Aristoteles - Rhetorik - Anm.3

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DRITTES BUCH Kapitel 1 Das Kapitel gibt eine Einführung in die Behandlung der sprachlichen Form (Xé^iç), die Gegenstand der Kapitel III 1-12 sein wird. Zugleich richtet Aristoteles den Blick über die Behandlung der sprachlichen Form hinaus auf die Beherr- schung des mündlichen Vortrags (újióxqioic), den er aber selbst nicht behandeln wird, unter anderem deswegen, weil der mündliche Vortrag eher eine Frage der Begabung als der Kunst (xéxvn) ist. Das Kapitel gibt einen knappen Rückblick auf die Behandlung des mündlichen Vortrags und der sprachlichen Form in der Ver- gangenheit. Kritisch wendet es sich gegen die Auffassung, die sprachliche Form der Dichtung sei zu allen Anlässen die schönste. Inhalt: Nachdem Buch I & II die Überzeugungsmittel behandelt haben, ver- bleibt jetzt noch die sprachliche Form und die Anordnung der Redeteile zur Be- handlung (1403b6—15). Man muss nicht nur das ,Was', sondern auch das ,Wie' beim Reden kennen (1403bl5—18). Von Natur aus kommen zuerst die Dinge selbst, dann die sprachliche Form und zuletzt der mündliche Vortrag (1403bl8-27). Der mündliche Vortrag hat viel mit der Stimme zu tun; er übt eine bedeutende Wirkung aus (1403b27-35). Eigentlich sind die auf Stimme und sprachlicher Form beruhenden Mittel ungebührlich, aber sie sind notwendig we- gen der Schlechtigkeit der Zuhörer (1403b35-1404a8). Zu einem gewissen Teil trägt die sprachliche Form jedoch auch zur Klarheit und Belehrung bei (1404a8-12). Die sprachliche Form kann methodisch untersucht werden, der mündliche Vortrag ist eher eine Frage der Begabung (1404al2-19). Als erstes ha- ben sich die Dichter mit der sprachlichen Form befasst. Dichtung und Prosarede haben aber unterschiedliche sprachliche Formen (1404al9-36). Hinsichtlich der sprachlichen Form darf man nur den für die Rhetorik einschlägigen Teil behandeln (1404a36-39). Anmerkungen 1403b6-1403bl5 Hinsichtlich der Rede müssen drei Dinge behandelt werden: (i.) woher die Überzeugungsmittel kommen, (ii.) die sprachliche Form (Xé^iç) und (iii.) wie man die Redeteile anordnen muss. Über die Überzeugungsmittel wurde Unangemeldet | 188.98.182.252 Heruntergeladen am | 07.08.13 16:24

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Rhetorik Anmerkungen 3

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  • DRITTES BUCH

    Kapitel 1Das Kapitel gibt eine Einfhrung in die Behandlung der sprachlichen Form(X^i), die Gegenstand der Kapitel III 1-12 sein wird. Zugleich richtet Aristotelesden Blick ber die Behandlung der sprachlichen Form hinaus auf die Beherr-schung des mndlichen Vortrags (jixqioic), den er aber selbst nicht behandelnwird, unter anderem deswegen, weil der mndliche Vortrag eher eine Frage derBegabung als der Kunst (xxvn) ist. Das Kapitel gibt einen knappen Rckblick aufdie Behandlung des mndlichen Vortrags und der sprachlichen Form in der Ver-gangenheit. Kritisch wendet es sich gegen die Auffassung, die sprachliche Formder Dichtung sei zu allen Anlssen die schnste.

    Inhalt: Nachdem Buch I & II die berzeugungsmittel behandelt haben, ver-bleibt jetzt noch die sprachliche Form und die Anordnung der Redeteile zur Be-handlung (1403b615). Man muss nicht nur das ,Was', sondern auch das ,Wie'beim Reden kennen (1403bl518). Von Natur aus kommen zuerst die Dingeselbst, dann die sprachliche Form und zuletzt der mndliche Vortrag(1403bl8-27). Der mndliche Vortrag hat viel mit der Stimme zu tun; er bt einebedeutende Wirkung aus (1403b27-35). Eigentlich sind die auf Stimme undsprachlicher Form beruhenden Mittel ungebhrlich, aber sie sind notwendig we-gen der Schlechtigkeit der Zuhrer (1403b35-1404a8). Zu einem gewissen Teiltrgt die sprachliche Form jedoch auch zur Klarheit und Belehrung bei(1404a8-12). Die sprachliche Form kann methodisch untersucht werden, dermndliche Vortrag ist eher eine Frage der Begabung (1404al2-19). Als erstes ha-ben sich die Dichter mit der sprachlichen Form befasst. Dichtung und Prosaredehaben aber unterschiedliche sprachliche Formen (1404al9-36). Hinsichtlich dersprachlichen Form darf man nur den fr die Rhetorik einschlgigen Teil behandeln(1404a36-39).

    Anmerkungen1403b6-1403bl5 Hinsichtlich der Rede mssen drei Dinge behandelt werden:(i.) woher die berzeugungsmittel kommen, (ii.) die sprachliche Form (X^i) und(iii.) wie man die Redeteile anordnen muss. ber die berzeugungsmittel wurde

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  • 806 Drittes Buch 1403b6

    schon gesprochen, nmlich dass sie drei Quellen haben und welche das sind undwarum nur so viele. Auerdem wurden die Enthymeme behandelt, sowie die spe-zifischen und die besonderen Topen.(1.) Zur Nachtrglichkeit dieser Systematik vgl. die Anm. (1.) zu II 26,1403a34-b2. Die Nachtrglichkeit des in Buch III entfalteten Programms erklrt,warum die Rhetorik keine umfassende Systematik fr die Rhetorik als ganze ent-wickelt; sie ist ebenfalls aufschlussreich fr die Stellung der in Buch III behandel-ten Themen. Jedoch wirft die Nachtrglichkeit der beiden Themenblcke Xiund x^i keine Fragen ber die Authentizitt dieses Buches auf: Trotz gewisserUngereimtheiten im Einzelnen zeigt sich, dass das dritte Buch mit Argumentati-onsmodellen arbeitet, die sich ebenso in Rhet. I & II finden (vgl. dazu die beidenNachwrter zu den Kapiteln III 1-12 und III 13-19). Mit Einwnden gegen dieEchtheit der Schrift, die im 19. Jahrhundert aufgrund vermeintlich dubioser Zitie-rungen erhoben wurden, setzt sich Diels (1886) auseinander.(2.) Bei der Anordnung der drei Teile der Rhetorik in diesem Abschnitt liegtdie Vermutung nahe, dass die Reihenfolge Gedanke

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    sprachliche Form-

    Anord-nung eine systematische Bedeutung hat, etwa, indem sie von innen nach auen(von der Sache ber die sprachliche Form zu der der Sache uerlichen Einteilungder Rede) fhrt, oder von einem Kern der Theorie zur Peripherie o.a. Diese Ver-mutung wird dadurch besttigt, dass in Abschnitt 1403bl8-27 tatschlich die sach-liche Prioritt des Gedankens hervorgehoben wird. Allerdings wird diese Bemer-kung mit einer anderen Trias ausgefllt, nmlich mit der von Gedanke, sprach-licher Form und mndlichem Vortrag.(3.) Der Abschnitt wiederholt den Kern der Theorie von Rhetorik I & II, dieLehre der drei berzeugungsmittel. Bemerkenswert ist, dass hier ausdrcklich dieFrage nach der Vollstndigkeit dieser drei Methoden gestellt und beantwortetwird, whrend bei der Einfhrung der drei berzeugungsmittel in I 2 diese Fragenicht ausdrcklich aufgeworfen wird und eine Antwort daher auch nur indirekterschlossen werden kann. Die Antwort der vorliegenden Stelle scheint zu sein,dass drei Momente beim berzeugungsprozess beteiligt sind, nmlich der urtei-lende Zuhrer, der Redner und die zu beweisende Sache und dass die berzeu-gung entweder durch den Zustand des Urteilenden, die Meinung, die er ber denRedner hat, oder durch einen Beweis zustande kommt. Das entspricht dem Erkl-rungsmodell Vollstndige Analyse des berzeugungsprozesses' in Anm. (4.) zuI 2, 1356al-20.bl4-15 die spezifischen (Topen) der Enthymeme, andererseits die (allgemeinen)Topen (x xv Eq tcov vf>U(xq(xTcov, r tjioi)": Vgl. zu dieser Terminolo-gie die Anm. zu I 2, 1358a27.1403bl5-1403bl8 Als nchstes muss man ber die sprachliche Form (X^i) re-den, denn es gengt nicht zu wissen, was man sagen soll, sondern man muss auchwissen, wie man es sagen soll.(1.) Sprachliche Form (Xi)

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    Anknpfung an die Poetik: Wie vor allem inRhet. III 2, 1404b5 deutlich wird, setzt die hier beginnende Behandlung dersprachlichen Form die entsprechenden Ausfhrungen der Poetik bereits voraus,weswegen auch auf die Einfhrung mehrerer Grundbegriffe wie auch auf die aus-

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  • i403bi8 Kapitel 1 807fhrlichere Erluterung der sprachlichen Form selbst verzichtet wird. Daher emp-fiehlt es sich, zunchst in die Poetik zu sehen.

    In Poet. 6,1450b 13-14 bestimmt Aristoteles die Xji zunchst sehr allgemein-fast schon im Sinne von

    .Sprache' berhaupt-

    als Verstndigung/Mitteilungdurch Worte (xqv t xfj vop.aaia eQu.qveav)". Bei der Behandlung dersprachlichen Form in den Kapiteln 19-22 der Poetik wird kein weiterer Anlauf zurallgemeinen Bestimmung des Begriffs unternommen; anstelle dessen wird der Be-griff nur indirekt, durch die verschiedenen, unter diesem Titel behandelten The-menblcke umrissen. Dazu gehren: (i.) die Frage, was ein Befehl, eine Bitte, eineErzhlung, eine Drohung, eine Frage, eine Antwort usw. ist. Mit diesem Hinweisleitet Aristoteles in die Behandlung der sprachlichen Form ein, er stellt dazujedoch keine weiteren Betrachtungen an. (ii.) Die Elemente der Sprache im Sinnevon Buchstabe, Silbe, Konjunktion, Artikel, Nomen, Verb, Beugungsform, Satz(Kapitel 20). (iii.) Die Unterscheidung zwischen den blichen Ausdrcken, denfremdartigen Ausdrcken, den Metaphern usw. (Kapitel 21). (iv.) Die Bestimmungder Vortrefflichkeit der sprachlichen Form ausgehend von den zuvor unterschie-denen Wortarten, (v.) Behandlung und Wrdigung der Metapher, (vi.) Die Fragenach dem passenden oder unpassenden Gebrauch der verschiedenen Wortarten(Kapitel 22). Von den verschiedenen Themenblcken, die in der Poetik den Be-griffsinhalt und -umfang von .sprachlicher Form' bestimmen, bergeht die Rheto-rik die Themen (i.) bis (ii.) ganz, bernimmt die Unterscheidung aus (iii.), behan-delt das Thema von (iv.) fr den Bereich der prosaischen Rede und geht -unter an-derem

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    auf die aus (iv.) folgenden Themen (v.) bis (vi.) ein.(1.1) Verschiedene Verwendungen von X^i": Hier ist eine von Halliwell(1993, 53 f.) vorgenommene Dreiteilung hilfreich. Neben der eher seltenen Ver-wendung von lexis' (i.) im Sinne der gewhnlichen Sprache (vgl. Poet. 1458bl-6;im Grunde synonym mit tXexxo" in Rhet. 1404b24f.) interessiert hier vor al-lem der Unterschied zwischen einer (ii.) deskriptiven und einer (iii.) normativenVerwendung. In Bedeutung (ii.) meint lexis' to attend to the specific form of aword or group of words

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    a .form' that is minimally describable by a set of linguis-tic categories (morphological, phonetic/phonological, grammatical) as the analysisin Poetics chs. 20-21 illustrates. Hence, in the Rhetoric itself, lexis sometimes me-ans little more than

    .wording' or .form of words', without any evaluative implica-tions." Dagegen kann,lexis' in Bedeutung (iii.) evaluativ verwendet werden as theresult of intentional or deliberate choice between different possibilities of wor-ding, phrasing and larger dimensions of discourse. Lexis, from this point of view,colours or characterises the use of language of which it is a mode or aspect; it giveslogos certain qualities ..." Von diesen beiden Verwendungen fllt allenfalls diezweite, die sprachliche Form als das Ergebnis eines absichtsvollen Tuns betrachtet,mit dem Begriff des Stils zusammen.(1.1.1) Neben den von Halliwell genannten Bedeutungen ist noch eine Ver-wendungsweise interessant, bei der die X^i ausschlielich als Quelle falscherSchlsse betrachtet wird (vgl. Rhet. II 24,1401al, a8, Soph. el. 4, 165b24 passim); andiesen Stellen impliziert der Gebrauch von X^t", dass der dem Rezipienten dar-gestellte Sachverhalt oder die vollzogene Schlussfolgerung .nur verbal, aber nichtder Sache nach', .blo in der Sprache', ,blo der sprachlichen Form nach' besteht.

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  • 808 Drittes Buch 1403b6

    Im Hinblick auf diese Verwendung aufschlussreich ist der Umstand, dass Aristote-les zu Beginn der Sophistischen Widerlegungen den Gebrauch von Wrtern als dennatrlichsten und verbreitetsten Ursprung der Scheinschlsse bezeichnet (vgl.Soph. el. 1, 165a4-19). Einen expliziten Hinweis auf die Sophistik gibt Aristoteleshier in Abschnitt 1404b37-1405a2, die Namen zweier prominenter Sophisten fal-len aber auch schon in 1404al4 und 26.

