondern nur, damit es derGegner zu seinem Beweise benutzen könne, dieses seiaber von ihm nicht geschehen.

Dreissigstes Kapitel

Gegen die Widerlegungen, dass mehrere Fragenwie eine gestellt werden, muss man gleich im Beginndiesen Unterschied geltend machen. Die Frage ist nurdann eine, wenn auch eine Antwort auf sie gegebenwerden kann; also darf man nicht mehrere Antwortenauf eine Frage geben, auch mehrere Fragen nicht miteiner Antwort erledigen; vielmehr muss man eineFrage nur mit einer Antwort bejahen oder verneinen.Wie nun bei verschiedenen Dingen, die einen Namenhaben, der Antwortende keine Widerlegung erleidet,wenn beiden oder keinem dieser Dinge die betreffende

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Eigenschaft zukommt und er einfach antwortet, ob-gleich die Frage keine einfache ist, so ist es auch hierder Fall. Ist nämlich das Mehrere bei dem einenDinge vorhanden, oder die eine Eigenschaft bei meh-reren Dingen, so trifft den Antwortenden keine Wider-legung, wenn er auch den Fehler begeht und nur ein-fach antwortet. Wenn aber die betreffende Eigenschaftnur dem einen Dinge anhaftet, dem anderen abernicht, und wenn mehrere Eigenschaften mehreren Din-gen zukommen, aber bald so, dass beides beiden zu-kommt, bald so, dass dies nicht statt hat, so muss mansich hier in Acht nehmen; z.B. in folgenden Fällen:Wenn das Eine gut und das Andere schlecht ist undman auf die Frage, ob beide gut oder schlecht sind,einfach antwortet: gut, oder einfach: schlecht, so kannder Gegner folgern, dass man in Wahrheit sagenkönne, ein und dasselbe sei gut und schlecht, unddann wieder, es sei weder gut, noch schlecht; dennnicht jedes von beiden ist beides, so dass es sowohlgut und schlecht, wie weder gut noch schlecht wäre. -Wenn ferner man zugiebt, dass das Eine mit sichselbst dasselbe und von dem Anderen verschieden sei,so folgt, da die beiden nicht mit anderen, sondern mitsich selbst dieselben und auch von einander verschie-den sind, dass dieselben Dinge zugleich mit sich die-selbig und verschieden sind. Ferner, wenn das Guteschlecht wird und das Schlechte zufällig gut ist, so

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werden es zwei; von zwei einander nicht-gleichenDingen ist aber jedes sich selbst gleich; also sind sieeinander gleich und auch nicht-gleich.

Solche Widerlegungen fallen auch noch unter ande-re Auflösungen; denn das: Beide und das: Alles habenmehrfache Bedeutungen; es folgt also bei solchenSchlüssen nur, dass man nur denselben Namen, abernicht denselben Gegenstand zugleich bejaht oder ver-neint, was keine Widerlegung ergiebt. Wird dagegennicht blos eine Frage über Mehreres gestellt, sonderneine Frage über jedes Einzelne und diese bejaht oderverneint, so ergiebt sich nichts Unmögliches.

Einunddreissigstes Kapitel

Rücksichtlich derjenigen sophistischen Ausführun-gen, welche den Antwortenden dazu verleiten sollen,dass er dasselbe mehrmals sagt, erhellt, dass der Ant-wortende nicht zugeben darf, dass Begriffe, die zu denBeziehungen gehören, getrennt und für sich etwas be-zeichnen, wie z.B. das Doppelte ohne die Hälfte desDoppelten, weil anscheinend das eine in dem anderenenthalten ist; denn die Zehn ist ja auch in der »Zehnweniger Eins« und das Thun in dem Nicht-Thun ent-halten, und überhaupt die Bejahung in der Vernei-nung. Aber deshalb sagt jemand mit den Worten, dass

