Auf Erz gebaut | Ein neues Rathaus für ein neues Kiruna · 2018-10-22 · oder um COBE aus...

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In Schweden verliert eine Stadt den Boden unter ihren Füßen – und wandert gen Osten. Einem Städte- bauwettbewerb für den Großumzug folgte nun ein Architekturwettbewerb für das neue Rathaus. Kiruna liegt weit weg, am Rande Europas. Aus hiesi- ger Sicht scheint es kurz davor, vom Kontinent zu rutschen, bis es endgültig in der Unbedeutsamkeit verschwindet. Doch ein Blick auf die nördlichste Stadt Schwedens lohnt. Hier, im fernen Lappland, will man dem Schicksal entgegentreten, das auch Regio- nen außerhalb Skandinaviens erwartet. Weltweit setzt der Landschaftswandel – durch Tagebau, Stauseen, Verwüstung oder steigendem Meeresspiegel – ganze Ortschaften in Bewegung. In Kurina ist es das Eisen- erz, für das sich die Stadt förmlich ihr eigenes Grab gräbt. Der Erzkörper der Gegend erstreckt sich in 1300 Metern Tiefe bis unters Stadtzentrum. Je mehr Erz das Bergwerk verlässt, desto weiter sackt der Untergrund ab; die ersten Häuser haben bereits Risse. Der Druck, für die Bewohner ein neues Zuhause zu finden, wächst – betroffen ist immerhin ein Drittel des Stadtgebiets. Die seit 2000 weltweit steigende Nachfrage nach Eisenerz ist für die Stadt so zugleich 1. Preis Städtebau | Das neue Kiruna nach den Plänen von White arkitekter mit dem Rathaus an der Kreuzung der beiden Hauptachsen (rot) Kirunas Zentrum wird abgerissen. Gerettet werden: die rote Stabkirche von 1912 (links) und der Glockenturm des Rathauses (Mitte). Foto: Auslober 1. Preis Rathaus | Henning Larsen Architects entwarfen ein zweiteiliges Rathaus mit einem äußeren Ringbau für Büros und einem zusam- mengewürfelten Baukörper im Innern. Von ei- nem dreigeschossigen Foyer führt in der Ge- bäudemitte ein Treppenhaus zu einer öffentli- chen Dachterrasse. Der Dachaufbau soll, mit schimmernden Metallplatten versehen, wie ein „Kristall“ über dem neuen Kiruna glitzern. Auf Erz gebaut | Ein neues Rathaus für ein neues Kiruna Benedikt Crone Nichtoffener zweistufiger Architekturwettbewerb 1. Preis Henning Larsen Architects, Kopenhagen | Finalisten Dorte Mandrup + UULAS Arkitekter, Kopgenahgen/Kristiansand | Wingårdh Arkitektkontor, Göteborg | Stein Halvorsen + HRTB AS Arkitekter, Oslo | petra gipp arkitektur, Stockholm Städtebaulicher Einladungswettbewerb 1. Preis White arkitekter, Göteborg | Teilnehmer u.a. MVRDV+BSK, Rotterdam | BIG, Kopenhagen | COBE, Kopenhagen | Tovatt, Stockholm | ecosistema urbano, Madrid | tham&videgård, Stock- holm | KCAP+CaseStudio, Rotterdam Form einer Kristallstruktur an das Erz der Region erinnern soll. Der „Kristall“, in dem sich öffentliche Räume für Ausstellung, Bücherei und Workshops über sieben Geschosse stapeln, ragt mit einem Dach- aufbau aus dem Gebäude und über die Dächer der Stadt. Neben dem neuen Rathaus soll der Glocken- turm des alten Rathauses aufgestellt werden – eine Übernahme, die auch die anderen Wettbewerbsteil- nehmer praktizierten. Damit kommen sie dem Wunsch der Auslober nach, Teile und Materialien des 1958 nach Plänen des Schweden Artur von Schmalensee errichteten Kubus ins neue Rathaus zu integrieren. Abgesehen vom Stahlturm lässt sich in den Entwür- fen der fünf Finalisten jedoch nur wenig vom funk- tionalistischen Politikbau mit Industriecharm wieder- finden. Offenbar erzürnt es im Norden Schwedens keine Denkmalschützer, dass vom mit Architektur- preisen ausgezeichneten Gebäude nur einzelne Ele- mente ins neue Rathaus gerettet werden sollen. Hier treibt es keine aufgebrachten Bürger auf die Straße, die für den Erhalt ihrer Wohnhäuser kämp- fen. Die meisten der Gebäude gehören ohnehin der Stadt – oder LKAB, dem größten Eisenerzförderer der Region. Segen und Fluch. Doch unter den 23.000 Menschen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: ohne Erz keine Arbeit und ohne Arbeit kein Kiruna. Als Ausweg be- schloss die linke Stadtregierung 2007 daher den Aufbau einer neuen Stadt – drei Kilometer weiter öst- lich. Kiruna zieht um. Erst das Rathaus ... Den ersten Schritt zum neuen Zentrum machte die örtliche Bahngesellschaft. Sie eröffnete im Septem- ber eine provisorische Bahnstation eineinhalb Kilo- meter außerhalb vom jetzigen Kiruna. Daneben soll bis 2016 der Neubau des Rathauses folgen, für das die Stadt in diesem Sommer einen internationalen Architekturwettbewerb auslobte. 56 Teams beteilig- ten sich, fünf davon ließ eine Jury in die engere Wahl. Alle Finalisten stammten aus skandinavischen Ländern, darunter ein großes internationales Büro, dessen Benennung als Sieger für wenig Überraschung sorgte: Henning Larsen Architects. Die Dänen entwarfen einen kreisrunden Rat- hausbau, bestehend aus zwei Teilen: einem äußeren Ring mit durch Galerien erschlossenen Büros der Abgeordneten und einem inneren Komplex, der in Bauwelt 37 | 2013 15 14 Bauwelt 37 | 2013 Wettbewerbe Entscheidungen