    (1.1.2) Whrend hierbei sowie im Begriffspaar .Gedanke-

    sprachliche Form'der Ausdruck X^i" dazu dient, den Bereich des Sprachlichen vom Gedankli-chen und Sachlichen abzuheben, dominieren in Rhet. III, sobald der Unterschiedvon Gedanke und sprachlicher Form etabliert ist, Verwendungen, in denen einPlural von X^i" mglich ist, insofern verschiedene .sprachliche Formen' vergli-chen werden. Auch innerhalb dieser zweiten Gruppe ist die Verwendung vonXi" inhomogen, weil sie in Verbindung mit Attributen oder Genitivbestim-mungen bald ein einzelnes Merkmal der sprachlichen Form (z.B.: .fortlaufendeForm'), bald eine bestimmte Art oder Gattung der sprachlichen Form meint (z.B.:.Form der politischen Rede'). Manche Verwendungen sind in diesem Schema je-doch nur schwer unterzubringen; z.B. knnte die Rede von der .schriftlichen' und.kontroversen' Form (vgl. Kap. III 12) einerseits als Gattung verstanden werden,zugleich werden diese jedoch auch wie Merkmale benutzt, mit denen die spezifi-sche Form der politischen, der gerichtlichen usw. Rede beschrieben wird. Auer-dem verwendet Aristoteles X^i" auch im Sinn der obersten Gattungen Prosa-rede und Dichtung, so dass es letztlich nur zwei X^Ei geben kann. Die spezifi-schen Formen der drei Redegattungen fallen alle natrlich in die Gattung der Pro-sarede, werden aber nach Kriterien unterschieden, die fr die Bestimmung derProsaform als solcher nicht von Bedeutung sind.(2.) Sprachliche Form und Gedanke: Schon in der Poetik trat der Begriff dersprachlichen Form in Opposition zum Gedanken auf. Diese Gegenberstellungtritt im vorliegenden Abschnitt noch strker in den Vordergrund, indem der Ge-danke dem

    .Was', die sprachliche Form dem .Wie' zugeordnet werden, wodurchindirekt auch der Begriff der sprachlichen Form definiert wird. Aufgrund dieserGegenberstellung von ,Was' und .Wie' ist klar, dass Aristoteles bei der Bestim-mung der sprachlichen Form die sprachphilosophische Annahme macht, dass es

    -

    wenn nicht in allen Fllen, so doch zumindest in einer nicht unbedeutenden Mengevon Fllen

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    mehrere Mglichkeiten gibt, dasselbe zu sagen (im Sinne von be-zeichnen (anumvEiv)', nicht im Sinne von .behaupten'), oder anders gesagt: dassdas .Was' in solchen Fllen ungeachtet der sprachlichen Form dasselbe bleibt. Wasaber ist das .Was', das bei den unterschiedlichen sprachlichen Zeichen jeweils das-selbe bleibt? Auf jeden Fall die Extension. Das wre aber eine vergleichsweiseharmlose sprachphilosophische Voraussetzung. Warum das gleichbleibende .Was'gerade als .Gedanke' bezeichnet 'wird, wrde auf diese Weise nicht klar. Auch dasModell aus De Interpretation 1 macht plausibel, dass hier eine strkere Vorausset-zung im Spiel ist; denn dort ist klar, dass es zu jedem bezeichneten (und .gemein-ten') Gegenstand in der Auenwelt einen mit den ueren Gegenstnden kovari-anten und ihm hnlichen Seeleneindruck (jtT|u,a, vr)pia, u,oco|ta) gibt. Wen-det man dieses Modell auf die vorliegende Stelle an, dann wre vorausgesetzt, dasses in Fllen, in denen dasselbe .Was' durch verschiedene sprachliche Zeichen aus-

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  • 1403b27 Kapitel 1 809gedrckt werden kann, einen identischen, gegenber den wechselnden Bezeich-nungsweisen invarianten ,Sinngehalt' gibt; das wre der Gedanke (ivoia) dertrotz unterschiedlicher Sprachform derselbe bleibt.

    -

    So verstanden hat es eineTheorie der sprachlichen Form genau mit den Unterschieden zu tun, die sich da-durch ergeben, dass man dieselbe Sache und einen gleichbleibenden Sinngehaltsprachlich auf die eine oder die andere Weise ausdrcken kann.1403bl8-1403b27 Zuerst wurde das untersucht, was der Natur nach das erste ist,nmlich die Dinge selbst, aus denen die berzeugung zu gewinnen ist. Als zweiteskommt die sprachliche Form und als drittes der mndliche Vortrag (jixqloic)hinzu. Die Behandlung des letzteren wurde noch nicht in Angriff genommen, ob-wohl er ber die grte Wirkung verfgt. Auch bei der Tragdie und dem rhapso-dischen Vortrag wurde der mndliche Vortrag erst spter beachtet, was man daransieht, dass frher die Dichter selbst ihre Werke vorgetragen haben. Man sieht, dassder mndliche Vortrag ein der Dichtung und der Rhetorik gemeinsames Themadarstellt.

    (1.) Sache-

    sprachliche Form-

    mndlicher Vortrag: Diese Anordnung lsstdrei verschiedene Interpretationen zu. (i.) Es handelt sich um eine sachliche Stufungnach der Bedeutung dieser drei Momente. Dies wird durch die Formulierung wasauch von der Natur her das erste ist" nahe gelegt, (ii.) Es geht um die Anordnung imText: zuerst wurde das zur Sache Gehrende behandelt, jetzt die sprachliche Form,danach wre eigentlich der mndliche Vortrag zu behandeln. Weil der erste Punkttatschlich durch die Bcher I & II behandelt wurde und weil dann erst die sprach-liche Form ins Spiel kam, wre auch das denkbar. Etwas merkwrdig schiene beidieser Lesart, dass der mndliche Vortrag tatschlich gar nicht behandelt wird. Manmsste die uerung demnach so verstehen, dass der mndliche Vortrag als dritteskme, dass er aber, weil keine Behandlung folgt, jetzt nur an dieser Stelle genanntwird, (iii.) Die Anordnung entspricht der geschichtlichen Entwicklung der Dich-tung und der Rhetorik und nennt die verschiedenen Teile nach der Reihenfolge ih-res Auftretens. Diese Deutung wird durch den

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    sicherlich historisch gemeinten-Hinweis gesttzt, dass die Beachtung des mndlichen Vortrags bei Tragikern und

    Rhapsoden erst spt hinzukam. Jedoch kann dieses geschichtliche Faktum auch alsIndiz fr die natrliche Rangfolge der drei Teilbereiche hinsichtlich ihrer Bedeu-tung gewertet werden. Dass der mndliche Vortrag trotz des Hinweises auf diegrte Wirkung, die von ihm ausgeht, erst an dritter Stelle genannt wird, wider-spricht der Deutung nach dem Modell der natrlichen Rangfolge keineswegs; manmuss im Gegenteil daraus den Schluss ziehen, dass die so genannte .natrliche'Rangfolge von der Wirkung beim Publikum unabhngig ist.(2.) Die natrliche Prioritt der Sache: Die Bewertung der einzelnen Momentenach einer natrlichen Rangfolge steht in keinem proportionalen Verhltnis zurWirkung beim Publikum (siehe oben, Anm. (1.)). Im Gegenteil scheint diese Skalaselbst nach dem Kriterium der Sachnhe oder Sachgemheit konstruiert zu sein,so dass auf dieser Skala die Behandlung des an jeder Sache selbst berzeugendentrivialerweise den ersten Rang einnimmt. Wie kann man aufgrund dieser Stellungdas Verhltnis der sprachlichen Form zum Gedanken bestimmen? Vgl. 1404al9-36mit Anm.

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  • 810 Drittes Buch 1403bl8

    (3.) Wie schon durch den Begriff des Gedankens (ivoia) so werden auchbei der vorliegenden Stufung die drei berzeugungsmittel aus Buch I & II auf eineStufe gestellt. Das ist aus folgendem Grund bemerkenswert. Wenn die drei ber-zeugungsmittel untereinander verglichen werden, ist die argumentierende Me-thode im Verhltnis zu den anderen Methoden als einzige sachbezogen. Vergleichtman andererseits die drei berzeugungsmittel unter dem Titel .Gedanke' mit dersprachlichen Form und dem mndlichen Vortrag, dann nimmt der Bereich des Ge-dankens als ganzer die Rolle des eher sachbezogenen Theorienteils ein. Wie ist dieszu erklren (wenn nicht durch eine inkonsistente Terminologie)? 1. Mglichkeit:Der Gedanke insgesamt hat damit zu tun, den Hrer zu bestimmten Meinungenber die zugrunde liegende Sache zu leiten (vgl. Anm. (2.) zu 1403a34-b2). Durchdiese Eigenschaft hebt sich der Gedanke von allen Methoden ab, die nicht dazuimstande sind, dies aus eigener Kraft zu tun, und daher nur untersttzend oderhemmend wirken, aber keine Meinung ber die betreffende Sache produzierenknnen. 2. Mglichkeit: Auch wenn die nicht-argumentativen berzeugungsmit-tel Emotionserregung und Charakterdarstellung nicht in derselben Weise direktauf die Sache bezogen sind wie die argumentative berzeugung, so gibt es dochauch bei ihnen eine auf Sachdarstellung beruhende Verwendung.b22 den mndlichen Vortrag (jtxQioiv): Zum Begriff des mndlichen Vor-trags, der jioxqioi, und des Vortragenden bzw. Schauspielers vgl. Zucchelli(1962).b23 und zum rhapsodischen Vortrag (xai Qaij>cpiav)": Spengel (356) mchtediesen Zusatz tilgen, so dass nur von der Tragdie die Rede wre.b23 selbst (aToi): Von Kassel nach und Anonymos anstelle der Lesart vonA(axot) in den Text genommen.b26-27 Glaukon aus Teios": Aristoteles fhrt eine Person namens Glaukonauch in Poetik 1461bl an; Piaton erwhnt einen gleichnamigen Rhapsoden in Ion530c.

    1403b27-1403b35 Der mndliche Vortrag hat in erster Linie mit der Stimme zutun. Bei der Modulation der Stimme ist die Lautstrke, die Tonhhe und derRhythmus zu beachten. Diese mssen dem Anlass, d.h. vor allem der (dargestell-ten oder zu erzeugenden) Emotion entsprechend eingesetzt werden. Wer dies ein-setzen kann, hat Erfolg beim Publikum; auf diese Weise bewirken die Vortrags-knstler nicht nur mehr als die Dichter, sondern haben auch in der politischenAuseinandersetzung mehr Erfolg

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    und zwar wegen des schlechten Zustands derVerfassungen.(1.) Dass der gezielte Einsatz der Sprechstimme besonders fr die Emotionender Zuhrer von Bedeutung ist, trifft sich gut mit der Einschtzung, dass dermndliche Vortrag berhaupt von der Bemhung um eine sachgerechte Darstel-lung noch weiter entfernt ist als die Belange der sprachlichen Gestaltung im Sinneder Wortwahl, sprachlichen Komposition usw. Die Weise der damit verbundenenEmotionserregung unterscheidet sich erheblich von der kunstgemen Emotions-erregung, wie sie in den Kap. II 2-11 dargestellt wird, insofern die Emotionserre-

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  • I403b32 Kapitel 1 811gung als Teil der methodisch fundierten berzeugung sich gezielt der Ursachenbestimmter Emotionen zu bedienen wei. Ein Hinweis darauf, dass die mit derModulation der Stimme allein gegebene emotionale Frbung eher zu einem Red-ner passt, der eigentlich nichts zu sagen wei, gibt der Abschnitt 1408a24f. (vgl.Anm. (3.) zu 1408al9-25). Dass der Einsatz der Stimme vor einem qualifiziertenPublikum von geringer, dagegen bei der groen Masse von erheblicher Bedeutungst, besttigt indirekt auch der Absatz 1414a7-17.(2.) Der schlechte Zustand der Verfassungen: Dass der Redner mit einem ver-gleichsweise .schlechten' Publikum zu rechnen hat, ist hinlnglich bekannt (vgl.Anm. (4.) zu 1403b35-1404a8). Auch im vorliegenden Zusammenhang wrde einHinweis auf die so genannte Schlechtigkeit des Zuhrer gut passen: je ungebildeterdie Zuhrer, knnte Aristoteles hier sagen wollen, desto eher lassen sie sich durchden

    -

    sachfernen-

    Gebrauch der Stimme verfhren; daher berrascht es, dass erjetzt unvermittelt auch noch von schlechten Verfassungen spricht, zumal wenigeZeilen spter (1404a8) tatschlich von der Schlechtigkeit der Zuhrer die Rede ist.Einige Editoren und bersetzer haben sich deshalb fr die nderung des Textesnach dem Vorbild von 1404a8 entschieden (vgl. die Anm. zu 1403b34-35). Gegendiese nderung des berlieferten Textes hat Lossau (1971) gezeigt, dass sich frden Zusammenhang des mndlichen Vortrags mit einem schlechten Zustand derVerfassungen gute Parallelen aus den politischen Schriften beibringen lassen:

    Aristoteles fhrt in Ath. pol. 28 aus, dass nach Perikles der Zustand der Verfas-sungen schlechter geworden und Anfhrer benannt worden seien, die erstmals beiden besseren Brgern nicht angesehen waren. Ein besonders grasses Beispiel frdiese Entwicklung stelle Kleon dar, von dem Aristoteles 28, 3 sagt: Dieser scheintam meisten das Volk verdorben zu haben durch seinen Eifer, und als erster schrieund schimpfte er auf der Rednerbhne und trat in einem gegrteten Kleid vor dasVolk, whrend die anderen in wohlgeordneter Kleidung sprachen." Da nun dasdurch die Vortragsweise auffallende Benehmen des Kleon mit einer Verschlechte-rung der Verfassung und der Brger, die fr dieses Auftreten empfnglich sind,einhergeht, liegt der Bezug zu den verschiedenen Demokratieformen, wie sie inPolitik IV und V beschrieben werden, nahe; denn je mehr Kompetenz den Geset-zen genommen, und in den radikaleren Demokratieformen den Brgern zuer-kannt wird (vgl. Pol. 1292a4ff.), desto grer wird der Einfluss der Demagogen,die in einer solchen Verfassung dieselbe Rolle spielen wie die Schmeichler in derTyrannis (vgl. Pol. 1292a20f. und 1313b40f.). Daher knnte mit der Schlechtigkeitder Verfassungen (im Plural) tatschlich, wie Lossau (a.a.O., 153 f.) ausfhrt, eineCharakteristik von Etappen in der Evolution der uersten Demokratie" gemeintsein, die fr Aristoteles nicht nur eine berziehung" des demokratischen Anteils,sondern letztlich sogar die Auflsung der Verfassungsform berhaupt darstellt(vgl. Anm. (2.) zu 1360al7-38).b31-32 Rhythmus": Dass der Rhythmus der Sprache in den Bereich des mnd-lichen Vortrags fllt, ist plausibel; zugleich ist der Rhythmus aber auch eine Frageder Wortwahl und somit der sprachlichen Form. Kapitel III 8 behandelt denRhythmus auch tatschlich als Teilbereich der sprachlichen Form. Das Phnomendes Sprachrhythmus scheint daher den beiden Bereichen gemeinsam. Das wie-

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  • 812 Drittes Buch 1403b32

    derum passt zu der Beobachtung, dass die beiden Bereiche im Laufe dieses Kapi-tels zeitweise als vermengt erscheinen (vgl. Anm. (1.) zu 1403b35-1404a8). EineAbhandlung ber die hier skizzierte Frage, welcher Rhythmus zu welchem Anlasspasst, findet sich in der Rhetorik nicht.b34-35 wegen des schlechten Zustands der Verfassungen (i xf|v iioxrr|Qavxcv jioXiXEicov)": Verfassungen" ist nach to und dem Zeugnis des Anonymos bei-zubehalten; dennoch hat Spengel (357) und nach ihm Ross, Plebe (1961) u.a. mitBezug auf die vermeintlich parallele Stelle in 1404a8 fr die Lesart JtoXixcv (derBrger)" pldiert; dies scheint u.a. deshalb angezeigt, weil sich an der spterenStelle ein Rckverweis auf die vorliegende Stelle findet. Eine gute inhaltlicheRechtfertigung fr die berlieferte Lesart gibt Lossau (1971); vgl. dazu oben, Anm.(2.). Der Rckverweis knnte ohne Textnderung dadurch erklrt werden, dassschlechte Verfassungen mit entsprechenden Brgern einhergehen.1403b35-1404a8 ber die genannten Momente des mndlichen Vortrags ist bis-lang noch keine Kunstlehre bzw. kein Handbuch verfasst worden, was unter ande-rem damit zusammenhngt, dass alles, was die sprachliche Form betrifft, ber-haupt erst spter Beachtung fand. Es kommt hinzu, dass es eigentlich ungebhrlichist, auf diese Art von Wirkung zu setzen. Jedoch zielt die Rhetorik immer auf dieMeinung ab, so dass man auch solche Methoden nutzen muss, um die beabsichtig-ten Meinungen zu bewirken; das heit, man benutzt diese Methoden nicht, weil sierichtig wren, sondern weil sie notwendig sind. Sie bewirken nmlich viel auf-grund der Schlechtigkeit der Zuhrer. Wenn man die Sache dagegen nur nach derGerechtigkeit beurteilen wrde, dann wre klar, dass man die Kontroversen auf-grund der zugrunde liegenden Sache allein fhren muss und dass alles, was berden eigentlichen Beweis hinausgeht, berflssig ist.(1.) Mndlicher Vortrag und sprachliche Form: Whrend die vorigen Ab-schnitte den Eindruck erweckten, als handle es sich beim mndlichen Vortrag undder sprachlichen Form um zwei klar voneinander getrennte Bereiche, wird hier ar-gumentiert, dass es ber die im vorigen Abschnitt genannten Momente des mnd-lichen Vortrags noch keine Kunst gebe, weil die Behandlung der sprachlichenForm erst spter dazu kam. Das knnte bedeuten, dass die Untersuchung desmndlichen Vortrags eine Theorie der sprachlichen Form schon voraussetzt. Wahr-scheinlicher aber stellt dieses Argument einen Hinweis darauf dar, dass das vor-liegende Kapitel von einem Diskussionsstand ausgeht, auf dem sprachliche Formund mndlicher Vortrag eng miteinander verknpft sind, bzw. letzterer einen Teil-bereich der sprachlichen Form ausmacht, so dass der gedankliche Fortschritt indiesem Kapitel gerade darin bestnde, den Bereich der sprachlichen Form dadurchzu przisieren, dass der Teilbereich des mndlichen Vortrags ausgesondert wird;vgl. zur letzteren Mglichkeit Abschnitt 1404a8-12 mit Anmerkungen.(1.1) Ausschluss des mndlichen Vortrags: Wenn der mndliche Vortrag gemAnm. (1.) von der weiteren Errterung ausgeschlossen werden soll, dann fragtsich, warum er berhaupt so ausfhrlich bercksichtigt wurde. Mehrere Antwor-ten kommen in Betracht: Erstens ist das Wie der Rede, wodurch Aristoteles denGegenstand der X^i-Abhandlung charakterisiert, weiter als der Begriff dersprachlichen Form, wie sie tatschlich behandelt wird. Zweitens gingen bei der

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  • 1404a8 Kapitel 1 813historischen Entwicklung der Disziplinen, die mit sprachlicher Form und Mnd-lichkeit befasst sind, beide Aspekte ineinander ber, wie Aristoteles selbst in Ab-schnitt 1404al9-36 zeigt. Drittens muss das Thema der sprachlichen Form gegen-ber der Beachtung des mndlichen Vortrags abgegrenzt werden, weil sich Fragender Mndlichkeit wegen der besonderen Wirkung beim Publikum als Untersu-chungsgegenstand empfehlen. Schlielich ist es fr die Rechtfertigung des Projektswichtig, bei einem gelufigen, aber in bestimmten Kreisen Misstrauen erwecken-den Vorverstndnis anzusetzen, um dann auf dem Wege der Exklusion diejenigenMomente auszusondern, die berechtigten Anlass fr die Vorbehalte gegenber derThematik geben knnen. - Aufgrund dieser historischen wie sachlichen Vorausset-zungen beginnt das Kapitel mit einem vagen Begriff der mit dem mndlichen Vor-trag und der sprachlichen Gestaltung befassten Disziplinen, um daraus im Laufedes Kapitels einen behandelnswerten Teilbereich zu isolieren. Zu der Frage, wozudenn der mndliche Vortrag zunchst berhaupt bercksichtigt wird, wenn erletztlich ohnehin nur aus der weiteren Abhandlung ausgeschlossen werden soll,vgl. die Nachbemerkung zu den Kap. III 1-12: Der bereinigte Begriff der sprach-lichen Form. Ein historisches Beispiel fr eine

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    in den Augen des Aristoteles-berzogene und anstige Form des rednerischen Auftretens und somit der

    jioxqioi im weitesten Sinn stellt Kleon dar: vgl. Ath. pol. 28, 3. Ein impliziterZusammenhang zwischen dem Auftreten solcher Vlksfhrer und der relativenSchlechtheit von Zuhrern, bei denen solche Figuren gut ankommen, wird im sel-ben Zusammenhang in Ath. pol. 28, 1 hergestellt.

    Eine auffllige Parallele zum Ausschluss des mndlichen Vortrags aus dem zubehandelnden Bereich der sprachlichen Gestaltung stellt der Ausschluss der Insze-nierung (ijjic) aus der Tragdientheorie in Poetik 6 dar. Wie der mndliche Vor-trag in der Rhetorik so wird dort die Inszenierung nicht weiterbehandelt (i.) trotzihrer Wirkung auf das Publikum (ii.) aufgrund ihres kunstfremden Charakters(1450al6-20).(2.) weil die ganze Beschftigung mit der Rhetorik auf die Meinung (itQcoav) abzielt": Zu vergleichen mit Weil es aber in der Rhetorik um ein Urteilgeht..." (II 1, 1377b 21 ff.) und Weil der Gebrauch der berzeugenden Reden aufein Urteil gerichtet ist..." (II 18,1391b 8ff.). Die griechische Formulierung jtqo^av" kann natrlich auch meinen, die Rhetorik ziele auf den Schein" ab. Zu-mindest in dieser Bedeutung, wenn nicht schon in der Bedeutung .Meinung', legtdiese Bemerkung verglichen mit den beiden Stellen, die das Urteil als Ziel der Rhe-torik nennen, ein strkeres Gewicht auf den subjektiven Effekt, den die Rhetorikbeim Hrer bewirken soll. Ein solcher Hinweis bei der Einfhrung von rhetori-schen Mitteln, die nicht der Darlegung der Sache dienen, ist typisch, zumal auchdie beiden zitierten Bemerkungen aus II1 und II 18 jeweils dazu dienen, die nicht-argumentativen berzeugungsmittel mit einzubeziehen.(3.) nicht weil es richtig wre, sondern weil es notwendig ist": Das ist ein ein-faches Schema, um den Bereich der Rhetorik ausgehend von den fr gut und rich-tig befundenen, sachbezogenen Methoden um auersachliche Methoden zu erwei-tern. Der Rechtfertigungscharakter dieses Schemas liegt im .notwendig': man be-nutzt diese Methoden, weil sie notwendig sind, um etwas zu erreichen; um was zuerreichen? (i.) Den Erfolg in der ffentlichen Rede, (ii.) Die Durchsetzung des

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  • 814 Drittes Buch 1403b35

    Wahren und Gerechten, (iii.) Gleiche Ausgangsbedingungen gegenber Kontra-henten, die diese Mittel benutzen. Die Errterung des Nutzens der Rhetorik in 11scheint klarerweise (ii.) zu untersttzen, wovon (iii.) ein Teilaspekt sein knnte.Eine solche Generalrechtfertigung entbindet die rhetorische Methode von der Er-wartung, in jedem einzelnen ihrer Teile sachbezogen und sachgem zu sein.

    Das Schema eignet sich natrlich auch bestens fr die Einfhrung und Rechtfer-tigung der Emotionserregung gegenber einem rein auf Beweisen basierendenModell von Rhetorik, wie es in Rhet. 1 1 vorgestellt wird; allerdings operiert Kapi-tel I 2, in dem die Emotionserregung als kunstgemes berzeugungsmittel einge-fhrt wird, abgesehen von allgemeinen Bemerkungen zur .Einfachheit' der Zuh-rer, nicht explizit mit diesem Schema.(3.1) Es stellt sich allerdings die Frage, ob die vorliegende Bemerkung ber-haupt die sprachliche Form meint. Wie bereits aus Anm. (1.) deutlich wurde, ist indiesem Abschnitt nmlich durchaus unklar, inwieweit vom mndlichen Vortragund inwieweit von der sprachlichen Form, so wie sie nachfolgend behandelt wird,die Rede ist. Zwei Antworten kommen in Frage: (i.) Gemeint ist tatschlich diesprachliche Form, denn zu Beginn des Abschnitts wird ausdrcklich das genannt,was die sprachliche Form betrifft". Dann wrde auch fr die Behandlung dersprachlichen Form gelten, dass sie nur notwendig, aber nicht richtig ist. (ii.) Nachder in Anm. (1.) entwickelten Erklrung knnte es sich aber auch so verhalten,dass die hier genannten Vorbehalte gegenber der sprachlichen Form nur den nochnicht bereinigten, weiten Begriff derselben meinen, in dem auch der mndlicheVortrag enthalten ist. Im Verlauf dieses Kapitels wird aber immer klarer, dass dieinsgesamt auf die Sprache und auf das Mndliche gerichteten Knste verschiedeneAspekte haben. Der mndliche Vortrag wird als eine Sache der Begabung vomZentrum der folgenden berlegungen ausgeschlossen. Die sich tatschlich an-schlieende Behandlung der sprachlichen Form konzentriert sich dagegen auf dieErleichterung des Verstehensprozesses, was zwar auch wirkungsbezogen ist,gleichzeitig jedoch in den Dienst der Sache gestellt werden kann. Vgl. zur Ideeeiner

    .bereinigten' Konzeption der sprachlichen Form auch den folgenden Ab-schnitt 1404a8-12.

    (4.) wegen der Schlechtigkeit des Zuhrers (i xqv xo axQoaxoitoxqQav)": Abgesehen von den Hinweisen auf die .Einfachheit' oder .Schlicht-heit' der Zuhrer, die als eine von zwei Begrndungen fr die berhmte Krze desEnthymems dient, ist diese Aussage vor allem mit den folgenden Bemerkungen zuvergleichen:-

    Weil aber die meisten eher schlecht, vom Gewinnstreben abhngig undfeige in Gefahren sind" (II 5, 1382b4f.).

