Artgerechte/ artgemäße Tierhaltung · 2018. 4. 19. · sen einer Tierart zu einem...

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E-Book von Philipp Gall, [email protected] Apr 20, 2017 12:06 PM Copyright 2017, transcript Verlag, Bielefeld im deutschen Tierschutzgesetz findet. Die Komposita ›-gemäß‹ und ›-gerecht‹ überneh- men aber in diesem Kontext die gleiche nor- mative Funktion. Präferenzen für die Ver- wendung einer der beiden Wörter sollten nicht verdecken, dass beide eine zugrunde- liegende Theorie und eine Entstehungsge- schichte teilen. Bekanntheit erlangte die artgemäße Tierhal- tung v.a. als Abgrenzungsattribut verschie- dener Formen der Nutztierhaltung und in jüngerer Zeit als Anforderung an die Tier- haltung in Zoos. Grundlage gängiger De- finitionen ist der Anspruch, den Vorwurf der unangemessenen oder abzulehnenden Be- handlung von Tieren anhand von messbaren Kriterien, also unter Ausblendung der Empa- thie, zurückzuweisen. Eine Beurteilung von Haltungsformen als artgemäß kann absolut oder entlang eines Kontinuums erfolgen. Sie erfolgt nicht im Rahmen der Ethik und sollte nicht mit einem ethisch fundierten Urteil verwechselt werden. Von entscheidender Bedeutung für gängige Definitionen ist ihr vager Bezug zu unange- nehmen, subjektiven Zuständen von Tieren: Im Vergleich zu einer nicht oder weniger art- gemäßen Haltung erhöht die artgemäße Hal- tung die Voraussetzungen dafür, dass Tieren keine Schmerzen, Leiden und Schä- den zugefügt werden und ihr Wohlergehen bestärkt wird (Knierim 2001; KTBL 2006: 14; Sundrum 2004). Dieses Kriterium macht die artgemäße, ebenso wie die tiergerechte (s.u.) Haltung für den Tierschutz relevant. Um es zu erreichen, sollen u.a. körperliche Funk- tionen nicht über die Maßen beeinträchtigt und die Anpassungsfähigkeit der Tiere an ex- terne Umweltfaktoren nicht überfordert wer- den (Sundrum 1998). Insofern entspringt die normative Dimension der artgemäßen Hal- tung aus der Konstruktion einer Normalität im Verhalten einer Art. Tiere sollen in der artgemäßen Tierhaltung in der Lage sein, ihre arteigenen Bedürfnisse zu befriedigen und »arttypisches Verhaltensrepertoire« aus- zuüben (KTBL 2006: 15). Für normal befun- dene Verhaltensweisen gelten als Indika- toren für Wohlergehen und deren Störung als Indikatoren für Leiden oder Schmerzen. Die Bestimmung dieser Indikatoren wird von einflussreichen Institutionen des Agrar- und Veterinärsektors im Rahmen der Nutz- bedrohten Arten maßgeblich mitverantwort- lich sein, erhöht die Brisanz – auch und erst recht, wenn ein Nichteingreifen für eine wei- tere Art das Label ›Extinct‹ besiegeln würde. Judith Benz-Schwarzburg Literatur: Ali, S.H. (Hg.) (2007): Peace Parks, Cam- bridge, MA. • Ammann, K. (2001): »Bushmeat hun- ting and the great apes«, in: B.B. Beck et al. (Hg.), Great Apes & Humans, Washington/London, S. 71- 85. • Brook, B.W. et al. (2008): »Synergies among ex- tinction drivers under global change«, in: Trends in Ecology and Evolution 23, S. 453-460. • Draulans, D./ Van Krunkelsven, E. (2002): »The Impact of War on Forest Areas in the Democratic Republic of Congo«, in: Oryx 36, S. 35-40. • Hammill, A. et al. (2008): »Gorillas in the Midst«, www.iisd.org/pdf/2008/ gorillas_in_the_midst.pdf [Zugriff 26.06.2015]. • IUCN (2015): IUCN Red List of Threatened Spe- cies, www.iucnredlist.org [Zugriff 26.06.2015]. • Ka- eslin, E. et al. (Hg) (2012): Wildlife in a Changing Climate, Rom. • Precht, R.D. (2000): »Treuhand Zoo«, in: ders., Noahs Erbe, Reinbek bei Hamburg, S. 316-349. • Rippe, K.P. (2008): Ethik im außer- humanen Bereich, Paderborn. • UK Parliamen- tary Office of Science and Technology (2005): The Bushmeat Trade, www.parliament.uk/documents/ post/postpn236.pdf [Zugriff 20.11.2014]. • WAZA (2005): Welt Zoo und Aquarium Naturschutz Stra- tegie, Bern, www.waza.org/files/webcontent/1.public _site/5.conservation/conservation_strategies/buil ding_a_future_for_wildlife/WZACS_D.pdf [Zugriff 26.06.2015]. Zum Weiterlesen: Gibbs, J./Hunter, M. (2007): Fun- damentals of Conservation Biology, Malden, MA. • Gorke, M. (1999): Artensterben, Stuttgart. • Pri- mack, R.B. (2010): Essentials of Conservation Bio- logy, Sunderland, MA. Artgerechte/ artgemäße Tierhaltung Begriff: ›Artgerechte‹ bzw. ›artgemäße‹ Tier- haltungsformen sind weitgehend synonyme Kategorien von Maßnahmen in der Haltung von Tieren. Während in der Werbung und in politischen Debatten häufig von ›artgerecht‹ die Rede ist, verwendet die angewandte Ver- haltensforschung und die Tiermedizin ver- stärkt den Begriff ›artgemäß‹, der sich auch 48 A RTGERECHTE /ARTGEMÄSSE T IERHALTUNG