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In Schweden verliert eine Stadt den Boden unter ihren Füßen – und wandert gen Osten. Einem Städte-bauwettbewerb für den Großumzug folgte nun ein Architekturwettbewerb für das neue Rathaus.

Kiruna liegt weit weg, am Rande Europas. Aus hiesi-ger Sicht scheint es kurz davor, vom Kontinent zu rutschen, bis es endgültig in der Unbedeutsamkeit verschwindet. Doch ein Blick auf die nördlichste Stadt Schwedens lohnt. Hier, im fernen Lappland, will man dem Schicksal entgegentreten, das auch Regio-nen außerhalb Skandinaviens erwartet. Weltweit setzt der Landschaftswandel – durch Tagebau, Stauseen, Verwüstung oder steigendem Meeresspiegel – ganze Ortschaften in Bewegung. In Kurina ist es das Eisen-erz, für das sich die Stadt förmlich ihr eigenes Grab gräbt. Der Erzkörper der Gegend erstreckt sich in 1300 Metern Tiefe bis unters Stadtzentrum. Je mehr Erz das Bergwerk verlässt, desto weiter sackt der Untergrund ab; die ersten Häuser haben bereits Risse. Der Druck, für die Bewohner ein neues Zuhause zu finden, wächst – betroffen ist immerhin ein Drittel des Stadtgebiets. Die seit 2000 weltweit steigende Nachfrage nach Eisenerz ist für die Stadt so zugleich

1. Preis Städtebau | Das neue Kiruna nach den Plänen von White arki tekter mit dem Rathaus an der Kreuzung der beiden Hauptachsen (rot)

Kirunas Zentrum wird abgerissen. Gerettet werden: die rote Stabkirche von 1912 (links) und der Glockenturm des Rathauses (Mitte). Foto: Auslober

1. Preis Rathaus | Henning Larsen Architects entwarfen ein zweiteiliges Rathaus mit einem äußeren Ringbau für Büros und einem zusam-mengewürfelten Baukörper im Innern. Von ei-nem dreigeschossigen Foyer führt in der Ge-bäudemitte ein Treppenhaus zu einer öffent li- chen Dachterrasse. Der Dachaufbau soll, mit schimmernden Metallplatten versehen, wie ein „Kristall“ über dem neuen Kiruna glitzern.