    -

    Sie (die Sentenzen) bedeuten eine groe Hilfe fr die Reden wegen der un-gebildeten Geistesart der Zuhrer; sie freuen sich nmlich, wenn man zufl-lig etwas von denjenigen Meinungen im Allgemeinen sagt, die jene im Be-sonderen haben." (II 21, 1395a32-b3).

    -

    Es darf aber nicht verborgen bleiben, dass alles Derartige auerhalb desArguments liegt: Es richtet sich nmlich an einen Hrer, der schlecht ist undauf das auerhalb der Sache Liegende hrt" (III 14, 1415b4-6).

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  • 1404a12 Kapitel 1 815

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    Man kann nmlich nicht vieles fragen wegen der (intellektuellen) Schwcheder Zuhrer" (III18,1419al8).

    Auch auerhalb der Rhetorik finden sich hnliche Hinweise; vgl. etwa Pol.1263b23: wegen der Schlechtigkeit (der Menschen) (i xf|V pioxrr|Qav)"

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    dortmit Bezug auf Missstnde wie gegenseitige Klagen wegen geschftlicher Vereinba-rungen, Verurteilungen wegen falscher Zeugenaussagen und schmeichlerischemVerhalten gegenber Reichen, die nicht dadurch begrndet seien, dass es keineGtergemeinschaft gibt, sondern gewissermaen durch eine menschliche Kon-stante: die Schlechtigkeit des Menschen. Vgl. zur Reichweite der in Anm. (4.) auf-gelisteten Aussagen aber auch die Anm. zu 1414a8f.b35 Noch ist kein Lehrbuch darber verfasst worden": Eine entsprechendeFormulierung findet sich in 1354al2; zur bersetzung Lehrbuch (xxvn)" vgl.die Anm. 1354al2.a4 verlangt (nxE)": berliefert ist nxEv"; zu der anscheinend schon in yvorhandenen Korrektur vgl. Kassel (1971, 144).a6 durch die Dinge selbst (xo JiQyu,aoiv) ... was ber das Beweisen hinaus-geht (e^co xo jtoE^ai)": Offenbar wird mit dieser Gegenberstellung die For-mulierung eco xo JiQayu-axo" aus I 1,1354al5f., 22f. u.., wieder aufgegriffenund variiert.1404a8-1404al2 In diesem Abschnitt wird endgltig deutlich, dass Aristotelesdas Ziel verfolgt, eine eingeschrnkte Konzeption der sprachlichen Form oder ei-nen Teilbereich derselben zu bestimmen, der dann der weiteren Untersuchung zu-grunde liegen soll. Dazu weist er daraufhin, dass in jeder Belehrung die sprachlicheForm einen geringen, aber notwendigen Anteil ausmacht, insofern es einen Unter-schied fr die Klarheit bedeutet, ob man auf diese oder jene Weise spricht.(1.) Eine Behandlung der sprachlichen Form hinsichtlich ihrer Eigenschaft,die Klarheit des Gesagten zu frdern und so zur Belehrung beizutragen, zieht ganzoffenbar nicht die Kritik auf sich, welcher der uneingeschrnkte Begriff dersprachlichen Form einschlielich des mndlichen Vortrags in Abschnitt1403b35-1404a8 ausgesetzt war.(2.) Klarheit und Stil: Ist Klarheit ein Merkmal des Stils oder kommt sie auchdurch die vllige Vernachlssigung stilistischer Merkmale zustande? Im letzterenFall wre Klarheit allein eine Eigenschaft des Gedankens bzw. der gedanklichenAnordnung, im ersten Fall, wenn Klarheit nicht ohne Bercksichtigung des Stilszustande kme, wre ein wesentlich philosophisches Ziel, die Erzeugung von Klar-heit (vgl. Anm. (3.) zu 1404bl-5), auf die Beachtung des sprachlichen Ausdrucksangewiesen.

    Diese Interpretationsalternative berhrt eine vor allem im 20. Jahrhundert ge-fhrte Kontorverse: Lsst sich die Opposition zwischen einer Stil-freien Wssen-schaft und Philosophie einerseits und der unter stilistischen Gesichtspunkten zubeurteilenden Literatur andererseits aufrechterhalten oder gibt es Grnde, auchdie Philosophie einer Stilkritik zu unterwerfen? Whrend sich die zweite Auffas-sung auf Nietzsche berufen kann und ihren strksten Ausdruck im so genannten

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  • 816 Drittes Buch 1404a8

    Dekonstruktivismus findet (vgl. J. Culler, On Deconstruction, London 1983, 181:...

    literature is not a deviant, parasitical instance of language. On the contrary,other discourses can be seen as cases of a generalized literature, or archi-litera-ture."), kann sich die Gegenseite auf Descartes berufen (vgl. Discourse de lamthode, premire partie, 9: Ceux qui ont le raisonnement le plus fort, et quidigrent le mieux leurs penses, afin de les rendre claires et intelligibles, peuventtoujours le mieux persuader ce qu'ils proposent, encore qu'ils ne parlassent que basbreton, et qu'ils n'eussent jamais appris de rhtorique.") und findet trotz der allsei-tigen Aufmerksamkeit fr die sprachlichen Bedingungen wissenschaftlich-philo-sophischer Aussagen

    -

    soweit es den .bloen Stil' angeht-

    Befrworter (vgl. J. P.Sartre, L'crivain et sa langue", in: ders., Situations IX, Paris 1972, 40: Il est vi-dent que nous n'avons pas besoin de a (du style; d. Verf.) en philosophie, il fautmme l'viter").

    Die Behauptung des vorliegenden Abschnitts geht nun klar in die Richtung,dass bestimmte Formen der Belehrung (iaoxaXia: vgl. dazu die Anm. zu1355a25f.) praktisch keine Rcksicht auf die sprachliche Gestaltung nehmen ms-sen und schliet damit den Stil aus Wissenschaft und Philosophie aus. Es fragt sichdann allerdings, warum Klarheit berhaupt als ein stilistisches Kriterium berck-sichtigt werden muss, wenn sie doch offenbar auch ohne stilistische Anstrengungals Qualitt der philosophischen Untersuchung und somit des .Gedankens(lvoia)' zustande kommt. Die Antwort ist die: fr den Philosophen Aristoteli-schen Typs ist es selbstverstndlich, dass er keine verfremdenden bzw. poetischenAusdrcke gebraucht. Die Klarheit, die er zu erzeugen hofft, kommt daher nichtdurch die Wahl zwischen fremden und gebruchlichen Ausdrcken, sonderndurch die Eliminierung von Mehrdeutigkeiten, die Auflsung von Aporien usw.zustande. Fr den Redner jedoch, der sich aus Grnden der Wirkung entschliet,der sprachlichen Gestaltung Beachtung zu schenken, erffnet sich anders als frden Philosophen die Alternative zwischen einer gewhnlichen und einer fremd-artigen Sprache; um der Klarheit willen auf jede Art von stilistischer Gestaltung zuverzichten hiee, auch auf die Vorteile zu verzichten, die ein beschrnkter Ge-brauch fremdartiger Ausdrcke verspricht. Erst in diesem Abwgungsprozess(dem der unter gewhnlichen Umstnden arbeitende Philosoph nicht ausgesetztist) wird die Klarheit zum Merkmal des Stils. Eine hnliche Einschtzung zurRolle des Stils findet sich explizit in III 3, 1406al7ff.: wer (hinsichtlich der sprach-lichen Form) aufs Geratewohl redet, wird damit keinen besonderen Erfolg haben,jedoch auch keinen besonderen Misserfolg

    -

    im Gegensatz zu dem, der sich an derstilistischen Gestaltung versucht, jedoch den angemessenen Stil verfehlt.alO-11 freilich keinen so groen (Unterschied)": D.h.

    -

    wie Roberts in seinerbersetzung (Not, however, so much importance as people think") richtig unter-stellt

    -

    keinen so groen Unterschied, wie im Allgemeinen angenommen wird.all reiner Anschein (cpavxaoia)": Die pointierte Gleichsetzung der behandel-ten Methoden mit der cpavxaoia erfordert offenbar eine ungewhnliche berset-zung des Ausdrucks. Nicht ganz abwegig ist der Gedanke, diese Methoden spr-chen nur ein bestimmtes seelisches Vermgen an, und zwar vornehmlich eines, dassolchen sinnlichen Einflssen aufgeschlossen ist, wie die Einbildungskraft" (so

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  • 1404al9 Kapitel 1 817bersetzt Sieveke). Nun heit es aber, alle diese Praktiken seien cpavxaaia. Ge-meint ist wohl, dass ein Anschein ohne sachliche Grundlage, etwas nur Eingebil-detes, erzeugt wird. Das entsprche auch der Bemerkung die ganze Beschftigungmit der Rhetorik zielt auf die Meinung/den Schein (jiqc o^av) ab" aus 1404al f.Eine Entsprechung zu dieser Verwendung von cpavxaaia" ist daher weniger inden Ausfhrungen von ber die Seele und Parva Naturalia zum Vermgen dercpavxaaia zu sehen als vielmehr in einer Bemerkung aus Soph. el. 4,165b24f., berdie durch die sprachliche Form verursachten Fehlschlsse: Es gibt der Zahl nachsechs Mittel, welche den Anschein eines Schlusses durch die sprachliche Form her-vorbringen (ujioiovxa xf|v cpavxaaiav)". Hier besteht ein klarer Bezug voncpavxaaia" zu cpaivou,Evo auXXoyia^o (scheinbare Deduktion)".al2 Geometrie": Vgl. III 16, 1417al9, und Anm. dazu.1404al2-1404al9 Verglichen mit dem Gedanken allein hat die hinzukommendeBeachtung der sprachlichen Form einen hnlichen Effekt wie die neu auftretendeKunst des mndlichen Vortrags: wer dies beherrscht, kommt besser an. Eine ge-schriebene Rede bewirkt mehr durch die sprachliche Form als durch den Gedan-ken. Die Beherrschung des mndlichen Vortrags ist in erster Linie Sache der Bega-bung und insoweit kunstfremd, whrend die sprachliche Form zum Kunstgem-en gehrt.

    Der schon zu Beginn des Kapitels ins Spiel gebrachte Gedanke, dass sich Wirk-samkeit und sachliche Prioritt nicht zu entsprechen brauchen und sich geradezuumgekehrt proportional zueinander verhalten (vgl. die Anm. (1.) und (2.) zu1403b 18-27), wird in diesem Abschnitt als Gesetzmigkeit vorausgesetzt; dies ist,wenn berhaupt, dann natrlich nur unter der Voraussetzung der Schlechtigkeitder Zuhrer" plausibel. (Man knnte auch versucht sein, die hier gebrauchte Ge-genberstellung der bekannten Aristotelischen Unterscheidung von natrlicherund epistemischer Prioritt anzugleichen (vgl. etwa Phys. 184al6ff.); dann knnteman auf die Annahme intellektuell insuffizienter Zuhrer verzichten, weil es dannallgemein so wre, dass das von Natur aus Frhere erst spter erkannt werdenwrde. Jedoch geht es bei der hier gemeinten Wrkung nicht um ein Lernen/Ver-stehen, jedenfalls nicht im engeren Sinn, und bei der sachlichen Prioritt nicht umontologisch frhere Prinzipien, sondern um die in der Rede behandelten Sachver-halte. Also sollte von dieser Entsprechung Abstand genommen werden.)al2-13 Wenn also jene ... wie die Vortragskunst (jixqioic)": Der Bezug vonjene (xEtvn)" bleibt offen. Die Mehrzahl der modernen bersetzer offeriert hierin auffallender bereinstimmung dieselbe, unberzeugende Lsung: Erstens be-ziehe sich jene" auf die Vortragskunst, zweitens werde die nachfolgend erwhntejixqioic, mit der jene" verglichen werden soll, als die Schauspielkunst aufge-fasst, so dass drittens derselbe Ausdruck, der noch in 1403b22 als Vrtragskunst(delivery)" bersetzt wurde, jetzt die Kunst des Schauspielers

    -

    im Unterschiedzur Vortragskunst des Redners

    -

    bezeichnen soll. Tatschlich werden im vorlie-genden Abschnitt die Belange der sprachlichen Form (X^i) mit denen des mnd-lichen (und vom Schauspieler verlangten) Vortrags verglichen. Daher liegt nichtsnher, als unter .jixqioic' dieselbe Kunst oder Fhigkeit zu verstehen, die schon