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E-Book von Philipp Gall, [email protected] 20, 2017 12:06 PMCopyright 2017, transcript Verlag, Bielefeld

im deutschen Tierschutzgesetz findet. Die Komposita ›-gemäß‹ und ›-gerecht‹ überneh-men aber in diesem Kontext die gleiche nor-mative Funktion. Präferenzen für die Ver-wendung einer der beiden Wörter sollten nicht verdecken, dass beide eine zugrunde-liegende Theorie und eine Entstehungsge-schichte teilen. Bekanntheit erlangte die artgemäße Tierhal-tung v.a. als Abgrenzungsattribut verschie-dener Formen der → Nutztierhaltung und in jüngerer Zeit als Anforderung an die Tier-haltung in → Zoos. Grundlage gängiger De-finitionen ist der Anspruch, den Vorwurf der unangemessenen oder abzulehnenden Be-handlung von Tieren anhand von messbaren Kriterien, also unter Ausblendung der Empa-thie, zurückzuweisen. Eine Beurteilung von Haltungsformen als artgemäß kann absolut oder entlang eines Kontinuums erfolgen. Sie erfolgt nicht im Rahmen der Ethik und sollte nicht mit einem ethisch fundierten Urteil verwechselt werden.Von entscheidender Bedeutung für gängige Definitionen ist ihr vager Bezug zu unange-nehmen, subjektiven Zuständen von Tieren: Im Vergleich zu einer nicht oder weniger art-gemäßen Haltung erhöht die artgemäße Hal-tung die Voraussetzungen dafür, dass Tieren keine → Schmerzen, → Leiden und → Schä-den zugefügt werden und ihr → Wohlergehen bestärkt wird (Knierim 2001; KTBL 2006: 14; Sundrum 2004). Dieses Kriterium macht die artgemäße, ebenso wie die tiergerechte (s.u.) Haltung für den → Tierschutz relevant. Um es zu erreichen, sollen u.a. körperliche Funk-tionen nicht über die Maßen beeinträchtigt und die Anpassungsfähigkeit der Tiere an ex-terne Umweltfaktoren nicht überfordert wer-den (Sundrum 1998). Insofern entspringt die normative Dimension der artgemäßen Hal-tung aus der Konstruktion einer Normalität im Verhalten einer Art. Tiere sollen in der artgemäßen Tierhaltung in der Lage sein, ihre arteigenen Bedürfnisse zu befriedigen und »arttypisches Verhaltensrepertoire« aus-zuüben (KTBL 2006: 15). Für normal befun-dene Verhaltensweisen gelten als Indika-toren für Wohlergehen und deren Störung als Indikatoren für Leiden oder Schmerzen. Die Bestimmung dieser Indikatoren wird von einflussreichen Institutionen des Agrar- und Veterinärsektors im Rahmen der Nutz-

bedrohten Arten maßgeblich mitverantwort-lich sein, erhöht die Brisanz – auch und erst recht, wenn ein Nichteingreifen für eine wei-tere Art das Label ›Extinct‹ besiegeln würde.