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dieses Ding nicht weiss sei, nicht, dass es weiss ist. -Auch das Doppelte bezeichnet wohl überhaupt nichts,so wenig wie das Halbe; und selbst wenn es etwas be-zeichnete, so doch nicht dasselbe, als wenn es verbun-den ausgesagt wird. Auch das Wort: Wissenschaft,als das Allgemeine, bedeutet nicht dasselbe, wie miteiner Art verbunden, z.B. wie in dem Wort: Arznei-wissenschaft; jenes ist vielmehr die Wissenschaft desWissbaren. Bei den Bezeichnungen, durch welche dieDinge dem Anderen bekannt gemacht werden, mussman geltend machen, dass derselbe Ausdruck für sichund in der Begründung des Sophisten nicht dasselbebezeichne. So bezeichnet das Hohle, als ein Gemein-sames, sowohl bei der Nase, wie bei den Beinen das-selbe; als ein Hinzugefügtes kann es aber sehr wohlVerschiedenes bedeuten, je nachdem es der Nase,oder den Beinen hinzugefügt wird; bei der Nase be-deutet es das Hohlnäsige, bei den Beinen das Krumm-beinige, und es ist gleich, ob ich sage: stumpfe Naseoder hohle Nase. Auch darf man solchen Ausdrucknicht sogleich zugeben, da er falsch ist; denn dasStumpfe ist nicht eine hohle Nase, sondern eine Be-schaffenheit der Nase, wie ein Zustand derselben.Deshalb ist es nichts Verkehrtes, wenn man sagt, dassdie Stumpfnase eine Nase ist, welche eine Hohlheit ansich hat.

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Zweiunddreissigstes Kapitel

Was die Sprachfehler anlangt, so habe ich bereitsfrüher gesagt, woraus sie sich scheinbar ergeben; wieaber dergleichen aufzulösen sind, ergiebt sich aus denBegründungen des Sophisten selbst. Alle solcheReden wollen nämlich das herbeiführen, was dienachfolgenden Beispiele ergeben. Also: Was Du rich-tig nennst, ist das auch richtig? Antwort: Ja. Nunnennst Du etwas einen Stein, also ist es »einenStein«. - Allein das »den Stein Nennen« gebrauchtnicht den Nominativ, sondern den Accusativ und sagtauch nicht »dieses«, sondern »diesen«. Fragte also je-mand: Ist das, was Du richtig einen nennst, ein»diesen«, so würde der Fragende nicht der Sprachre-geln gemäss sprechen. Ebensowenig der, welchersagte: Die, deren Dasein Du behauptest, ist das die-ser, indem er damit das Holz meint, oder überhauptetwas von alle dem meint, was weder etwas Männli-ches noch Weibliches bezeichnet, da das Einzelnehier gleichgültig ist Deshalb ist es auch kein Sprach-fehler, wenn das, von dem Du sagest, es sei, ein Die-ses (Neutrum) ist, nennst Du es also das Holz (Accu-sativ), so ist es auch das Holz (Nominativ). Der Steinaber und das »Dieser« hat einen männlichen Namen.Wenn aber jemand sagte: Ist Dieser nicht Diese? und

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dann auf das Nein des Gefragten, sagte: Was ist esdenn? und: Ist dieser nicht Koriskos und man dannfolgerte, dass das »Dieser« eine »Diese« sei, so wäredies kein richtiger Schluss auf einen begangenenSprachfehler, und selbst wenn das Wort: Koriskos einWeibliches bezeichnete, brauchte der Antwortendedies nicht zuzugeben, da es hätte vorausgesagt werdenmüssen. Wenn dies aber weder geschehen ist, nochder Antwortende es zugegeben hat, so ist ein Schlussweder in der Sache, noch in Bezug auf den Gefragtenbegründet. Ebenso muss auch in dem obigen Beispie-le vorher gefragt werden, ob »etwas einen Stein Nen-nen« ein »Dieses« bedeute. Ist dies nicht geschehenund auch nicht eingeräumt worden, so kann derSchluss auf einen Sprachfehler nicht gezogen werden,obgleich es so scheint, weil, trotz des verschiedenenLautes der Beugungsfälle, sie doch dasselbe bedeutensollen. Ferner: Kann man in Wahrheit sagen, dass»Dieser« es ist, welchen Du »Diesen« nennst? Ant-wort: Ja. - Nun nennst Du ihn »diesen« Schild, alsoist er »diesen« Schild. - Allein dies ist nicht noth-wendig, wenn nicht das »Dieser« den Schild, sondern»der Schild« bedeutet, und »den« Schild »diesen«Schild. Auch wenn das, was Du mit diesen bezeich-nest, ein Dieser ist, Du also ihn z.B. einen Menschennennst, so ist dieser doch nicht »einen« Menschen,denn dieser ist nicht »Menschen«; denn ich habe

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schon gesagt, dass der, den ich »dieser« nenne, dieserist und nicht »diesen«; denn man würde nicht richtigsprechen, wenn man die Frage so stellte. - Ferner:Kennst Du dieses? - Ja. - Aber dieses ist ein Stein,also kennst Du »ein Stein«. - Allein das »Dieses« indem »kennst Du dieses« bedeutet nicht dasselbe, wiein »dieses ist ein Stein«, sondern im ersten Falle be-deutet es ein »diesen« und in dem anderen Falle ein»dieser«. Ferner: Wessen Wissenschaft Du besitzt,weisst Du das? - Ja. - Nun hast Du Wissenschaft desSteins, also weisst Du »des Steins«. - Allein Dusagst bald »des Steins«, bald »den Stein«, währendnur zugegeben ist, dass man das wisse, dessen Kennt-niss man habe, also nicht, dass man dessen wisse,sondern dass man »das wisse«, mithin man nicht desSteines wisse, sondern den Stein.