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  • 818 Drittes Buch 1404al2

    in 1403b22 damit bezeichnet wurde, und jene" auf die sprachliche Form (X^t)zu beziehen; letzteres ist schon deswegen angeraten, weil bereits im vorausgegan-genen Abschnitt 1404a8-12 von der Beachtung der sprachlichen Form und nichtvon der Vortragskunst die Rede war.al4-15 Thrasymachos in den Mitleidsformeln (Xeoi)": Vgl. Thrasymachos 85B 5 (Diels/Kranz) sowie Piaton, Phaidros 267c. Die bersetzung Mitleids/or-meln" stellt eine Interpretation der Pluralform dar, durch die vermutlich verschie-dene Weisen der Mitleidserzeugung bezeichnet werden soll. Zu Thrasymachos'Errungenschaften in der Rhetorik vgl. auch in der Einleitung Kap. II, Abs. 1 und 4sowie die Darstellung bei Blass (ND 1979,1 244-258); zu Thrasymachos' Auftre-ten als Sophist vgl. in der Einleitung Kap. II, Abs. 3. Ein berblick zu Thrasym-achos vgl. Kerferd/Flashar (1998, 54-57).al6 eher kunstfremd (xeyvoxeQOv)... kunstgem (vxexvov)": Vgl. zu die-sem Begriffspaar die Anm. (1.) zu 1355b35-1356al.1404al9-1404a36 Die Dichter haben als erste den Ansto zur Beachtung dersprachlichen Form und des mndlichen Vortrags gegeben. Die Auswahl dersprachlichen Ausdrcke und die Stimme sind wichtige Faktoren fr die dramati-sche Nachahmung. Bei manchen Dichtern verhlt es sich sogar so, dass sie nurEinfltiges zu sagen haben, durch die Beherrschung der sprachlichen Form aberdennoch zu Ansehen gekommen sind. Dieses Ansehen der Dichter fhrt dazu,dass auch jetzt noch die Ungebildeten die sprachliche Form der Dichter allgemeinfr die schnste halten. Dagegen muss man zwischen der sprachlichen Form derDichtung und der Prosarede unterscheiden. Auch die Entwicklung innerhalb derDichtung zeigt die Tendenz, den dichterischen Stil aufzugeben und sich einer ander Prosa orientierten Sprache anzunhern, wie es sich etwa im bergang von denTetrametern zu den lamben sowie im Verzicht auf nicht-gebruchliche Schmuck-wrter zeigt.(1.) Worte ohne Inhalt: Die Kritik an den Dichtern, die nur Einfltiges zu sa-gen haben, aber durch ihre Beherrschung der sprachlichen Form bestechen, machtnochmals deutlich, dass fr Aristoteles die Behandlung der sprachlichen Form aufder Behandlung dessen, was man sagen soll, aufbaut, wenn man der .natrlichen'Anordnung dieser Ebenen folgt (vgl. Anm. (1.) zu 1403bl8-27). Wer diese natrli-che Prioritt nicht in Rechnung stellt, redet inhaltslos oder einfltig, was der Ideeeiner sachbezogenen Rhetorik, wie sie von Aristoteles verfolgt wird, natrlich ent-gegensteht. Ein weiterer Beleg fr den Zusammenhang von mndlich-sprachlicherGestaltung und fehlendem Inhalt findet sich in III 7: Viele Redner berschttenihre Zuhrer in der Absicht, Emotionen zu erregen, indem sie nur lrmen

    -

    auchwenn sie nichts zu sagen haben (1408a24).(2.) Dichter und Schauspieler: Auch bei diesem historischen Rckblick berdie Stationen bei der Entdeckung der sprachlichen Form gehen Aspekte derMndlichkeit (der Stimme) und der Wortwahl (der sprachlichen Form im engerenSinn) ineinander ber. Das lsst sich so erklren: Es soll erlutert werden, warumsich die Dichter als erste mit diesem Phnomen befasst haben. Der Grund ist, dassdie Dichter es mit der Nachahmung (vgl. dazu unten, Anm. (3.2)) zu tun haben.

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  • 1404a36 Kapitel 1 819Die geglckte dramatische Nachahmung erfordert aber das Zusammenwirken vonDichtern und Schauspielern, und deshalb wird hier sowohl die Kunst des mndli-chen Vortrags als auch die der richtigen sprachlichen Gestaltung berhrt: derDichter trifft die richtige Wortwahl und der Schauspieler muss in einer zur Nach-ahmung geeigneten Weise vortragen. Dieselbe Kooperation wird in III 12,1413bl0-12 beschrieben: Deswegen suchen auch die Schauspieler nach dieser Artvon Stcken (solche die zum mndlichen Vortrag durch ihre sprachliche Form ge-eignet sind; d. Verf.), und die Dichter nach solchen (Schauspielern) (die das Stckentsprechend vortragen knnen; d. Verf.)."(3.) Sprachliche Ausdrcke als Nachahmungen: Die Verbindung des Aus-drucks LU|tfjptaxa" mit vitaxa" ldt frmlich zu Missverstndnissen ein, unddie ivAetorz&-Kommentatoren folgen dieser Einladung bereitwillig. Das Problemscheint dies zu sein: In den ersten Kapiteln von De Interpretation bezieht Aristo-teles in der Kontroverse zwischen semantischem Konventionalismus und Natura-lismus deutlich Stellung gegen den Naturalismus. Der Naturalismus nimmt einenatrliche, nicht-konventionelle Relation zwischen den sprachlichen Zeichen undder bezeichneten Sache an; dabei kann es sich um ein hnlichkeits-, Abbild- oderNachahmungsverhltnis handeln (vgl. in Piatons Kratylos: Kratylos hier, o Sokra-tes, behauptet, jegliches Ding habe seinen von Natur ihm zukommenden richtigenNamen": 383a, Die Richtigkeit des Wortes, sagten wir, besteht darin, dass esanzeigt, wie die Sache beschaffen ist": 428e, Folglich stimmst du zu, dass auch dasWort eine Nachahmung der Sache ist?": 430a-b, Bei weitem und ohne Frage ist esvorzglicher, Sokrates, durch ein hnliches (Wort) darzustellen, was jemand dar-stellen will, als durch das erste beste": 434a). Dagegen bezeichnet Aristoteles inInt. 1 die Wrter als Symbole (16a3), die nicht bei allen Menschen dieselben sind(16a5-6). In Int. 2 legt er darber hinaus fest, dass nichts von Natur aus ein No-men sein knne, sondern nur durch Vereinbarung (xax auvf}fjxr|v) (16a26-28),wenn es aufgrund einer solchen zum Symbol geworden ist.

    Wenn Aristoteles nun an der vorliegenden Stelle der Rhetorik sagt, die sprachli-chen Ausdrcke seien Nachahmungen, und damit einen der Schlsselbegriffe derin De Interpretation bekmpften naturalistischen Semantik aufgreift, dannscheint der Widerspruch perfekt; vgl. Cope/Sandys (III 9): This is the platonictheory, Cratyl. 423A seq." Auf dieselbe Kratylos-Seite verweist auch Parson (1836,254, Fun. 8). Entsprechend auch Kennedy (219, Fun. 11): this is consistentwith some of Plato's Cratylus but not with Aristotle's own discussion of words inOn Interpretation 1, where they are called .symbols' and .signs'." Auch Sieveke(280, Endn. 155) hlt hier die Position des Platonischen Kratylos fr gegeben, siehtaber keinen Widerspruch zu Int., weil er offensichtlich die konventionalistischePointe der dortigen Ausfhrungen missversteht: Aristoteles spreche dort ber diemimetische Kraft der Sprache als Ausdruck der Seele und daraus resultierend berdie individuelle Verschiedenheit der Ausdrucksweise".

    Nun ist die Identifikation der vorliegenden Stelle mit der im Kratylos vorgetra-genen Position des semantischen Naturalismus bei genauerem Hinsehen vllig un-angebracht, und deswegen entsteht auch kein Widerspruch zu De Interpretation1-2. Es geht nmlich an dieser Stelle gar nicht um die Frage der semantischenNaturalismus/Konventionalismus-Kontroverse, durch welche Art von Relation

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  • 820 Drittes Buch 1404al9

    die Worte zu ihrer Bedeutung kommen. Es geht allein darum, dass die Worte, dieschon eine Bedeutung haben (wie und warum, ist hier gar nicht von Interesse),dazu benutzt werden, Wirklichkeit nachzuahmen. Der Begriff mimesis" kannzwar bei Aristoteles auch allgemein das Herstellen von hnlichem und die Nach-bildung von Wirklichkeit meinen, mit Blick auf die Schauspielkunst drfte jedochin einem spezifischeren Sinn die dramatische Nachahmung von Personen gemeintsein. Dafr, will Aristoteles sagen, ist die Auswahl der Wrter wie auch der Ge-brauch der Stimme, zentral: Mit Wrtern ahmt man sprechende Personen dar

    -dies ist die Aufgabe der dramatischen Dichtung. Aber selbstverstndlich haben dieWrter, die man dazu gebraucht, um im Drama sprechende und handelnde Perso-nen nachzuahmen, dieselbe Bedeutung, die sie htten, wenn sie von der nachge-ahmten Person selbst

    -

    also ohne jede Nachahmung-

    gebraucht wrden. Unver-stndlich scheint die bliche Verwechslung dieser Bemerkung mit der im Kratylosvorgetragenen Position auch deshalb, weil gleich im Anschluss von der zentralenBedeutung der Stimme die Rede ist, so dass die Qualitt der Nachahmung der zubezeichnenden Dinge

    -

    und damit die Voraussetzung fr die Mglichkeit sprachli-cher Verstndigung

    -

    nicht nur von der verwendeten Phonemfolge, sondern auchnoch von der Stimme abhngen wrde, die diese Phonemfolge ausspricht.a26 wie zum Beispiel die des Gorgias": Gorgias, 82 A 29 (Diels/Kranz). ZuGorgias als Lehrer der Rhetorik vgl. in der Einleitung Kap. II, Abs. 4 sowie Blass(ND 1979,147-91).a31 zu den lamben": Vgl. Poetik 4, 1449a24-28; ausfhrlich zitiert in der Anm.zu III 8, 1408b33-35.a33 [aufgegeben (acpExaoiv)]": Das nach Zeile a33 vorgezogene, verdoppelndeacpExaoiv" wird von Kassel als fremder Zusatz eingeklammert, der dabei Th.Twining, Aristotle's Treatise on Poetry, London 1789, 471, folgt.1404a36-1404a39 Nicht alles, was man zur sprachlichen Form sagen knnte, ge-hrt zum Thema der Rhetorik.

    Was gehrt nicht dazu? Die Behandlung des Dichtungsstils. Aber auch nicht die-

    ohnehin eher kunstfremden-

    Belange des mndlichen Vortrags.a39 in der Poetik": Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 20-22.

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  • Kapitel 2Ausgehend von einer Definition der Vortrefflichkeit bei der sprachlichen Form(Qexq xfj X^eco) der Prosarede entfaltet das Kapitel den Kern einer Theorie dersprachlichen Form: Diese muss im Dienst der Verstndlichkeit stehen und dazubeitragen, das .Lernen', welches beim Hrer ausgelst werden soll, zu erleichtern.Wie die sprachliche Form diese Aufgabe erfllt, erklrt Aristoteles unter Anwen-dung des Modells der Mitte zwischen einer Form, die banal ist und fr den Hrernichts bereit hlt, was es zu entdecken gbe, und einer Form, die trotz Bemhungdes Zuhrers fremd und unverstndlich bleibt. Die Verstehensbemhung des Zu-hrers wird dagegen optimal gefordert, wenn es etwas aufzudecken oder zu lernengibt, was jedoch keine zu lange berlegung erfordert. Aufgrund dieser Beschrei-bung erhlt die Metapher, die ihrerseits zwischen einer zu banalen und einer zufremdartigen und unverstndlichen Ausdrucksweise liegt, ihre besondere Rolle.

    Inhalt: Die Vortrefflichkeit der sprachlichen Form (1404M-5). bliche undDichterische Ausdrcke (1404b5-10). Der so genannte Anschein des Erhabene-ren" (1404bl018). Die Absicht bei der Komposition der Rede muss verborgenbleiben (1404bl8-26). Fr die Prosarede kommen nur zwei Arten von Ausdr-cken in Frage (1404b26-37). Die Bedeutung der Metapher (1404b37-1405a2). Ver-schiedene Regeln fr den Gebrauch von Metaphern (1405a3-1405b21). Beiwrter(1405b21-28). Die Verkleinerung (1405b28-33).

    Anmerkungen1404bl-1404b5 Die Vortrefflichkeit der sprachlichen Form (agexq xfj X^eco)in der Prosarede: Sie muss erstens klar und darf zweitens weder zu banal noch zuerhaben, sondern angemessen sein. Verfehlt die Rede das Ziel, klar zu sein, erflltsich ihre eigentmliche Aufgabe, nmlich die, ihren Gegenstand klar zu machen(oqXov), nicht.(1.) Die Vortrefflichkeit der sprachlichen Form: Die klassische antike Rhetorikkennt vier Tugenden oder Vortrefflichkeiten des Stils (Qexai xfj Xh,e

  • 822 Drittes Buch 1404b1

    punkt: These four qualities of style (those mentioned by Cicero and Quintilian;d. Verf.) are implicitly recognized by Aristotle in the two first sections of thischapter ..."; die nicht ausdrcklich genannte Sprachrichtigkeit sei implizit in derKlarheit enthalten, und der ebenfalls nicht genannte Schmuck ergebe sich daraus,dass die gut formulierte Rede laut Definition nicht zu banal sein darf und dies imfolgenden Abschnitt erlutert wird mit nicht banal, sondern geschmckt...".

    Mit diesen unterschiedlichen Stellungnahmen gibt Cope zwei klare Interpreta-tionsmglichkeiten fr die Bestimmung der vortrefflichen sprachlichen Form vor.Nach der ersten unterscheidet sich Aristoteles von der spteren Tradition dadurch,dass er nur zwei Haupttugenden des Stils, nmlich die Klarheit und die Angemes-senheit annimmt (was der spteren Vier-Tugenden-Lehre aber nicht grundstzlichwidersprechen wrde, zumal es auch bei Cicero und Quintilian Anstze gibt, ers-tens die Angemessenheit auszuzeichnen und zweitens die Sprachrichtigkeit alsVoraussetzung der Klarheit zu charakterisieren). Nach der zweiten Stellungnahmesind Aristoteles' Bestimmungen zwar noch unprzise (vgl. Cope 1867, 279), ent-halten aber die sptere virtutes-dicendi-hehre bereits implizit.