Auf Erz gebaut | Ein neues Rathaus für ein neues Kiruna Benedikt Crone

Nichtoffener zweistufiger Architekturwettbewerb 1. Preis Henning Larsen Architects, Kopenhagen | Finalisten Dorte Mandrup + UULAS Arkitekter, Kopgenahgen/Kristiansand | Wingårdh Arkitektkontor, Göteborg | Stein Halvorsen + HRTB AS Arkitekter, Oslo | petra gipp arkitektur, Stockholm

Städtebaulicher Einladungswettbewerb 1. Preis White arkitekter, Göteborg | Teilnehmer u.a. MVRDV+BSK, Rotterdam | BIG, Kopenhagen | COBE, Kopenhagen | Tovatt, Stockholm | ecosistema urbano, Madrid | tham&videgård, Stock-holm | KCAP+CaseStudio, Rotterdam

Form einer Kristallstruktur an das Erz der Region erinnern soll. Der „Kristall“, in dem sich öffentliche Räume für Ausstellung, Bücherei und Workshops über sieben Geschosse stapeln, ragt mit einem Dach-aufbau aus dem Gebäude und über die Dächer der Stadt. Neben dem neuen Rathaus soll der Glocken-turm des alten Rathauses aufgestellt werden – eine Übernahme, die auch die anderen Wettbewerbsteil-nehmer praktizierten. Damit kommen sie dem Wunsch der Auslober nach, Teile und Materialien des 1958 nach Plänen des Schweden Artur von Schmalensee errichteten Kubus ins neue Rathaus zu integrieren. Abgesehen vom Stahlturm lässt sich in den Entwür-fen der fünf Finalisten jedoch nur wenig vom funk-tionalistischen Politikbau mit Industriecharm wieder-finden. Offenbar erzürnt es im Norden Schwedens keine Denkmalschützer, dass vom mit Architektur-preisen ausgezeichneten Gebäude nur einzelne Ele-mente ins neue Rathaus gerettet werden sollen. Hier treibt es keine aufgebrachten Bürger auf die Straße, die für den Erhalt ihrer Wohnhäuser kämp- fen. Die meisten der Gebäude gehören ohnehin der Stadt – oder LKAB, dem größten Eisenerzförderer der Region.

Segen und Fluch. Doch unter den 23.000 Menschen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: ohne Erz keine Arbeit und ohne Arbeit kein Kiruna. Als Ausweg be-schloss die linke Stadtregierung 2007 daher den Aufbau einer neuen Stadt – drei Kilometer weiter öst-lich. Kiruna zieht um.

Erst das Rathaus ...Den ersten Schritt zum neuen Zentrum machte die örtliche Bahngesellschaft. Sie eröffnete im Septem-ber eine provisorische Bahnstation eineinhalb Kilo-meter außerhalb vom jetzigen Kiruna. Daneben soll bis 2016 der Neubau des Rathauses folgen, für das die Stadt in diesem Sommer einen internationalen Architekturwettbewerb auslobte. 56 Teams beteilig-ten sich, fünf davon ließ eine Jury in die engere Wahl. Alle Finalisten stammten aus skandinavischen Ländern, darunter ein großes internationales Büro, dessen Benennung als Sieger für wenig Überraschung sorgte: Henning Larsen Architects.

Die Dänen entwarfen einen kreisrunden Rat-hausbau, bestehend aus zwei Teilen: einem äußeren Ring mit durch Galerien erschlossenen Büros der Abgeordneten und einem inneren Komplex, der in

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... dann die StadtKiruna und LKAB suchten daher auch gemeinsam mit einem städtebaulichen Wettbewerb nach Ideen, wie im Osten der Stadt, auf einem 40 Hektar großen Gelände, 3000 Wohnungen, plus Hotels, Schulen und Kulturbauten errichtet werden können. Unter den zehn beteiligten Teams fiel die Wahl im März auf das Konzept des schwedischen Büros White arkitek-ter. Sein Plan sieht vor, das alte Kiruna nach Osten über eine geknickte Achse zu verlängern, an der sich die wichtigsten Gebäude der Stadt aufreihen. Die dichte Blockbebaung soll nicht nur Distanzen kurz und den kalten Wind aus der Innenstadt halten. Auch verschafft die Form einer Bandstadt allen Be-wohnern gleichlange Distanzen von maximal drei Blöcken in die Natur und zu den Geschäften und Ein-richtungen entlang der Achse (S. 17). Dadurch könnte man vor Ort häufiger auf den Griff zum Autoschlüs-sel verzichten – anders als in dem bisher aufgelocker-ten und weiträumigen Städtebau Kirunas. Auch eine geplante Seilbahn, die das gesamte Stadtgebiet ver-netzt, wird helfen, den verkehrsbedingten Energie-verbrauch zu reduzieren.

