Aristoteles - Rhetorik - Anm.6

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VI. Textgeschichte 1. Textzeugnisse aus der Antike Über das Schicksal des Textes der Rhetorik nach Aristoteles' Tod bestehen dieselben Unsicherheiten wie mit Bezug auf die übrigen Schriften.1 Weil es von der Rhetorik aber keine antiken Kommentare gibt, sind die Zeugnisse hier besonders dürftig und ungesichert. Allein bei Dionysios Halikarnassos sind sechs längere Zitate (von fünf bis zu zwanzig Druckzeilen) wörtlich überliefert.2 Fragen zur Kontinuität der ^¿eiori^-Überlieferung in der An- tike werden auch dadurch aufgeworfen, dass entgegen früherer Einschätzun- gen3 etwa Cicero bei der Ausarbeitung einiger seiner rhetorischen Schriften der vollständige Originaltext der Rhetorik nach neueren Vergleichen wahr- scheinlich nicht vorgelegen hat.4 Signifikant für die spärliche Verbreitung der Schrift in der Antike dürfte auch sein, dass Boethius das Verhältnis von Rhetorik und Dialektik nicht anhand von Aristoteles, sondern in Auseinan- dersetzung mit Cicero diskutiert.5 2. Die Handschriften Eine erschöpfende Auswertung der erhaltenen Abschriften der Rhetorik so- wie der lateinischen Übersetzungen derselben hat trotz beachtlicher textkri- tischer Leistungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts lange auf sich warten lassen. Einen vollständigen Überblick über die einschlägigen Manu- skripte und ihre stemmatische Zuordnung hat erst die kritische Edition von 1 Vgl. Lord (1986), für die Rhetorik vgl. auch Brandes (1989, 4 ff.). 2 Zu deren Wert vgl. Kassel (1971, 92 ff.). 3 Vgl. R. Shute, On the History of the Process by which the Aristotelian Writings Arrived at their Present Form, Oxford 1888, 49. 4 Vgl. Fortenbaugh (1989). 5 Vgl. Boethius, In tópica Ciceronis commentarium, hg. J. P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 64, 1039-1174. Unangemeldet | 188.98.182.252 Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

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Rhetorik Anmerkungen 6

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  • VI. Textgeschichte

    1. Textzeugnisse aus der Antikeber das Schicksal des Textes der Rhetorik nach Aristoteles' Tod bestehendieselben Unsicherheiten wie mit Bezug auf die brigen Schriften.1 Weil esvon der Rhetorik aber keine antiken Kommentare gibt, sind die Zeugnissehier besonders drftig und ungesichert. Allein bei Dionysios Halikarnassossind sechs lngere Zitate (von fnf bis zu zwanzig Druckzeilen) wrtlichberliefert.2 Fragen zur Kontinuitt der ^eiori^-berlieferung in der An-tike werden auch dadurch aufgeworfen, dass entgegen frherer Einschtzun-gen3 etwa Cicero bei der Ausarbeitung einiger seiner rhetorischen Schriftender vollstndige Originaltext der Rhetorik nach neueren Vergleichen wahr-scheinlich nicht vorgelegen hat.4 Signifikant fr die sprliche Verbreitungder Schrift in der Antike drfte auch sein, dass Boethius das Verhltnis vonRhetorik und Dialektik nicht anhand von Aristoteles, sondern in Auseinan-dersetzung mit Cicero diskutiert.5

    2. Die HandschriftenEine erschpfende Auswertung der erhaltenen Abschriften der Rhetorik so-wie der lateinischen bersetzungen derselben hat trotz beachtlicher textkri-tischer Leistungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts lange auf sichwarten lassen. Einen vollstndigen berblick ber die einschlgigen Manu-skripte und ihre stemmatische Zuordnung hat erst die kritische Edition von

    1 Vgl. Lord (1986), fr die Rhetorik vgl. auch Brandes (1989, 4 ff.).2 Zu deren Wert vgl. Kassel (1971, 92 ff.).3 Vgl. R. Shute, On the History of the Process by which the Aristotelian Writings Arrived at

    their Present Form, Oxford 1888, 49.4 Vgl. Fortenbaugh (1989).5 Vgl. Boethius, In tpica Ciceronis commentarium, hg. J. P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 64,

    1039-1174.

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  • 278 VI. TextgeschichteRudolf Kassel6 zusammen mit den Untersuchungen zu den lateinischen/?eiorz'&-bersetzungen durch Bernd Schneider7 erbracht. Von den 50Handschriften, die Kassel fr seine kritische Ausgabe bercksichtigte,8 neh-men die folgenden in dem von Kassel rekonstruierten Stemma eine Positionhherer Ordnung ein:

    A Parisinus 1741 (Bibliothque Nationale, Paris); 10. Jhdt., Mitte bis2. Hlfte; bei Bekker als Ac verzeichnet. Dies ist die lteste Hand-schrift; ihre besondere Bedeutung wurde schon von frheren He-rausgebern entdeckt, jedoch hatte diese Entdeckung in den ver-schiedenen Ausgaben ganz unterschiedliche Auswirkungen auf dieTextgestaltung.

    A2 Derselbe Codex wie A, jedoch mit nicht viel spter eingetragenenKorrekturen, die aufgrund der Scholien und (siehe unten) erfolg-ten.

    Arec Derselbe Codex wie A, jedoch mit Korrekturen, die im H.Jahr-hundert aufgrund von A (siehe unten) und der Scholien eingefgtwurden.

    F Cantabrigiensis 1298 (Cambridge University Library);12.-13. Jahrhundert.

    F2 Derselbe Codex wie F, jedoch mit Korrekturen, die aufgrund e(siehe unten) vorgenommen wurden.H Marcianus 214 (Biblioteca Marciana, Venedig); 13.-14. Jahrhun-

    dert.Co Laurentianus Conv. Soppr. 47 (Bibliotheca Laurenziana, Florenz);

    Anfang 15. Jahrhundert (vor 1425); gehrt zu den so genanntenFensterhandschriften", die alle dieselben Auslassungen aufweisenund daher von einem gemeinsamen beschdigten Vorbild (e) abzu-stammen scheinen.

    La Laurentianus 60. 10 (Bibliotheca Laurenziana, Florenz); Ende 15.bis Anfang 16. Jahrhundert; gehrt wie Co und Tu zu den Fens-terhandschriften" .

    Tu Tubingensis Mb 15 (Universittsbibliothek, Tbingen); dieserCodex besteht aus zwei zu verschiedener Zeit geschreibenen Tei-len, nmlich bis 1380al5: 15. Jahrhundert, 1. Hlfte; danach Ende14. Jahrhundert; gehrt wie Co und La zu den Fensterhandschrif-ten".

    Vgl. Kassel (1971) und (1976).7 Vgl. Schneider ( 1971 ) und ( 1978).8 Vgl. Kassel (1971, 2-17).

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  • 2. Die Handschriften 279

    Auerdem zu bercksichtigen sind die bersetzungen:Vet Vetus translatio latina; 13. Jahrhundert; griechische Vorlage: T(siehe unten); anonymer Autor; kritische Textausgabe in: Schneider(1978).Ant Antiqua translatio latina; vermutlich von derselben griechischen

    Vorlage wie Vet.Guil Lateinische bersetzung des Wilhelm von Moerbeke, die vermut-

    lich durch berarbeitung von Ant und sicher durch die Verwen-dung einer weiteren griechischen Vorlage (A) entstanden ist. BeiSpengel wird diese bersetzung unter dem Titel Vetusta Transla-tio" abgedruckt; kritische Textausgabe in: Schneider (1978).

    Ar Arabische bersetzung, die vor 930 aufgrund einer syrischen Ver-sion entstanden ist und von Hermannus Alemannus ins Lateinischebertragen wurde.

    Die Korrekturen in A2, Arec, F2 und Y (siehe unten) lassen sich unter ande-rem aus Scholien von der Art des uns erhaltenen anonymen Kommentars"9oder des etwas lteren Stephanuskommentars10 herleiten. In diesen Textenwiederum finden sich Hinweise auf die ltere, bereits vorliegende Scholienli-teratur, die offenbar fr solche Korrekturen herangezogen wurde.

    Neben den lteren Handschriften A, F, H, Co, La, Tu, den lateinischenbersetzungen und den Scholien ist eine Reihe jngerer, von den oben ge-nannten Quellen abhngiger Handschriften fr Konjekturen interessant11;dazu gehren die Codices C (Parisinus 1818; 15. Jahrhundert), D (Parisinus2038; 15. Jahrhundert), E (Parisinus 2116; 16. Jahrhundert), N (Marcianus215; 15. Jahrhundert), Q (Marcianus 200; 15. Jahrhundert), Y (Vaticanus1340; 13.-14. Jahrhundert), Z (Vaticanus Palatinus 23; 13. Jahrhundert),Cant. 191 (Cantabrigiensis 191; 1441), Dresd. (Dresdensis Da 4; 15. Jahr-hundert), Laur. 60. 18 (Laurentianus 60. 18; 1427), Matr. 4684 (Matritensis4684; 14. Jahrhundert), Mon. 176 (Monacensis 176; 1501), Par. 2041 (Parisi-nus 2041; 15. Jahrhundert), Vind. (Vindobonensis philos.gr. 29; 15. Jahrhun-dert), Yal. (Yalensis 361; 14. Jahrhundert).

    Die wichtigsten Abhngigkeiten zwischen diesen Quellen werden an Kas-sels12 Stemma deutlich (das hier

    -

    vor allem hinsichtlich der Abkmmlingevon F2 und Matr. 4684

    -

    gegenber Kassels Stemma vereinfacht wurde):

    9 Vgl. Kassel (1971, 79).10 Vgl. CAG XXI 2, 1-262 (Anonymos); 263-322 (Stephanos); sowie die Fragmente in: CAG

    XXI 2, 323-329 und 330-334." Kassel (1976, XIX).12 Vgl. Kassel (1971, Stemma Codicum).

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  • 280 VI. Textgeschichte

    Unabhngige und nicht zu eliminierende Textzeugen sind diesem Stemmazufolge die Handschriften A und F sowie die drei so genannten Fenster-handschriften Co, La und Tu.18 Diese letzteren drei Fensterhandschriften

    13 Parisinus 1869, Mitte des 14. Jahrhunderts.14 Vaticanus Urbinas 47 (Biblioteca Apostlica Vaticana); 15. Jahrhundert.15 Laurentianus 31. 14 (Biblioteca Laurenziana); 15. Jahrhundert, 2. Hlfte.16 Ambrosianus P 34 (Biblioteca Ambrosiana, Mailand); 1497.17 Lipsiensis 24 (Universittsbibliothek Leipzig); Ende 15. bis Anfang 16. Jahrhundert.18 Dies und das Folgende ist eine Zusammenfassung von Kassel (1971, 9497).

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  • 3. Die gedruckten Ausgaben 281weisen zahlreiche freigelassene Spatien an denselben Textstellen auf19, wasauf eine gemeinsame, durch Beschdigung unleserlich gewordene Quelleverweist. Dabei gehen La und Tu auf eine gemeinsame Vorlage (t,) zurck;wenn damit auerdem Co bereinstimmt, erhlt man die Lesart von e. Diesegemeinsame Lesart wiederum geht auf dieselbe verlorene Handschrift (A)zurck, nach der Wilhelm von Moerbeke bei der Erstellung der bersetzungGuil die ltere bersetzung Ant revidiert hat.

    Ant hat dieselbe griechische Vorlage (T) wie die erhaltene lateinischebersetzung Vet, die von Wilhelm von Moerbeke allerdings nicht herange-zogen wurde. Die bereinstimmung von T und H ergibt die Lesart y. DieTextfassung von y geht auf einen Urheber zurck, der vom Textanfang bisI 9 und von II 8 bis zum Textende ganz A (wobei er vor allem zu Beginn dieKorrekturen von A2 bernimmt) und dazwischen folgt.

    Nun ergibt die bereinstimmung von A und F die gemeinsame Lesart ;wo Wilhelm seine Vorlage nicht an A anpasst, gengt fr die Lesart schondie bereinstimmung von e und F. Die Lesart wiederum ist von herausra-gender Bedeutung, weil aus ihr und dem stemmatisch gleichwertigen Parisi-nus 1741 (A) auf den Archetypus co geschlossen werden kann. Die Lesart desArchetypus liegt nach Kassels Stemma somit immer dann vor, wenn A, Aund F (bzw. A, e und F, wenn Wilhelm keine Anpassung an A vornimmt)bereinstimmen. In der Regel kann aber auch schon aus der bereinstim-mung von A und F auf die Lesart des Archetypus geschlossen werden; dasgilt nicht fr die bereinstimmung von A und A, weil A unter dem Einflussvon y steht.