    -

    Die folgendenAnmerkungen (bis zu Abschnitt 1404b26-37; im Besonderen die des vorliegendenAbschnitts) sollen zeigen, dass beide Interpretationsmodelle unangemessen sind:Abgesehen davon, dass Aristoteles nicht von Vortrefflichkeiten in der Mehrzahl,sondern von der Vortrefflichkeit der sprachlichen Form spricht, und abgesehendavon, dass die Integration der Sprachrichtigkeit (die Aristoteles unter dem Titel.korrektes Griechisch' in Kapitel III 5 behandeln wird) offensichtlich einem spte-ren Systematisierungsanliegen entspringt, ist vor allem zu zeigen, dass der in dervorliegenden Definition benutzte Begriff der Angemessenheit erstens keine ele-mentare Kategorie darstellt und zweitens nicht mit dem in Kapitel III 7 behandel-ten Stilmerkmal gleichgesetzt werden kann, das als Vorbild fr die Kategorie desaptum in der spteren virtutes-dicendi-hehre dient.(1.1) Die beiden Teile der Definition: Der erste Teil der Definition (dass sieklar ist") ist vom zweiten Teil (und nicht zu banal und nicht ber die Maen erha-ben, sondern angemessen (xai u/fjXE xajitvf|v ufjxE jtQ x icou,a, XXJiQjiouaav)") durch das EQyov-Argument (nmlich die eigentmliche Aufgabeder Rede: siehe unten, Anm. (2.)) deutlich getrennt. Das EQyov-Argument gibt da-her prima facie nur eine Begrndung fr den ersten Teil der Definition, whrendder zweite Teil nicht nher begrndet wird. Der zweite Teil der Definition enthlteine wesots-(Mitte)-Struktur: die sprachliche Form soll weder zu banal noch zuerhaben sein. Diese mesots-Struktur gibt Anlass fr die Bemerkung XXJiQjxouaav (sondern angemessen)". Die hier gemeinte Angemessenheit kann sichdaher nur auf die Auswahl von Ausdrcken nach dem Merkmal der Banalitt undErhabenheit beziehen. Angemessen wofr} Weil die einzige Erluterung, die sichdazu findet, den Unterschied von Dichtung und Prosarede betrifft, knnen nur dieBedingungen der ffentlichen Prosarede im Allgemeinen gemeint sein.

    Wie hngt der zweite mit dem ersten Teil der Definition zusammen? Eine Er-klrung fr das Verhltnis der beiden Definitionsteile zueinander ergibt sich, wennman zur Kenntnis nimmt, dass in 1404b6 die Klarheit der Rede mit der Verwen-dung blicher Ausdrcke, und die Verwendung dieser Ausdrcke mit der Banali-tt gleichgesetzt wird. Man kann daher die Definition wie folgt verstehen:

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  • 1404b5 Kapitel 2 823,Die Rede muss (wie im EQyov-Argument begrndet) klar sein, wodurch sie ba-nal wird; sie darf aber nicht zu banal sein, sondern muss auch etwas Erhabeneshaben

    -

    jedoch nicht zu erhaben: vielmehr muss sie einen Ausgleich finden zwi-schen der Klarheit einerseits und einer der Prosarede angemessenen Erhaben-heit.'

    So verstanden enthlt die Bestimmung der vortrefflichen sprachlichen Form einemesots-Struktur, die sich auf die Pole der Klarheit/Banalitt und der Erhabenheitbezieht. Damit ndert sich auch die Reichweite des EQyov-Arguments, insofern esjetzt auch den zweiten Teil der Definition mit einbezieht (unbegrndet bleibt indiesem Abschnitt dennoch, warum die Rede nicht einfach klar & banal sein darf,sondern zustzlich erhaben/fremdartig sein soll; vgl. dazu Anm. (2.) zu1404b5-10).(1.2) Angemessenheit: Der Begriff der Angemessenheit, den Aristoteles inner-halb der Rhetorik in verschiedenen Zusammenhngen verwendet, ist immer inzweierlei Hinsicht ergnzungsbedrftig: man kann fragen (a) .angemessen was)'mit den mglichen Antworten .angemessen erhaben, .angemessen emotional',.angemessen charaktervoll', ,angemessen kurz' usw. sowie (b) ,angemessen wofr/mit Bezug worauf)' mit den mglichen Antworten .angemessen fr den-und-denGegenstand', .angemessenen fr einen Redner von dem-und-dem Alter, .ange-messen fr die Dichtung/fr die Prosarede' usw. Was mit Angemessenheit jeweilsgemeint ist, ndert sich mit den Ergnzungen, und die Ergnzungen, die in denverschiedenen Zusammenhngen vor allem von Rhet. III einzusetzen sind, variie-ren von Fall zu Fall. Daher ist die Angemessenheit in der Rhetorik keine homo-gene Kategorie.(1.2.1) Angemessenheit als universales Metakriterium? Gerade weil die Ange-messenheit in verschiedenen Zusammenhngen auftritt, knnte man argumentie-ren, die Angemessenheit sei eine Art Metakriterium, das auf alle mglichen stilisti-schen Phnomene angewandt werden muss: Angemessenheit wre dann eine uni-versale Forderung, die unabhngig davon besteht, wie die Leerstellen in ,angemes-sen was und angemessen wofr' ergnzt werden. Wenn Aristoteles die Angemes-senheit als ein solches Kriterium einfhren wollte, dann wre die vorliegende De-finition der angemessene Ort. In der vorliegenden Definition jedoch ist, wie inAnm. (1.1) gezeigt, nicht die abstrakte Kategorie der Angemessenheit gemeint;vielmehr geht es darum, dass die sprachliche Form (a) angemessen fr die Prosa-rede im Allgemeinen ist und dass sie (b) angemessen erhaben ist (d.h. genau ge-nommen, dass sie einen angemessenen Punkt auf der zwischen Banalitt und Erha-benheit aufgespannten Skala trifft).(1.2.2) Angemessenheit und mesots-Struktur (Angemessenheitj): Der Begriffder Angemessenheit wird von Aristoteles oft dazu benutzt, um in einer mesots-Struktur die richtige Mitte anzuzeigen: vgl. etwa EN IV 4, 1122a23, 25, 34 u.a.;Beispiele in der Rhetorik: indem sie weder zur Knauserei noch zur Ausschwei-fung neigen, sondern zum Angemessenen." (1390bl f.) ... was jene aber im ber-ma oder zuwenig haben, davon haben sie ein mittleres Ma und das Angemes-sene." (1390b8f.) Denn wenn man viele Worte macht, ist es nicht klar, und auchnicht, wenn es kurz ist. Jedoch ist offenbar die Mitte (zwischen beiden) angemes-

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  • 824 Drittes Buch 1404b 1

    sen." (1414a24f.) In dieser Bedeutung ist das griechische .JiQjtov' mit .gpixxov'und ,ou,u,exqov' austauschbar. Nennen wir diesen Begriff der Angemessenheit.Angemessenheit!'. Nicht jeder Fall von Angemessenheit ist als ein Fall von meso-ts-Struktur konzipiert, in der vorliegenden Definition ist aber der Begriff vonAngemessenheit] gegeben, insofern die Mitte zwischen der klaren, aber zu banalenund der zu erhabenen Form angegeben wird. Damit steht die Bestimmung derVortrefflichkeit in der sprachlichen Form in bereinstimmung zu den Bestim-mungen der moralischen Vortrefflichkeiten, die in den ethischen Schriften be-kanntlich ebenfalls als Mitte bestimmt werden.

    -

    Schon Henrickson (1904, 132)hat bemerkt, dass die Begriffe .Mitte' und .Angemessenheit' in der Rhetorik aus-tauschbar sind, versumt aber, verschiedene Verwendungen von .Angemessenheit'zu unterscheiden. Anderson (1968) bemerkt, dass es bei der sprachlichen Form umeine Mitte geht, hlt aber die Klarheit fr eine Mitte; er fllt auerdem hinter dieEinsicht von Henrickson (a.a.O.) zurck, wenn er zustzlich die Angemessenheitals die richte Mitte bezeichnet, ohne zu sehen, dass in diesem Gebrauch .angemes-sen' gar nichts anderes heit als ,in der richtigen Mitte befindlich'. Die brigen dreiAnwendungen der mesots-Struktur auf die Rhetorik, die Anderson nachzuweisenversucht, beruhen auf falschen bzw. flschlich verallgemeinernden Deutungen.Huseman (1970) wendet das mesots-Modell berzeugender auf die vorliegendeDefinition an, kann jedoch ebenfalls nicht klar angeben, welches die beteiligtenExtreme sind; auerdem versucht er in einer falschen Analogie zum ethischen Ge-brauch des mesots-Modells die Lehre des Xyoc Qifc in seine Erklrung miteinzubauen.

    (1.2.2.1) Mgliche Vorbilder des mesots-Modells: Auch wenn sich die Bestim-mung der ethischen Tugenden als Vergleich zu dem hier angewandten Zusammen-hang von Mitte und Vortrefflichkeit anbietet, scheint historisch gesehen nicht dieethische Tugendlehre das Vorbild fr die hier explizierte Lehre der vortrefflichenSprachform als einer Mitte zu sein. Wahrscheinlich ist umgekehrt die bei Piatonund hier auch bei Aristoteles gegebene Bestimmung des vortrefflichen technischenProdukts durch die Mitte-Norm

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    sei es direkt oder aufgrund weiterer Entwick-lungsstufen

    -

    das Vorbild fr die mesots-Lehre der Ethiken. Piaton hatte vor al-lem im Gorgias die Vortrefflichkeit im Bereich der xxvn als die Herstellung einerOrdnung (xoou,o/xi;i) beschrieben und dies als Vorbild fr den Zustand dertugendhaften Seele gebraucht (503d ff.). Sptestens im Polidkos scheint dieserOrdnungsgedanke bei Piaton die spezifischere Form der mesots-Struktur ange-nommen zu haben. Mit Blick auf die Messkunst, unter die in gewisser Weise alleanderen Knste fallen (284c), spricht er von Knsten, die alles mit Blick auf dasMavolle (x [txQiov), das Angemessene (x JtQjtov), die rechte Gelegenheit(xv xaiQv), das Gebhrende (x ov) und berhaupt alles, was seinen Sitz inder Mitte zwischen zwei Extremen (e x itoov

    ...

    xcv axxcov) hat" (284e)messen. Das Modell der Mitte zwischen zwei Extremen

    -

    spter hufiger als dieMitte zwischen ujiEQoXfj und eXXeix[)i (vgl. Nom. 719d)

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    kehrt auch in denpseudo-platonischen, aus dem Umkreis der lteren Akademie stammenden Defi-nidones als Definition des Mavollen/Angemessenen wieder: MxQiov x u.oovUJtEQoXfjc xai XXEtpEco xai xax xxvr|v gxov" (415a; vgl. auch H. G. In-genkamp, Untersuchungen zu den Pseudoplatonischen Definitionen, Dissertation,

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  • 1404b5 Kapitel 2 825Bonn 1966, 87 f.). Insofern nun einerseits bei der vorliegenden Lehre sowie an wei-teren Stellen der Rhetorik (vgl. die oben in Anm. (1.2.2) genannten Stellen) diemesots-Lehre klar und regelmig in Zusammenhang mit .technisch-herstellen-den' Kontexten gegeben ist, und andererseits der Tugendbegriff, den der Autor derRhetorik hat, nicht die ausgearbeitete mesots-Lehre der Ethiken voraussetzt (vgl.die Anm. zu 1366a33-b3, 1366a9-22, (2.) zu 1386b25-b33, sowie die Nachbem. zuKap. I 4-14), scheint die mesots-Lehre der Rhetorik eher an die genannten Zu-sammenhnge der Platonischen Tradition anzuknpfen und knnte daher eineVorstufe zur Lehre der Ethiken darstellen, die die einzelnen moralischen Tugendenanhand des Mitte-Schemas erlutern. Auch Kapp (1912, 42, Fun. 81) hlt dies freine gegenber dem Platonischen Kunst-Mitte-Schema sptere Entwicklung: DerSchritt aber, dass jede einzelne Tugend eben als pxaoxq gefat wird, ist vor Aris-toteles wohl nicht getan." Ebenso Krmer (1959, 359) mit Blick auf Piatons Politi-kos: eine besondere Mitte und Normstruktur fr jede einzeln Arete gibt es of-fenbar nicht."

