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MICHAEL KARRER

DAS DRUCKGAFISCHE WERK VON HERMANN NITSCH Eine dokumentarische Zeitreise

Der vorliegende Aufsatz versucht, das druckgrafische Werk des Universalkünstlers Hermann Nitsch zu beleuchten. Insbesondere gilt es, die Druckgrafik im Wechselspiel mit dem Gesamtkunstwerk zu erörtern und dabei eine Zeitreise zu erarbeiten, welche einen Überblick von den 1950er Jahren bis heute erlaubt. Im Zuge dieser dokumentarischen Auseinandersetzung werden die druckgrafischen Schlüsselwerke beschrieben, die technischen Vorlieben und errungenen Innovationen des Künstlers besprochen sowie die druckgrafischen Meilensteine seinen zeitgleich biografischen gegenübergestellt. Dadurch soll eine wechselseitige Determination zwischen den situativen Details in der druckgrafischen Arbeit und dem Gesamtkunstwerk entstehen, in dem Wissen, dass Leben und Arbeit von Hermann Nitsch untrennbar und vor allem untrennbar mit dem Orgien Mysterien Theater verbunden sind. Es erscheint mir wichtig zu erwähnen, dass sämtliche Disziplinen des Gesamtkunstwerkes – die Idee des Orgien Mysterien Theaters, die Komposition, die Partitur, die Zeichnung, das literarische Werk, die Schüttung und auch die Druckgrafik – geschlossen auf die Zeit der späten 1950er beziehungsweise frühen 1960er Jahre zu datieren sind. Entgegen vielen Meinungen wurden die Disziplinen allesamt in dieser Zeit im Gesamtkonzept des Künstlers verankert und nicht einzelne später in Ergänzung zu bereits bestehenden Disziplinen entwickelt. Dies unterstreicht die elementare Entstehung dieser einzigartigen Gesamtphilosophie und die unbedingte Verwobenheit aller Disziplinen für das Gesamte. Bereits im Jahre 1957, als der 19-jährige Hermann Nitsch nach einer fünfjährigen Ausbildung den Diplomabschluss der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien erlangte, gebar er die Idee des Orgien Mysterien Theaters, eines sechs Tage dauernden Festspiels, das ihn bis heute prägt. Im Zuge seiner Ausbildung hatte Nitsch die Möglichkeit, drucktechnische Fertigkeiten zu erlernen, beispielsweise im Bereich der Lithografie und der Radierung. Auf dieses Jahr ist die Arbeit Zustandsdruck einer Kopie des 100 Gulden Blattes (Rembrandt) zurückzuführen, welche Hermann Nitsch 1960 mit Tusche beschüttete. Dieses Motiv wurde wiederum im Jahr 1987 im Zuge der Grafikmappe I Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters (Verleger Fred Jahn, München) 35-fach ediert und jedes einzelne Blatt vom Künstler mit Tusche, Tinte, Stempelfarbe oder Plaka von Hand in den Farben Schwarz, Rot, Blau oder Violett überarbeitet. Während der fünfjährigen Grafikausbildung und insbesondere in den darauffolgenden Jahren fand eine rasante Entwicklung in den unterschiedlichen Disziplinen statt. Im Bereich der Zeichnung – von religiösen Themen über Kritzelzeichnungen bis zum Informel – entstanden anschließend um das Jahr 1964 die ersten so genannten Architekturzeichnungen, welche als Architekturentwürfe für Aktionen zu verstehen sind. Die Architekturzeichnung stellte für die Druckgrafik eine wesentliche Komponente dar, da sie ab den 1980er Jahren fortan Ausgangspunkt und Motiv für den Großteil der edierten Grafiken wurde. Im Bereich der Komposition entstanden um 1958 erste Partituren und im Zeitraum 1960-63 fanden die ersten acht Malaktionen mit Schüttbildern statt. Fotografische Dokumentationen vermitteln die hohe Bedeutung, die Nitsch den Resultaten, aber mehr noch den Malaktionen selbst beimaß. Ab 1960 begann die Aktions- und Ausstellungstätigkeit des Künstlers und im Jahr 1962 realisierte er die 1. Aktion 19.12.1962, Kreuzigung und Beschüttung eines menschlichen Körpers, Wohnung Otto Muehl. Mit dem