    3. Die gedruckten AusgabenAls die erste gedruckte Ausgabe der Aristotelischen Rhetorik erschien, warneben der bersetzung des Wilhelm von Moerbeke20 die lateinische ber-setzung des Georg von Trapezunt bereits in mehreren gedruckten Aufla-gen21 verbreitet. Nicht untypisch fr die Rezeption der Schrift Rhetorik imVergleich zum brigen Werk des Aristoteles ist der Umstand, dass die editioprinceps der Aristotelischen Schriften, die fnfbndige Aldina-Ausgabe von1495-1498, die Rhetorik nicht enthielt. Diese erschien zuerst ebenfalls beiAldus Manutius im Jahr 1508 zusammen mit der Poetik und der Pseudo-Aristotelischen Rhetorik fr Alexander. Diese erste gedruckte Ausgabe be-ruhte auf stemmatisch ungeordneten, fehlerreichen Handschriften und trug"Vgl. Kassel (1971, 64-69).20 Gedruckte Ausgaben lagen bis dahin von 1481 (Venedig) und 1499 (Leipzig) vor.21 Die erste erschien 1475; entstanden ist die bersetzung gut dreiig Jahre frher.

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  • 282 VI. Textgeschichteselbst zahlreiche Druckfehler bei, so dass eine recht unzuverlssige Ausgabeentstand. Bei den fr die Drucklegung benutzten Handschriften handelt essich um D und Vat.158022, einem Deszendenten von Z.23 Auf diese Weise istin der editio princeps kein direkter Nachfolger des ltesten und zuverlssigs-ten Manuskripts A (Parisinus 1741) bercksichtigt.Von dem Jahr 1529 an beginnt dann eine rasche Abfolge verschiedener ge-druckter Ausgaben, darunter die Basler Ausgabe aus dem Jahr 1531, die vonDesiderius Erasmus und Simon Grynaeus herausgegeben wurde.24 Einenbescheidenen Ansatz zur Verbesserung der Aldine-Ausgabe enthlt eineEdition25 aus dem Jahre 1536 (im Folgenden nach dem Herausgeber Trin-caveliana" genannt26), die am Rand Varianten

    -

    zum greren Teil mit Hilfevon Parisinus 1869 (- B)27

    -

    vornimmt. Von dieser Ausgabe benutzt PetrusVictorius eine Abschrift (die im nachfolgenden Schema erwhnte Mon. 175)und trgt in sie Kollationen aus seiner Sammlung von Handschriften ein,was zur Grundlage seiner kommentierten Ausgabe von 1548 wird. Die bishierher beschriebenen Abhngigkeiten sind in folgendem Ausschnitt ausKassels Stemma zusammengefasst:

    Z

    /*

    n Vat.i580

    Aldina

    TrincavelianaMon.i7529 ' |

    Victorius

    22 Vom Anfang des 15. Jahrhunderts.23 Vgl. dazu oben, Abs. 2.24 Desiderius Erasmus, De arte dicendi libri III, 2 Bde., Basel 1531.25 Aristotelis De arte rhetorica libri tres etc., Venetiis in aedibus Bartholomaei Zanetti Casterza-

    gensis, aere vero, et diligentia Joannis Francisci Trincaveli, Venedig 1536.26 Um die Bennenung dieser Ausgabe ist einige Verwirrung entstanden: Victorius verweist auf

    sie mit den Kennzeichnungen posterior Veneta editio", liber postea Venetiis excusus", quiiterum Venetiis hoc volumen excuserunt"; Buhle bezeichnet sie als Veneta"; Spengel undRoemer dagegen bezeichnen mit Veneta" eine andere Ausgabe von 1546. Kassel (1971, 98,Fun. 2) benutzt deswegen die Bezeichnung Trincaveliana"; jedoch versteht Brandes (1989,57) Kassels Richtigstellung falsch und behauptet deswegen, Kassel schlage als Bezeichnungdie ltere Ausgabe" vor.

    27 Vgl. Kassel (1971, 99).28 Parisinus 2116 aus dem 16. Jahrhundert durch den Kopisten Angelos Bergikios.29 Monacensis 175 aus dem 16. Jahrhundert; das Arbeitsexemplar des Petrus Victorius ist in der

    Bayerischen Staatsbibliothek in Mnchen.

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  • 3. Die gedruckten Ausgaben 283Besonders bemerkenswert ist, dass sich unter den von Victorius benutztenHandschriften schon der Parisinus 1741 befindet und dieser von Victoriusals liber antiquus" identifiziert wird; auerdem bemerkt Victorius berein-stimmungen dieses liber antiquus mit der Wilhelm-bersetzung. Auf dieseWeise kann Victorius nicht nur Druck- und Orthographiefehler, sondernauch einige in die editio princeps bernommene berlieferungsfehler til-gen.30 Obwohl es von den Verbesserungen des Petrus Victorius bis zu denAnforderungen einer modernen kritischen Ausgabe noch ein weiter Weg ist,bemerkt Rudolf Kassel zur Leistung des Victorius: Es wird nicht viele grie-chische Werke geben, deren Kritik und Exegese in einer einzelnen Ausgabeso entscheidend gefrdert wurde."31 Von den nachfolgenden Ausgabennahm vor allem die 1559 in Paris erschienene Ausgabe32 die Vorarbeiten desPetrus Victorius auf. Diese Edition wiederum ging in verschiedene Gesamt-ausgaben ein,33 auerdem beeinflusste die Arbeit von Petrus Victorius diebersetzungen und Kommentare von Maioragius (dessen bersetzungbertraf im spten 16. Jahrhundert die Popularitt der Trapezuntius-ber-setzung) und Riccobonus; eine zweite erweiterte Auflage seines eigenenKommentars erschien im Jahr 1579.

    Hinsichtlich textkritischer Fortschritte ist von den folgenden Ausgabenvor allem die lateinische bersetzung von Muretus34 erwhnenswert, dersich besonders um die Auffindung von Glossemen verdient macht.35 Seinebersetzung wird in die Ausgaben von Schrader (1648) und Buhle (1793)bernommen. Diese letztere, die fnfbndige Biponte-Ausgabe von Buhle,wurde zu einer der populrsten Editionen, in textkritischer Hinsicht trug sieaber noch wenig bei. Die vom Herausgeber eingefgten Paragraphenziffern,die der Zuordnung von lateinischem und griechischem Text dienen sollten,wurden von einigen Autoren als Zitationssystem fr die Rhetorik bernom-men.

    30 Vgl. dazu Kassel (1971, 100-102) und Brandes (1989, 67-69).31 Kassel (1971, 101).32 Aristotelis de arte dicendi libri tres. Apud Guil. Morelium, Paris 1559.33 Z.B. die von Friedrich Sylburg, Frankfurt 1584 und die von Isaac Casaubonus, Lyon 1590.34 M. Antonii Mureti Commentarius in primum et secundum librum Rhetoricorum Aristotelis,

    et eiusdem interpretatio, Ingolstadt 1602; zuerst in Rom 1585 erschienen.35 Vgl. Kassel (1971, 104).

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  • 284 VI. Textgeschichte4. Die kritischen Ausgaben

    Von einer .kritischen' Edition kann man erst bei der im Jahr 1820 anonymerschienenen Ausgabe36 sprechen. Der Herausgeber ist der sptere Dean desOxforder Christ Church College und Kurator der Bodleian Library ThomasGaisford. Er arbeitet in den Text Lesarten der Pariser Handschriften Parisi-nus 1741 (= A), Parisinus 1869 (= B), Parisinus 1818 (= C), Parisinus 2038(= D) Parisinus 2116 (= E) sowie der Wilhelm-bersetzung ein. Auch er gibtan zahlreichen Stellen dem ltesten Codex A den Vorzug. In einem zweitenBand (Animadversiones variorum criticae et exegeticae) dokumentiert erAuszge aus Victorius, Maioragius, Muretus, Schrader, Vater und Buhle.

    Einen weiteren wesentlichen Fortschritt in der Textkritik stellt die Bear-beitung des Rhetorik-Textes in der von Immanuel Bekker besorgten BerlinerAkademie-Ausgabe von 1831 dar. Die von ihm zustzlich zu Parisinus 1741(= A; bei Bekker und Nachfolger: Ac) herangezogenen Handschriften Q, Y,Z37 sind den von Gaisford benutzten Quellen deutlich berlegen. Weil essich bei Y und Z um nahe Abkmmlinge des erst von Kassel benutztenCantabrigiensis 1298 (= F) handelt, hlt Bekker im Prinzip schon die vonei-nander unabhngigen berlieferungslinien in Hnden. Anders als Gaisfordkonsultiert Bekker jedoch nicht die lateinischen bersetzungen und dieScholien. Kassel weist Bekker auerdem nicht wenige Fehler und L-cken"38 bei den Angaben ber die Lesarten der Handschriften nach; schon1861 hatte Thurot auf entsprechende Mngel hingewiesen.39 Bekkers Rheto-rik-Text wurde in den Jahren 1843 und 1859 neu ediert, und die dritte Auf-lage wurde 1873 im Oktav-Format wieder abgedruckt. Diese letzte Versionwurde von John Edwin Sandys als griechische Textvorlage fr den Kom-mentar des vor der Drucklegung verstorbenen Edward Meredith Cope ver-wandt. Sandys begrndete diese Wahl damit, dass Cope kein besonderestextkritisches Interesse habe erkennen lassen und daher im Groen undGanzen mit den frheren Editionen einverstanden war.40

    36 Th. Gaisford, Aristotelis de rhetorica libri tres, ad fidem manuscriptorum recogniti, cum ver-sione Latina. Altero volumine continentur animadversiones variorum, Oxford 1820.

    37 Zur Einordnung und Beschreibung von Y und Z vgl. oben, Abs. 2; bei Q handelt es sich umden Marcianus 200 aus dem 13.-14. Jahrhundert.

    38 Kassel (1971, 106).39 Ch. Thurot, Observations critiques sur la Rhtorique d'Aristotle", in: Revue Archologiue

    NS. 4.2 (1861), 52-65, 291-308, et NS. 5 (1861), 40-61.40 Vgl. Cope/Sandys (I X): ... he was content on the whole to accept the text as he found it in

    the earlier editions with which he was familiar. Under these circumstances, in the absence ofany intention on his part to make an independent recension of the text, I have thought it bestto adopt as the text of the present Commentary the last reprint (1873) of Bekker's third edi-tion (octavo, 1859); and instead of impairing the integrity of that text by altering it here andthere to suit what I gathered to be Mr. Cope's intentions, I have briefly indicated the instances

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  • 4. Die kritischen Ausgabe 285Der Mnchner Ordinarius Leonard von Spengel befasste sich zunchst in

    einer Akademie-Abhandlung mit der Rhetorik.41 Eine erste Ausgabe desRhetorik-Textes (die kleine Ausgabe") gab er in seiner dreibndigen Edi-tion der Rhetores Graeci heraus.42 Die groe Rhetorik-Ausgabe von 1867enthielt neben dem Griechischen Text und der vollstndigen Wilhelm-ber-setzung einen ausfhrlichen Kommentar mit zahlreichen Parallelen und Bei-spielen aus der antiken Rhetorik und textkritischen Bemerkungen. Bei derEinrichtung des griechischen Textes ging Spengel erstmals vollstndig vonder Handschrift Parisinus 1741 (= A/bei Bekker Ac) aus und dokumentiertAbweichungen von A nur noch im Apparat.43 Das ist ein Verfahren, das sichaus Sicht der Dokumentation von Kassel (1971) insofern als fragwrdig er-weisen wird, als es neben dem Wortlaut des Parisinus 1741 noch weitere un-abhngige berlieferungslinien gibt. Mit Zurckhaltung aufgenommenwurden Spengels /?eorz&-Editionen in verschiedenen textkritischen Arbei-ten zur Poetik und Rhetorik von Johannes Vahlen44; dessen eigene Kollatio-nen, die von Kassel eingesehen wurden,45 wurden nie publiziert.

    Der nchste grere Beitrag zur Einrichtung eines gesicherten Textesstellt die Bearbeitung der Teubneriana durch den bis 1913 in Erlangen leh-renden Adolf Roemer dar; deren erste Auflage erschien 1885, die zweite1898. Roemer nahm den Vergleich einiger Handschriften vor

    -

    auch des Pa-risinus 1741, dem er wie schon Spengel absoluten Vorrang einrumte -, er-gnzte den Apparat aus den Schoben (Anonymos und Stephanos), und nahmgegenber Spengel eine differenziertere Dokumentation der bekannten Va-rianten vor. Eine eigene These ber die stemmatischen Abhngigkeiten dervon ihm verwendeten Handschriften formulierte er nicht, nahm aber in diezweite Auflage kritiklos ein von Susemihl46 in der Rezension zur ersten Auf-lage vorgeschlagenes Stemma auf.47 Dessen Hauptaussage jedoch stellt dieBerechtigung der von Spengel und Roemer praktizierten Benutzung des Pa-risinus 1741 durchaus in Frage: Danach lsst sich der gesamte Tatbestandvoll und ganz durch die Annahme erklren, dass auch Ac nicht unmittelbaraus dem Archetypus abgeschrieben ist, der Kodex des Moerbeckers aber

    in which the evidence of his translation or notes or again the memoranda in his own copy ofthe Rhetoric already mentioned, pointed clearly to some other reading as the one which hedeliberately preferred to that of Bekker's third edition, or in which he was at any rate contentto acquiesce."