    -

    Vgl. zur voraristotelischen mesots-Lehre neben Kapp (a.a.O.),Krmer (a.a.O.), Kalchreuther (1911), Souilh (1919), Wehrli (1951) und Dirlmeier(91991, 304 f.), Hutchinson (1988). Fr das Fehlen der mesots-Lehre in Rhet. 1 9bei der Bestimmung der Einzeltugenden vgl. die Anm. (2.1) zu 1366b9-22.(1.2.3) Angemessenheit als Entsprechung (Angemessenheitj: Wenn es etwa inden Ausfhrungen zum Angemessenen in III 7 heit, angesichts bermtiger Be-handlung msse die sprachliche Form die eines Zrnenden sein, dann wird darinAngemessenheit (der emotionalen Frbung), jedoch keine Mitte angestrebt. Auchdie Forderung, von einem bestimmten geringfgigen Gegenstand nicht erhaben,und von einem erhabenen Gegenstand nicht sorglos zu sprechen, ist nicht dadurchzu erklren, dass die Mitte zwischen zwei Extremen gesucht wird. In diesen Fllengeht es, wie Aristoteles in III 7, 1408al 116 erlutert, um ein Entsprechungsver-hltnis: je niedriger der Gegenstand, desto banaler die Sprache; je emprender dasEreignis, umso emprter die sprachliche Form, usw. Nennen wir das die .Ange-messenheit2'. An diesem Begriff der Angemessenheit orientieren sich die fr dieRhetorik (fr die Aristotelische, mehr aber noch fr die rmische) so wichtigenAnleitungen, der Stil msse einerseits dem Gegenstand, andererseits der Persondes Redners angepasst sein. Dieser Begriff von Angemessenheit spielt im vorlie-genden Absatz genau insofern eine Rolle, als darauf verwiesen wird, dass die erha-bene Form nur der Dichtung, nicht aber der Prosarede angemessen ist.(1.2.4) Die beiden Begriffe derAngemessenheit: Das Ergebnis der Unterschei-dung von Angemessenheitj und Angemessenheit2 ist, dass der Begriff der Ange-messenheit bei der Definition der Vortrefflichkeit in der sprachlichen Form dop-peldeutig ist. Dass es um das Verhltnis eines Ausgleichs bzw. einer Mitte zwi-schen zwei sich gegenseitig aufhebenden Anliegen, und somit um Angemessen-heitj geht, wird schon aus den wiederholten Formulierungen des Typs weder zu... noch zu ..." deutlich sowie aus den zahlreichen Gegenberstellungen von Klar-heit/Verstndlichkeit/Banalitt einerseits sowie Fremdartigkeit/Erhabenheit/Un-verstndlichkeit andererseits. Ein klarer Beweis dafr, dass die Angemessenheitj(auch) gemeint ist, gibt die rekapitulierende Formulierung in III 12, 1414a23f.:Denn wofr sonst sollte sie klar und nicht zu banal, sondern angemessen sein?",denn darin kann gar nicht von Angemessenheitj die Rede sein, weil jeder Hinweis

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  • 826 Drittes Buch 1404bl

    auf die Erhabenheit fehlt und die Formulierung nicht zu banal" nur in Zusam-menhang mit Angemessenheit] einen Sinn ergibt (die fr die mesots-Strukturentscheidende Skala ergibt sich nmlich schon aus der Nennung eines Poles dersel-ben), whrend sich das der Angemessenheit2 entsprechende Problem, dass dieklare Form mit Blick auf den Gegenstand der Prosarede zu banal sein knnte, niegestellt hat (zu banal droht die Rede nicht in Entsprechung zu ihrem Gegenstand,sondern durch die Bemhung um Klarheit zu werden). Das Verlassen derjenigenMitte jedoch, welche die Vortrefflichkeit der sprachlichen Form definiert, wirdnach der einen Seite hin als ein Versto gegen die Angemessenheit2 beschrieben,nmlich als Versto gegen das geforderte Entsprechungsverhltnis zwischen Ge-genstand der Rede und sprachlicher Form; darauf wird in dem Nachsatz: Diesprachliche Form der Dichtung ist ... fr die Rede nicht angemessen" angespielt.(1.2.5) Vorlufige Folgerung: Wie oben dargestellt, wurde die Angemessenheitin der Vergangenheit als eine von zwei nicht eliminierbaren Grundkategonen dersprachlichen Form oder als eine von vier virtutes dicendi verstanden. Nehmen wirden Begriff in der Bedeutung von Angemessenheitj dann sind beide Optionennicht mglich; denn dann bezeichnet die Angemessenheit ein Verhltnis zwischenzwei anderen Begriffen, und diese Begriffe verdienten dann, als die beiden Grund-kategorien verstanden zu werden. Was mit .Angemessenheit' gemeint ist, knntedann auch durch Formulierungen wie .weder allein das eine ... noch allein dasandere' usw. umschrieben werden. Auf diese Weise wrde klar, warum Aristotelesnie von Tugenden der sprachlichen Form spricht: Es gibt zwar mehr als emeGrundkategorie der sprachlichen Form, aber die Vortrefflichkeit besteht in einemVerhltnis zwischen diesen, und das richtige Verhltnis ist nur ez'wes (Angemessen-heit,). Auch empfiehlt es sich unter dieser Voraussetzung, keine zu starken Bezie-hungen zwischen der hier errterten Definition und dem Gegenstand von Kap. III7, wo ausschlielich von Angemessenheit2 die Rede ist, anzunehmen.

    Was aber ist mit Angemessenheit2? Lsst sie sich als Grundkategorie der sprach-lichen Form erweisen? Im Gegenteil: sie lsst sich sogar aus der Definition derVortrefflichkeit eliminieren, weil sie sich als ein nur abgeleitetes Merkmal erweist:(1.2.6) Eliminierung des Begriffs der Angemessenheit2: Was wre, wenn diesprachliche Form der Prosarede unangemessen2 wre, etwa indem sie ausgiebigvon poetischem Vokabular Gebrauch machte? Eine Antwort darauf sowie prakti-sche Folgerungen skizziert Aristoteles in den Abschnitten 1404bl0-18 und1404bl8-26: Wer sich einer unangemessenen Form bedient, der zeigt damit, dasser geknstelt redet; und wer geknstelt redet, gibt zu verstehen, dass er damit einebestimmte Absicht verfolgt. Das lehnen die Zuhrer jedoch ab, womit der Effekt,den sich der Redner vom Gebrauch fremdartiger Ausdrcke verspricht, aufgeho-ben ist. Die Forderung, angemessen2 zu sprechen, ist deshalb dem Ziel untergeord-net, dass die kalkulierende Wortwahl verborgen bleibt. Nachdem dieser Zusam-menhang aufgezeigt wurde und klar ist, warum die Benutzung fremdartiger/erha-bener Ausdrcke nie soweit gehen darf, dass sie dem Zuhrer bewusst wird, para-phrasiert Aristoteles die Definition der gelungenen sprachlichen Form in der ver-nderten Version: Wenn daher einer die Rede gut macht, wird sie offensichtlichfremdartig sein und (dabei) in der Lage, (es) zu verbergen, und sie wird klar sein.Dies nmlich war, wie wir sagten, die Vortrefflichkeit der rhetorischen Rede."

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  • 1404b5 Kapitel 2 827(1404b35-37) Dass es sich hierbei um eine Rekapitulation der Definition aus1404bl-4 handeln soll, ergibt sich aus der Formulierung wie wir sagten" zwei-felsfrei (vgl. die Anm. zu 1404b37). Gut wiedererkennbar sind in dieser Version diebeiden Faktoren der Fremdartigkeit und Klarheit. Dass die Vortrefflichkeit dersprachlichen Form insoweit einen Ausgleich zwischen beiden Faktoren darstellenmuss, als diese sich gegenseitig beeintrchtigen, wird hier nicht ausdrcklich ge-sagt, sondern muss aus der Gegenberstellung erschlossen werden. Entscheidendist aber, dass jeder Hinweis auf die Angemessenheit fehlt und die Kategorie derFremdartigkeit anstelle dessen erlutert wird durch die Formulierung fremdartigsein und dabei in der Lage, (es) zu verbergen"; hnlich beschrnkt sich Aristotelesin einer abschlieenden Bemerkung zur sprachlichen Form auf die gute Mischungvon Gewohntem und Fremdartigem (1414a26f.), nachdem er zuvor an die Defini-tion der Vortrefflichkeit erinnert hatte (1404b22f.). Damit wird insgesamt best-tigt, dass die Bemhung um Angemessenheit2, wie sie in 1404M-4 definitorischverankert wird, vollstndig durch das Ziel erklrt werden kann, den Gebrauchfremdartiger Ausdrcke unauffllig zu gestalten. Damit wiederum ist klar, dassAngemessenheit2 nicht zu den stilistischen Grundkategorien gehrt, die durch dieDefinition der sprachlichen Vortrefflichkeit eingefhrt werden.(1.2.7) Die beiden Grundkategorien der sprachlichen Form: Nach den Aus-fhrungen der vorhergehenden Abschnitte besteht die Vortrefflichkeit der sprach-lichen Form in Folgendem:

    ,Sie ist sowohl klar als auch fremdartig, dabei aber weder zu banal noch zufremdartig/erhaben. '

    Irreduzible Grundkategorien der gelungenen sprachlichen Form sind daher nichtKlarheit und Angemessenheit (wie bei Cope/Sandys (III 14) behauptet), sondernKlarheit und Fremdartigkeit. Warum die Prosarede klar sein muss, ergibt sich ausdem spezifischen EQyov (der spezifischen Aufgabe) der Rede (siehe unten, Anm.(2.)). Warum die Rede zugleich fremdartig/erhaben sein soll, wird erst im folgen-den Abschnitt 1404b5-10 begrndet. Diese Begrndung wird umgekehrt auch zei-gen, warum die Rede nicht zu banal sein darf. Dafr dass die sprachliche Formnicht zu fremdartig/erhaben sein darf, gibt es zwei Begrndungen: erstens findetdie Bemhung um Fremdartigkeit dort ihre Grenzen, wo sie beginnt, die Rede un-klar zu machen; zweitens darf sie, wie oben gezeigt, nicht so aufdringlich sein, dassder Hrer eine Absicht dahinter bemerkt und sich dadurch abgestoen fhlt.(1.2.8) Zwei mgliche Interpretationen des mesotes-Verhltnisses: Eine mgli-che Interpretation des hier dargelegten Modells der richtigen Mitte zwischen .klar/banal' einerseits und

    .fremdartig/erhaben' andererseits wre die, dass die Vortreff-lichkeit der sprachlichen Form einen Kompromiss zwischen Klarheit und Fremd-artigkeit/Erhabenheit darstellt. Somit gbe es verschiedene Grade von Klarheit,und die Konzession an das Erfordernis der Fremdartigkeit/Erhabenheit wrde einAbrcken von dem hchsten Grad an Klarheit bedeuten. Diese Lesart ist durch dieAristotelischen Formulierungen, die nur die Banalitt und nicht die Klarheit stei-gern, nicht notwendigerweise impliziert. Mglich ist auch folgende Interpretation:Was klar ist, ist bisweilen, aber nicht immer banal; stellen wir uns daher eine Skalavor, die unterschiedliche Grade zwischen Banalitt und Fremdartigkeit aufzeigt,

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  • 828 Drittes Buch 1404bl

    dann wre es mglich, dass begonnen mit dem Pol maximaler Banalitt Klarheitauf verschiedenen Stufen abnehmender Banalitt in selbem Mae vorhanden ist.Von einem bestimmten Punkt der Fremdartigkeit an wrde die Klarheit jedoch inUnklarheit umschlagen. Bei einem solchen Modell kme es darauf an, denjenigenPunkt auf der Skala zu treffen, der am "weitesten vom Banalen entfernt ist (oder

    -

    was dasselbe ist-

    am weitesten in den Bereich des Fremdartigen hineinreicht) unddabei noch klar und noch nicht unklar ist (wobei noch' keine abnehmende Klar-heit, sondern den letzten Punkt vor dem Umschlag zur Unklarheit bezeichnet).

    -Fr diese zweite Interpretation spricht erstens der Umstand, dass Aristoteles nurdavon spricht, dass Formulierungen ,zu banal' werden, whrend es eine indirekteFolge des graduellen Modells wre, dass die sprachliche Form ,zu klar' werdenknnte, was wir bei Aristoteles jedoch sicherlich nirgendwo finden wrden. Zwei-tens sagt Aristoteles von der Metapher, sie enthalte in hchstem Mae das Klare,das Angenehme und das Fremdartige (1405a8f.; vgl. die Anm. dazu), was er sonicht sagen knnte, wenn die der Metapher eigene Fremdartigkeit einen deutlichenAbstrich an Klarheit beinhalten wrde.

    (2.) Ein Egyov-Argument: Mit der Bemerkung, die Rede, die ihren Gegen-stand nicht klar mache, verfehle ihre eigentmliche Aufgabe (Qyov), spielt Aristo-teles auf ein Argumentationsmuster an, das die besondere Vortrefflichkeit einerSache aus deren eigentmlicher Aufgabe bestimmt. Er spielt insofern nur daraufan, als er nicht wirklich die Vortrefflichkeit der sprachlichen Form aus diesem Ar-gument herleitet, sondern nur negativ eine Bedingung ableiten kann, unter der dieVortrefflichkeit der sprachlichen Form nicht erreicht wird.(2.1) Fr die grobe Struktur dieses Argumenttyps vgl. Piaton, Politeia352d-354c, hier: 353a-c: ...ob nicht dasjenige die einer jeden Sache (eigentm-liche) Aufgabe/Leistung sei, was ein jedes entweder als einziges oder doch unterallen am besten verrichtet? ...

    -

    ... Scheint dir nicht auch, dass jedes Ding, demeine bestimmte Aufgabe zugeordnet ist, ber eine Vortrefflichkeit verfgt?.......Knnten denn die Augen die ihnen eigentmliche Aufgabe gut verrichten, wennsie nicht ber die ihnen eigentmliche Vortrefflichkeit verfgen wrden? ..."

    Die bekanntesten Beispiele fr dieses Argument bei Aristoteles stammen ausdem Kontext der Bestimmung des menschlichen Glcks aus dem Vernunftver-mgen des Menschen; vgl. EE 1218b32-1219a39, EN 1097b22-1098a20 und1106a15-24.