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Einsetzen des Wiener Aktionismus 1962 trat Blut an die Stelle von roter Farbe und in den ersten Aktionen der eigene Körper an die Stelle des Malgrundes. Möchte man anhand der realisierten Druckgrafiken der Entwicklung – ausgehend von dieser frühen Ausbildungszeit – folgen, werden wir feststellen, dass in den 1960er und 1970er Jahren die Druckgrafik in den Hintergrund rückte. Diese beiden Dekaden wurden durch die Jahre des Wiener Aktionismus, durch das Orgien Mysterien Theater beziehungsweise durch Malaktionen – also durch die Aktion – geprägt. In den 1970er Jahren entstanden zwei Zeichnungen, welche Jahre später als Grundlage für zwei bedeutende Druckgrafiken dienen sollten: zum einen die Eroberung von Jerusalem, welche 1971 als Zeichnung entstand und im Jahr 2008 als Druckgrafik verlegt wurde, zum anderen Das letzte Abendmahl, in den Jahren 1976-79 gezeichnet und im Jahr 1983 als Siebdruck ediert. Die auf einem einzigen durchgehenden Papier realisierte Zeichnung des Letzten Abendmahles übertrug Hermann Nitsch 1983 in Siebdruck. »Im Zusammenhang des Orgien Mysterien Theaters entspricht die Komposition dem ›entwurf einer unterirdischen stadt nach dem bilde des letzten abendmahles für das aktionsdrama die zerstörung und wiederentstehung unseres weltalls‹. (Hermann Nitsch) Als ein leibmetaphorisch aufzufassendes Weltbild greift sie jedoch weit über den Architekturentwurf hinaus. Im Wissen um die ins Bild gesetzten physikalischen Gleichungen, mittels derer sich die Ausdehnung des Universums modellhaft berechnen lässt und mit dem im Titel enthaltenen Verweis auf die Eucharistie, thematisiert der Künstler mit dem Letzten Abendmahl den Wunsch, eine harmonisierende Analogie von Mensch und Kosmos zu erfahren.«1 Auf die hinsichtlich Druckgrafik ruhigen Dekaden der 1960er und 1970er Jahre folgte im Anschluss an den Siebdruck des Letzten Abendmahles das umfangreichste und bedeutendste Grafikkonvolut im Werk des Künstlers. Der langjährige Freund, Galerist und Verleger Fred Jahn aus München führte den Drucker Karl Imhof und den Künstler Hermann Nitsch für das Projekt Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters zusammen. Im Zeitraum 1984-91 arbeitete Nitsch unermüdlich an diesem Gesamtkonvolut, welches aus vier Mappen besteht und in Summe nach meiner Berechnung 3.325 Einzelblätter zuzüglich Künstlerexemplare sowie viele wunderbare Probedrucke umfassen sollte. Kern dieser Auseinandersetzung war zu Beginn die Darstellung von »Stockwerken«, welche man sich im Erdreich untereinander liegend vorstellen muss. Diese Stockwerke bilden die Aktionsräume, welche als weitläufiges unterirdisches Theater zu verstehen sind; wie Nitsch selbst so gerne sagt: sein Bayreuth. Nitsch übertrug diese Stockwerke ohne Verwendung von Umdruckpapier, Offsetfilm oder Aluminiumplatten direkt auf den Träger Stein. Diese handbezeichneten Lithografiesteine wurden mehrfach kombiniert, über- und gegeneinander gestellt und teilweise mit zusätzlichen grafischen Techniken, beispielsweise der Radierung, kombiniert. Die Beteiligten hatten sich dazu verschrieben, sich bei diesem Projekt der optimalen künstlerischen Entfaltung ohne Einschränkungen hinsichtlich Qualität, Quantität oder Zeit hinzugeben. Im Jahr 1984 entstanden die ersten Steine in der Druckerei Imhof, welche Nitsch noch viele weitere Jahre für dieses Projekt aufsuchte. Nachdem das Motiv der Stockwerke für die erste Mappe herangezogen wurde, setzte man sich im Zuge der zweiten Mappe mit der großflächigen Labyrintharchitektur einer unterirdischen Theateranlage auseinander. Dabei entstanden zwei so genannte Faltpläne im Format von 140,5 x 225,5 cm, welche auf Landkartenstoff (Kretonne) aufgezogen wurden. Auch die in dieser Mappe entstandenen sechzehn Einzelblätter sind Kombinationsdrucke von Lithografien, welche teilweise mit Radierungen zusätzlich bedruckt wurden. In der dritten Mappe widmete man sich den Anatomiezeichnungen, vorwiegend enthäutete Kopf- und Körpermotive, welche jedoch ebenfalls als Grundrisse unterirdischer Theateranlagen zu sehen sind. Die vierte Mappe enthält drei schwarz-weiße Originalgrafiken aus kombinierten Druckgängen von Algrafie und Lithografie auf Stein, jeweils wiederum als Faltplan bezeichnet und auf Kretonne kaschiert. Die Algrafie basiert auf einer Zeichnung von Hermann Nitsch aus dem Jahr 1979 und wurde von Karl Imhof im Maßstab 1:1 übertragen.