    41 L. Spengel, ber die Rhetorik des Aristoteles, (Abhandl. d. Bayer. Akademie d. Wissenschaf-ten, phil.-hist. Kl. 6, 2), Mnchen 1851.

    42 L. Spengel (Hg.), Rhetores Graeci, 3 Bde., Leipzig 1853-56.43 Vgl. Spengel (1867, XII-XIII).44 Wiederabgedruckt in Vahlen (1911) und (1923).45 Vgl. Kassel (1971, 109).46 In: Wochenschrift fr klassische Philologie 1885, Spalte 1644.47 Vgl. Roemer (1898, XXV-XXVI).

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  • 286 VI. Textgeschichtezwar aus derselben Abschrift wie die jngeren Manuskripte stammt, aberunmittelbar, whrend diese erst mittelbar." Im Vorwort seiner Ausgabe war-tet Roemer auerdem mit der These auf, in der Antike sei eine krzere Ver-sion der Rhetorik (et breviore et decurtato, ex quo hoc loco sua hausit Dio-nysius") wie auch eine lngere Version (et ampliore in nostris codicibus ser-vato, cui nos nostra debemus"48) im Umlauf gewesen, aus denen die unsberlieferte Version von einem Redaktor zusammengestellt worden sei. Diesglaubt er vor allem den Zitaten des Dionysios Halikarnassos49 entnehmen zuknnen; allerdings hat sich Roemers These nicht durchsetzen knnen.50

    Roemers Textausgabe, vor allem sein textkritischer Apparat, wurde zurGrundlage mehrerer Editionen

    -

    trotz einiger zum Teil heftiger Attackengegen die Teubneriana.51 So beruht etwa die noch heute benutzte zweispra-chige Ausgabe der Loeb Classical Library" von John Henry Freese, dieselbst keine textkritischen Absichten verfolgt,52 nicht unwesentlich auf denAusgaben von Bekker und Roemer. Die Bud-Ausgabe von Mdric Dufour(1932 und 1938; das dritte Buch wurde erst 1973 von Andr Wartelle heraus-gegeben) richtet den Text zwar selbststndig ein, beruht jedoch nicht aufeinem neuen Vergleich der Manuskripte, sondern bedient sich der textkri-tischen Dokumentation auf dem Stand der Roemer-Ausgabe.53 Auch diespanisch-griechische Ausgabe von Antonio Tovar hlt sich

    -

    trotz eigenerAmbitionen in Fragen der berlieferungsgeschichte54

    -

    im Wesentlichen anRoemer55 sowie Dufour. Dufours Ausgabe der ersten beiden Bcher lagauch der einflussreichen italienischen bersetzung von Armando Plebe zu-grunde, fr das dritte Buch griff auch Plebe auf die Teubneriana zurck.56Eine wirklich neue Textedition setzte sich somit erst gute 60 Jahre nach derZweitauflage der Teubneriana durch:

    Die Rhetorik-Ausgabe von Sir William David Ross aus dem Jahr 1959 ge-hrt nicht zu dessen besten Arbeiten; offenbar war es ihm aufgrund eines

    48 Roemer (1898, LXVI).49 Vgl. dazu oben, Abs. a).50 Vgl. Marx (1990, 262).51 Vgl. Roberts (1924b, 356): it is deformed by many errors. The corrigenda I have marked in

    my working copy average at least one per page on each of his 235 pages: errors-

    slips ormisprints

    -

    either in the text proper or in the critical footnotes. To all this must be added hisill-based dogmatism

    ...

    These criticisms imply no ignoble wish to decry German scholarshipgenerally: the Berlin Aristotle is enough to save one from that."

    52 Vgl. Freese (1926; ND 1994, XXXI): The present text (which makes no pretence of being acritical one) is based upon that of Bekker ... but numerous alterations, suggested by Roemerand others, have been incorporated."

    53 Vgl. Dufour/Wartelle (I 19-23).54 Vgl. Tovar (1954, 2); beeinflusst ist er dabei von K. Horna, Beitrge zur berlieferung der

    aristotelischen Rhetorik", in: Wiener Studien 51 (1933), 31-56.55 Vgl. dazu Tovar (1971, XLI-XLVI).56 Vgl. Plebe (1992, 3).

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  • 4. Die kritischen Ausgabe 287Augenleidens whrend seiner letzten Arbeitsjahre nahezu unmglich, selbstManuskriptvergleiche vorzunehmen. Abgesehen davon, dass der kritischeApparat seiner Ausgabe unbersichtlich und verwirrend ist und dem Benut-zer tatschlich unabhngige Varianten vorenthlt, sind die zahlreichen kon-jekturalen Eingriffe in den Text fast immer berflssig. Wenn sich derRoss'sche Text daher flssiger liest als die Texte der Vorgnger, ist das alleindas Ergebnis der (zwar bemerkenswerten) Ross'schen Intuition vom richti-gen aristotelischen Sprachduktus, aber nicht einer Annherung an die zuver-lssigsten Handschriften. Die Anfhrung der aus Wilhelm erschlossenen Va-rianten beluft sich auf ein Ausma, das den Stellenwert dieser Quelle klarberschtzt. Verglichen mit der Kassel-Ausgabe bleiben bei Ross nicht nurwichtige Quellen ungenutzt, sondern auch der stemmatische Zusammen-hang der benutzten Handschriften unklar.

    Eine unter den Aristoteles-Editionen beispiellos klare Dokumentationder verschiedenen Manuskripte und indirekten Zeugnisse nimmt RudolfKassel vor. In den Prolegomena zu seiner textkritischen Ausgabe von 1971bespricht er die einzelnen benutzten Manuskripte und begrndet ausfhr-lich die Abhngigkeiten, die er zwischen den Texten annimmt.57 Mit Hilfeder von Bernd Schneider gleichzeitig kritisch edierten lateinischen berset-zungen der Rhetorik trgt Kassel auch der indirekten berlieferung gebh-rend Rechnung. Erstmals wertet Kassel den Zweitltesten Codex Cantabri-giensis 1298 (= F) aus und erweist einige der schon bisher benutzten Hand-schriften als Abkmmlinge dieses Codex. Auerdem benutzt Kassel erst-mals die so genannten Fensterhandschriften aus Tbingen und Florenz.58Durch diese Neubewertung der verschiedenen Quellen bleibt der Parisinus1741 zwar der beste Codex, erweist sich aber als nur eine von mindestenszwei unabhngigen berlieferungslinien. Die hchste Autoritt stellt daherfr Kassels Textgestaltung nicht mehr der lteste Codex allein

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    wie bei denbisherigen Editionen seit Bekker -, sondern der aus der bereinstimmungdieses Codex mit der davon unabhngigen berlieferung erschlossene Ar-chetypus ) dar. Zur Rekonstruktion dieses Archetypus schreibt Solmsen inseiner Rezension: suffice it to add that the archetype (to) of the entire trans-mission remains a somewhat elusive entity. I admit that we cannot do with-out it ... For practical purposes the archetype equals the readings commonto the two classes, plus some variae lectiones. Kassel wisely refrains fromsuggesting a date for en. Realistically speaking, there is little hope of gettingto the other side of the dark centuries of Byzantine culture."59

    57 Solmsen (1979, 68) bemerkt zu Kassels Prolegomena The recensio in this preliminary studyis a model performance from which any future editor of a Greek text may learn."

    58 Zur Beschreibung der verschiedenen Handschriften und Kassels Stemma vgl. oben, Abs. 2.59 Solmsen (1979, 68 f.).

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  • 288 VI. TextgeschichteAbgesehen von der breiteren und besser dokumentierten Basis, die Kas-

    sels Textausgabe durch die neu bercksichtigten Codices und das neueStemma im Vergleich mit den Vorgngern erhielt, zeichnet sich Kassels Text-ausgabe dadurch aus, dass sie durch erneute Prfung der schon bekanntenManuskripte einige Fehler der lteren Ausgaben beheben und frher vorge-nommene Eingriffe in den Text als berflssig erweisen konnte. Die berfl-lige Entrmpelung des textkritischen Apparats von Roemer und dessenNachfolger hat Kassel sehr grndlich mit einem vllig neu gestalteten Appa-rat durchgefhrt. In einem zweiten Stockwerk des Apparats dokumentiertKassel Zitate und Anspielungen ..., die von den lngeren wrtlichen An-fhrungen des Dionys von Halikarna bis zu bloen Nachklngen des aris-totelischen Wortlauts, mgen sie direkter oder indirekter Kenntnis der Rhe-torik entstammen"60, bzw. alles ..., was der Leser bei der kritischen Lek-tre des Textes unmittelbar zur Verfgung haben sollte"61. Diese Erlute-rung muss man im Sinn behalten, denn in der Tat, sind die angefhrten Zeug-nisse sehr unterschiedlicher Art, und beruhen oft nicht einmal auf derKenntnis des Aristotelischen Textes. Bei der Verwendung von eckigen Dop-pelklammern, die sptere Zustze des Aristoteles kennzeichnen sollen, lsstsich Kassel oft von den traditionell vorgenommenen Einschnitten leiten, wassich in Einzelfllen als diskussionsbedrftig erweist, weil parenthetische Be-merkungen nicht immer auf sptere berarbeitungen hinweisen mssen.

    5. Die bersetzungenAm Ende des 13. Jahrhunderts existieren drei lateinische bersetzungen derAristotelischen Rhetorik, eine aus dem Arabischen und zwei aus dem Grie-chischen.62 Die bersetzung aus dem Arabischen, die lediglich in zwei Ma-nuskripten berliefert ist, wurde von Hermannus Alemmanus vor dem Jahr1256 abgeschlossen.63 Hermann hat die bersetzung aufgrund eines Ver-gleichs mehrerer arabischer Versionen angefertigt und griff dabei sowohl aufdie Kommentare von Averros und Avicenna als auch auf Avicennas Para-phrase zurck.64 Die bersetzung war im Mittelalter nur uerst sprlich

    60 Kassel (1971, 114).61 Kassel (1971, a.a.O.)62 Vgl. zum Folgenden: B. Schneider, Die mittelalterlichen griechisch-lateinischen bersetzun-

    gen der aristotelischen Rhetorik (= Peripatoi 2), Berlin 1971 sowie: Aristoteles Latinus, XXXI1-2: Rhetorica, hg. v. B. Schneider, Leiden 1978, Praefatio, IX-LV.

    63 Vgl. dazu W. F. Boggess, Hermannus Alemannus's Rhetorical Translations", in: Viator. Me-dieval and Renaissance Studies 2 (1971) 227-250.

    64 Vgl. dazu Aristoteles Latinus (a.a.O., IX-X).

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  • 5. Die bersetzungen 289verbreitet.65 Aegidius Romanus hatte ein Exemplar dieser bersetzung be-nutzt, mglicherweise hat auch Thomas von Aquin bei der Ausarbeitung derSumma contra Gentiles ein Exemplar vorgelegen.66 Die erste bersetzungaus dem Griechischen wurde in der ersten Hlfte des 13. Jahrhunderts voneinem unbekannten bersetzer angefertigt. Die in der Literatur fters ver-tretene Ansicht, die bersetzung stamme von Bartholomaeus von Messana,kann nach Schneider67 aufgrund eines Vergleichs der bersetzungstechni-ken leicht widerlegt werden. Weil es sich um die ltere der beiden berset-zungen aus dem Griechischen handelt, wird diese anonyme bersetzung alsdie ,Translatio vetus' bezeichnet. Sie bertrgt den griechischen Text Wortfr Wort und fllt dadurch auf, dass sie eine Vielzahl griechischer Ausdrckenur transkribiert: Dies gilt nicht nur fr Termini wie sillogismus", enti-mema", tecmirium" usw., sondern etwa auch fr Ausdrcke wie eunoi(evoi)", proheresi (jtoocarjoei)", philotimunte (qpi/VoxLuovxai)" usw.68Aber auch die Verbreitung dieser bersetzung blieb gering, vollstndig istsie nur in zwei Handschriften erhalten, zwei weitere Handschriften berlie-fern wenigstens intakte Teile.69

    Ein Grund fr die geringe Beachtung, die der Translatio vetus zuteilwurde, drfte die Verdrngung durch die in der zweiten Hlfte des Jahrhun-derts entstandene bersetzung durch Wilhelm von Moerbeke gewesen sein,dessen bersetzungen von Thomas von Aquin untersttzt und benutztwurden. Das genaue Jahr der Entstehung lsst sich auch hier nicht feststel-len, jedoch steht fest, dass Thomas von Aquin die bersetzung in Quaes-tione disputata de malo (entstanden um 1269-1270) selten, in der Prima Se-cundae der Summa Theologiae (entstanden 1271) sehr oft zitiert, was daraufschlieen lsst, dass die bersetzung vor 1269 fertiggestellt war.70 Die Frage,ob Wilhelm die Translatio vetus fr seine eigene bersetzung benutzt hat,wird von Schneider zuerst verneint,71 spter jedoch mit abwgenden Argu-menten beantwortet.72 Nicht nur ist die numerische Verbreitung der Wil-helm-bersetzung um ein Vielfaches hher als die der Vorgnger-berset-zungen, ihr fiel auch durch ihre Verwendung in dem Kommentar des Aegi-

    65 Vgl. dazu Aristoteles Latinus (a.a.O., X): Hanc arabico-latinam versionem Rhetoricae mediaaetate perpauci tantum cognovisse videntur."