Judith Benz-Schwarzburg

Literatur: Ali, S.H. (Hg.) (2007): Peace Parks, Cam-bridge, MA. • Ammann, K. (2001): »Bushmeat hun-ting and the great apes«, in: B.B. Beck et al. (Hg.), Great Apes & Humans, Washington/London, S. 71-85. • Brook, B.W. et al. (2008): »Synergies among ex-tinction drivers under global change«, in: Trends in Ecology and Evolution 23, S. 453-460. • Draulans, D./Van Krunkelsven, E. (2002): »The Impact of War on Forest Areas in the Democratic Republic of Congo«, in: Oryx 36, S. 35-40. • Hammill, A. et al. (2008): »Gorillas in the Midst«, www.iisd.org/pdf/2008/gorillas_in_the_midst.pdf [Zugriff 26.06.2015]. • IUCN (2015): IUCN Red List of Threatened Spe-cies, www.iucnredlist.org [Zugriff 26.06.2015]. • Ka-eslin, E. et al. (Hg) (2012): Wildlife in a Changing Climate, Rom. • Precht, R.D. (2000): »Treuhand Zoo«, in: ders., Noahs Erbe, Reinbek bei Hamburg, S. 316-349. • Rippe, K.P. (2008): Ethik im außer-humanen Bereich, Paderborn. • UK Parliamen-tary Office of Science and Technology (2005): The Bushmeat Trade, www.parliament.uk/documents/post/postpn236.pdf [Zugriff 20.11.2014]. • WAZA (2005): Welt Zoo und Aquarium Naturschutz Stra-tegie, Bern, www.waza.org/files/webcontent/1.public _site/5.conservation/conservation_strategies/buil ding_a_future_for_wildlife/WZACS_D.pdf [Zugriff 26.06.2015].

Zum Weiterlesen: Gibbs, J./Hunter, M. (2007): Fun-damentals of Conservation Biology, Malden, MA. • Gorke, M. (1999): Artensterben, Stuttgart. • Pri-mack, R.B. (2010): Essentials of Conservation Bio-logy, Sunderland, MA.

Artgerechte/ artgemäße Tierhaltung

Begriff: ›Artgerechte‹ bzw. ›artgemäße‹ Tier-haltungsformen sind weitgehend synonyme Kategorien von Maßnahmen in der Haltung von Tieren. Während in der Werbung und in politischen Debatten häufig von ›artgerecht‹ die Rede ist, verwendet die angewandte Ver-haltensforschung und die → Tiermedizin ver-stärkt den Begriff ›artgemäß‹, der sich auch

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Ar tgerechte/Ar tgemässe tierhAltung

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sche Parameter der Tiere beziehen sich auf den anatomischen Bau sowie Stoffwechsel-prozesse und Hormonkonzentrationen. Phy-siologische Aspekte korrelieren mit subjek-tiven Zuständen (→ Geist der Tiere). Z.B. korreliert Nozizeption mit Empfindungsfä-higkeit von Schmerzen. Tierschutzrelevant ist die Tatsache, dass diese subjektiven Zu-stände sich angenehm oder unangenehm an-fühlen (Wild 2012: 75-88). Die theoretischen Grundlagen für die Zuschreibung subjekti-ver Zustände und Zusammenhänge mit der → Intentionalität und der Empathie bleiben in methodischen Abhandlungen zur artgemä-ßen Tierhaltung allerdings unbehandelt. Das liegt v.a. an der naturwissenschaftlich-empi-rischen Prägung des Begriffes und dem Erbe von Konrad Lorenz. Die in Deutschland von ihm geprägte Ethologie legte einen besonde-ren Schwerpunkt auf arteigene Reflexe bzw. Instinkte im tierlichen Verhalten und ver-nachlässigte dabei kognitive und emotionale Aspekte (Rollin 1998: 209-216). Als Sinnbild für den als-ob Modus, der subjektiven Zu-ständen im indirekten Rückschluss aus dem Verhalten zuteilwurde, wurden diese in der Ethologie oftmals in Anführungszeichen ge-setzt. Lorenz selber vertrat einen methodolo-gischen Behaviorismus. Danach sind subjek-tive Zustände wie die Angst objektiv nicht zu-gänglich (Lorenz 1963; Rollin 1998: 209-216). Gängige Ansätze zur artgemäßen Tier-haltung abstrahieren die Verhaltenswei-sen einer Tierart zu einem quasi-anatomi-schen »Bauplan« der Funktionsweisen (Lo-renz 1965: 11). Auf dieser Grundlage werden zwar negative Störungen dieses Verhalts-bauplans als Leiden identifiziert, positive Zustände wie Freude geraten aber aus dem Blick, wenn sie keine lebensnotwendige Funktion erfüllen. Besonders problematisch ist, dass die Möglichkeit zur empathischen Wahrnehmung tierlicher Leiden in der Me-thodik ignoriert wird. Stattdessen liefert die Terminologie der artgemäßen Tierhaltung die Möglichkeit, Aussagen zum tierlichen Leiden in der Tiernutzung zu vermeiden. Die seit einiger Zeit erstarkende → Kogni-tive Ethologie übt Druck auf diese behavio-ristische Tendenz in der klassischen Nutz-tierethologie aus. Verhalten von Tieren wird nicht mehr primär als Produkt von gene-tisch programmierten Instinkten, sondern