1 Hermann Nitsch. Utopien auf Papier, hrsg. von Jutta Schütt, Frankfurt am Main 2004 (Ausst. Kat. Städelsches Kunstinstitut,

Frankfurt am Main, 01.07.2004-05.09.2004), S. 24.

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Nach Fertigstellung der vierten Mappe in München 1991 begann im gleichen Jahr eine neue Ära im Bereich der Druckgrafik – die Zusammenarbeit mit Kurt Zein. Im Auftrag der Galerie Krinzinger wurde im November 1991 die erste Druckgrafik im Druckatelier Kurt Zein gedruckt, eine Strichradierung auf mit Schweineblut beschüttetem Büttenpapier. Eine fruchtbare Zusammenarbeit, welche bis heute andauert, begann. Im Jahr 1993 wurde eine Grafik für Prof. Peter Baum gedruckt und die ersten zaghaften Versuche mit einer aktionistischen Untergrundmalerei auf Büttenpapier unternommen, welche die Zusammenarbeit in den Folgejahren prägen sollte. »Im Laufe der Jahre erweiterten wir [Hermann Nitsch und Kurt Zein] sukzessive das technische Vokabular. Mit aufmerksamer Geduld erlernte er die originalgrafischen Techniken Vernis Mou, Alugrafie, Aquatinta etc. und setzte sie gekonnt mit scheinbar unbegrenzter Fantasie ein. Jedes Blatt des schweren Büttenpapiers wird einzeln mit Farbe aktionistisch bemalt. Die Farbplatten werden nach jedem Abdruck gesäubert und mit anderen Farben eingewalzt, wobei ich versuche, auf den malerischen Untergrund farblich einzugehen oder auch manchmal absichtlich dagegen anzusteuern […] darüber wird dann als Finale die Strichradierung gedruckt. Zwischen den Druckvorgängen liegen oft tagelange Trocknungszeiten, sodass sich die Fertigstellung einer Auflage über mehrere Wochen hinzieht. Wenn Sie eine Druckgrafik von Nitsch in Händen halten, so haben Sie ein absolutes Unikat vor sich, das es weltweit nur ein einziges Mal gibt.«2 Die zumeist als Unikatradierung/Unikatgrafik bezeichnete und von Hermann Nitsch und Kurt Zein entwickelte Drucktechnik war und ist signifikante Grundlage für viele Grafikauflagen, welche in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden sind. Im Rahmen der intensiven Zusammenarbeit zwischen Hermann Nitsch und Kurt Zein ist ein weiteres Schlüsselwerk im druckgrafischen Oeuvre hervorzuheben, welches bereits im neuen Jahrtausend (2006-07) verlegt wurde. Die so genannte Grablegung hatte im Vergleich zum Letzten Abendmahl kein Original als Vorlage. Diese großformatige Arbeit hatte der Künstler im Druckatelier Kurt Zein in Form einer Strichradierung/Kaltnadel auf Kupfer, Vernis Mou (Weichgrund) auf Aluminium, Lithografie (Alugrafie) in Wien geschaffen. Dabei wurde mit 12 bis 18 Platten auf Aktionsmalerei gedruckt. »Da ich durch meine Radierpresse keinen Lithostein ziehen kann und es auch keine so großen Lithosteine gibt, füge ich der Technik Lithografie immer den hässlichen, jedoch stimmenden Begriff Alugrafie in Klammer bei […]. Die Vorgangsweise und Präparation der Druckplatten ist aber der Arbeit auf dem Stein sehr ähnlich bis gleich.«3 Im Jahr 2008 wurde die bis dato letzte großformatige Druckgrafikediert. Dabei wurde das Original der Zeichnung Die Eroberung von Jerusalem von 1971 im Jahr 2008 in Siebdruck umgesetzt. Wie auch beim Letzten Abendmahl und der Grablegung wurde bei der Eroberung von Jerusalem mitunter auf Originalrelikten gedruckt. Während der Titel fast tausend Jahre zurückweist und an die überlieferten Grausamkeiten des Ersten Kreuzzuges erinnern mag, visualisiert der Künstler wiederum die für seine Architekturzeichnungen typische Bühne für dieses dramatische Geschehen in Form einer unterirdischen Stadt. Es entsteht ein an das Thema angelehnter imaginärer Architekturplan für sein Theater. Weit über hundert nummerierte Gänge und Räume, feinste filigrane Kreuzsymbolfelder sowie organische Gebilde prägen den großformatigen Siebdruck. Im Jahr 2010 wurde Hermann Nitsch vom israelischen Verleger Har-El eingeladen, ein zweisprachiges Kunstbuch zu den Opferungsriten im Tempel von Jerusalem aus dem 3. Buch Mose »Levitikus« zu erarbeiten. Diese Einladung mündete in ein groß angelegtes Grafikprojekt, welches schließlich 16 zweisprachige Kunstbücher (Hebräisch/Deutsch) im außergewöhnlichen Format von 135 x 189 cm sowie 12 auf Leinwand gedruckte Terragrafie-Motive umfasste. Die so genannte Terragrafie ist ein Siebdruckverfahren, bei dem durch das Beimengen von Sand eine reliefartige Oberflächenstruktur erzielt wird. Hermann Nitsch war bereits als Jugendlicher vom Inhalt des