    66 Vgl. dazu A. Gauthier, Saint Thomas d'Aquin, Contras Gentiles, livre premier. Texte de l'di-tion Lonine. Introduction de A. Gauthier. Traduction de R. Bernier et M. Corvez, Paris1961, 51-56: Saint Thomas et la Rhtorique d'Aristote".

    67 Vgl. Schneider (1971, 4).68 Vgl. dazu Aristoteles Latinus (a.a.O., XIII-XIV).69 Vgl. Aristoteles Latinus (a.a.O., XIX-XXII).70 Vgl. Schneider (1971, 6ff.).71 Vgl. Schneider (1971, 141-144).72 Vgl. Aristoteles Latinus (a.a.O., XXVIII-XXXH).

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  • 290 VI. Textgeschichtedius, der bis zur Verbreitung der ersten Renaissance-Kommentare einewichtige Rolle spielte, eine herausragende Bedeutung zu.

    Weil sowohl die Translatio vetus als auch die Wilhem-bersetzung einegriechische Vorlage benutzen, die nicht berliefert ist (genau genommen be-nutzen beide eine gemeinsame Vorlage und Wilhelm benutzt eine weitere,unabhngige Vorlage73), kommt diesen bersetzungen auch eine wichtigeBedeutung fr die Rekonstruktion des Archetypus zu.74 Dennoch wurde dieAutoritt der Wilhelm-bersetzung fr die Textkritik von verschiedenenEditoren, besonders Ross75, deutlich berschtzt.76

    Moderne bersetzungen liegen in den meisten europischen Sprachenvor: Spanisch von Tovar, Italienisch von Plebe sowie zuletzt von Dorati,Niederlndisch von Huys. Sehr ntzlich ist auch die franzsische berset-zung der Ausgabe von Dufour/Wartelle; verglichen damit stellt der in denNeunzigerjahren erschienene Wiederabdruck der leicht revidierten berset-zung von Ruelle aus dem Jahr 1882 natrlich keinen Fortschritt dar. Im Eng-lischen gibt es gute und gut eingefhrte bersetzungen aus der ersten Hlftedes 20. Jahrhunderts (v.a. Roberts, Jebb, Freese), die gleichwohl nicht immerden Gepflogenheiten neuerer bersetzungen entsprechen; z.B. ist Roberts'bersetzung, die zwar die Intention des Textes auch an schwierigen Stellensehr gut zu treffen scheint, oft unntig paraphrastisch. Erst in den Neunzi-gerjahren wurden diese klassischen Ausgaben durch zwei Neubersetzun-gen ergnzt: neben der bisweilen etwas unkonventionell unterteilenden undbersetzenden Ausgabe von Lawson-Tancred fand vor allem die bei OxfordUniversity Press (New York) erschienene Neubersetzung des Rhetorik-Experten George A. Kennedy Beachtung. Die bersetzung ist im Allgemei-nen sehr gut lesbar und folgt dennoch dem Aristotelischen Sprachduktus.Die Anmerkungen sind berwiegend ntzlich und helfen so einem Mangelan neuerer zuverlssiger Kommentierung77 ab. Dennoch enthlt die ber-setzung, selbst wenn man von einer Reihe von Falschschreibungen undDruckfehlern innerhalb des bersetzungstextes absieht, eine nicht unbe-trchtliche Anzahl von schweren Fehlern und Lcken: In 1358a32f. fehlt derSatz Wir wollen zuerst... reden", in 1359al2f. fehlt der Satz und weil das... getan werden kann", in 1374b3 wurde eine Verneinung bersehen, so dass

    73 Vgl. dazu in der Einleitung Kap. VI, Abs. 2.74 Vgl. dazu Kassel (1971, 70-78).75 Vgl. W D. Ross (1959, vii): Sum aliqui loci in quibus Guilelmus solus verba Aristotelis ser-

    vavit..." und (a.a.O., viii): Itaque (quia nondum habebat editionem vere criticam Guilelmi;supplementum auctoris) magna cum cautela utendum est lectionibus quae Guilelmo assignan-tur; sed cum clare apparet aut cum cdice Ac (id est Parisinus 1741; suppl. auctoris) deterioresaut cum his contra Ac translationem consentir, auxilium non spernendum fert translatio."

    76 Vgl. dazu Kassel (1971, 113, Anm. 55) und Schneider (1971, 88-90).77 Vgl. in der Einleitung Kap. VII, 1. Abs.

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  • 5. Die bersetzungen 291fair" statt not fair" bersetzt wird, in 1388al2f. fehlt der Satz Auf gleicheWeise verhlt man sich ... derartigen Dingen", in 1391b21 fehlt bei den Be-ratungsreden", in 1398al4f. fehlt der Satz oder das zu tun rt...", in 1399a5fehlt die Partizipialformulierung als er in eine unglckliche Situation gera-ten war", in 1405b20f. fehlt der Teilsatz oder, noch schlechter, ...", in1417bl7 fehlt der Relativsatz mit dem sie einverstanden sind". Sinnentstel-lende bersetzungsfehler liegen in 1362b30 durch den falschen Bezug vonx Tcve" vor, ebenso in 1368bllf., wo Eioxe" mit willingly" stattknowingly" bersetzt wird, des Weiteren in 1408b 15, wo OQyr\" mithate" statt mit anger" bersetzt wird, und schlielich in 1413a7, wo dieForm ebqYl^vov" offenbar auf oo" statt auf oxvi" zurckgefhrtund daher mit bound" statt bitten" bersetzt wird.

    Bei den deutschsprachigen bersetzungen fllt auf, dass die im Groenund Ganzen guten bersetzungen des 19. Jahrhunderts (vgl. etwa Stahr) im20. Jahrhundert weder durch Neuauflagen noch durch emendierende Aus-gaben zugnglich gemacht wurden. Eine zum Teil etwas eigenwillige Neu-bersetzung durch Gohlke (1959) konnte sich (zu Recht) nicht richtig etab-lieren. In den Achtziger- und Neunzigerjahren war deswegen ausschlielichdie bersetzung von Sieveke erhltlich, so dass diese schon aufgrund ihrerMonopolstellung berwiegend in den neu entstehenden Forschungsarbeitenzur Rhetorik7*1 zitiert wird. Sievekes bersetzung knpft in gewisser Hin-sicht an die bertragungen des 19. Jahrhunderts an, oft gelingen ihm sprach-lich durchaus elegante Wiedergaben.79 Jedoch fllt sofort eine fahrlssige In-konsequenz und Ungenauigkeit beim Umgang mit der Aristotelischen Ter-minologie auf. Aus der bersetzung Topos" wird bald Gesichtspunkt",allgemeiner Gesichtspunkt", allgemeiner Gesichtspunkt der Betrachtung"oder allgemeiner Gesichtspunkt zur Ermglichung der Beweisfhrung",aus Syllogismus" wird Schluss" oder dialektischer Schluss", Schlussver-fahren", logisches Schlussverfahren" u.a., aus berzeugung" (jtioTi) undberzeugungsmittel" wird Glaube", Glaubhaftmachung", Methodeder Glaubhaftmachung" oder Beweismittel", wobei Beweismittel" auchals bersetzung fr Texfif|Qiov" gebraucht wird (Kap. I 2), was dann je-doch bei nchster Gelegenheit (Kap. II 25) als notwendiges Merkmal"bersetzt wird. Die Glosse heit im einen Kapitel fremdartiger Ausdruck",78 Sogar im Historischen Wrterbuch der Rhetorik.79 Trotz des offenkundigen Verkaufserfolges, der bislang fnf Auflagen erforderlich machte,

    schien die Ausgabe jedoch weder dem Verlag noch dem Autor die Mhe wert, die schlimm-sten Fehler allmhlich zu tilgen: Noch in einer der spteren Auflagen wird Brger" stattBrder" (1362a8), wird wissentlich" statt freiwillig" (1368bllf.), belwollend" stattbelgesinnt" (1389b20) bersetzt, wird widerlegend" hartnckig mit ie" buchstabiert (vgl.S. 143 der 3. Auflage), der Fluss Halys als Hylas" (1407a38) und der Held Priamos als Pira-mos" (1362b36) wiedergegeben usw.

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  • 292 VI. Textgeschichteim anderen Provinzialismus".

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    Wenn Aristoteles drei Arten der o^iycogia(Herabsetzung) unterscheidet, dann ist es zweifellos schwierig, dafr ad-quate deutsche Differenzierungen zu finden. Wenn man aber wie Sieveke frdie Gattung zunchst Krnkung", fr die drei Unterarten aber Verach-tung", krnkende Behandlung" und bermtige Behandlung" whlt, dannaber die Gattung, um sie von der Unterart der krnkenden Behandlung" zuunterscheiden, zur Geringschtzung" abwandelt, und dann schlielichauch die Unterart der krnkenden Behandlung", um sie nun wiederum vonder ursprnglichen Gattungsbezeichnung Krnkung" zu unterscheiden,zur mutwilligen Behandlung" macht, dann geht die zwangslufige Verwir-rung vollstndig auf das Konto des bersetzers. Ein weiteres Beispiel frdiese Tendenz findet sich in der bersetzung des Abschnitts 115, 1377a7ff.,ber die gerichtlichen Eide: Dieser Abschnitt wird von den meisten berset-zern verdorben oder in bewusster Mehrdeutigkeit wiedergegeben, weil diegriechischen Idiome fr einen Eid leisten (= eine vorgelegte Eidformel an-nehmen und auf sie schwren)" (qxov )iafxaveiv) und (dem Gegner)eine Eidformel zum Schwur vorlegen" (qxov iovoa) Schwierigkeiten be-reiten. Aber Sievekes Inkonsequenz bertrifft hierin noch die Fehler derbersetzerkollegen: So beginnt er die bersetzung des Abschnitts, indem erqxov iovou" erst mit einen Eid leisten" bersetzt, dann aber

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    offen-bar unter dem Eindruck des so entstehenden Unsinns

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    dazu bergeht, die-selbe Formulierung gerade gegenteilig mit einen Eid bieten/anbieten" zubersetzen, ohne aber darin einen Anlass zur Angleichung der ursprngli-chen bersetzung zu sehen.80

    Eine nicht weniger bedenkliche Tendenz der Sieveke-bersetzung be-steht darin, den bersetzungstext mit Begriffen der rmischen Schulrheto-rik zu spicken oder diese sogar als bersetzungen zu gebrauchen: so knnenAusdrcke wie refutado", demonstrado" oder genus demonstrativum"81pltzlich als bersetzungen auftreten, oder aus einer einfachen Anord-nung" kann eine figurative Darstellungsweise" werden. Den Hinweis,etwas gehre nicht zum Argument, erlutert Sieveke mit dem lateinischenTerminus extra artem", obwohl dieser, wenn berhaupt, dann dem Begriffdes Kunstfremden (axe^vov) entspricht. Die beilufige Bemerkung, etwasfalle in den Bereich des Enthymems, bersetzt Sieveke mit Wohnsitz des

    80 Dieselbe Inkonsequenz muss er folglich auch fr den korrespondierenden Ausdruck qxovXau,aveiv" begehen; vgl. dazu im Kommentar die Anm. zu 1377a7-ll.

    81 Vgl. im Kommentar die Anm. zu 1414bl: Damit berspielt Sieveke, dass der berlieferte Texthier und nur hier die merkwrdige Formulierung xiv jioetjmxwv (von den beweisendenReden)" enthlt, was zwar wrtlich durch den Ausdruck demonstrativum", der rmischenBezeichnung fr das epideiktische Genos, wiedergegeben werden kann, bei Aristoteles je-doch keineswegs als Bezeichnung fr die epideiktische Rede eingefhrt ist, sondern vielmehrals beweisende Rede" bersetzt werden msste.