tierethologie vorgenommen. Obwohl diese Disziplin unter dem Aspekt der dargebrach-ten Handlungsanleitung ethisch-normative Züge trägt, hat sie aufgrund ihrer naturwis-senschaftlichen Ausrichtung den Anschluss an die normative Ethik und an Theorien des guten Lebens versäumt (Haynes 2008: XVIII-XX).

Verbreitung und politische Dimension: Die Einführung und Verbreitung des Begriffes artgemäß ist eng mit der Reform des Deut-schen Tierschutzgesetzes im Jahr 1972 ver-bunden (→ Tierschutzrecht). Die Reform sollte unter anderem der öffentlichen Kritik an der Verbreitung industrialisierter Tierhaltungs-formen entgegenwirken. Damals wurde der noch heute gültige Grundsatz des deutschen Tierschutzrechtes eingeführt, das Verbot der Zufügung von tierlichen Leiden, Schmerzen und Schäden »ohne vernünftigen Grund« (vgl. BGBL Nr. 74, 29. Juli 1972). §2 des Gesetzes spezifiziert diesen Grundsatz und fordert eine artgemäße und verhaltensgerechte Haltung in Form von Unterbringung und Ernährung der Tiere. Die Komposita ›-gerecht‹ und ›-ge-mäß‹ weisen auf die Idee hin, dass rechtliche Mindestanforderungen des Tierschutzes einen erstrebenswerten Kompromiss zwischen den Interessen der Menschen und den Belangen der Tiere verkörpern sollten. Dabei kam der Nutztierethologie die Rolle zu, Entscheidun-gen wissenschaftlich zu fundieren und inso-fern auch die rechtliche Terminologie zu ver-wenden (von Gall 2013). Die Forschung hatte dadurch von Anfang an eine politische Dimen-sion. Für ihre naturwissenschaftliche Prägung wurde im Wesentlichen auf die klassische Ver-haltensforschung zurückgegriffen. Mitarbei-terInnen des für die Reform zuständigen Bun-deslandwirtschaftsministeriums standen für die Einführung der Begriffe ›artgemäß‹ und ›verhaltensgerecht‹ mit WissenschaftlerInnen des von Konrad Lorenz ins Leben gerufenen, mittlerweile aufgelösten Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Kontakt (von Gall 2013). Der politische Einfluss der Nutztieretho-logie ist historisch bisher kaum erschlossen.

Theoretische Grundlagen und ihre Prob-leme: Physiologische und Verhaltenspara-meter werden als Kriterien der artgemäßen Tierhaltung herangezogen. Artphysiologi-

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Literatur: Benz-Schwarzburg, J. (2012): Verwandte im Geiste – Fremde im Recht, Erlangen. • Haynes, R.P. (2008): Animal Welfare, New York. • Knierim, U. (2001): »Grundsätzliche ethologische Überlegungen zur Beurteilung der Tiergerechtheit bei Nutztieren«, in: Dtsch. Tierärztl. Wschr. 109, S. 261-266. • Kura-torium für Technik und Bauwesen in der Landwirt-schaft (2006): Nationaler Bewertungsrahmen Tier-haltungsverfahren, Darmstadt: KTBL-Schrift 446. • Lorenz, K. (1963): »Haben Tiere ein subjektives Erle-ben?«, in: ders. (Hg.), Über tierisches und mensch-liches Verhalten, München, S. 617-629. • Lorenz, K. (1965): »Vorwort«, in: ders. (Hg.), Über tierisches und menschliches Verhalten, München, S. 11-13. • Lurz, R.W. (2009): The Philosophy of Animal Minds, New York. • Rollin, B. (1998): The Unheeded Cry, Iowa. • Sundrum, A. (1998): »Zur Beurteilung der Tierge-rechtheit von Haltungsbedingunen landwirtschaft-licher Nutztiere«, in: Dtsch. Tierärztl. Wschr. 105, S. 65-72. • Sundrum, A. (2004): Statusbericht zum Stand der Tiergesundheit in der Ökologischen Tier-haltung, Abschlussbericht Projekt Nr. 03 OE 672, Kassel. • Tschanz, B. (1984): »›Artgemäß‹ und ›ver-haltensgerecht‹ – ein Vergleich«, in: Prakt. Tierarzt 85, S. 211-224. • von Gall, P. (2013): »Versachlichung als Mittel zur Deutungshoheit«, in: Tierethik 5, S. 13-34. • Wild, M. (2012): Fische, Bern.