2 Kurt Zein, in: Nitsch. Vorbilder, Zeitgenossen, Lehre, hrsg. von

Hermann Nitsch, Peter Bogner und Carl Aigner, Wien 2009 (Ausst. Kat. Künstlerhaus, Wien, 25.06.2009-11.10.2009), S. 164. 3 Kurt Zein: schriftliches Interview mit Michael Karrer im Mai 2011.

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Buches »Levitikus« fasziniert und setzte die Thematik mit Hilfe dieser aufwändigen Drucktechnik in der Druckwerkstätte in Israel um. Die dabei entstandenen Arbeiten sind an seine Schüttbilder angelehnt und spiegeln die Pastosität und den Schüttduktus der unverwechselbaren Unikate wider. Mit dem Hervorheben des Werkblockes Levitikus endet die Zeitreise durch das druckgrafische Oeuvre des Künstlers Hermann Nitsch. Ein Dokumentationsversuch, welcher keinesfalls die vollständige Erfassung aller druckgrafischen Ergebnisse anstrebt, sondern erstmals eine konzentrierte Auseinandersetzung mit jener Disziplin des Künstlers anbietet, welche er von Jugend an mit großer Leidenschaft und Konsequenz lebte und die fester Bestandteil seines Gesamtkunstwerkes ist.

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Michael Karrer, Das druckgrafische Werk von Hermann Nitsch. Eine dokumentarische Zeitreise, in: Hermann Nitsch. Strukturen. Architekturzeichnungen, Partituren und Realisationen des O.M. Theaters, ed. Carl Aigner, Leopold Museum – Private Foundation,

Wien 2011, S. 103-110.