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  • 5. Die bersetzungen 293Enthymems" und fgt erluternd sedes argumentorum" hinzu, so als habeer hier die Keimzelle fr die nach-aristotelische Definition des Topos ent-deckt, wobei die entsprechende Stelle jedoch mit dem Begriff des Topos garnichts zu tun hat. Die Aristotelische Angemessenheit wird innerhalb desbersetzungstextes durch aptum, decorum" erlutert, und die Aristoteli-sche Breite mit sublimitas, dignitas", obwohl die Aristotelischen Begriffemit den spteren Termini in beiden Fllen recht wenig zu tun haben.82

    Die erst 1999 erschienene Neubersetzung von Krapinger scheint inso-fern selbststndig zu sein, als sie an verschiedenen Stellen, bei denen sonsteine Abhngigkeit zu frheren bersetzungen auszumachen ist, eigeneWege geht.83 Jedoch gibt Krapinger fr Begriffe, die Aristoteles terminolo-gisch gebraucht, je nach Kontext ohne Not ganz unterschiedliche berset-zungen; z.B. heit evxexvov" allein in den ersten beiden Kapiteln mal Be-standteil einer Theorie sein", mal kunstgem", mal redetechnisch", malsogar Aufgabe der Wissenschaft84 sein". Der Ausdruck evo^ov" wirdschon auf den ersten Seiten bald mit das Wahrscheinliche", bald mit her-kmmlicher", bald mit allgemeiner Meinung" bersetzt. Der entspre-chende Mangel besteht nicht in der Verletzung des

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    tatschlich oftmalsundurchfhrbaren

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    Ein-Wort-eine-bersetzung-Prinzips, sondern darin,dass Aristotelische Begriffsprgungen vom bersetzer nicht erkannt werdenund daher vom Benutzer auch nicht verstanden werden knnen; gerade dieKonstanz einiger wiederkehrender Grundbegriffe aber trgt wesentlich zumsystematischen Gerst der Schrift bei. Ein solches ist gar nicht mehr auszu-machen, wenn etwa der Schlsselbegriff iovoux" einmal mit berlegun-gen", einmal mit gedankliche Tiefe" und einmal mit Absicht des Gesag-ten" wiedergegeben wird. Irrefhrend ist auch Krapingers Umgang mit demTerminus xexptfiQiov"; diesen Ausdruck benutzt Aristoteles dazu, um eineUnterart des Indizes, nmlich das notwendige oder zwingende Indiz, zukennzeichnen

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    ein umgangssprachliches quivalent fr genau diese Rollegibt es weder im Griechischen noch im Deutschen; der bersetzer muss sichdaher irgendwie beheben, der Behelfscharakter entbindet ihn aber nicht von

    82 Es sei noch darauf hingewiesen, dass Sievekes bersetzung die Beschreibung des Topos Nr. 4in II 23 (1397bl2-174) verunstaltet und diesen Passus vllig unverstndlich macht.

    83 Vgl. etwa im Kommentar die Anm. zu III 1, 1404al2f.84 berhaupt handelt der bersetzer fters berstrzt, wenn es darum geht, T8xvr|" mit Wis-

    senschaft" (z.B. 1354all) gleichzusetzen; natrlich enthalten diexxvca fr Aristoteles einentheoriefhigen Kern

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    wenn man dies jedoch zum Anlass nimmt, Knste und Wissenschaftengleichzusetzen (wofr sich Krapinger (1999, 207, Endn. 24) auf die Autoritt Grimaldis be-ruft), msste man einen sprachlichen Weg finden, diese von der Ttio"Tr|u.| zu unterscheiden,zu der die Rhetorik gerade nicht zu zhlen ist. Einen solchen Weg findet der bersetzer nicht,so dass der Benutzer mit dem Paradox fertig werden muss, dass einerseits die rhetorischeberzeugung Gegenstand einer Wissenschaft sein soll (1354all) und andererseits davor ge-warnt wird, die Rhetorik zu einer Wissenschaft zu machen (1359bl3).

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  • 294 VI. Textgeschichteder Verpflichtung, wenigstens innerhalb der Behelfslsung konsequent wei-terzuverfahren. Krapinger nun fhrt in Kap. I 2 die bersetzung Beweis"85ein, um das tX[xr|Qiov von den anderen Arten der Indizien zu unter-scheiden. Daran scheint er sich in Kap. II 25

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    wer wrde ihm das so vieleKapitel spter nachtragen wollen?

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    nicht mehr zu erinnern86, so dass er jetztTXfXT|Qtov" als Indiz" bersetzt, was in I 2 als bersetzung fror|p,eov" eingefhrt wurde. Aber damit nicht genug: Genau acht grie-chische Textzeilen frher hatte er auch in Kap. II 25 den AusdruckaTJixeiov", jetzt dem Grundsatz ,Zwei-Wrter-eine-bersetzung' folgend,mit Indiz" bersetzt, wodurch sich der Benutzer innerhalb weniger Zeilenmit den beiden sich ausschlieenden Aussagen konfrontiert sieht: ,die Indi-zien knnen immer entkrftet werden, denn sie bilden nie eine Deduktion'und ,die Indizien knnen nicht entkrftet werden, denn sie bilden immereine Deduktion'.87 Neben terminologischer Inkonsistenzen enthlt die Neu-bersetzung durch Krapinger auch einige sinnentstellende bersetzungsfeh-ler, etwa in den Passagen Rhet. 1356bl5f. und Rhet. 1358a21 f.88

    6. Historische Kommentierungena) Aristoteles' Rhetorik in ByzanzDie byzantinischen Gelehrten brachten der Aristotelischen Rhetorik keinsehr groes Interesse entgegen.90 Thomas Conley erklrt dieses Desinteressedamit, dass einerseits fr rhetorische Belange Autoren wie Hermogenes inByzanz fest etabliert waren und dass andererseits Aristoteles als ein sehrschwer verstndlicher Autor galt.91 Soweit es Spuren einer Auseinanderset-zung mit der Aristotelischen Rhetorik vor dem 12. Jahrhundert gibt, so sind

    85 Wollte man penibel sein, wre schon diese Wortwahl zu beanstanden, weil er zugleich auchschon mal Jitoxic" und jtoEt|i" mit demselben Ausdruck bersetzt, und diese beidenBegriffe haben nun wirklich nichts mit dem texut|qiov zu tun.

    86 Vgl. Rhet. II 25, 1403al0f.87 Die Liste solcher terminologischer Inkonsistenzen liee sich noch ausfhrlich fortsetzen: In

    1366b27 scheint er zu bersehen, dass das Wort u,i>inoipuxLa" eine berflssige Verdoppe-lung (bei Kassel als solche gekennzeichnet) eines Ausdrucks ist, der in der nchsten Zeile wie-derholt wird; lautet die bersetzung in 1366b27 noch Knauserigkeit", heit sie in der unmit-telbar folgenden Zeile schon Kleinmtigkeit".

    88 Auf einige schwerer wiegende Fehler von Krapingers bersetzung wird im Kommentar hin-gewiesen; weitere Fehler sind in Rapp (2001c) dokumentiert.89 Rezentere Beitrge zur Wirkung der Aristotelischen Rhetorik insgesamt sind in dem Ta-

    gungsband von Knape/Schirren (im Druck) zusammengefasst.90 Der folgende berblick basiert auf den Ausfhrungen von Conley (1990).91 Conley (1990, 32).

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  • 6. Historische Kommentierungen 295diese meistens von Begriffen und Fragestellungen spterer Rhetoriker ber-lagert. Sowohl die Manuskripte Aristotelischer Werke als auch die im Um-lauf befindlichen Rhetorikkompendien beinhalteten in der Regel nicht dieRhetorik?2 Erst mit dem allgemeinen Aufschwung der Aristoteles-Kom-mentierung unter dem Einfluss von Michael von Ephesus und Eustratiosvon Nikea fand auch die Rhetorik wieder Beachtung. Im 12. Jahrhundertentstanden die beiden griechischen, heute in den CAG abgedruckten Kom-mentare von Anonymos und Stephanos (letzterer Kommentar ist nur in Tei-len erhalten); bei dem Autor des anonymen Kommentars wird spekuliert, obes sich mglicherweise um Michael von Ephesos selbst handelt.

    Die beiden byzantinischen Kommentare sind bei Sachfragen, bei der Er-luterung von Metaphern u.a. ntzlich; dabei knnen sie sich offensichtlichauf eine ltere Scholienliteratur sttzen. Ansonsten gehen die Interessen derKommentatoren auf oft eigentmliche Weise an den philosophischen Vo-raussetzungen der Rhetorik vorbei; eher werden die Aristotelischen Lehrenmit Hermogenes, Dionysios von Halikarnassos und Demetrius verglichen.Die bei Aristoteles nur marginal behandelten kunstfremden berzeugungs-mittel in 115 werden ausgiebig erlutert. Generell stehen Fragen der Anwen-dung im Mittelpunkt, und die Rhetorik wird aus dem Kontext Aristoteli-scher Philosophie weitgehend gelst und mit Werken der rhetorischen Tra-dition assoziiert.

    b) Die arabischen Aristoteles-KommentatorenGrundlage fr die Kommentierungsttigkeit der arabischen Aristotelikerwar eine im 8. oder 9. Jahrhundert entstandene bersetzung aus dem Syri-schen, die so genannte alte bersetzung". Von Al-Farabis Kommentar istnur die Einleitung in lateinischer bersetzung erhalten sowie auerdem einTraktat ber das erste Buch der Rhetorik. Von Avicenna ist ein frher Traktatmit Paraphrase zum ersten Buch erhalten, sowie aus reiferer Zeit eine Para-phrase zur ganzen Rhetorik. Von Averros ist schlielich eine Epitome sowieein mittlerer Kommentar erhalten, der ins Hebrische und ins Lateinischebersetzt wurde.

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    Die Kommentatoren nutzen ihre Kenntnisse der Aristo-telischen Logik sowie der politischen Philosophie. Es sind aber auch klareInteressenschwerpunkte und Kommentierungstendenzen auszumachen;hier einige Beispiele:

    Rhetorik und Logik: Offenbar in Absetzung gegen frhere Traditionen,die in der Rhetorik nur eine Stilkunde sahen und sie somit zur Unterdiszip-

    92 Allerdings besa man den Codex Parisinus 1741 (= A).

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  • 296 VI. Textgeschichtelin der Poetik machten, betonen Avicenna und Averros die Zugehrigkeitder Rhetorik zu den logischen Wissenschaften. Sie nehmen in die Klasse derlogischen bzw. .syllogistischen' Wissenschaften Apodeiktik, Dialektik, Eris-tik, Poetik und Rhetorik auf. Dialektik und Rhetorik werden so zu Nach-bar- oder Geschwisterdisziplinen unter dem gemeinsamen Dach der Logik.Entsprechend fllt auch Averros' Deutung der antistrophos-Formel aus; sogibt er den Anfangssatz der Rhetorik (nach der lateinischen bersetzung desAbramo de Balmes) folgendermaen wieder: Ars quidem Rhetoricae affinisest artis Topicae."93 Mit dieser Zuordnung der Rhetorik und Poetik zu denlogischen Schriften und somit zu dem unter dem Titel Organon bekanntenKanon liegt ein wesentlicher Unterschied zur Rezeption der Rhetorik in derlateinischen Tradition vor, die die Rhetorik wesentlich als Beitrag zur prakti-schen Philosophie des Aristoteles ansah. Diese Zuordnung bestimmt auchdie leitenden Interessen, unter denen die Schrift interpretiert wird; ein sol-ches logisches Interesse schlgt sich beispielsweise in der ausfhrlichen Aus-einandersetzung mit den Enthymemen nieder.

    Interesse an der Theorie der Enthymeme: AI Farabi und Avicenna ber-nehmen die Syllogismus-truncatus-Lehre. AI Farabi steigert diese Lehresogar dahingehend, dass ein Enthymem, das keine Prmisse auslsst, un-berzeugend wre. Das Interesse der arabischen Kommentatoren an derLogik der Rhetorik schlgt sich vor allem in Differenzierungen verschiede-ner Enthymeme nieder. AI Farabi will

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    offenbar gegen die Intention desAristoteles

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    zwischen Enthymemen mit wahren und solchen mit falschenPrmissen unterscheiden. Avicenna entwirft eine 8-fache Unterteilung desEnthymems. Bei Aristoteles selbst findet sich bekanntlich die Unterschei-dung von Enthymemen aus wahrscheinlichen Prmissen und solchen ausZeichen. Das Zeichen-Enthymem wiederum ist dreifach unterteilt. In ande-rem Zusammenhang unterscheidet Aristoteles zwischen notwendigen und inder Regel zutreffenden Prmissen des Enthymems. Avicenna nun wendetdiese letztere Unterscheidung auf die zuerst genannte Vierteilung der Enthy-meme an, so dass die einzelnen Typen des Enthymems jeweils noch danachunterschieden werden knnen, ob sie notwendige oder in der Regel zutref-fende Prmissen haben. Auf diese Weise enthlt das Klassifikationssystemdes Avicenna zwei mal vier, also insgesamt acht Enthymemtypen.94

    Avicennas Interpretation des Aristotelischen Rhetorikbegriffs: Avicennabeschreibt in seiner Paraphrase der Aristotelischen Rhetorik die Rhetorik alsdie Kunst, die dazu befhigt, die Menge in all dem zu berzeugen, von demihr zusteht, dass sie es fr wahr hlt. Der Angesproche ist nmlich bei jeder93 Averros, In libros rhetoricorum Aristotelis paraphrases A. de Balmes interprete (1515), in:

    Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Venedig 1562-1574, II 69.94 Vgl. dazu die Darstellung bei Wrsch (1993).