Somit erhellt aus dem Gesagten, dass dergleichenReden einen Sprachfehler durch Schlüsse nicht bewei-sen, sondern nur zu beweisen scheinen, und es erhellt,wodurch dieser Schein entsteht und wie man solchenReden entgegenzutreten hat.

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Dreiunddreissigstes Kapitel

Man muss auch beachten, dass alle sophistischenBegründungen bald leichter, bald schwerer in Demje-nigen zu durchschauen sind, wodurch sie den Hörertäuschen, obgleich sie oft einander gleich sind; dennein Schluss ist dem anderen gleich, wenn sie beidesich auf gleichartige Gründe stützen. Allein derselbeSchluss soll nach der Meinung des Einen auf ein Ne-bensächliches sich stützen, aber nach der Meinungdes Anderen auf die Ausdrucksweise und nach derMeinung eines Dritten wieder auf Anderes, weil esnicht gleich klar sei, in welchem Punkte der Fehlerenthalten sei. So wie bei den Schlüssen, welche sichauf die Mehrdeutigkeit der Worte stützen (welchesMittel das gebräuchlichste für die Fehlschlüsse ist),manches jedwedem klar ist (denn auch die lächerli-chen Begründungen stützen sich beinahe alle auf dieAusdrucksweise; z.B.: der Mann wurde zu dem Sitzgetragen. Ferner: Wo wurde hingestellt? - Antwort:An die Segelstange. Ferner: Welche von den beidenKühen gebiert von vorn? Antwort: Keine, sondernbeide von hinten. Ferner: Ist der Boreas (Nordwind)rein? Antwort: Keineswegs, denn er hat den Armenund den gekauften Sklaven umgebracht. Ferner: Ist erEuarchos? Antwort: Keineswegs, sonder

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Appollonides; und von dieser Art sind auch die mei-sten anderen Fehlschlüsse), so bleibt anderes selbstdem Erfahrensten verborgen. Eine Bestätigung dafürist, dass man hierbei oft nur über Worte streitet, z.B.ob das Seiende und das Eine für alles dasselbe bedeu-ten, oder Verschiedenes. Manche meinen, beideWorte bezeichneten dasselbe; Andere lösen die Be-gründung des Zeno und Parmenides dadurch auf, dasssie behaupten, das Seiende und das Eine seien zwei-deutig. Auch von den sophistischen Widerlegungen,die sich auf das Nebensächliche oder eines der ande-ren Mittel stützen, werden manche leichter, mancheschwerer zu durchschauen sein; auch ist es bei allendiesen Begründungen nicht überall gleich leicht, dieGattung zu erkennen, zu welcher sie gehören, und obdie sophistische Widerlegung logisch richtig ist odernicht.

Eine verschmitzte Begründung ist die, welche ammeisten wegen ihrer Auflösung in Verlegenheit setzt,denn sie ärgert am meisten. Diese Verlegenheit isthier von zweierlei Art; entweder weiss man bei denBegründungen, die einen logisch richtigen Schlussenthalten, nicht, welche von den gestellten Fragenman anzugreifen hat, oder man weiss bei den blosstreitsüchtigen nicht, wie man den aufzustellendenStreitsatz ausdrücken soll. Deshalb nöthigen bei denlogisch richtigen Schlüssen die verschmitzten

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Begründungen zu genauerer Untersuchung. Eine sol-che Begründung ist dann am verschmitztesten, wennsie mittelst sehr glaubwürdiger Sätze eine sehr glaub-würdige Behauptung widerlegt. Denn wenn der Ant-wortende auch einen Gegenschluss bildet, indem erdas Gegentheil jenes Schlusssatzes mit als Vordersatzansetzt, so werden doch diese Schlüsse sich allegleich verhalten, da sie alle aus glaubwürdigen Sätzeneinen gleich glaubwürdigen Satz widerlegen, oder be-gründen, so dass man darüber in Verlegenheit gera-then muss. Am verschmitztesten ist ein solcherSchluss, weil die Verneinung seines unwahrscheinli-chen Schlusssatzes gleiche Glaubwürdigkeit hat, wiedie Vordersätze des sophistischen Schlusses, so dasser in Verbindung mit einem dieser Vordersätze zueinem Schlusse führt, der ebenso unwahrscheinlichist, wie der Schlusssatz des fragenden Gegners. Diezweite Stelle nach diesen in der Verschmitztheitnimmt derjenige Schluss ein, bei dem beide Vorder-sätze in Glaubwürdigkeit sich gleich stehen; denn derZweifel, welchen von beiden Vordersätzen man hierwiderlegen solle, ist hier für beide gleich stark. DieSchwierigkeit ist hier gross, weil man widerlegen sollund doch nicht klar ist, was man widerlegen soll.