    (2.2) In Rhetorik I 1 und 2 hatte Aristoteles die Aufgabe der Rhetorik (nichtder Rede!) damit charakterisiert, dass sie an jedem gegebenen Gegenstand dasberzeugende betrachten knne. Wenn er nun hier auf die Aufgabe der Rede an-spielt, ist es durchaus berraschend, dass er nur ganz unspezifisch davon spricht,die Rede mache etwas klar, whrend der eher auf die Rhetorik passende Aspekt desberzeugens gar keine Rolle spielt. Die Erklrung ist, dass hier Xyoc (Rede)"nicht im Besonderen die ffentliche Rede meint, sondern jede Art von komplexer,bedeutungshafter uerung im Sinne von Int. 4 (Ein Xyoc ist ein bezeichnenderLaut, dessen Teile abgetrennt jeweils bezeichnend sind": 16b26f.; vgl. Ein Xyocist ein zusammengesetzter bezeichnender Laut, von dem einige Teile fr sich etwasbezeichnen": Poet. 20, 1457a23f.). Der entscheidende Hinweis auf eine solcheweite, Rhetorik-unspezifische Verwendung liegt darin, dass er ausdrcklich auf

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  • 1404b5 Kapitel 2 829den Zeichen-(ontiEov)Charakter des Xyoc verweist; denn daraus ergibt sich, dasses fr die zu begrndende Aufgabe des Klar-Machens (nXov) zunchst allein aufden semantischen Aspekt der Rede ankommt, also darauf, dass es sich bei einerRede um die Verknpfung bedeutungshafter sprachlicher Zeichen handelt. DerZusammenhang zwischen dem semantischen Aspekt und der spezifischen Auf-gabe des Xyoc knnte sich auf folgende Weise ergeben: Etwas zu bezeichnenheit nach der terminologischen Verwendung von Int. und Met. IV, dass einsprachliches Zeichen einen Bezug auf ein bestimmtes Ding in der Welt bzw. aufeine bestimmte Klasse von Dingen herstellt (die so genannten pros-semanti-schen" Funktionen der Kopula, der Quantoren und der Prdikatswrter, dieeine Verbindung, die Quantitt der Aussage oder die Zeit mit hinzubezeichnen(jiQoaarpaivEiv: Int. 16b6, 8f., 12, 18, 24, 19bl4, 20al3) stellen keine Art des Be-zeichnens in diesem engeren Sinn dar). Dieser Bezug, den der Sprecher herzustel-len versucht, muss derart sein, dass er von dem angesprochenen Hrer nachvoll-zogen werden kann, und dies wiederum setzt voraus, dass der fragliche Bezugeindeutig ist; vgl. Met. 1062all16: Offenbar mssen die, die miteinander eineUnterredung fhren wollen, etwas von sich verstehen; wenn dies nmlich nichtgeschieht, wie sollte es dann fr sie eine Gemeinsamkeit des Gesprchs geben? Esmuss vielmehr jedes der Nomen bekannt sein und etwas bezeichnen, und zwarnicht vieles, sondern nur eines. Wenn es aber mehreres bezeichnet, muss man klarmachen, auf welches von diesen sich das (jeweilige) Nomen bezieht."

    Ein Zeichen, das es nicht schafft, eine solche Gemeinsamkeit zwischen Sprecherund Hrer herzustellen, indem es nichts Eindeutiges bezeichnet, erfllt seine ihmeigentmliche Aufgabe nicht. Nicht eines oder etwas Bestimmtes zu bezeichnenbedeutet daher fr Aristoteles so viel wie gar nichts zu bezeichnen (Met. 1006b7),und das heit letztlich, berhaupt nicht zu bezeichnen, also nicht bezeichnend zusein (.nichts bezeichnen' = .nicht bezeichnen': vgl. Poet. 1457al3f., wo es nichtsbezeichnen" heien msste).(3.) klar (oacpfj)/klar machen (nXov): Obwohl diese Begriffe hier sicher-lich in einem sehr vagen und allgemeinen Sinn gebraucht sind, geht der Hinweisauf die Aufgabe des Klar-Machens zweifellos in die Richtung einer kognitivenLeistung

    -

    wenn auch nur in dem bescheidenen Sinn, dass das (hier gemeinte)Klar-Machen die Voraussetzung fr alle anspruchsvolleren Verstehensprozessedarstellt. Diese Rolle des Klar-Machens wird in der Anfangspassage des vorliegen-den Kapitels vor allem auch durch die Opposition zum Begriff des Schmucksdeutlich: Schmcken, Entstellen, Verfremden usw. sind Wirkungen (.perlokutio-nre Akte'), die die sprachlichen Zeichen und Zeichenverknpfungen (vgl. obenAnm. (2.2)) erst zustzlich zu der ihr wesentlichen Funktion des Bezeichnens undMitteilens bernehmen. Mit dem Insistieren auf der Bedeutung des Klar-Machenszeigt Aristoteles, dass er der Mglichkeit widersteht, mit der Behandlung dersprachlichen Form jene nicht-wesentlichen Effekte bei der Verwendung sprach-licher Zeichen in den Mittelpunkt zu stellen.

    Die Klarheit, die der Redner erzeugt, ist fr Aristoteles vermutlich nicht die-selbe wie die, die der Philosoph erstrebt. Analog zur Auffassung, es gebe verschie-dene Grade von Genauigkeit (vgl. die Anm. zu 1355a24f.), knnte man anbereichsabhngige Grade der Klarheit denken. Dennoch fllt auf, dass Aristoteles

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  • 830 Drittes Buch 1404b5

    mit dem Begriff des Klar-Machens, mit dem er den wichtigsten Mastab fr diesprachliche Form gefunden hat, zugleich eines der Ziele des Philosophen und Wis-senschaftlers benennt: So scheint es nach manchen Stellen (vgl. etwa I 6,1216b26-35; zitiert in der 3. Vorbem. zu Kap. I 4-14) geradezu die wichtigste Auf-gabe des Philosophen zu sein, konfuse Ansichten und Redensarten einem Prozessder Klrung zu unterziehen. Wer philosophisch verfhrt, wird mit Blick auf jedeeinzelne Sache die Wahrheit klar legen (oqXov), usw. Wer daher Klarheit verfolgt,hat ein im Prinzip philosophisches Ziel vor Augen, auch wenn er nicht das philo-sophische Ideal der Klarheit selbst zu erreichen versucht. Diese allgemeine Aus-richtung des Klarheits-Kriteriums macht zumindest so viel deutlich: Indem diesprachliche Form wesentlich am Mastab der Klarheit gemessen wird, wird auchdieser Aspekt der Rede, obwohl er nicht die Dinge betrifft, von denen gesprochenwird, und somit zur Ausgestaltung der Rhetorik als einer inhaltsfreien und daherzur Tuschung geeigneten Wortkunst einldt, dem Ziel der Verstndlichkeit unter-geordnet, das eine von der Sache ausgehende berzeugungsbemhung gerade un-tersttzt. Durch diesen Ansatz ergibt sich eine auffallende Parallele zur Theorieder berzeugungsmittel in Rhet. I & II: Dort wurde der Umstand ausgenutzt,dass die Menschen von Natur aus am besten berzeugt werden knnen, wenn siemeinen, dass etwas bewiesen sei; daher konnte die kunstgeme Rhetorik wesent-lich auf die Theorie der rhetorischen Argumentation setzen. Insofern nun die Be-handlung der sprachlichen Form die natrliche Aufgabe der sprachlichen Zeichen,etwas klar und verstndlich zu machen, in den Mittelpunkt stellt, ntzt er erneutdie Veranlagung der Menschen aus, etwas verstehen zu wollen, etwas bewiesen zubekommen

    -

    also das, was Aristoteles in Rhet. I 1 die natrliche Begabung desMenschen zur Wahrheit genannt hat.(4.) Prosarede und Dichtung: Aristoteles bestimmt die Vortrefflichkeit dersprachlichen Form in der Dichtung zu Beginn von Poet. 22. Vgl. dazu Laks (1994,293) und (1992, 16f.).1404b5-1404bl0 Die blichen Ausdrcke machen die Rede klar, die anderen (inder Poetik aufgezhlten) bewirken den Schmuck.(1.) bliche und schmckende Ausdrcke: Aristoteles setzt hier ein Klassifika-tionssystem der Nomen (siehe unten, Anm. zu 1404b26f. und 1404b27) voraus,das er in Poetik, Kap. 21 und 22, ausfhrlich eingefhrt hatte; die wichtigsten Klas-sen sind:

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    blicher Ausdruck (xqiov): Was ein xqiov vopia ist, definiert Aristote-les mit Bezug auf die Gruppe von Sprechern, die es gebraucht (Poet. 21,1457b3-6). Daraus wird klar, dass mit .xqiov vo(xa' nicht das der Sacheeigentmliche und in diesem Sinn .hauptschliche' Wort gemeint ist (wasaufgrund des griechischen .xqiov' eine mgliche Deutung wre), sonderndas relativ zu einer bestimmten Sprechergemeinschaft bliche. Insofern sindsie den fremdartigen Ausdrcken oder Glossen entgegengesetzt, welche alsdie bei einer bestimmten Sprechergemeinschaft ungebruchlichen (und da-her in der Regel unverstndlichen) Ausdrcke definiert sind. DieselbenAusdrcke knnen daher zugleich bliche und fremdartige sein

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    jedochrelativ zu verschiedenen Sprechergemeinschaften.

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  • 1404blO Kapitel 2 831

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    fremdartiger Ausdruck/Glosse/Lehnwort (yXcxxa): Dazu gehren alleAusdrcke, die bei einer bestimmten Sprechergemeinschaft unblich sind(Poet. 21, 1357b4ff.). Das Problem ungebruchlicher und unverstndlicherAusdrcke stellt sich vor allem vor dem Hintergrund der verschiedenengriechischen Dialekte (wiewohl die Definition der Glosse auch gewhnliche.Fremdwrter', also die Wrter vollstndig verschiedener Sprachen um-fasst): Obwohl der Sprecher eines fremden Dialekts noch Griechisch undnicht einfach eine andere, komplett unverstndliche Sprache spricht, sindeinzelne Ausdrcke, die er gebraucht, unverstndlich oder gerade noch ver-stndlich, aber ungebruchlich. Die Beispiele fr solche, auch .Glossen' ge-nannten, Ausdrcke, die Aristoteles selbst in III 3,1406a6-10 gibt, stammenberwiegend aus dem Epos; hierbei macht sich fr den attisch sprechendenGriechen des vierten Jahrhunderts neben dem fremden Dialekt vor allemauch der zeitliche Abstand, also die Altertmlichkeit der epischen Sprachebemerkbar.

    - Metapher (u,ExacpoQ): Eine Metapher ist die bertragung eines fremdenNomens, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf dieGattung oder von derArt auf die Art oder gem der Analogie." (Poetik 21,1357b6-9) Zu den Arten der Metapher nach Poet. 21 vgl. Anm. (1.) zu1410b36-1411b21.

    - neugebildeter Ausdruck (jiEJiotiLivov): ... was, obwohl es von nieman-dem berhaupt gebraucht worden ist, der Dichter selbst prgt." (Poetik 21,1357b33f.)

    Die im vorliegenden Kapitel der Rhetorik gegebene Aufzhlung in Abschnitt1404b26-37 enthlt auerdem:- Zusammengesetze Nomen (urX vu,axa): Beispiele dazu finden sind in

    Rhet. III 3, 1405b34-

    1406a6. In semantischer Hinsicht werden solche Aus-drcke auch in Poet. 21, 1357a31 ff. bercksichtigt.

    Das Klassifikationssystem der Poetik kennt auerdem noch Kategorien, die in derRhetorik nicht weiter in Betracht gezogen werden:

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    erweiterter Ausdruck (ejiEXXExajxevov): Einzelne Vokale des blichen Aus-drucks werden gedehnt oder es werden zustzliche Silben eingefgt (Poetik21, 1457b35-1458a5).

    - verkrzter Ausdruck (cpT)QT]|xvov): Einzelne Laute oder Silben des bli-chen Ausdrucks werden weggenommen (a.a.O.).

    -

    abgewandelter Ausdruck (e;r)XXay|tvov): Vom blichen Ausdruck wirdeinerseits etwas weggenommen, andererseits wird ihm etwas hinzugefgt(Poetik 21, 1458a5-7).

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    Schmuckwort (xoftoc): Dieser Typ wird nur in einem allgemeinen ber-blick erwhnt, aber nicht weiter erlutert; Cope (1867, 283) erklrt sichdiese Klasse von Ausdrcken so: embellishments, ornamental epithets, Ithink, which are otherwise omitted". Tatschlich werden die Beiwrter

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  • 832 Drittes Buch 1404b5

    (Epitheta) auch in Rhet. III 2 und 3 im Zusammenhang mit Metaphern oderdoppelten Nomen erwhnt. Allerdings passt die Kategorie der Beiwrternicht so recht in das vorliegende Klassifikationssystem, das alle Klassendirekt oder indirekt durch ihr Verhltnis zu den blichen Ausdrcken be-stimmt, whrend das Epitheton selbst ein blicher Ausdruck sein kann (essei denn, es wird nicht nur attributiv, sondern zur Bezugnahme auf den Ge-genstand gebraucht, den es schmckt).

    (2.) Anschein des Erhabeneren": Hierin scheint bei Aristoteles ein doppelterEffekt zu liegen: erstens handelt es sich um etwas Fremdes, das Fremde ist irgend-wie bewundernswert und das Bewundernswerte ist angenehm. Diese Annehmlich-keit ist eine selbststndige und nicht weiter analysierbare Wirkung, die zugleichmit d