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  • 6. Historische Kommentierungen 297der syllogistischen Wissenschaften entweder gebildet oder gehrt zum unge-bildeten, gemeinen Volk, der Menge. Das Fr-wahr-Halten wird nun entwe-der durch die Apodeiktik oder durch die Rhetorik zustande gebracht; wh-rend die Apodeiktik die angemessene Weise ist, um den Gebildeten dazu zubringen, etwas fr wahr zu halten, bleibt fr denselben Effekt beim ungebil-deten Publikum nur die Rhetorik. Eristik und Dialektik sind hingegen im-mer auch mit der Absicht verbunden zu siegen (die Eristik ist sogar aus-schlielich darauf gerichtet), so dass diese beiden Disziplinen nicht dazu ge-eignet sind, ein Fr-wahr-Halten zu bewirken. Dass auch die Dialektik nichtzum Richtigen hinfhren will, knne man daran sehen, dass sie auf gegen-stzliche Prmissen gerichtet ist. Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeitender Rhetorik mit der Dialektik, erstens nmlich hinsichtlich der Absicht,sich durchzusetzen bzw. zu siegen, zweitens aber hinsichtlich des Gegen-standes, insofern keine der beiden Disziplinen einen Gegenstand hat, mitdem sich ihre Theorie ausschlielich befasst. Offenbar nimmt Avicenna abereinen Unterschied bei den Prmissen von rhetorischen und dialektischenSchlssen an: whrend nmlich Dialektik aus wirklich anerkannt Prmissenschliee, beruhe der rhetorische Syllogismus auf Prmissen, die nur gemder spontanen Meinung anerkannt sind. Ntzlich ist nach Avicenna die Rhe-torik, weil wahre Urteile ber das, was gerecht und gut ist, ein Gewinn frdie Menschen sind und weil die Rhetorik dazu dient, solche Urteile in dieseSeelen der angesprochenen Menge einzuprgen.95

    Averros'platonisierende Aristoteles-Interpretation: Ein wesentlicher Un-terschied zwischen Piatons Konzeption einer wahren Rhetorik im Phaidrosund Aristoteles' Rhetorik besteht darin, dass der Platonische Redner wirkli-ches philosophisches Wissen ber diejenigen Dinge braucht, ber die ersprechen mchte, sowie ber das Wesen der Seele. In der AristotelischenRhetorik dagegen gengt, dass er ber alle Dinge die endoxa erfassen kann.Ein interessantes Kapitel der mittelalterlichen Kommentierungsgeschichtebesteht nun darin, dass Averros ganz unvermittelt eine durchweg platoni-sierende Interpretation der Aristotelischen Rhetorik gibt; diese lsst sich andrei Punkten festmachen: (i.) Averros insistiert darauf, dass der Redner einMeister der Logik sein msse. Das scheint insofern mit Aristoteles berein-zustimmen, als auch Aristoteles sagt, dass der Meister der Dialektik auch dasEnthymem am besten beherrschen wird. Wenn Averros aber betont, dassnur der Fachmann der Logik ein wirklicher Redner sein knne, dann gehtdas ber Aristoteles weit hinaus, denn fr Aristoteles soll die Rhetorik alsAnleitung auch fr gewhnliche Brger gelten, (ii.) Averros fordert vomRedner philosophische Kenntnisse in der Staatskunst, (iii.) Averros meint,dass fr den Redner Klugheit nicht genge. Vielmehr msse er ber theore-95 Diese Paraphrase benutzt die bersetzung von Wrsch (1991).

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  • 298 VI. Textgeschichtetisches Wissen verfgen. Auf diese Weise erhlt der Rhetorikbenutzer beiAverros eher die Zge des Philosophenherrschers bei Piaton.96

    c) Lateinisches MittelalterFr Fragen der Rhetorik galt im lateinischen Mittelalter Cicero als wich-tigste Autoritt, der Text der Aristotelischen Rhetorik war lange nicht ver-fgbar; und als er durch bersetzungen verfgbar wurde, dominierte einethisches Interesse bei der Rezeption der Schrift. Diese Vernachlssigung istverstndlich, wenn man bedenkt, dass schon Autoren wie Boethius, die frdie mittelalterliche Rezeption der antiken Philosophie von entscheidenderBedeutung waren, in Fragen der Rhetorik Cicero anstelle von Aristoteles be-nutzten. Die Statuten der mittelalterlichen Universitten erwhnen dieSchrift erst in einer sehr spten Phase97, an der Universitt von Oxford etwawird die Schrift erst im Jahr 1431 (innerhalb eines Kurses ber verschiedenerhetorische Schriften zusammen mit Vergil und Ovid) offiziell eingefhrt.98

    Aegidius' Interpretation der Aristotelischen Rhetorik: Auch im Kommen-tar des Aegidius Romanus99 spielt das Interesse am Thema der Rhetorik nureine untergeordnete Rolle, und im Gegensatz zu den arabischen Kommenta-toren ist auch das Interesse fr logische Fragen eher gering. Im Mittelpunktstehen vielmehr Fragen der Ethik sowie der Versuch, fr die Rhetorik einenfesten Platz im hierarchischen System der Wissenschaften zu begrnden.

    Aegidius zhlt die Rhetorik zu den fnf artes sermonales, wozu neben derRhetorik die Grammatik, die Poetik, die Dialektik und die demonstrado(Apodeiktik) gehren.100 Um die Rhetorik innerhalb dieser fnf Knste ein-zuordnen, kann zunchst die Grammatik ausgesondert werden, insofern sienur auf den konventionellen Regeln der jeweiligen Sprachen beruht.101 Poe-tik hat es mit Gesten und Darstellungen zu tun und ist daher ebenfalls leichtvon den brigen Knsten zu unterscheiden.102 brig bleiben daher Apo-deiktik, Dialektik und Rhetorik. Davon besteht die erste in rationes demons-tradvae, die zweite in rationes probabiles und die dritte in rationes persuasi-vae. Daraus lsst sich auf die Unterschiede zwischen den drei Disziplinen

    96 Vgl. dazu Butterworth (1998).97 Vgl. dazu J. J. Murphy (1966, 111 f.).98 Vgl. dazu J. J. Murphy, The Earliest Teaching of Rhetoric at Oxford", in: Speech Mono-graphs 27 (1960), 345-347.99 Aegidius Romanus, commentaria in Rhetoricam Aristotelis, Venedig 1515, ND 1968.

    100 Vgl. zum Folgenden auch Robert (1957) und O'Donnell (1969, 142-145).101 Vgl. (a.a.O., Ira): Propter primum advertendum quod dimissa grammatica quae quodam-

    modo est ad libitum ..."102 Vgl. (a.a.O., Ira): ... potica quae innititur aliis gestibus et repraesentationibus."

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  • 6. Historische Kommentierungen 299aufgrund ihrer jeweiligen Wirkung schlieen, denn nur die radones demons-tradvae bringen Wissen (scienda) hervor, radones probabiles und radonespersuasivae bringen jeweils Meinung (opinio) oder Dafrhalten (fides bzw.credulitas) hervor.103 Whrend das Wissen klar von den anderen beiden Wir-kungen unterschieden ist, ist der Unterschied zwischen den beiden Typenvon Meinung, die entweder durch Dialektik oder Rhetorik erzeugt werden,schwer zu fassen. Die Lsung, die Aegidius fr dieses Problem vorsieht, istfr sein Verstndnis der Rhetorik ausschlaggebend:

    Aegidius wendet sich gegen die Vorschlge, dass beides durch den Gradder Gewissheit unterschieden werden knne oder dass Dialektik das All-gemeine, die Rhetorik aber nur das Einzelne zum Gegenstand habe.104Tatschlich bestehe der Unterschied darin, auf welche Weise der Intellektjeweils angesprochen werde: Die Zustimmung des Intellekts zu einer opiniokommt durch den Intellekt allein Zustande. Die Zustimmung zu einer fides/credulitas kommt hingegen nur dann zustande, wenn der Intellekt vom ap-petitiven Seelenteil dazu bewegt wird. Der Intellekt wird durch die radonespersuasivae nur angesprochen, insoweit er offen ist, vom appetitiven Seelen-teil bewegt zu werden, whrend bei den demonstrativen oder den im Sinneder Dialektik wahrscheinlichen Grnden der Intellekt durch eine ihm eigen-tmliche Bewegung angesprochen wird.105 Daher kann man auch behaup-ten, es sei eher Ziel der Rhetorik zu sagen, dass etwas gut oder schlecht, alsdass etwas richtig oder falsch sei.106

    Insgesamt weisen daher Dialektik und Rhetorik nach Aegidius folgendeUnterschiede auf:107 (i.) Rhetorik hat es mehr mit moralischen Angelegen-103 Vgl. (a.a.O., lrb): Possumus autem assignare differentias inter ista genera rationum (prop-

    ter) differentias eorum quae generantur ex illis. Nam per rationes probabiles generatur opi-nio, per persuasivas fides aggeneratur sive credulitas; per demonstrativas vero efficitur scien-tia."

    104 Vgl. (a.a.O., lrb): Dixerunt autem aliqui credulitatem sive fidem diffrant ob opinione se-cundum certitudinem quia certius adhaeremus his quae opinamur quam his quae credimus.Nam huiusmodi credulitas et potissime quae generatur per rhetoricam quaedam suspicatiodbet dici. Alfarabius in quibusdam suis praeambulis quae condidit super rhetoricam vultquod per rhetoricam fiat persuasio in unaquaque rerum particulariam."

    105 Vgl. (a.a.O., 1 rb-1 va): Nam assenus credulitatis per rationes persuasivas competit intellectuisecundum quod aptus natus moveri ab appetitu. Assensus vero scientificus et operativus siveassentire per propositiones demonstrativas et probabiles competit intellectui ut est aptusnatus moveri secundum motum proprium."

    106 Vgl. (a.a.O., 16ra): Per rationes dialcticas magis probatur aliquid esse verum, per rhetoricasvero magis esse bonum. Nam cum verum et falsum sint in anima et objectum intellectus for-maliter loquendo non sit bonum sed verum, quod terminet intellectum secundum se, oportetquod probet aliquid esse verum; unde bene dictum es quod verum sub ratione qua probabileintenditur a lgico; nam hoc est habere opinionem alicuius, quia assentimus ei tanquam veroprobabili; sed cum bonum et malum sint in rebus et bonum sit objectum appetitus, quod ter-mint intellectum ut habet ordinem ad voluntatem, dbet ostendere aliquid quia bonum."

    107 Vgl. zu den fnf Merkmalen (a.a.O., Ira).

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  • 300 VI. Textgeschichteheiten, Dialektik mit spekulativen Dingen zu tun, (ii.) Rhetorik muss dieEmotionen (passiones)10* ansprechen. Das berhrt zugleich die Frage, wel-che Seelenteile von der Rhetorik im Unterschied zur Dialektik angesprochenwerden; Aegidius folgt hierbei dem Vorbild des Thomas von Aquin und lo-kalisiert die passiones im appetitiven Teil der anima sensitiva, womit sie auchdes Krpers bedrfen.109 (iii.) Der Adressat der Rhetorik ist einfach unddumm (simplex et grossus), im Bereich der Dialektik ist er ingeniosus et sub-dlis. (iv.) Die Rhetorik benutzt nur Enthymeme und Beispiele, whrend dieDialektik Syllogismen und Induktionen gebraucht. Der darin sich manifes-tierende Mangel der rhetorischen Argumentationsformen bringt Aegidiusdazu zu sagen, dass Enthymeme und Syllogismen zu verschiedenen Gattun-gen gehren und nur der Analogie nach gleich seien.110 (v.) Rhetorik hat esmehr mit dem Einzelnen, Dialektik mehr mit dem Allgemeinen zu tun; dieseUnterscheidung war ihm zwar unzureichend erschienen, um durch sie denUnterschied von dialektisch erzeugter opinio und rhetorisch erzeugter fidesbzw. credulitas zu begrnden, aufgrund seiner eigenen Begrndung diesesUnterschieds erweist sich dieses Kriterium aber als nachvollziehbar, dennwhrend der Intellekt als solcher durch das Allgemeine angesprochen wird,ist es das Einzelne, das den appetitus anspricht, (vi.) Zwar gebrauchen beideDisziplinen Topen, jedoch gebrauchen sie sie auf unterschiedliche Weise

    -

    entsprechend nmlich dem Unterschied zwischen der Erzeugung von opiniound fides bzw. credulitas.111

    Aufgrund der genannten Faktoren stellt sich die Rhetorik auf ein gegen-ber der Dialektik untergeordnetes Niveau.112 Sie macht von unzulngliche-ren Argumentationsformen Gebrauch, sie spricht den Intellekt nicht auf-grund dessen eigentmlichen Krften an, sie wendet sich durch die passionesan einen dem Intellekt untergeordneten und mit dem Krper vermischtenSeelenteil, sie bewirkt eine Form der Meinung, die weniger Gewissheit ver-brgt. Sie wendet sich an ungebildetere Hrer und hat es mit untergeordne-ten Gegenstnden zu tun. Deshalb ist es fr Aegidius leicht, einen Sinn ausWilhelms bersetzung des Eingangssatzes der Aristotelischen Rhetorik zumachen: Rethorica assecutiva dialectice est (Rhetorik folgt der Dialektiknach)". Nachfolge (assecudo) sei nmlich eine Art der Nachahmung (imita-'8 Vgl. dazu Hieronimi (1934).109 Vgl. (a.a.O., 49rb): decaratum est igitur quid sit passio quia est motus appetitus sensitivi..."110 Vgl. (a.a.O., 13ra): Sie praedicti syllogysmi diffrant genere et syllogysmus absolute sump-

    tus non est genus ad ista sed analogum, sicut corpus est analogum ad supercoelestia et infe-riora."