Von den streitsüchtigen Schlüssen ist zunächst der-jenige am verschmitztesten, bei dem es schon unklarist, ob er ein logisch richtiger Schluss ist, oder nicht

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und ob er sich auf etwas Falsches stützt, oder durchTrennung des Verbundenen aufzulösen ist; zweitensderjenige Schluss von den übrigen, bei dem es zwarklar ist, dass er sich auf eine Trennung, oder eineWegnahme stützt, aber bei dem es nicht klar ist, wel-che von den Fragen behufs der Lösung zu widerlegen,oder zu trennen ist, oder ob dies bei dem Schluss-satze, oder bei einem der Vordersätze geschehenmuss.

Mitunter ist die nicht logisch schliessende Begrün-dung einfältig, nämlich, wenn die angemeldeten Vor-dersätze offenbar unglaubwürdig, oder falsch sind;mitunter aber verdient sie keine Verachtung. Dennwenn die Begründung etwas von solchen Fragen weg-lässt, auf denen die Begründung beruht und durchwelche sie geschehen muss, und wenn sie dies nichthinzunimmt und nicht zu zu dem logischen Schlussgelangt, so ist sie allerdings einfältig; wenn sie aberetwas nicht eigentlich dazu Gehöriges nur weglässt,was aber die Vordersätze glaubwürdiger gemacht hat,so ist sie nicht in gleicher Weise verächtlich, denn derSchluss der Widerlegung ist hier richtig, aber der Fra-gende hat nicht gut gefragt.

So wie nun die Lösung eines sophistischen Schlus-ses bald gegen die Begründung desselben, bald gegendie Person des Fragenden, bald gegen keines von bei-den zu richten ist, ebenso hat der Sophist seine

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Fragen und seinen Schluss entweder gegen den aufge-stellten Satz, oder gegen den Antwortenden odergegen die Zeitfrist zu richten, wenn die Lösung mehrZeit braucht, als für die Erörterung behufs der Lösungnoch übrig ist.

Vierunddreissigstes Kapitel

Aus wie vielen und welchen Umständen bei denDisputationen die Fehlschlüsse entstehen, und wieman das Falsche aufdeckt und bewirkt, dass der Geg-ner Unglaubwürdiges behauptet; ferner, aus welchenFragen der Schluss sich ergiebt, und wie man zu fra-gen hat und welche Ordnung man hierbei zu befolgenhat, endlich wozu alle dergleichen Begründungennützlich sind und wie überhaupt die Antworten einzu-richten sind und wie man die Begründungen und dieSchlüsse aufzulösen hat, über dieses Alles mag dasBisherige hierauf gesagt sein. Denen, welche sich des-sen erinnern, was ich im Anfange mir vorgesetzt, habeich jetzt nur noch Einiges hierüber zu sagen und dannmeine Untersuchung abzuschliessen.

Meine Absicht ist gewesen, die Mittel aufzufinden,durch welche man über einen aufgestellten Streitsatzaus den möglichst wahrscheinlichen AnnahmenSchlüsse aufzustellen vermag; dies ist zwar das

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Geschäft der Dialektik an sich, und der auf die Probestellenden dialektischen Kunst. Da aber wegen derenVerwandtschaft mit den sophistischen Begründungendazu auch gehört, dass man einen Andern nicht blosdialektisch auf die Probe zu stellen vermag, sondernauch, dass man als ein Wissender sich zu benehmenvermag, so habe ich nicht blos die genannte Thätig-keit zum Gegenstand meiner Untersuchung genom-men, nämlich die Fähigkeit zur Führung der Rede alsFragender, sondern auch das Geschick, mit gleichenMitteln die Rede als Antwortender aufzunehmen undden aufgestellten Satz zu vertheidigen. Den Grunddafür habe ich schon angegeben, da ja auch Sokratesauf diese Weise zwar Fragen stellte, aber nicht alsAntwortender auftrat, weil er eingestand, dass ernichts wisse. Deshalb habe ich in dem Vorgehendenauch dargelegt, für wie Vieles und aus wie Vielemdieses Antworten geschehen und woher man das Nö-thige dazu in Genüge entnehmen kann. Ferner habeich dargelegt, wie man zu fragen und in welcher Ord-nung man die Fragen zu stellen hat und wie man zuantworten und die Schlüsse des Fragenden aufzulösenhat. Ebenso habe ich über das, was sonst auch zuderselben Untersuchung der Begründungen gehört,Aufschluss gegeben. Ausserdem bin ich auch dieFehlschlüsse durchgegangen, wie ich schon vorherbemerkt habe.