In ferner Zukunft kann sich Kiruna am neuen Rathausplatz an einer zweiten Achse in Richtung Norden und Süden ausbreiten. Außerdem schlägt White für das alte Bergbaugebiet vor, es Stück für Stück zum Natur- und Erlebnispark umzuwan-deln. Nicht nur mit dieser prozesshaften Sichtweise konnte sich das schwedische Büro von der Konkur-

renz absetzen. Den Planern gelang auch eine in sich kompakte Gliederung der Stadt, ohne den Anschluss zu den noch über Jahrzehnte bewohnten Teilen des alten Kiruna zu verlieren. Manche Teilnehmer liefer-ten stattdessen Entwürfe mit geschlossenen Sied-lungseinheiten, die sich willkürlich über die Land-schaft verteilen und viel Fläche in Anspruch neh- men – wie von den Teams um MVRDV aus Rotterdam oder um COBE aus Kopenhagen.

Läuft es nach den Plänen von White arkitekter, wird dieses Jahr ein Aussichtsturm mit Info-Raum vor dem Gemeindezentrum errichtet. Dem kleinen sogenannten „Kiruna Portal“ folgt im östlichen In-dustriegebiet das große Portal mit dem Ausbau einer alten Fabrikhalle, in der Gebäudeteile und Bauma-terialien abgerissener Häuser recycelt und für das neue Kiruna aufbereitet werden sollen (S. 17).

Dass den Bürgern der Stadtumzug nicht teuer zu stehen kommt, verspricht der Staatskonzern LKAB, der jedes abgerissene Gebäude ersetzen will. Auch regelmäßige Veranstaltungen sollen zur Be- teiligung und Besänftigung der Bewohner beitragen. White schlägt dafür neben den üblichen Mitteln wie Bürgerforen und Diskussionsabenden eine „Ki-runa Biennale“ vor. Die über das Stadtgebiet ver-teilte Bauausstellung würde den Umzug so inszenie-ren, dass er den Blick der Fachwelt auf die Klein-stadt am Rande Europas lenkt und sie fortan – so die Hoffnung der Auslober – auch anderen Regionen in ähnlicher Lage als Vorbild dienen kann.

Oben: Kiruna im Jahr 2033. Die neue Stadt (hell) reicht als Erweiterung der alten bis zum Vorort Tuolluvaara.Mitte: Die sechs Phasen des Umzugs, vom neuen Zent-rum 2023 bis zur Aufgabe von Alt-Kiruna im Jahre 2100

Dazu auf Bauwelt.de | Bildstrecke: Die neue Stadt und das neue Rathaus

in den Entwürfen der anderen Teilnehmer

1 Altes Kiruna 2 Bergwerk 3 Kiruna Portal 4 Rathaus 5 Bahnhof 6 Krankenhaus 7 Gymnasium 8 Geschäfte 9 Kunsthalle 10 Park/Wandergebiet11 Neu aufgebaute Kirche12 Vorort Tuolluvaara

Im Zentrum des neuen Kiruna, wo sich die bei-den Achsen kreuzen, soll nach White arki- tekter der Bahnhof mit einer Seilbahn mehrere Orte des alten und neuen Kiruna vernetzen – darunter das Bergwerk im Westen, der Flugha-fen im Osten und die Halle des „Kiruna Por-tals“ im Industriegebiet

Vor allem an den Rändern des neuen Kiruna müssen die Wohnhäuser dem Klima der Region – Wind, Schnee und Kälte – trotzen. Unten: drei exempla rische Blocks nördlich der Achse. Der südliche Block grenzt mit Ge-schosswohnungsbau an die Ost-West-Achse, dahinter folgen zwei Blocks mit Villen und Townhouses. An der Nordkante sollen Reihen-häuser den einfallenden Wind ableiten.

Das große „Kiruna Portal“ soll mit einer Indus-triehalle, einem Veranstaltungsraum und ei-nem Großmarkt für Baumaterialien das Produk-tionszentrum des neuen Kiruna werden. In der Halle werden Gebäudeteile aus dem alten Kiruna zur Wiederverwendung recycelt, wo-von sich die Jury geringere Umzugskosten ver-spricht.

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