    111 Vgl. (a.a.O., Ira): Tarn dialctica quam rhetorica utantur locis. Loci tarnen hic et ibi nonsumuntur eodem modo. Haec autem et alia quae diligens rhetor investigare potest sumuntoriginem ex differentia quae assignata est inter opinionem et fidem."

    n2 Vgl. dazu Murphy (1969).

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  • 6. Historische Kommentierungen 301do). Darin kann sowohl eine quivalenz als auch ein Mangel ausgedrcktsein. Die Rhetorik folge der Dialektik in beiden Weisen. Fr die Nachfolgeim Sinne des Mangels nennt Aegidius ausdrcklich drei Faktoren: den Gradan Gewissheit, die benutzten logischen Instrumente und die beteiligten See-lenvermgen.113

    d) Italienische RenaissanceZu Beginn der italienischen Renaissance war der griechische Text der Rheto-rik nicht zugnglich, der lateinische Text nur in den scholastischen Bearbei-tungen. Cicero und Quintilian standen bereits vor der Wiederentdeckungder Rhetorik in hohem Ansehen und zwar nicht nur bei Fachleuten fr Rhe-torik. Vielmehr schtzte man an deren Schriften, dass sie die menschlicheRede als Eigentmlichkeit des Menschen behandelten und der Rhetorikeinen Wert innerhalb eines humanistischen Bildungsprogramms beimaen.Entsprechend wurde fr die Aristotelische Rhetorik versucht, diese an dieStandpunkte Ciceros und Quintilians heranzufhren. Die Wiederentde-ckung der Aristotelischen Rhetorik fllt mitten in die Kontroverse, ob Plato-nische oder Aristotelische Philosophie hher zu schtzen sei. Das ThemaRhetorik wird dabei als ein weiteres Kriterium fr diese Frage aufgegriffen.Die unter den Kommentatoren der Renaissance ausufernden Debatten berdie Interpretation des Eingangssatzes der Rhetorik und den Sinn der anti-strophos-Formel haben damit zu tun, dass man die Rhetorik aus der einge-schrnkten und untergeordneten Rolle loslsen mchte, die sie in der scho-lastischen Bestimmung erhalten hatte. Whrend das Interesse der Araber ander Rhetorik vor allem logischer Art war, ist das Interesse der Renaissance-Autoren wieder deutlich praktischer Art. Allerdings betrachten sie andersals noch Aegidius Romanus die Rhetorik nicht als Quelle fr weitere Dis-tinktionen im Bereich der Ethik, sondern als Quelle fr die Wissenschaftvom Menschen. So schreibt zum Beispiel Georg von Trapezunt im Vorwortzu seiner Rhetorik-bersetzung:

    ...omnia de moribus hominum per diversas aetates atque fortunas pruden-

    ter invenisse, distincte explicasse, ornate conscripisse, ut nihil ab eo praeter-missum esse videatur. nee secreta naturae solum, ut summus omnium philo-sophus, sed abditas quoque hominum mentes, motusque recnditos noniniuria pereepisse putetur."114

    113 Vgl. Aegidius Romanus (a.a.O., 2ra)."4 Aristotelis Rhetoricorum libri III, Venedig 1523, 109; Hervorhebungen vom Verf.

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  • 302 VI. TextgeschichteObwohl in der Schrift des Aristoteles selbst von Psychologie bzw. von denpsychologischen Hintergrundstheorien, von denen die Rhetorik Gebrauchmacht, nicht die Rede ist, versuchen die Renaissance-Autoren signifikanter-weise gerade die Psychologie der Rhetorik bei der Interpretation von Aristo-teles zu erhellen. Schlielich ist es fr diese neue Auseinandersetzung mitAristoteles typisch, dass von einem philologisch-vergleichenden VerfahrenGebrauch gemacht wird: Die Verwendung einzelner Ausdrcke wird ausgie-big mit Hilfe von Parallelstellen zu erhellen versucht.

    Piaton oder Aristoteles?115 Zur Popularitt der Aristotelischen Rhetoriktrug eine Kontroverse zwischen dem schon erwhnten Georg von Trapezuntund Kardinal Bessarion116 bei. Ersterer war in Italien durch ein mit demTitel Rhetoricarum libri V aus dem Jahr 1433 bekannt geworden, in dem erdie lateinische und die griechische Rhetoriktradition zusammenzufhrensuchte; berhaupt sah er sich, da er selbst aus Byzanz kam, offenbar in derRolle des Vermittlers griechischer Rhetorik im lateinischen Westen. Wh-rend sein erwhntes Hauptwerk die Aristotelische Rhetorik noch auerAcht lie, schloss er im Jahr 1445 eine bersetzung derRhetorik ins Lateini-sche ab, die einige Jahrzehnte spter zur Grundlage einer der ersten gedruck-ten bersetzungen wurde. Einige Jahre spter publizierte Georg von Trape-zunt einen Vergleich zwischen der Platonischen und der Aristotelischen Phi-losophie,117 in dem er Piaton wegen seiner Rhetorik-Kritik im Gorgias hef-tig angriff, um daran die berlegenheit des Aristoteles und insbesondereauch der Aristotelischen Einstellung zur Rhetorik zu demonstrieren. Dabeienthlt seine Verteidigung von Aristoteles' einige Aufflligkeiten: z.B.machte er auch die (Pseudo-Aristotelische) Rhetorik fr Alexander zurGrundlage seiner Verteidigung; wesentliche Errungenschaften des Aristote-les, wie die Lehre von den drei kunstgemen berzeugungsmitteln oder dieBestimmung des Enthymems, lsst er dagegen ungenutzt.118

    Kardinal Bessarion antwortet darauf in der Schrift In calumniatorem Pia-tonis (griechisch: 1459, lateinisch: 1469), nicht indem er nun seinerseits Aris-toteles angreifen wrde, sondern indem er den Platonischen Phaidros als dieVoraussetzung der Aristotelischen Rhetorik zu erweisen versucht. Dabeihebt er hervor, dass fr Piaton das Erkennen von hnlichkeiten und Unhn-lichkeiten, m.a.W. die als ,dihairesis' und synopsis' bezeichneten Verfahrens-weisen, auch die Grundlage der wahren Rhetorik sei und dass Aristotelesdies nur im Einzelnen ausfhre. Auch sei der Dialog Phaidros selbst ein Bei-115 Die Ausfhrungen des folgenden Abschnitts beruhen im Wesentlichen auf Green (1994a).116 Vgl. auch L. Mohler, Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann, 3 Bde.,

    Paderborn 1923-42, ND 1967.1 '7 Georg von Trapezunt, Comparationes phylosophorum Aristotelis et Piatonis, Venedig 1523,

    ND Frankfurt/M. 1965.118 Vgl. Green (1994a, 324).

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  • 6. Historische Kommentierungen 303spiel fr eine an das Publikum angepasste Rede. - Im Zuge dieser Debattewurde sowohl Piatons Phaidros als auch die Aristotelische Rhetorik untergenuin rhetorischen Aspekten bewertet, was gegenber der mittelalterlichenTradition, die die Rhetorik vor allem als Beitrag zur Ethik wahrnahm, einewesentliche Interessenverschiebung darstellt.

    Psychologisierung der Rhetoriktheorie: Ein gemeinsames Merkmal allerRenaissance-Autoren, die ber die Aristotelische Rhetorik schreiben, ist ihrInteresse an der psychologischen Erklrung der rhetorischen berzeu-gungsmittel. Zwar erahnt man stellenweise auch bei Aristoteles selbst diepsychologischen Hintergrundsannahmen zu seiner berzeugungstheorie,doch enthlt die Rhetorik selbst dazu hchstens Andeutungen.119 Obwohlsolche berlegungen zu den jeweils involvierten Seelenteilen thematisch anAegidius Romanus anknpfen, besteht ein wichtiger Unterschied dochdarin, dass bei diesem die entsprechenden Diskussionen entweder einer ethi-schen Fragestellung dienen120 oder dem Problem der systematischen Lokali-sierung der Rhetorik neben Philosophie und Theologie, whrend in der Re-naissance die psychologischen Erklrungen ein genuin rhetorisches Inte-resse, nmlich bei der Erklrung der berzeugungsleistung, verfolgen. DasInteresse an der psychologischen Erklrung zeigt sich z.B. regelmig, wennes darum geht, die Wirkung der verschiedenen berzeugungsmittel genauerzu beschreiben.121 Green demonstriert die Vorliebe fr Psychologisierungenauerdem am Beispiel des Daniele Brbaro:122

    Daniele Brbaro gab 1544 einen Kommentar zu der Jahrzehnte frherentstandenen bersetzung seines Onkels Ermolao (bzw. Hermolao) Br-baro heraus. Bei seiner Kommentierung macht er Gebrauch von einer See-lenlehre, die zwischen natrlicher, appetitiver, und intellektueller Seele un-terscheidet. Auffallend ist, dass er die Fhigkeit der ueren Sinne dem un-tersten, dem natrlichen Seelenteil zurechnet, so dass fr den appetitivenSeelenteil nur noch der innere Sinn und die motivationalen Seelenantriebeverbleiben. Diesen willensartigen Seelenteil unterteilt er nun gem der beiThomas von Aquin gelufigen Unterscheidung zwischen konkupisziblenund irasziblen Emotionen in die Bereiche ,iracundia' (Zorn, Zornesmut) und,cupiditas' (Begierde). Der Redner hat nun nicht die Zeit, wirkliches Wissenzu bermitteln, daher reicht es fr ihn auch nicht, den Intellekt anzuspre-chen; vielmehr muss er, um den Zuhrer zu einer bestimmen Meinung zu

    119 Vgl. dazu im Kommentar die 1. Nachbemerkung zu Kap. I 2.120 Ein gutes Beispiel fr diese Tendenz ist auch die Rezeption der Aristotelischen Emotions-

    analysen in Rhet. II 2-11 durch Thomas von Aquin, der damit im praktischen Teil derSumma Theologica (d.h. in der Prima Secundae) ein ausschlielich ethisches Interesse ver-folgte.

    121 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. zu 1356b23-24.122 Green (1994a), (1994b), (1998).

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  • 304 VI. Textgeschichtebringen, auch den appetitiven Seelenteil ansprechen. Whrend der Intellektdurch Belehrung angesprochen wird, versucht man die zornhaften Antriebezu bewegen und der Begierde zu gefallen, so dass die drei von Cicero fr dieRhetorik festgestellten Aufgaben ,docere', ,movere' und ,delectare' durcheine Aristoteles unterstellte Seelenlehre neu fundiert werden. Schlielichmeint Daniele, diese drei Aufgaben den drei Bchern der AristotelischenRhetorik zuordnen zu knnen, indem er das Belehren fr Buch I, das Bewe-gen fr Buch II und das Gefallen fr Buch III vorsieht.

    Die groen Kommentare: Ein ganz neues Kommentierungsniveau erreichtder erstmals 1548 erschienene Kommentar von Petrus Victorius (bzw. PieroVettori).123 Auch die in dieselbe Zeit fallenden Kommentare von MarcusMaioragius und Antonius Riccobonus spiegeln einen intensiven Diskussi-onskontext wider. Eine zweite Auflage des Kommentars von Petrus Victo-rius im Jahr 1579 nimmt bereits die durch die Kommentatoren-Kollegenerfolgte Kritik auf. Zwar finden sich auch bei diesen Autoren die fr dieRenaissance-Kommentierung typischen Vorlieben wieder (Vergleiche mitCicero und Quintilian, psychologisierende Erklrungen, Anwendungsinte-resse, usw.), doch erfolgen jetzt konzentrierte Diskussionen zu Detailfragen,die die Textexegese auch unabhngig von bergreifenden Kommentierungs-zielen voranbringen. Beispiele fr solche Detaildiskussionen sind die Ausle-gung der antistrophos-Formel124, die Definition des Enthymems, die Unter-scheidung von Enthymemen aus Zeichen und solchen aus wahrscheinlichenStzen, die Wirkung und Legitimitt von Emotionen in der Rhetorik, usw.

    e) Thomas HobbesThomas Hobbes drfte sich bereits als Hauslehrer in Devonshire mit derAristotelischen Rhetorik befasst haben. Zu Unterrichtszwecken scheint ereine lateinische Zusammenfassung der Rhetorik angefertigt zu haben, die1637 in englischer bersetzung anonym publiziert wurde.125 Diese berset-zung, die unter dem Titel A Briefe of the Art ofRhetoric erschien, stammtoffenbar von Hobbes selbst und wurde von ihm noch um eigene berlegun-gen zu Tropen und Metaphern erweitert. Wegen des teils zusammenfassen-den, teils erweiternden Charakters der Schrift wird man nur eingeschrnktdavon sprechen knnen, dass es sich um die erste englischsprachige berset-zung der Aristotelischen Rhetorik handelt.126 Auch die 1681 postum unter

    123 Zu den Vorzgen von Petrus Victorius als Kommentator vgl. unten Kap. VII, Abs. 1.124 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (1.2) zu 1354al-6.125 Vgl. Sorell (1990, 96).126 Vgl. Sorell (a.a.O., 96).