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Dass somit der genügende Abschluss für das, wasich mir vorgesetzt, erreicht worden, ist klar; doch dür-fen wir nicht das übersehen, was in Bezug auf dieAusbildung dieser Lehre bisher geschehen ist. Alles,was die Wissenschaften überhaupt aufgefundenhaben, ist theils schon von Anderen früher aufgefun-den und dann von den Nachfolgern übernommen undtheilweise vermehrt worden, theils ist es erst neuerlichaufgefunden. Das im Anfange Aufgefundene pflegt imersten Fortgang nur wenig zuzunehmen, denn »derAnfang ist wohl vor Allem das Grösste«, wie mansagt, und deshalb auch das Schwerste. Je mehr er anVermögen das Kräftigste ist, um so kleiner ist er anUmfang und daher am schwersten zu erkennen. Istaber der Anfang gefunden, so ist das Hinzufügen desUebrigen und das Vermehren leicht, wie dies ja auchbei der Lehre über die Redekunst und so ziemlichauch bei den übrigen Künsten allen Statt gehabt hat.Die, welche die Anfänge auffanden, brachten diese imAllgemeinen nur wenig weiter; aber die jetzt in diesenKünsten hochgeachteten Männer haben dieselbengleichsam durch Ueberlieferung von Vielen übernom-men, welche sie stückweise weiter geführt hatten, undso haben auch sie selbst dieselben vermehrt; Tisiastrat ein nach den Ersten; dann Thrasymachos nach Ti-sias, dann Theodoros nach diesem, und so habenViele viele Stücke zusammengetragen. Man braucht

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sich deshalb nicht zu wundern, wenn jetzt eine solcheKunst einen reichen Inhalt hat. Vor der hier geschehe-nen Untersuchung war aber nicht etwa schon Man-ches vorgearbeitet und Anderes nicht, sondern es wardurchaus nichts vorhanden; denn auch der Unterricht,welchen die um Lohn Lehrenden über die streitsüchti-gen Begründungen ertheilten, glich dem, wie Geor-gias die Sache behandelte. Sie liessen die bei denRednern und bei den Sophisten vorkommenden Wen-dungen auswendig lernen, auf welche nach ihrer Mei-nung sowohl die Redner, wie die Sophisten bei ihrenErörterungen meistentheils gerathen waren. Der Un-terricht der bei ihnen lernenden Schüler war daherschnell, aber unwissenschaftlich, denn sie unternah-men nicht einen Unterricht in der Kunst selbst, son-dern in dem mittelst der Kunst bereits Ausgeführten.Es war ebenso, als wenn jemand verkündete, dass ereine Kunst lehren wolle, welche jeden Schmerz an denFüssen beseitige, dann aber nicht die Schuhmacher-kunst lehrte, noch die Mittel, wodurch man dies errei-chen könnte, sondern nur viele Arten des mannigfa-chen Schuhwerkes vorlegte. Ein solcher hat wohl fürden Bedarf Abhilfe gebracht, aber die Kunst hat ernicht gelehrt. Bei der Redekunst war wohl Vieles undAltes, was darüber gesagt worden war, vorhanden,aber über die Kunst zu schliessen wusste man durch-aus nichts zu sagen, sondern man musste sie durch

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gewohnheitsmässige Uebung zu gewinnen suchen undlange Zeit sich damit abmühen. Wenn Ihr nun bei nä-herer Betrachtung meint, dass meine Darstellung, fürwelche nur solche Anfänge vorlagen, sich so ziemlichneben die Bearbeitungen jener Wissenschaften stellenkann, welche durch Ueberlieferung von Einem zu demAnderen gewachsen sind, so bleibt für Euch und fürdie, welche meine Lehre gehört haben, nur übrig, dasswegen des in der Darstellung Uebergangenen Nach-sicht geübt, für das aber, was ich aufgefunden habe,mir viel Dank bewahrt bleibe.

Ende.