Zum Weiterlesen: Aaltola, E. (2012): Animal Suf-fering: Philosophy and Culture, Basingtoke. • Pe-trus, K./Wild, M. (2013): Animal Minds & Animal Ethics, Bielefeld.

Ausbeutung

Begriff und Hintergrund: → Speziesismus als Form der Produktion und Ideologie der Herr-schaft ist unzweifelhaft insofern eine Aus-beutungsbeziehung, als Menschen andere Tiere beherrschen, versklaven, verschleppen, ausrotten, nutzen und konsumieren, um ihre eigenen Interessen zu befriedigen (→ Instru-mentalisierung; → Verdinglichung). Wenn wir unser Verhältnis zu anderen Tieren auf diese Weise beschreiben, so beinhaltet dies bereits eine normative und immanente Kri-tik an dieser Beziehung. Der Grund besteht darin, dass der Begriff ›Ausbeutung‹ abwer-tend ist und nicht nur die ›Nutzung‹ eines an-deren Wesens für unsere Zwecke impliziert, sondern auch dessen unfaire Nutzung. Wir können z.B. sagen, dass wir eine bestimmte

v.a. des Verstandes, der Persönlichkeit oder der → Emotion analysiert (Lurz 2009; Benz-Schwarzburg 2012). Verhaltensweisen sind einer Art nicht nur angeboren, sie können erlernt und im Rahmen der Tradition weiter-gegeben werden. Tschanz (1984) führte früh aus, dass bei Begriffen mit Bezug zur Tier-art die individuellen Bedürfnisse der Tiere und die Unterschiede innerhalb von Arten aus dem Blick geraten. Heute ist weitgehend anerkannt, dass mit der artgemäßen Tier-haltung nicht auf umfassenden Tierschutz geschlossen werden kann (Sundrum 2004: 12f ). Tierpolitisch sind gängige Ansätze zur Beurteilung der artgemäßen Haltung von eingeschränktem Nutzen, weil sie die Ethik bzw. Politologie methodisch ausblenden. So werden ethisch und politisch höchst prob-lematische Aspekte wie die leistungsorien-tierte → Zucht, die Einschränkung der tier-lichen → Freiheit, hohe Grade an → Gewalt oder die → Schlachtung meist als unbedenk-lich vorausgesetzt. Missverständnisse wer-den riskiert, weil die normativen Kompo-sita ›-gerecht‹ und ›-gemäß‹ eine ethische Prüfung der damit kategorisierten Maßnah-men suggerieren. Zudem wird der rechtlich ungeschützte Begriff ›artgerechte Tierhal-tung‹ mitunter von Unternehmen und Or-ganisationen benutzt, um damit für kon-ventionelle, nicht nur aus Sicht der → Tier-ethik oder der → Tierrechte, sondern auch des → Tierschutzes abzulehnende Metho-den, etwa die frühe Trennung von Mutter-kuh und Kalb, als unbedenklich zu werben.

Tiergerecht: Der Begriff ›tiergerechte Hal-tung‹ wurde vor dem Hintergrund der Kri-tik entwickelt, dass der bloße Bezug auf die Art individuelle oder gruppenbezogene Be-dürfnisse von Tieren und die Einflüsse der Tierzucht nicht genügend berücksichtigt (Tschanz 1984). Er lässt Forscherinnen und Forschern bzw. Institutionen insofern einen größeren Deutungsspielraum. Das Problem der methodischen Ausklammerung der Em-pathie und der Setzung ethischer Vorannah-men besteht in vielen Ansätzen zur tierge-rechten Haltung aber fort.

Philipp von Gall

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