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  • 6. Historische Kommentierungen 305Hobbes' Namen erschienene Fassung mit dem Titel The Art of Rhetoric127ist weit von einer textgetreuen bersetzung entfernt, auch wenn das ano-nyme Vorwort sie, wohl in Unkenntnis des Originals, als translation" an-nonciert.128 Hobbes gibt von jedem Kapitel der Aristotelischen Rhetorikeine mehr oder weniger knappe Zusammenfassung, wobei er das erste Buchin 16 Kapitel, das zweite in 28 Kapitel und das dritte in 18 Kapitel unterteilt.Aufschlussreicher als die leicht vernderte Einteilung des Stoffes sind jedochdie Akzente, die Hobbes bei der Darstellung dessen setzt, was er fr wesent-lich hlt.

    So findet bereits die Aristotelische Feststellung, Rhetorik und Dialektikseien korrespondierende Disziplinen, die sich beide nicht auf einen begrenz-ten Gegenstandsbereich beziehen, in der Hobbes'schen Zusammenfassungdes Eingangskapitels keine Erwhnung. Man knnte davon sprechen, dassdie von Aristoteles technisch analysierten Sachverhalte von Hobbes .perso-nalisiert' werden: Whrend Aristoteles die Verwandtschaft der Rhetorik mitder Dialektik auch daran deutlich macht, dass beide Disziplinen ber dieGegenteile Schlsse bilden" knnen, weshalb sie sich dazu eignen, fehler-hafte Argumentationen zu erkennen (vgl. I 1,1355a29-36), bemerkt Hobbeslediglich, die Rhetorik bewahre vor der Gefahr, dass evil men [7] wouldcarry an evil cause against a good"129. Auch der Unterschied zwischen Rhe-torik und anderen Knsten wird in Hobbes' Zusammenfassung nicht thema-tisiert. ,Kunst' versteht Hobbes nicht als methodisches Vorgehen (vgl. I 2,1355b38), sondern analog zur .Einleitung' des Leviathan als invention",kunstgeme berzeugungsmittel bezeichnet er folgerichtig als belief thatproceeds from our invention"130. Rhetorik erscheint bei Hobbes zwar alsart", der es im Wesentlichen (chiefly") um Beweise (proofs") geht131, dieunter diesen Begriff subsumierten Beispiele und Enthymeme werden jedochnur kurz beim Namen genannt und als short induction" resp. short syllo-gism" charakterisiert, ohne dass ber die Struktur der Argumente oder dieEigenschaften der Prmissen ein Wort verloren wrde.132 Das zweite Kapi-tel, im Aristotelischen Text das lngste des ersten Buchs, ist in der Hob-bes'schen Zusammenfassung das krzeste.

    127 The Art of Rhetoric, with A Discourse of the Laws of England. By Thomas Hobbes of Mal-mesbury, London, Printed for William Crooke at the Green Dragon without Temple-Bar,1681. ND: W. Molesworth (Hrsg.) 1840, The English Works of Thomas Hobbes of Malmes-bury, London 1839-1845, Bd. VI, 419-510 [= EW VI].

    128 EW VI, 422.129 eW vi, 424.130 EW VI, 424.!3l EWVI.423.132 Ew/ vi, 425.

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  • 306 VI. TextgeschichteUngeachtet der stark verkrzenden und entsprechend einseitigen Darstel-

    lung ist es bemerkenswert, dass Hobbes die zu seiner Zeit keineswegs allge-mein anerkannte Ansicht des Aristoteles zu teilen scheint, Rhetorik sei imWesentlichen eine argumentativ berzeugende Disziplin. Whrend aberAristoteles ein wesentliches Ziel des rhetorischen berzeugens darin sieht,der auch in den anerkannten Meinungen (endoxa) enthaltenen Wahrheit zuihrem Recht zu verhelfen (vgl. I 1, 1355al4-18; a36-b7), zieht Hobbes eineundurchlssig wirkende Grenzlinie zwischen den infallible truths", die diePrinzipien der logic" bilden, und den common opinions", die als princi-ples of rhetoric" Verwendung finden133, da sie den Vormeinungen der urtei-lenden Zuhrer entsprechen. Doch wenn an deren Vormeinungen ange-knpft werden soll, dann ist das Ziel nicht die Wahrheit oder wenigstens dieAnnherung an die Wahrheit, sondern the end of rhetoric is victory"134.Rhetorik erhlt damit bei Hobbes einen agonalen und manipulativen Cha-rakter, den sie bei Aristoteles keineswegs besitzt. Sein Verstndnis der Aris-totelischen Rhetorik als einer auch zu Herrschaftszwecken funktionalisier-baren Kunst mag den Hintergrund dafr gebildet haben, dass Hobbes Aris-toteles zwar als the worst teacher that ever was, the worst politician andethick" angesehen hat, aber einrumte: his rhtorique and discourse of ani-mals was rare"135.

    f) Friedrich NietzscheDie Teilbersetzung der Aristotelischen Rhetorik diente Nietzsche alsGrundlage fr Vorlesungen, die er im Wintersemester 1874/1875 vor zweiund im Sommersemester 1875 vor drei Studenten in Basel gehalten hat.136Vorangegangen waren thematisch verwandte Vorlesungen, die die Ge-schichte der antiken Beredtsamkeit"137 und eine Darstellung der antikenRhetorik"138 zum Thema hatten. In dieser Darstellung wrdigt Nietzschedie Rhetorik des Aristoteles zwar als ,,[r]ein philosophisch u[nd] hchst ein-133 EW VI, 426.134 EW VI, 426.135 A. Clark (Hg.), Brief lives, chiefly of contemporaries, set down by John Aubrey, between the

    years 1669 and 1696, 2 Bde., Oxford 1898,1 357.136 Vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie in drei Bnden, Mnchen 1978, 527f. Die fr

    das Wintersemester 1878/79 angekndigte Vorlesung zur Rhetorik des Aristoteles hat Nietz-sche wahrscheinlich nicht gehalten, vgl. R. Meister, Nietzsches Lehrttigkeit in Basel1869-1879, in: Anzeiger der sterreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 85 (1948), Nr. 7, 103-121, hier: 105-107.

    137 Wintersemester 1872/1873; KGW II 4, 363-11.138 Sommersemester 1874; KGW II 4, 413-502; 1-7 zuvor bereits in: Nietzsche's Werke[.Grooktav-Ausgabe'], Bd. XVIII: Philologica, hrsg. v. O. Crusius, Leipzig 1912.

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  • 6. Historische Kommentierungen 307flussreich fr alle spteren Begriffsbestimmung[en]"139, er kritisiert oderkommentiert die seines Erachtens relevanten Theoriestcke jedoch nicht,sondern referiert sie lediglich. Erwhnung finden: die Definition der Rheto-rik als Fhigkeit, bei jeder Sache alles mgliche Wahrscheinliche [!] undberzeugende"140, zu betrachten, das Verhltnis von Rhetorik und Dialek-tik141 sowie die kunstfremden und kunstgemen berzeugungsmittel.142Whrend die genannten Aspekte der Aristotelischen Rhetorik eher konven-tionell und lehrbuchartig dargestellt werden, wird die Metapherntheorie ausder Poetik ausfhrlich und textnah erlutert.143 Das besondere Interesse ander Metapher, die Nietzsche in den Kontext einer Darstellung der Sprachfi-guren oder Tropen einordnet,144 drfte sich der Tatsache verdanken, dass erdie Tropen, die uneigentlichen Bezeichnungen", nicht nur als wichtigstesKunstmittel der Rhetorik" ansieht,145 sondern Tropen fr die eigenste Na-tur" der Wrter hlt, so dass von einer ,eigentlichen Bedeutung', die nur inspeziellen Fllen bertragen wrde" keine Rede sein knne.146 In der Rheto-rik wrden nur die in der Sprache gelegenen Kunstmittel" fortgebildet: Wasin der Genese der Sprache unbewusst wirksam gewesen sei, werde in derRhetorik bewusst zum Einsatz gebracht.147 Erstaunlicherweise hlt Nietz-sche diese Auffassung fr kompatibel mit der Aristotelischen Definition derRhetorik:

    die Kraft, welche Aristotfeles] Rhetorik nennt, an jedem Dinge das herauszu finden u[nd] geltend zu machen[,] was Eindruck macht, ist zugleich] dasWesen der Sprache: diese bezieht sich, ebensowenig wie die Rhetorik, aufdas Wahre, auf das Wesen der Dinge, sie will nicht belehren, sondern einesubjektive Erregung u[nd] Annahme auf andere bertragen."148

    Nietzsches Behauptung, die rhetorische, also tropische Struktur der Sprachemache einen Bezug auf die Wahrheit grundstzlich unmglich, korrespon-diert der in Ueber Wahrheit und Lge im auermoralischen Sinn entfaltetenKonzeption der Wahrheit, nach der diese nichts sei als ein bewegliches139 KGW II 4, 419.ho KGW II 4, 419; vgl. I 2, 1355b27: x evOxu.Evovmf>avv.141 KGW II 4, 420.142 KGW II 4, 475-478.143 KGW II 4, 444 f.; vgl. Poet. 21, 1457b7-17.144 KGW II 4, 442-449.i KGW II 4, 426.146 KGW II 4, 427; der Gedanke ist, teilweise wrtlich, bernommen aus: Gustav Gerber: Die

    Sprache als Kunst, Bd. I, Bromberg 1871, 333; vgl. A. Mejers/M. Stingelin, Konkordanz Ger-ber/Nietzsche, Nietzsche-Studien 17 (1988), 350-368, hier: 353; G. Most/Th. Fries, DieQuellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, in: J. Kopperschmidt/H. Schanze (Hg.),Nietzsche oder ,Die Sprache ist Rhetorik', Mnchen 1994, 17-38 und 251-258.

    147 KGW II 4, 425; Hervorh. im Original.148 KGW II 4, 425 f.

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  • 308 VI. TextgeschichteHeer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eineSumme von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gestei-gert, bertragen, geschmckt wurden"149. Die Wahrheitsferne der Rhetoriksieht Nietzsche allerdings als einen Vorzug an, denn die Kunst der Rhetoriksei deshalb ehrlicher" als andere Kunst, weil sie das Tuschen als Ziel aner-kennt"150. Es braucht kaum eigens betont zu werden, dass diese Auffassungmit der Aristotelischen Theorie der Rhetorik in keiner Weise vereinbart wer-den kann, schon weil Aristoteles der Rhetorik die Aufgabe zuweist, sich ander Wahrheit zu orientieren (vgl. Rhet. I 1, 1355al4-18; a36-b7), die er alsKorrespondenzverhltnis zwischen Aussagen und auersprachlichen Sach-verhalten versteht (vgl. De int. 9, 18a40-b3). Die Aristotelisch verstandeneWahrheit verlangt nicht, wie Nietzsche meint, nach einer Verkleidung"durch die Rhetorik151, vielmehr soll ihr mit den Mitteln der Rhetorik zuihrem Recht verholfen werden.

    149 KGW III 2, 369; zur systematischen Bedeutung der Theorie der Rhetorik fr NietzschesDenken vgl. Ph. Lacoue-Labarthe: Le dtour, Potique 5 (1971), 53-76; dt. Der Umweg, in:W Hamacher, (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a.M/Berlin 1986, 75-110; P. deMan, Nietzsche's Theory of Rhetoric, in: Symposium 28/1 (1974), 33-51; ND als: Rhetoricof Tropes (Nietzsche), in: ders., Allegories of Reading: Figurai Language in Rousseau, Nietz-sche, Rilke, and Proust, New Haven 1979, 103-118; dt. Allegorien des Lesens, Frankfurta.M. 1988, 146163; C. Crawford, The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language, Ber-lin-New York 1988, bes. Kap. 14.

    150 KGW III 4, 371, Hervorh. im Original.151 KGW V 1,491.

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